Die Tragödie auf Schloss Kleppelsdorf am 14. Februar 1921

 

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Dorothea Rohrbeck, Besitzerin von Schloss Kleppelsdorf,

ermordet am 14. Februar 1921 im Alter von 16 Jahren

 

 

 

Das Geschehen auf Schloss Kleppelsdorf am 14. Februar 1921 ist so interessant, spannend und verworren wie nur wenige Kriminalfälle; es hat mich - vor allem durch die vielen Verstrickungen und merkwürdigen Begebenheiten im Vorfeld des Verbrechens - in seinen Bann gezogen. Was damals wirklich geschehen ist, wird nicht mehr herauszufinden sein, aber trotzdem - oder gerade deshalb - ist es mir ein Bedürfnis, möglichst viele Informationen zusammenzutragen.

 

Dieses sind Berichterstattungen aus „Der Bote aus dem Riesengebirge“, „Neuer Görlitzer Anzeiger“, „Berliner Morgenpost“, „Berliner Illustrirte Zeitung“, „Schlesische Zeitung“,  „Hamburger Nachrichten“, „Hamburger Anzeiger“, „Norddeutsche Nachrichten“, „Hannoverscher Kurier“ und „Vossische Zeitung“. Dadurch sind viele Einzelheiten mehrfach wiedergegeben, aber auch einige Fakten leicht verwirrend, weil es wohl keinem Berichterstatter möglich war, diese Angelegenheit absolut objektiv zu betrachten und mal die eine, mal die andere Tatsache in den Vordergrund gestellt bzw. als unrelevant weggelassen wurde. Auch die Gesamtdarstellung des Journalisten und Schriftstellers Hans Habe ist unter ganz bestimmten Gesichtspunkten ausgearbeitet worden und lässt an manchen Stellen die aus den Berichterstattungen der Zeitungen zu entnehmenden Fakten vermissen. Immerhin hinterlässt er uns die Angabe, er habe - wahrscheinlich Anfang der 1960er Jahre - die Akten des Kleppelsdorfer Prozesses eingesehen.

 

Dagegen ist der Artikel „Einige Betrachtungen zum Kleppelsdorfer Mordprozeß“ in der „Zeitschrift für Sexualwissenschaft“ vom Geh. Sanitätsrat Dr. Moll, der der Verhandlung als Sachverständiger beiwohnte, umso wichtiger, weil hier Details aus den Verhandlungen zum Sittlichkeitsverbrechen genannt sind; dieser Teil des Prozesses wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt und andernorts finden sich keine Fakten zu diesen Vorgängen.

 

Neben der weiteren Zeitungssuche zielt mein Hauptaugenmerk nun auf die Suche nach den Original-Akten; aber auch die Beschäftigung mit der von der Altonaer Staatsanwaltschaft eingeleitete Untersuchung nach der verschwundenen Gertrud Grupen ist im Gesamtumfang gesehen noch eine wichtige Aufgabe.

 

Zusammenstellung der Familienverhältnisse

Quellennachweis

 

 

 

 

Der Bote aus dem Riesengebirge     

 

Die Berichterstattung des „Boten“ ist auch in Buchform erschienen, interessant daran sind in erster Linie die Zeichnungen:

 

 

Bote_Buch_1922_Titel

         Titelseite

 

 

 

 

 

 

Bote_Buch_1922_Z17             Bote_Buch_1922_Z29

                     Seite 17                                                                  Seite 29

 

 

 

 

 

 

Bote_Buch_1922_Z21

Seite 21         

 

 


 

Mittwoch, 16. Februar 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“, S. 4-5

Schrecklicher Doppelmord in Kleppelsdorf bei Lähn

Zwei junge Mädchen ermordet!

Der Schauplatz eines furchtbaren Verbrechens, das in seinen Einzelheiten noch nicht völlig aufgeklärt ist und dem zwei junge Mädchen zum Opfer fielen, wurde Montag am hellen Mittag das dicht an Lähn anstoßende Schloß Kleppelsdorf. In einem an das allgemeine Eßzimmer anstoßende Zimmer fand man um 12 ½ Uhr mittags die 16 Jahre alte Dorothea Rohrbeck, die Besitzerin und alleinige Herrin des Rittergutes Kleppelsdorf, durch mehrere Revolverschüsse in Hals und Brust getötet, neben einem Tische zusammengekauert auf der Diele vor. In ähnlicher Stellung etwas entfernt von ihr wurde die zwölfjährige Kusine der Rohrbeck Ursula Schade aus Berlin, die zu Besuch dort weilte, mit einer Schusswunde über dem rechten Auge aufgefunden. Die kleine Schade lebte zwar noch, ist aber zwei Stunden darauf gestorben, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. In ihren Kleidern befand sich ein Brief an ihre Großmutter, die vor einigen Tagen dort weilte, und in diesem Briefe teilt sie mit, daß sie zuerst ihre Kusine und dann sich selbst erschossen habe. Ueber weitere Einzelheiten des Briefes zu berichten, müssen wir uns im Interesse der Untersuchung versagen.

 

Am Tatort erschien sofort Sanitätsrat Dr. Scholz, der sich um die Schwerverletzte bemühte, sowie eine Gerichtskommission, die aus verschiedenen Umständen schloß, daß ein Mord und Selbstmord der kleinen Schade unwahrscheinlich sei. Fräulein Rohrbeck, die Vollwaise ist und der außer Kleppelsdorf auch noch Gießhübel und ein Gut in Kuttenberg gehören, war gegen 12 Uhr noch in Lähn. Als sie nach Hause kam, gesellte sich die kleine Schade zu ihr, und beide gingen in das oben bezeichnete Zimmer. Die Hausdame von Fräulein Rohrbeck, Frau Zahn, wünschte von Fräulein R. eine Auskunft und wollte sie durch das Dienstmädchen zu sich bitten lassen. Das Mädchen fand die beiden in der geschilderten Weise auf. Im Zimmer lag ein noch gesicherter Damenrevolver. Gleichzeitig mit der Ursula Schade und deren neunjähriger Schwester befand sich deren Stiefvater, ein Herr Peter Grupen aus Berlin, also ein Onkel der Rohrbeck, seit einigen Tagen auf dem Schlosse. Unter dem dringenden Verdacht, mit dem Morde in Verbindung zu stehen, wurde Grupen Dienstag früh verhaftet. Am Vormittag weilte abermals eine Gerichtskommission mit Staatsanwaltschaftsrat Mertens und Amtsgerichtsrat Thomas aus Hirschberg und dem Kreisarzt Dr. Petersen aus Löwenberg auf dem Schlosse, wo an Ort und Stelle Vernehmungen stattfanden.

 

Die auf so schreckliche Weise um ihr junges Leben gebrachte Dorothea Rohrbeck war ein hübsches, lebenslustiges Mädchen und erfreute sich in Kleppelsdorf und Lähn großer Beliebtheit. Sie soll von ihren Verwandten ziemlich knapp gehalten worden sein. Der Vater ist zu Anfang des Krieges gestorben, während sie ihre Mutter schon einige Jahre früher verloren hatte. Verwalter des Gutes ist Direktor Bauer. In Lähn herrscht natürlich über den Vorgang helle Aufregung, und als der verhaftete Grupen heute zum Verhör gebracht wurde, nahm auf der Goldberger Straße eine Menschenmenge eine ziemlich drohende Haltung gegen ihn ein. Nähere Mitteilungen folgen.

 

 

 

Donnerstag, 17. Februar 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“, S. 4

Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf

bildet das Tagesgespräch in der ganzen Gegend. Noch ist nicht festgestellt, ob es sich um Mord oder Selbstmord der beiden Mädchen handelt, worauf der Brief, den man in der Tasche der Ursula Schade fand, hinzudeuten scheint, oder ob ein Verbrechen von dritter Hand vorliegt, wofür allerdings die Wahrscheinlichkeit spricht. An sich sind Kinderselbstmorde ja heute leider keine allzu große Seltenheit mehr, aber sie sind doch stets befremdlich, und besonders in diesem Falle fehlen alle inneren Beweggründe. Die Großmutter der Ursula Schade, an die der Brief gerichtet war, befindet sich übrigens nicht in Berlin, sondern ebenfalls auf dem Gute. Die bei den beiden Ermordeten vorgefundene Waffe ist ein Browning, Kaliber 6,35.

 

Die Verhaftung des Stiefvaters der Ursula Schade, Peter Grupen, bleibt aufrecht erhalten. Ein ungünstiges Geschick scheint über der Familie zu hängen. Der Vater der Schade, der Apotheker war, soll seinerzeit auf der Jagd zu Tode verunglückt sein, wie es heißt, unter Umständen, die noch der völligen Aufklärung bedürfen. Die Mutter soll sich von den Kindern und ihrem zweiten Manne getrennt haben und jetzt in Amerika leben, doch ist es schwer, über alle diese Punkte Gewißheit zu erlangen, da in Berlin vorläufig darüber, wie auch über den hier unter dem Namen Peter Grupen bekannten Mann nichts bekannt zu sein scheint. Man hat den Eindruck, als eröffnete sich hier ein sehr interessantes Feld für einen erstklassigen Detektiv.

 

Klarer liegen die Verhältnisse im Rohrbeckschen Hause. Der Verstorbene Rohrbeck stammte aus Tempelhof und war einer jener Millionenbauern, die vor etwa 30 Jahren bei dem Verkauf von Grund und Boden bei der Ausbreitung Berlins so riesige Gewinne machten. Vor seinem Tode übergab er die Erziehung seiner Tochter Dorothea dem bereits genannten Fräulein Zahn, die in Kleppelsdorf und Umgebung allgemeine Wertschätzung genießt. Vormund des jungen Mädchens war ein Herr Philipp in Berlin, Gegenvormund Direktor Bauer - Kleppelsdorf. Das Gut Kleppelsdorf hatte mit den Vorwerken Gießhübel und Kuttenberg einen Umfang von 315,7 Hektar, wovon 129,1 Hektar Forst sind. Doch soll, wie schon angedeutet, die ermordete Gutsherrin von ihrem schönen Besitz bisher nicht allzu viel Genuß gehabt haben.

 

 

 

Freitag, 18. Februar 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“, S. 4

Zu dem Kleppelsdorfer Doppelmord

kann vorläufig im Wesentlichen nichts Neues berichtet werden. Verschiedene neue Momente haben sich bei der Untersuchung des Falles ergeben, doch erscheint es nicht angebracht, hiervon heute bereits etwas verlauten zu lassen. Der verhaftete Peter Grupen bleibt verhaftet, da er dauernd verdächtig erscheint. Ueber seiner Persönlichkeit schwebt ein gewisses Dunkel. Die Annahme eines Mordes und Selbstmordes durch die kleine Schade erscheint nicht mehr haltbar. Diese soll an ihrem Stiefvater mit großer Liebe gehangen haben. Der Verhaftete wird von der Verwandtschaft als ruhiger, stiller Mensch geschildert, dem man eine derartige Tat kaum zutrauen solle. Wie groß das Rohrbecker Vermögen ist, geht schon daraus hervor, daß die getötete Dorothea Rohrbeck mehrere hunderttausend Mark als Reichsnotopfer hat zahlen müssen. - In einem Berliner Blatte wird Grupen als Grundstücksspekulant bezeichnet, der aus Berlin-Tempelhof stammte und in Berlin viel Geld durch Grundstücksspekulationen verdient habe. Es scheint aber, als liege hier eine Verwechslung mit dem verstorbenen Rohrbeck vor. Seine Ehe mit Frau Schade soll auch seine zweite Ehe gewesen sein.

 

 

 

Sonnabend, 19. Februar 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“, S. 4-5

Zum Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf

Die Sezierung fand am Donnerstag auf Schloß Kleppelsdorf statt. Sie wurde von den beiden Kreisärzten Medizinalrat Dr. Scholz - Hirschberg und Dr. Petersen - Löwenberg im Beisein einer Gerichtskommission vorgenommen. Durch Photograph Blume - Hirschberg wurden die Leichen photographiert. Die Sezierung dauerte von 11 Uhr vormittags bis abends 7 Uhr. bei der Rohrbeck war ein Schuß von der Seite durch den Hals in den Kopf eingedrungen. Dieser Schuß muß den sofortigen Tod herbeigeführt haben. Ein zweiter Schuß saß in der Hüfte. Bei der Schade war die Kugel über dem rechten Auge in den Kopf gedrungen. Die Sezierung ergab weiter, daß die bekanntlich erst zwölfjährige Schade einmal einer Quecksilberkur(*) unterworfen gewesen ist. Die Leiche der Rohrbeck wurde von der Gerichtskommission freigegeben. Die Beerdigung wird am Sonnabend in Kleppelsdorf stattfinden, nachdem den Gutsbewohnern Gelegenheit gegeben worden ist, von der allgemein beliebten Schloßherrin Abschied zu nehmen.

 

Die Erregung unter der Bevölkerung über die furchtbare Tat ist sehr groß. Als abends der Wagen mit den Aerzten zum Bahnhofe fuhr, wäre er beinahe von einer erregten Menschenmenge, die eine drohende Haltung einnahm, angehalten worden. Man glaubte, daß mit dem Wagen die Großmutter der ermordeten Gutsbesitzerin, gegen die sich auch eine starke Missstimmung richtet, abfahren wollte. Erst als man sah, daß in dem Wagen die Aerzte saßen, ließ man ihn unbehelligt weiterfahren. Es bestätigt sich übrigens, daß die Dorothea Rohrbeck auf dem Gute sehr kurz gehalten wurde. Sie mußte sich oft von den Nachbarn Milch und Körner borgen, um auskommen zu können.

 

Neuerdings scheinen folgende Tatsachen vorzuliegen: Der verhaftete Peter Grupen, der 26 Jahre alt ist, stammt aus Oldenbüttel bei Itzehoe, wo auch seit einiger Zeit die Großmutter, Frau Eckhardt, mit den beiden jungen Mädchen Schade wohnte. Frau Eckhardt ist Mutter der Frau Grupen, verwitweten Schade und der verstorbenen Frau Rohrbeck. Grupen scheint von seinem Architektenberuf nicht viel gehabt zu haben, sondern hat sich durch Schiebergeschäfte mit Mühe über Wasser gehalten. Um so weniger wäre es zu verstehen, daß er sich die Last der Erhaltung der Großmutter und der beiden Stieftöchter aufgebürdet hat, wenn man nicht annehmen müßte, daß er sie in seiner Nähe behalten wollte, um seinen Einfluß auf sie geltend zu machen. Diesen Einfluß hat er in anderer Weise auch auf die Dorothea Rohrbeck ausüben wollen, indem er sie mit Heiratsanträgen verfolgte. Sie hat aber den Zudringlichen, der übrigens im Kriege einen Arm verloren hat, stets abgewiesen. Die sämtlichen Verwandten waren etwa acht Tage vor dem Morde zu Besuch nach Schloß Kleppelsdorf gekommen. Es ist anzunehmen, daß Grupen hier zum Ziele kommen wollte. Zunächst sei noch erwähnt, daß auch ein Verdacht hinsichtlich seiner zweiten Frau, der Witwe des Berliner Apothekersohnes Schade, auf ihm lastet. Man nimmt nämlich an, daß diese Frau sich gar nicht in Amerika, sondern in irgendeinem Sanatorium befindet, das man jetzt ausfindig zu machen sucht. Eine Flasche Kognak, welche von Grupen der Rohrbeck geschenkt worden ist, ist aufgefunden worden, und der Inhalt soll vergiftet sein, doch steht das noch nicht sicher fest.

 

Was nun die eigentliche Tat betrifft, so behaupten Berliner Blätter, daß Grupen die beiden Morde selbst nicht ausgeführt habe. Es ist aber sein Revolver, mit dem die Tat ausgeführt wurde. Die Berliner Blätter behaupten nun wieder, daß die zwölfjährige Ursula Schade unter hypnotischem Zwange die Waffe auf die Rohrbeck und dann auf sich selbst abgedrückt habe. Neuerdings neigt man aber der Annahme zu, daß hypnotische Momente wohl in die Angelegenheit hineinspielen, jedoch nach einer anderen Richtung hin. Grupen hat die Dienstboten, die sich in der Nähe des Mordzimmers aufhielten, kurz vor dem kritischen Augenblick weggeschickt, so daß niemand die drei Schüsse hören konnte, und man nimmt an, daß er der Täter ist, besonders bei der Sicherheit, mit der die Schüsse ihr Ziel trafen. Der Brief, der sich bei Ursula Schade fand, und der an die Großmutter Eckhardt gerichtet war, ist möglicherweise unter hypnotischem Einfluß geschrieben worden, denn die Ursula Schade hatte im übrigen ganz andere Gedanken im Kopfe, wie die Tatsache beweist, daß sie kurz vor der Tat zu einem Gutsangestellten von einem für die nächsten Tage geplanten Ausfluge gesprochen hat. Die hinzugezogenen Sachverständigen für Hypnose und Telepathie werden gewiß Näheres auf diesem Gebiete ausfindig machen. Der Charakter Grupens bedarf noch der näheren Erklärung. Er ist kein ruhiger, besonnener Mensch, wie wir gestern berichteten, sondern ein sehr aufgeregter Herr. Eine Haussuchung, die inzwischen in seiner Wohnung in Oldenbüttel vorgenommen worden ist, hat weiteres Material ergeben. Grupen soll schon mehrfach mit den Gerichten zu tun gehabt haben, worüber noch Feststellungen schweben. während er sich in den letzten Tagen auf dem Schloße Kleppelsdorf aufhielt, hat er sich so zurückgezogen, daß ihn die Gutsarbeiter gar nicht zu Gesicht bekommen haben. Ein neues Moment in der ganzen Angelegenheit ist vielleicht von der Persönlichkeit des Vormundes der beiden Mädchen zu erwarten, der noch von der Staatsanwaltschaft gesucht wird, weil bei Grupen Briefe aufgefunden worden sein sollen, die den Vormund schwer belasten.

 

Es sind in den beiden letzten Tagen Gerüchte verbreitet gewesen, welche auch den Gutsdirektor Bauer belasten, dessen Abwesenheit von Kleppelsdorf am Donnerstag man als verdachterregend auffasste. Diese Annahme dürfte haltlos sein, weil Bauer sich als Zeuge zu einem Gerichtsprozeß nach Hirschberg begeben mußte, welcher mit einem Viehdiebstahl auf dem Gute, der vor einige Wochen verübt worden ist, zusammenhängt (man vergleiche hiermit den heutigen Schwurgerichtsbericht). Bauer soll im Gegenteil von dem Verbrechen aufs schwerste erschüttert sein.

 

(*) Anmerkung: die Quecksilberkur wurde gegen Syphilis angewendet!

 

 

 

Dienstag, 22. Februar 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“, S. 5-6

Die erste Leichenfeier im Schloß Kleppelsdorf

Am Sonnabend Nachmittag wurde nun das erste Opfer der ruchlosen Mordtat, die zwölfjährige Ursula Schade, beerdigt. Zu der Trauerfeier, die im Schloß stattfand, hatten sich u. a. auch die Großmutter der Ermordeten, Frau Apotheker Schade - Berlin, sowie der Bruder des früheren Besitzers Rohrbeck, der auf Jagdschloß Hubertus in Zielenzig in der Mark wohnt, eingefunden; ferner nahmen daran teil der Vormund der Dorothea Rohrbeck, Hauptmann Vielhaak, sowie der Gegenvormund, Direktor Bauer. Bei dieser Gelegenheit möchten wir hervorheben, daß ersterer entgegen anders lautenden Mitteilungen, nicht geflüchtet war und auch nicht von der Staatsanwaltschaft besucht worden ist. Er hatte früher ein Gut bei Cottbus und wohnt jetzt in Charlottenburg.

 

Die Trauerfeier begann mit einem von den Schulkindern gesungenen Choral, worauf Superintendent Buschbeck die Trauerrede hielt unter Zugrundelegung von Epheser 3, Vers 14: „Derhalben beuge ich meine Knie vor dem Vater unseres Herrn Jesu Christi, der der rechte Vater ist über alles, was da Kinder besitzet im Himmel und auf Erden.“ Er erwähnte dabei, wie die Kleine sich auf Kinderart auf die Reise gefreut hatte, und wie es doch so ganz anders kommen sollte. Es graut jedem, wenn er das Entsetzliche hört, was die Kleine hier hat erdulden müssen. Mit dem Liede: „In meines Jesu Armen, da ruht es sich so gut.“ schloß die Feier. Dann setzte sich der Trauerzug in Bewegung nach dem Kirchhofe in Lähn. Hier wurde das unglückliche Kind in der üblichen Weise beigesetzt. Die Beteiligung am Zuge war nicht übermäßig stark, und auch auf dem Friedhofe selbst hatten sich nicht allzu viele Leute eingefunden, was erklärlich ist, da die kleine Schade ja fast niemand gekannt hat.

 

Umso stärker war der Andrang nach dem Schlosse, als gegen 5 Uhr bekannt wurde, daß die aufgebahrte Leiche der Dorothea Rohrbeck besichtigt werden dürfe. In Scharen kamen die Bewohner von Kleppelsdorf und Lähn, um ihre „liebe Dörthe“, wie die junge Schloßherrin von jedermann genannt wurde, noch einmal zu sehen, die wegen ihres Reichtums, von dem sie nicht einmal allzu viel gehabt hat, aus schnöder Habsucht unter Mörderhand ihr Leben hatte aushauchen müssen. In einem weißseidenen Kleide, das sie sich immer einmal gewünscht, wenn sie Braut sein sollte, lag sie im Sarge; das Gesicht wie im friedlichen Schlummer, wenn auch um Jahre gealtert. Wohl die Augen jedes, der an ihrem Sarge stand, feuchteten sich, hatten sie doch alle gekannt mit ihrem sonnigen Wesen, das einfache, schlichte Mädchen, das keinen Hochmut kannte. Ihre Beisetzung erfolgt am Montag Nachmittag.

 

Der verhaftete Grupen war im letzten Sommer mehrere Male auf Schloß Kleppelsdorf, immer ohne Frau, so daß diese also schon damals verschwunden gewesen sein dürfte. Von den Dienstboten, gegen die er übrigens mit Trinkgeldern nicht geizte, hätte ihm damals eine solche Tat niemand zugetraut.

 

Eine starke Erregung herrscht in Lähn und der ganzen Umgegend gegen die Vormünder der Dorothea Rohrbeck, die ihr Mündel so knapp gehalten haben sollen. Man spricht allgemein in der Bahn, in den Gasthäusern, in Geschäften und auf der Straße fast nur von dieser Angelegenheit und erzählt hunderterlei Geschichten, von denen wir hier keine wiedergeben wollen, da man bei solchen Sachen ja nie weiß, was Wahrheit und Dichtung, was Tatsachen und was Uebertreibungen sind. So viel aber steht fest, daß diese allgemeine Erregung besteht. Von einer Beteiligung oder auch nur einer Beziehung der Vormünder zur Mordsache spricht kein Mensch. Man ist aber allgemein der Meinung, daß, selbst wenn durch Testament bestimmt gewesen sein sollte, Dorothea Rohrbeck in einfacher, schlichter Weise erzogen werden sollte, es so nicht zu sein brauchte, wie es gewesen sein soll, umsomehr, als heute der Wert des Geldes doch ein ganz anderer ist, als zu der Zeit, wo das Testament verfaßt wurde.

 

 

 

Mittwoch, 23. Februar 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“, S. 4

Die Beisetzung der Dorothea Rohrbeck

Lähn, 20. Februar

Auch das zweite Opfer des grausigen Verbrechens in Schloß Kleppelsdorf, Dorothea Rohrbeck, die 16jährige Besitzerin des Rittergutes, bestattete man heute zur ewigen Ruhe. Ganz Lähn war auf den Beinen, und zu Wagen, zu Fuß und mit der Bahn waren Viele aus der Umgegend gekommen, um dem armen Kinde, dem ein so schlimmes Ende bestimmt war, das letzte Geleit zu geben. Wohl in den weitaus meisten Fällen nicht aus müßiger Neugierde, sondern aus wirklicher Teilnahme, denn die „Dörthe vom Schloß“ hatte es verstanden, sich die Liebe aller zu erringen. Durch den frühen Heimgang ihrer Eltern - ihre Mutter, die ein Vierteljahr nach der Entbindung starb, hat sie überhaupt nicht gekannt -, hat sie den Ernst des Lebens schon zeitig kennen gelernt, und hat vielen Gutes und Liebes erwiesen, obwohl ihr trotz ihres Reichtums große Mittel nicht zur Verfügung standen.

 

Auf dem Schloßhofe, der zum Teil ebenso wie der Verbindungsweg von der Chaussee nach dem Gute frisch betieft und mit Tannengrün belegt war, hatten sich schon lange vor der Trauerfeier viele Leute eingefunden, und bereitwilligst wurde dem Wunsche, die Tote noch einmal zu sehen, stattgegeben, soweit dies den Umständen nach möglich war. Die um 3 Uhr im Schlosse mit dem Liede „Unter allen Wipfeln ist Ruh“ beginnende Trauerfeier gestaltete sich sehr kurz. Superintendent Buschbeck sprach ein Gebet und dankte der Verstorbenen noch einmal für all das, was sie trotz ihrer Jugend an Vielen Gutes getan. In einem eichenen Sarge fuhr man sie dann unter den Klängen von „Jesus meine Zuversicht“ von ihrer Besitzung fort. Ein endlos langer Trauerzug folgte und unterwegs schlossen sich noch viele an, so daß man den Zug wohl auf 700 bis 800 Teilnehmer schätzen konnte. Auf dem Friedhofe wurde Dorothea Rohrbeck dann neben ihrer Kusine, der am Sonnabend beerdigten Ursula Schade, beigesetzt. Superintendent Buschbeck hielt die Trauerrede über das Bibelwort: „So ich im Finstern sitze, so ist doch der Herr bei mir.“ Tiefes Dunkel, so hob er dann hervor, hat seit acht Tagen über den Verwandten im Schlosse gelegen, wo es doch hätte so hell sein können, denn die Besitzerin, ein junges, frohes Menschenkind mit heiterem Sinn und sonnigen Wesen, hätte Licht und Helle dorthin verpflanzt, wenn sie nicht vorzeitig die Hand des Mörders getroffen hätte. Er streifte dann kurz den Werdegang der Verstorbenen, bis zu ihrer vor einem Jahr erfolgten Konfirmation. Welche Pläne mögen das Herz des jungen, von allen geliebten Mädchens bewegt haben, wie man sie sich schon im Geiste als Haus- und Gutsfrau gesehen und den Zeitpunkt herbeigesehnt haben, wo sie auf ihrem Gute nach Belieben Schalten und Walten konnte. Und nun ist es ganz anders gekommen. Die weiteren Beisetzungsfeierlichkeiten waren die üblichen und mit den Klängen „ich bete an die Macht der Liebe“ fand die Feier ihren Abschluß, die durch keinerlei Zwischenfall gestört wurde. Lange verweilten die Teilnehmer noch am Grabe der Toten, und erst nach geraumer Zeit leerte sich der Gottesacker.

 

Leider kommt zu dem furchtbaren Drama auf Schloß Kleppelsdorf in diesem Augenblick noch ein neuer Todesfall. Ein Vetter der Dorothea Rohrbeck, ein Herr Pingel, hat sich erschossen. Der 29jährige P., der sich in Folge einer Verschüttung im Krieg ein schweres Leiden zugezogen hat und seitdem sehr zum Schwermut neigte, hat, offenbar infolge der Aufregungen der letzten Tage, Hand an sich gelegt. Der Vater des P., ein Schwager des verstorbenen Rohrbeck, nahm an der Beerdigung teil und erhielt dabei die traurige Nachricht. Er besitzt in der Nähe von Hannover ein größeres Waldgut.

 

Nach einem am Beerdigungstage in Lähn aufgetretenen Gerücht soll bei Itzehoe eine weibliche Leiche angeschwemmt worden sein, die man für die der Frau Grupen hält. Ob an dem Gerücht etwas Wahres ist, konnte bisher nicht festgestellt werden. An amtlichen Stellen ist jedenfalls davon nichts bekannt. - Der Vater der 12jährigen Ursula Schade ist, wie bereits berichtet, vor acht Jahren auf tragische Weise ums Leben gekommen. Er war der frühere Besitzer der Löwenapotheke in Perleberg. Schade verunglückte, wie es damals hieß, auf der Jagd dadurch, daß sich beim Besteigen des Wagens das ungesicherte Gewehr entlud und ihn tödlich verletzte. Er befand sich an einem Herbsttage in der Umgebung von Perleberg vollkommen allein in einem Jagdrevier, das einem ihm eng befreundeten dortigen Fabrikbesitzer gehörte. Man fand Schade seinerzeit verblutet in seinem Jagdwagen vor. An den Vorfall knüpften sich in Perleberg allerlei unkontrollierbare Gerüchte, aber das Gericht stellte einen Unglücksfall fest. Frau Schade verpachtete zunächst die Apotheke, verkaufte sie aber später und verließ mit ihren beiden Kindern Perleberg. Sie führte dann ein ziemlich unstetes Leben und heiratete schließlich den Grupen in Oldenbüttel bei Itzehoe. Im Herbst vorigen Jahres verlautete dann in bekannten Kreisen, sie hätte ihre Familie im Stich gelassen und sei mit einem anderen Mann nach Amerika gegangen.

 

 

 

Freitag, 25. Februar 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“,

Zum Kleppelsdorfer Doppelmord

Im Schaukasten der Firma von Bosch am Boten sind Bilder der beiden ermordeten Mädchen Rohrbeck und Schade, sowie des verstorbenen Vaters der Rohrbeck, die seinerzeit von Herrn Photograph Blume aufgenommen worden sind, ausgestellt.

 

 

 

Sonnabend, 26. Februar 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“, S. 4

Dorothea Rohrbeck hat auch im Grabe keine Ruhe!

Raub an der Leiche?

Ein neues Verbrechen ist im Anschluß an den Kleppelsdorfer Doppelmord verübt worden. Als am Freitag Nachmittag ein Steinmetz auf dem Friedhofe in Lähn erschien, um am Grabe der Dorothea Rohrbeck Maß für eine Steineinfassung zu nehmen, fand er die Kränze von dem Grabe entfernt. Am Kopfende bemerkte er einen Schacht, durch den man das Sargkissen erblickte. Auch wurde festgestellt, daß das Kruzifix auf dem Sarge zertrümmert ist. Neben dem Grabe lag ein Stück Holz von dem Sarge. Wie weiter festgestellt wurde, war das Leichenhaus erbrochen und Spaten und sonstiges Handwerkszeug daraus gestohlen, das jedenfalls zum Oeffnen des Grabes benutzt worden ist. Ob und was von der Leiche geraubt worden ist, konnte bisher noch nicht festgestellt werden, da man das Grab bis zum Eintreffen eines Polizeihundes in unverändertem Zustande belassen wollte. So läßt sich noch nicht sagen, ob die Grabschändung irgendwie mit der Mordtat in Zusammenhang steht, oder ob sie etwa auf irgend einem törichten Aberglauben beruht. Der Friedhof ist abgesperrt.

 

 

 

Sonntag, 27. Februar 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“, S. 4-5

Zur Leichenschändung in Lähn

Ueber das bereits gestern mitgeteilte neue Verbrechen in Lähn ist heut zu melden, daß die Leiche der Dorothea Rohrbeck tatsächlich in schändlicher Weise beraubt worden ist. Bei Oeffnung des von dem Täter nur wenig zugeschaufelten Grabes fand man, daß in den Sargdeckel gewaltsam eine größere Oeffnung gemacht worden ist, die mit einem Kissen zugedeckt war, das man von außen durch das Loch im Grabe sehen konnte. Beim vollständigen Oeffnen des Sargdeckels sah man, daß der oder die Täter der Leiche das seidene Kleid mit Schärpe ausgezogen und die Spitzen des Unterrockes abgetrennt hatten; ferner ist ein zweites Kissen geraubt worden. Jedenfalls sind die Verbrecher beim Zuschaufeln des Grabes gestört worden und haben dabei die Flucht ergriffen, ehe sie alles wieder in den früheren Zustand versetzen konnten.

 

Die Leiche wurde später wieder neu bekleidet und dann zum zweiten Male der Erde übergeben, in der sie nun hoffentlich Ruhe finden wird. Der herbeigeholte Polizeihund konnte leider nicht mehr in der gewünschten Weise arbeiten, da, wie das bei solchen Gelegenheiten ja meist der Fall ist, die Umgebung des Tatortes zu viel belaufen worden war. Anzunehmen ist, daß der Täter die Zugangswege zum Friedhof vermieden hat und durch das Gehölz dorthin gekommen ist, von der Promenade oder dem Sanatorium her, denn man fand nach der Promenade zu ein Stück der geraubten Spitze. Durch den Hund wurden mehrere Spuren verfolgt, verschiedene Stellen markiert und schließlich die Spur auch noch auf ein anderes Verbrechen gelenkt. Der Täter hatte, jedenfalls vor der Beraubung der Rohrbeckschen Leiche, auch die Gruft der Rentner Seifertschen Eheleute erbrochen und dort die Särge revidiert, die verstellt waren: auch lagen einige Sargschrauben neben den Särgen. Geraubt wurde aber nichts. Gegen 2 Uhr nachmittags traf eine Gerichtskommission aus Hirschberg ein. Die Vernehmungen dauerten bis abends 9 Uhr. Wie verlautet, soll man dem Täter bereits auf der Spur sein.

 

 

 

Dienstag, 08. März 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Zum Kleppelsdorfer Doppelmord

und seiner Vorgeschichte wird uns aus Itzehoe gemeldet, daß die Leiche der Frau Grupen verw. Schade bisher noch nicht gefunden worden ist. Anders lautende Meldungen haben sich als unwahr erwiesen.

 

Ueber die Persönlichkeit des verhafteten Grupen schreibt der in Itzehoe erscheinende „Nord. Kurier“: Von Itzehoer Geschäftsleuten, mit denen Grupen oft in Verbindung standen, erfahren wir, daß er hier mehrmals als Architekt auftrat, während er in Wirklichkeit nur ein besserer Maurerpolier war. Er soll längere Zeit hindurch mit seinem Bruder in Hamburg ein Baugeschäft betrieben haben und dann nach Berlin übergesiedelt sein. Alle, die ihn kennen, bezeichnen ihn als einen ruhigen, einfachen Menschen, dem man eine solche schreckliche Tat kaum zutrauen kann.

 

 

 

Donnerstag, 11. August 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

(Das Dominium Kleppelsdorf),

deren Besitzerin, die junge Dorothea Rohrbeck im Februar ermordet worden ist, ist jetzt durch Kauf in den Besitz des Herrn Pinge (richtig: Pingel), eines Verwandten der Rohrbeckschen Familie, übergegangen.

 

 

 

Donnerstag, 10. November 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

(Geschworene im Kleppelsdorfer Mordprozeß.)

Für die am 5. Dezember beginnende außerordentliche Schwurgerichtsperiode zur Verhandlung des Kleppelsdorfer Mordprozesses wurden als Geschworene ausgelost: Gemeindevorsteher Wilhelm Weimann-Kauffung, Maschinenwärter Heinrich Tautz-Rothenbach, Geschäftsführer Flassig-Cunnersdorf, Oberstleutnant Dulitz-Cunnersdorf, Schriftsteller Bölsche-Schreiberhau, Malzmeister Angermüller-Rudelstadt, Gemeindevorsteher Männich-Steine, Mühlendirektor Reinsberg-Landeshut, Landwirt Siebelt-Langneundorf, Fabrikbesitzer Tzschaschel-Ruhbank, Rentner Julius Liebig-Schreiberhau, Gutsbesitzer Heinrich Dittrich-Grunau, Brauer Konrad Olbrich-Grüssau, Kaufmann Karl Radisch-Schönau, Berginspektor Kummer-Rothenbach, Futtermeister Wilhelm Grosser-Cunnersdorf, Kaufmann Hugo Niepold-Hirschberg, Buchhalter Jendrusch-Bohrauseifersdorf (Gut), Kaufmann Johannes Springer-Friedeberg a. Qu., Graf Eberhard Saurma-Jeltsch-Schloß Wilhelmsburg, Bauergutsbesitzer Reinhold Weirauch-Michelsdorf, Oberförster Rath-Altkemnitz, Maurermeister Otto Jäkel-Wiesa, Gemeindevorsteher Hermann Scholz-Schosdorf, Steinmetz Arthur Seifert-Löwenberg, Buchhalter Albert Bräuer-Rudelstadt, Kaufmann Gormille-Hohenfriedeberg, Studiendirektor Dr. Faust-Hirschberg, Rittergutspächter von Sydow-Fischbach.

 

 

 

Mittwoch, 16. November 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

(Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf)

wird vom 5. Dezember an vor dem Hirschberger Schwurgericht verhandelt. Der Bote wird über den ganzen Verlauf dieses Riesenprozesses, der das Interesse von ganz Deutschland und darüber hinaus erregen wird, ausführlich berichten. Deshalb raten wir dringend, den   B o t e n   s o f o r t   bei unseren Zeitungsausträgern, Ausgabestellen oder bei dem in Frage kommenden Postamt zu   b e s t e l l e n ,   damit nachher keine Stockung im Bezuge eintritt.

 

 

 

Freitag, 25. November 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

(Für den Kleppelsdorfer Mordprozeß)

sind   z e h n   T a g e   in Aussicht genommen, nicht drei Wochen, wir früher berichtet. 

 

 

 

Sonnabend, 3. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Zum Kleppelsdorfer Prozeß

Der Bote wird ersucht, die in auswärtigen Blättern veröffentliche Meldung, gegen Grupen sei auch eine Anklage wegen versuchten Giftmordes erhoben, als falsch zu bezeichnen. Wir kommen diesem Wunsche gern nach und fügen hinzu, daß ein in Breslau, Berlin usw. von einem Berliner Berichterstatter verbreiteter Bericht eine Fülle von Unrichtigkeiten enthält.

 

 

 

Sonntag, 4. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.

Das Verbrechen von Kleppelsdorf, das, wie kaum je eins zuvor, die Gemüter in unserer Gegend erregt  und die Phantasie der Bevölkerung beschäftigt hat, wird von morgen, Montag ab das zu einer Sondertagung einberufene Schwurgericht beschäftigen. Ein Apparat von einer Größe, wie ihn die Kriminalgeschichte nur selten zu verzeichnen gehabt hat, ist aufgeboten worden, um Klarheit in die furchtbaren Vorgänge zu bringen, die sich in der Mittagsstunde des 14. Februar auf Schloß Kleppelsdorf abgespielt haben. Auch heute, dreiviertel Jahre nach der Tat, liegt trotz angestrengtester Aufklärungsarbeit noch ein dichter Schleier über den blutigen Vorgängen. Die Verhandlung, zu der erheblich mehr als hundert Zeugen und Sachverständige geladen sind, wird, soweit sich die Dinge heute überblicken lassen, die Geschworenen vor eine Fülle schwierigster Fragen stellen.

 

Vor dem Geschworenengericht wird der siebenundzwanzigjährige Architekt   P e t e r   G r u p e n   aus Oldenbüttel am Kaiser-Wilhelm-Kanal in Holstein unter der   A n k l a g e   d e s   z w e i f a c h e n   M o r d e s ,   d e s   S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e n s   a n   s e i n e r   d r e i z e h n j ä h r i g e n   S t i e f t o c h t e r   und der Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung erscheinen. Die Verhandlung findet unter Leitung des Oberlandesgerichtsrats   K r i n k e   aus Breslau statt, die Anklage vertritt Oberstaatsanwalt   R e i f e n r a t h   aus Hirschberg und als Verteidiger fungieren zwei der bekanntesten Anwälte Schlesiens, Justizrat   A b l a ß   aus Hirschberg und Justizrat   M a m r o t h   aus Breslau.

 

Am Montag, den 14. Februar wurde, um noch einmal zum Verständnis die

Ereignisse des Mordtages

kurz dazustellen, auf dem Landgute Kleppelsdorf, das dicht bei Lähn liegt und von diesem nur durch den Bober getrennt ist, die 16 Jahre alte Besitzerin des Gutes,   D o r o t h e a   R o h r b e c k ,   und deren 13 Jahre alte Base   U r s u l a   S c h a d e   um die Mittagszeit in einem Zimmer des Gutes erschossen aufgefunden.

 

Dorothea Rohrbeck war eine Waise. Von ihrer Wiege hinweg riß der Tod die Mutter, und als Zehnjährige stand sie an der Bahre des Vaters. In Kleppelsdorf geboren, wuchs Dorothea hier auf. Ein hübsches, freundliches Mädchen, war sie der Liebling der Ortsbewohner, die heute noch mit viel Liebe von ihrer „Dörte“ sprechen. Die Einsamkeit des Schlosses teilte sie mit ihrer Erzieherin Fräulein Zahn, mit ihrer 74 Jahre alten Großmutter, Frau Eckert, einer geborenen Booß, und den Angestellten des kleinen Haushalts. In den Ferienmonaten kamen Verwandte von mütterlicher Seite zu Besuch, namentlich die in zweiter Ehe mit dem 27 Jahre alten Architekten Peter Grupen verheiratete, jetzt verschollene Tochter der Frau Eckert aus zweiter Ehe und deren Kinder, die ermordete Ursula Schade und deren jüngste Schwester Irma. Die beiden kleinen Schade waren also die Stiefkinder des Peter Grupen und die Stiefbasen der Rohrbeck.

 

An ihrer Erzieherin, Fräulein Zahn, hing die Dörte mit kindlicher Liebe: kühler war das Verhältnis zur Großmutter. Hin und wieder ließ sich auch Peter Grupen, Dörtes Stiefonkel, auf Schloß Kleppelsdorf sehen. Dieser Architekt Grupen war mit einer Stiefschwester der verstorbenen Mutter der ermordeten Dörte Rohrbeck verheiratet.   D i e s e   F r a u   i s t   s e i t   d e m   1 9 .   S e p t e m b e r   1 9 2 0   s p u r l o s   v e r s c h w u n d e n .   Seitdem soll sich Grupen der sechzehnjährigen Dorothea Rohrbeck mit Liebesanträgen genähert haben, die aber, wie erzählt wird, mit Abneigung erwidert wurden. Dorothea unternahm zwar einmal mit ihrer Erzieherin eine Reise nach Grupens Heimat, nach Oldenbüttel bei Itzehoe, und besuchte mit ihm von dort aus auch Hamburg, Sonst aber soll sie bestrebt gewesen sein, des Onkels Gesellschaft zu meiden. Wenn Grupen auf Schloß Kleppelsdorf kam, soll Dorothea ihre Erzieherin gebeten haben, in deren Zimmer schlafen zu dürfen. Am 8. Februar d. J. fand sich Grupen wieder mit der Großmutter, den beiden Stieftöchtern und der Stütze Mohr in Kleppelsdorf ein.

 

Montag, den

14. Februar, um die Mittagsstunde

waren die Großmutter der beiden Mädchen, Frau Eckert, ihr Schwiegersohn Peter Grupen und die Stütze Marie Mohr, die ein Verhältnis mit Grupen gehabt haben soll, nebst der kleinen Irma Schade, der dritten Enkelin der Frau Eckert und Schwester der Ursula Schade, im Winterwohnzimmer   i m   e r s t e n   S t o c k   des Schlosses versammelt. Um 12 ¼ Uhr ging das Hausmädchen Mende, das kurz zuvor von einem Gange nach der Post zurückgekehrt war, aus der Küche in dieses Winterwohnzimmer hinauf, um die dort Anwesenden zu Tisch zu bitten. Fräulein Zahn, die Erzieherin Dorothea Rohrbecks, welche im Nebenzimmer beim Briefeschreiben beschäftigt war, beauftragte die Mende gegen 12 ½ Uhr, die beiden Mädchen, Dorothea Rohrbeck und Ursula Schade, zu suchen und zum Essen zu holen. Die Mende begab sich in das im   E r d g e s c h o ß   liegende   G a s t z i m m e r ,   dessen beide Fenster nach dem Park hinausgehen, und gewahrte dort Dorotheas Gestalt vor dem Liegesofa an der auf der Skizze mit 1 X bezeichneten Stelle auf dem Boden liegend, und in der Ecke zwischen einem Schrank und der zur benachbarten Rollstube führenden Türe (auf der Skizze mit 2 X bezeichnet) die Gestalt der Ursula Schade auf dem Boden. Die Menge glaubte, die beiden Mädchen spielten Verstecken. Als sie auf ihren Anruf keine Antwort erhielt, und näher hinzutrat, gewahrte sie   z u   i h r e m   E n t s e t z e n ,   d a ß   D o r o t h e a   e n t s e e l t   i n   e i n e r   B l u t l a c h e   l a g   und die aus einer Stirnwunde blutende   U r s u l a   m i t   d e m   T o d e   r a n g .   Entsetzt rannte die Mende zunächst nach der Küche, wo sie die   K ö c h i n   H i r s c h   verständigte, die dann nach dem Gastzimmer lief, und eilte dann selbst wieder die Treppe nach dem ersten Stockwerk hinauf, wo ihr Peter Grupen, Frau Eckert, die kleine Irma und die Mohr entgegenkamen, denen sie die Kunde von dem Unglück zurief und rannte dann in das Zimmer zu Fräulein Zahn, die sofort die Treppe hinuntereilen wollte, wo ihr Grupen mit der Schreckenskunde entgegengetreten sein soll.

 

Im Mordzimmer   b e m ü h t e   m a n   s i c h   n u n   u m   d i e   b e i d e n   O p f e r .   Dorothea Rohrbeck hatte einen Schuß in den Hals und in die Brust und war bereits tot, während Ursula Schade durch Kopfschuß tödlich verletzt war, aber noch lebte.

 

A n   d e r   l i n k e n   S e i t e   d e r   S c h a d e   l a g   e i n   R e v o l v e r .

 

Die Köchin Hirsch soll ihn zuerst bemerkt haben.   G r u p e n   n a h m   d i e   W a f f e   a u f   und legte sie auf den Tisch. Die Körper der Dorothea Rohrbeck und der Ursula Schade wurden mit Hilfe Grupens   a u f   B e t t e n   g e l e g t .   Der sofort telephonisch herbeigerufene Sanitätsrat Dr. Scholz aus Lähn fand Dörte Rohrbeck schon tot vor. Der Ursula, die noch röchelte, gab er Kampherspritzen zur Belebung der Herztätigkeit. Grupen soll zu Dr. Scholz gesagt haben:   „ K ö n n e n   S i e   d e r   U r s u l a   n i c h t   e t w a s   g e b e n ,   d a ß   s i e   z u m   B e w u ß t s e i n   k o m m t   u n d   s a g e n   k a n n ,   w i e   e s   g e w e s e n   i s t ? “   Während Dr. Scholz noch mit der tödlich verwundeten Ursula (die um 3 Uhr nachmittags starb) beschäftigt war, traf gegen 1 Uhr der telephonisch herbeigerufene Postamtsvorsteher Grimmig aus Lähn am Tatorte ein. Er stellte fest, daß die Waffe aus dem Tisch eine Selbstladepistole System „Walter“ Kal. 6.33 war. In der Meinung, die Waffe zu sichern,   l e g t e   e r   d e n   S i c h e r u n g s f l ü g e l   n a c h   v o r n h e r u m   und übergab die vermeintlich so gesicherte Pistole dem Justizobersekretär Klapper aus Lähn. Er untersuchte dann die Waffe in seiner Wohnung in Gegenwart jenes Justizbeamten und   s t e l l t e   d a b e i   f e s t ,   d a ß   d i e   P i s t o l e   e n t s i c h e r t   war. Es wird nun angenommen, daß   n a c h   dem letzen tödlichen Schuß

d i e   W a f f e   s c h o n   v o n   a n d e r e r   H a n d   g e s i c h e r t

sein müsse. Ein Punkt, der in der Verhandlung weiterer Aufklärung bedarf. Auf die Frage von Grimmig,   w e m   d i e   S c h u ß w a f f e   g e h ö r e ,   soll im zunächst erwidert worden sein, daß sie nicht aus dem Hause sei. Der Eigentümer der Waffe stellte sich aber bald heraus. Bei den Bemühungen um die sterbende Ursula stieß die Krankenschwester, die dem Sanitätsrat Scholz behilflich war, das Kleid herunterzuziehen, auf eine   U n t e r b i n d e t a s c h e   unter dem Kleide. Dr. Scholz fand in dieser Tasche   e i n   K ä s t c h e n   m i t   1 9   P a t r o n e n   Kal. 6.33   u n d   e i n   weißes

Briefkuvert „An Großmutti!“

adressiert. Grimmig verlas sofort den Inhalt des Briefes.   D i e   U r s u l a   b i t t e t   i n   d i e s e m   v o m   9 .   F e b r u a r   d a t i e r t e n   S c h r e i b e n   d a r i n   d i e   G r o ß m u t t e r ,   n i c h t   b ö s e   z u   s e i n ,   d a ß   s i e   d e m   V a t e r   d i e   W a f f e   g e n o m m e n   h a b e   u n d   e r k l ä r t ,   d e r   G r o ß m u t t e r   h e l f e n   z u   w o l l e n ,   d a m i t   s i e   s i c h   a n   D ö r t e   n i c h t   m e h r   ä r g e r e .   Nach Verlesung des Briefes erklärte Grupen:

„ D a   i s t   e s   d o c h   m e i n e   P i s t o l e . “

Nach Verlesung des Briefes an „Großmutti“ (Frau Eckert), der einen Mord an Dorothea und einen Selbstmord durch die Ursula hinstellte, war die Tatsache, daß die Pistole aus dem Hause Peter Grupen stammte, unzweifelhaft. Grupen will die Schußwaffe kurz vor der Abreise nach Kleppelsdorf zum Selbstschutz für seinen Bruder Wilhelm gekauft und in Oldenbüttel zurückgelassen haben. Peter Grupen soll seinem Bruder den nicht einfachen Mechanismus der Waffe erklärt haben. Wilhelm G. will dazugekommen sein, wie Ursula in Oldenbüttel die Pistole in der Hand gehabt habe. Als er abends die ins Schubfach zurückgelegte Pistole habe herausnehmen wollen, sei sie nicht mehr dort gewesen. Ueber das auffällige Verschwinden der Pistole und warum er seinem Bruder nach Kleppelsdorf davon nichts berichtet hat, wird Zeuge Wilhelm Grupen in der Verhandlung Auskunft geben müssen. Hat Ursula die Schußwaffe und die Patronen mit nach Kleppelsdorf genommen oder Peter Grupen?

 

Die Waffentechnik in Verbindung mit der Art der Schusswirkungen werden bei Beantwortung der Frage:   W e r   w a r   d e r   T ä t e r ?   eine sehr große Rolle spielen, ebenso die Beschaffenheit der Schußwunden und die

Fundstellen der Patronenhülsen

im Zimmer usw. Es wird behauptet, daß es schon   n a c h   d e r   L a g e   d e r   i m   M o r d z i m m e r   a u f g e f u n d e n e n   G e s c h o ß h ü l s e n   u n m ö g l i c h   s e i ,   d a ß   U r s u l a   d i e   z w e i   S c h ü s s e ,   die von der Ofenseite her auf Dörte abgegeben worden sind,   a b g e f e u e r t   h a b e n   k a n n ,   auch nicht den tötlichen Schuß auf sich selbst, da die Hülse dabei nur in den Raum zwischen Wäscheschrank und Sofa am Fenster, niemals in die entgegengesetzte, etwa 6 Meter entfernte Zimmerecke gelangt sein könnte. Ueber all diese Fragen werden die Sachverständigen Gutachten abgeben auf Grund von angestellten Schießversuchen usw. Darüber hinaus erhebt sich die natürliche Frage, ob ein dreizehnjähriges Mädchen wie Ursula Schade, die gelegentlich vielleicht einmal mit einem Kinderspielzeug geschossen hat, mit einer so schwierigen Waffe, wie sie der Mechanismus der Selbstladepistole darstellt, treff- und totsicher umzugehen wissen konnte. Dagegen soll Grupen ein sehr sicherer Schütze sein. Er soll beim Preisschießen oft Preise davongetragen und im Kriege seine Schießfertigkeit und seine starken Nerven erprobt haben. 1916 ist Peter Grupen der linke Unterarm durch einen Granatsplitter zerrissen worden, sodaß der Arm amputiert werden mußte, aber der rechte Arm blieb gebrauchsfähig. Dann erhob sich die Frage:   W e l c h e n   G r u n d   s o l l t e   d i e   U r s u l a   z u   d e r   f u r c h t b a r e n   T a t   g e h a b t   h a b e n ?   Man stand vor einem Rätsel.

 

Bald trat das Gerücht auf, Dorothea Rohrbeck, die alleinige Erbin der Herrschaft Kleppelsdorf, deren Vermögen mehrere Millionen Mark betrug, sei das

O p f e r   i h r e s   O n k e l s   P e t e r   G r u p e n

geworden, der gleichzeitig auch gegen sein Stiefkind Ursula die Waffe gerichtet habe. Grupen wurde als des Doppelmordes verdächtig, am Morgen nach der Tat verhaftet. Bei seiner Ueberführung nach Hirschberg war es nur mit List möglich, ihn der Lynchjustiz einer großen aufgeregten Menschenmasse zu entziehen. Man nahm an, daß Grupen durch den Mord

K l e p p e l s d o r f   a n   s i c h   z u   b r i n g e n

hoffte und gleichzeitig das an seiner Stieftochter begangene Verbrechen vertuschen wollte. Aus dem Verwandtschaftsverhältnis ist ersichtlich, daß, wenn Dorothea starb, ihre Großmutter, Grupens Schwiegermutter, ihre Erbin sein mußte, und es heißt, daß Grupen auf die alte Frau einen starken Einfluß ausgeübt haben soll. Er soll auch unmittelbar nach der Auffindung der Toten zu Frau Eckert gesagt haben:   „ W e i ß t   D u   a u c h ,   d a ß   D u   j e t z t   H e r r i n   v o n   K l e p p e l s d o r f   b i s t ? “

 

Wer ist nun Peter Grupen?

Soweit bisher bekannt ist, steht Grupen im Alter von 27 Jahren und war zuletzt Architekt in Oldenbüttel bei Itzehoe. Er ist verheiratet mit einer verwitweten Frau Apotheker Schade, Tochter der Frau Eckert, welche in erster mit dem Apotheker Schade in Charlottenburg verheiratet gewesen ist. Aus dieser Ehe stammen die beiden Kinder Ursula und Irma. Ihr Vater, der Apotheker Schade ist   a u f   e i n e r   J a g d   v e r u n g l ü c k t   und es haben sich an dieses Unglück auch manche Vermutungen geknüpft, welche indeß bisher zu keiner Klarheit geführt haben.

 

F r a u   G r u p e n   i s t   s p u r l o s   v e r s c h w u n d e n ,

seitdem sie am 19. September 1920 mit dem Angeklagten nach dem Bahnhof Itzehoe gefahren ist. Sie soll, obgleich ein Passvisum nach Amerika, nach Angabe des amerikanischen Konsulats für sie nicht erteilt ist, nach Amerika ausgewandert sein. Das Dunkel über das Verschwinden der Frau Grupen ist bis heut noch nicht gelüftet. Zwei Tage vor der Abreise der Frau Grupen ist diese sowie ihre Mutter mit ihrem Manne, Peter Grupen, bei einem Notar in Itzehoe erschienen und dem Ehemanne sind die auf dem Perleberger Apothekengrundstück ruhenden Hypotheken in recht beträchtlicher Höhe abgetreten worden, als Gegenwert sollte der Mann Barzahlung leisten. Am Tage vor ihrer Abreise hat Frau Grupen bei der   L a n d e s s p a r k a s s e   in Sude ihr gesamtes   G u t h a b e n   und auch das Sparguthaben ihrer   b e i d e n   Kinder   a b g e h o b e n   und sich nach   L ü b e c k   abgemeldet. Seitdem ist die Frau verschwunden. Man hat vermutet, daß Grupen seine Frau ermordet hat und glaubte auch einmal eine Frauenleiche, die bei Hamburg ans Land geschwemmt worden ist, als die der Frau Grupen erkannt zu haben, doch wurde diese Annahme widerlegt auf Grund einer Aussage eines Zahnarztes, der Frau Grupen kurz vor ihrem Verschwinden behandelt hat und nicht den Beweis an der Leiche feststellen konnte, daß es sich um Frau Grupen handeln konnte. Neuerdings wird behauptet, daß Briefe, in denen Frau Grupen ihre Absicht, nach Amerika zu reisen. kundgibt, vorhanden sind.

 

1921-12-04-2-Zeichnung-A

 

Dieses rätselhafte und ungeklärte Verschwinden der Frau hat Grupen, der schon durch die Auffindung der Waffe verdächtig erschien, in Verbindung mit seinen augenscheinlichen Absichten auf Dorothea Rohrbeck stark verdächtig gemacht. Außerdem nimmt, wie schon erwähnt, die Anklagebehörde an, daß Grupen ein   S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e n ,   welches er an seinem Stiefkinde Ursula begangen haben soll,   d u r c h   d i e   T a t   v e r d e c k e n   w o l l t e ,   während er gleichzeitig durch seine Einwirkung auf die alte Frau Eckert sich   V e r f ü g u n g   ü b e r   d a s   r e i c h e   E r b e   v o n   M i l l i o n e n   s i c h e r n   w o l l t e .   Ebenso wie die alte Frau Eckert, soll auch die   S t i e f t o c h t e r   U r s u l a ,   die ihrem ganzen Wesen nach ein frühreifes und krankes Kind war, unter   d e m   E i n f l u ß   G r u p e n s   g e s t a n d e n   h a b e n .   Sie hat auch am 9. Februar (demselben Tage, an dem der Brief an die Großmutter geschrieben ist) in einem Briefe an eine Frau in Oldenbüttel geschrieben, wie schön es in Kleppelsdorf sei, bei allerlei Spielen, guter Ernährung und in der Unterschrift des Briefes ist nachträglich in die Worte „Deine Ursula“ das zu dem ganzen Inhalt des Briefes nicht passende Wort   „ t r a u r i g e “   eingefügt worden. Die Anklage nimmt an, daß Ursula bei dieser Einführung auf   G e h e i ß   G r u p e n s   g e h a n d e l t   h a t ,   w i e   e r   a u c h   b e i   d e r   A b f a s s u n g   d e s   B r i e f e s   a n   d i e   G r o ß m u t t e r   s e i n e n   E i n f l u ß   g e l t e n d   g e m a c h t   h a b e n   s o l l .   Am 8. Februar, also einen Tag vor Abfassung der beiden Briefe war Grupen nach Kleppelsdorf gekommen.

 

Grupen bestreitet

der Täter zu sein oder mit der Tat irgendwie in Verbindung zu stehen und führt zum Beweise dafür, daß er nicht der Täter sein   k a n n ,   die alte Frau Eckert, die Stütze Mohr, mit der er, wie die Anklage behauptet, ein Verhältnis gehabt haben soll, und die kleine Irma Schade als Zeugen an.   A l l e   d r e i   s o l l e n   b e k u n d e t   h a b e n ,   d a ß   G r u p e n   i n   d e r   Z e i t ,   i n   d e r   d i e   T a t   g e s c h e h e n   i s t ,   d a s   i m   e r s t e n   S t o c k   d e s   S c h l o s s e s   g e l e g e n e   W i n t e r z i m m e r   a u c h   n i c h t   e i n e n   A u g e n b l i c k   v e r l a s s e n   h a t ,   also

nicht am Tatort gewesen sein kann.

 

Trotzdem ist die Anklage aufrecht erhalten worden und zwar mit der Behauptung,   d a ß   d i e   Z e u g e n

i m   h y p n o t i s c h e n   B a n n e   G r u p e n s

gestanden haben, daß Grupen das Zimmer tatsächlich verlassen, oder den unter seinem Einflusse stehenden Zeugen das Bewußtsein suggeriert hat, den Raum   n i c h t   verlassen zu haben.   I s t   d a s   m ö g l i c h ?   Die Anklage scheint die Frage zu bejahen. Um von dem in ersten Stock gelegenen Winterzimmer, in dem sich die drei Zeugen und mit ihnen angeblich Grupen zurzeit der Tat befunden haben, nach dem Mordzimmer zu gelangen und wieder zurückzukommen, bedurfte es für jemand, der die Verhältnisse kannte, nur weniger Minuten. Ist aber die Beeinflussung der Zeugen durch Hypnose in dem Umfange, daß sie in der vollen Ueberzeugung, die Wahrheit zu sagen, die Unwahrheit bekunden, möglich? Ging der Einfluß Grupens auf seine Umgebung so weit? Darauf soll die Verhandlung und vor allem Professor Moll aus Berlin, ein hervorragender Sachverständiger auf dem Gebiet der Hypnose, Antwort geben. Was, wenn nicht Ursula Schade und nicht Peter Grupen

e i n   a n d e r e r   d e r   T ä t e r ?

In das Mordzimmer war, wie die Zeichnung auf den ersten Blick zeigt, auf die verschiedenste Weise zu gelangen, sowohl vom Park aus, wie von der Vorder- und Hinterseite des Schlosses aus, allerdings nicht durch die Fenster, da diese mit Eisenstäben vergittert sind, sondern nur durch die … Türen, die in das Haus führen. Der Park, auf den das Mordzimmer hinausgeht, ist nicht groß, und sowohl der eiserne Zaun vor dem Hauptportal, wie die Mauer, die den Park umgibt, können leicht über(klettert) werden. Indessen deutet bis jetzt, soweit wir unterrichtet sind, nichts daraufhin, daß irgendjemand dies getan oder auch nur versucht hat. Die belastenden Anzeichen liegen vielmehr innerhalb des Hauses.

 

War Peter Grupen der Mörder oder war es, wie es nach dem Briefe an die Großmutter scheint, Ursula Schade? Wenn es die letztere war, stand sie dann dabei unter hypnotischem Einfluß ihres Stiefvaters und reichte dieser Einfluß auch auf die Großmutter sowie auf das Mädchen Marie Mohr, oder kommt als Täter eine dritte Person in Frage, die in entfernteren Beziehungen zu dem ganzen Verhältnis stand, aber von Peter Grupen beeinflußt war, oder ist dieser ganz frei von Schuld zu sprechen und liegt hier nicht vielmehr eine reine Kindertragödie vor? Kam außer der aufgefundenen Waffe noch eine zweite, genau derselben Art, in Frage?

 

 

 

Dienstag, 6. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.

Beginn der Verhandlung.

Hirschberg, 5. Dezember 1921

Mit einem sonnenhellen, aber bitterkalten Wintertag beginnen die Verhandlungen gegen  P e t e r   G r u p e n ,   den Angeklagten im Kleppelsdorfer Mordprozeß. Die Kälte hat offenbar den Andrang des Publikums stark eingedämmt; nur spärlich kamen Neugierige und harrten an der Pforte des Gerichtsgebäudes des Einlasses, der nur den Inhabern von Ausweiskarten gestattet wurde. Ein großes Polizeiaufgebot sorgte dafür, daß ohne Erlaubnisschein niemand den Zuhörerraum betrat.

 

Langsam füllte sich der Schwurgerichtssaal. Auf einem Tische vor der Anklagebank lagen der Revolver, der am Tatort gefunden worden war, Revolvergeschosse, die Leibwäsche der Dorothea Rohrbeck und der Ursula Schade und einige andere Beweisstücke.

 

Am Richtertisch nahmen Platz der Vorsitzende, Oberlandesgerichtsrat   K r i n k e   aus Breslau, Landgerichtsrat   W i e t e r ,   Landgerichtsrat   H e r z o g ,   Assessor   H u b r i c h   (als Ersatzrichter), Oberstaatsanwalt   D r .   R e i f e n r a t h .   Der Berichterstatter-Tisch ist stark besetzt. Eine größere Zahl auswärtiger, namentlich Berliner Journalisten, ist erschienen.

 

Ansprache des Vorsitzenden.

Pünktlich um 10 Uhr eröffnet der   V o r s i t z e n d e   die Verhandlung mit der Begrüßung der Geschworenen. Die Tagung, sagte er in   s e i n e r   A n s p r a c h e ,   werde an die Arbeitskraft und Pflichttreue, Aufmerksamkeit und geistige Tätigkeit der Geschworenen erhebliche Anforderungen stellen. Die Geschworenen hätten das Amt eines   R i c h t e r s   auszuüben und seien wie der Richter an das Gesetz gebunden. Wie der Richter, so habe auch der Geschworene seine Ueberzeugung hinsichtlich der Schuldfrage auf freie Beweiswürdigung aus dem gesamten Ergebnis der Hauptverhandlung zu stützen. Hierauf müsse in diesem Prozeß besonders hingewiesen werden; denn die Strafsache habe weit über die Grenzen Hirschbergs hinaus berechtigtes Aufsehen erregt, sie sei Gegenstand öffentlicher Erörterungen gewesen und auch in der Presse ausgiebig besprochen worden. Die Geschworenen müßten ihren Spruch auch ohne Ansehen der Person fällen. Ein Verstands-, kein Gefühlsurteil werde von ihnen erwartet. Es wäre ein Eingriff in das dem Staatsoberhaupt zustehende Begnadigungsrecht, wenn die Geschworenen lediglich aus Mitleid oder sonstigen unbestimmten Gefühlswägungen heraus einen Freispruch fällen und sich dadurch über das Gesetz stellen würden. Er, der Vorsitzende, hoffe, daß es gelingen werde, in der vorliegenden umfangreichen und schwierigen Sache das Recht zu finden, das der wahren Gerechtigkeit dient.

 

Angeklagter Grupen.

Der Vorsitzende ordnet nunmehr an, daß der   A n g e k l a g t e   P e t e r   G r u p e n   in den Saal zu führen ist. In Begleitung eines Gefängnisbeamten erscheint der Angeklagte, gekleidet in einem grauen Anzug. Ruhig, ohne daß ihm irgendwelche innere Erregung anzumerken wäre, antwortet er auf die Frage des Vorsitzenden, ob er der Architekt Peter Grupen aus Ottenbüttel sei, mit „Jawohl!“ Grupen nimmt auf der Anklagebank Platz, den Blick fast unablässig auf den Richtertisch gerichtet, hinter ihm ein Polizeibeamter. Als seine Verteidiger melden sich die Justizräte   D r .   A b l a ß -   Hirschberg und   D r .   M a m r o t h -   Breslau.

 

Die Geschworenenbank.

Vor der Bildung der Geschworenenbank wird das mit Schwerhörigkeit und Unabkömmlichkeit begründete Entlassungsgesuch des zum Geschworenen berufenen Maschinenwärters Tautz aus Rothenbach genehmigt. Ausgelost werden als Geschworene Mühlendirektor  R e i n s b e r g - Landeshut, Graf   S a u r m a - J e l t s c h   auf Schloß Wilhelmsburg, Kaufmann   G o r m i l l e - Hohenfriedeberg, Kaufmann Karl   R a d i s c h - Schönau, Rentier Julius   L i e b i g - Schreiberhau, Arbeiter Karl   H e i n z e - Schmiedeberg, Bankdirektor   B e c k e r t - Hirschberg, Kaufmann Gustav   F r i e s e - Alt-Reichenau, Fabrikbes. Ernst   T z s c h a c h e l - Ruhbank, Buchhalter Albert   B r ä u e r - Rudelstadt, Kaufmann Johannes   S p r i n g e r - Friedeberg, Oberstleutnant   D u l i t z - Cunnersdorf, ferner als Ersatzgeschworene: Gemeindevorsteher Weimann-Kauffung, Kaufmann Degenhardt-Hirschberg und Futtermeister Grosser-Cunnersdorf. Der Vorsitzende macht die Geschworenen darauf aufmerksam, daß sie den Geschworeneneid sowohl in der alten Form, als auch in der nach der Verfassung zulässigen Form ohne religiösen Zusatz zu leisten berechtigt sind. Zwei Geschworene machen hiervon Gebrauch.

 

Die Zeugen.

Es beginnt der Aufruf der Zeugen und Sachverständigen, die den Schwurgerichtssaal buchstäblich bis auf den letzten Platz füllen, so daß eine junge Dame in Ohnmacht fällt. Unter den Zeugen befinden sich u. a.: Erzieherin Fräulein   Z a h n ,   I r m a   S c h a d e   (die jüngere Schwester der ermordeten Ursula), Frau Bankdirektor Agnes   E c k e r t ,   Frau Apothekenbesitzer   M a r g a r e t e   S c h a d e ,   Apothekenbesitzer   S c h a d e ,   Alfred   R o h r b e c k ,   Wilhelm und Heinrich   G r u p e n ,   Fräulein   M o h r   und Frl.   M e n d e .

 

Die mit dem Angeklagten und mit den ermordeten Mädchen verwandten Zeugen erklären, von ihrem Recht der Zeugnisverweigerung keinen Gebrauch machen zu wollen. Auch die Zeugen weist der Vorsitzende auf die Zulässigkeit hin, den Eid ohne religiöse Formel zu leisten.

 

Angekl.   G r u p e n   stellt den Antrag, den von der Staatsanwaltschaft als   S a c h v e r s t ä n d i g e n   f ü r   S u g g e s t i o n   geladenen Gaswerksdirektor   W r o b e l   a b z u l e h n e n .   Dem Ablehnungsantrage wird nach längeren Auseinandersetzungen zwischen dem Staatsanwalt und den Verteidigern stattgegeben.

 

Hierauf begann die   V e r n e h m u n g   d e s   A n g e k l a g t e n   über seine persönlichen Verhältnisse.

 

Sodann Mittagspause bis 3 Uhr.

 

(Fortsetzung folgt.)

 

 

 

Mittwoch, 7. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.

 

Die Vernehmung Grupens.

 

Hirschberg, 6. Dezember 1921.

Der erste Tag der Verhandlung war ausschließlich dem Verhör des Angeklagten gewidmet. Noch aber ist die Vernehmung nicht beendet. Am heutigen Dienstag wird sie, teilweise unter Ausschluß der Oeffentlichkeit, fortgesetzt.

 

Grupen, ein breitschultriger, kräftig gebauter junger Mann, tritt sicher und gewandt auf. Auch an guten Formen fehlt es ihm nicht. Er verbeugt sich, wie er in den Saal geführt wird, nach allen Seiten, er „bittet“ den Vorsitzenden, ihn unterbrechen oder auf dies oder jenes noch einmal zurückkommen zu dürfen.

 

Grupen ist aber auch zweifellos ein Mann von zielklarem festen Willen und hoher Intelligenz. Seine Antworten auf die Fülle der vom Richter-, Staatsanwalt- und Verteidiger-Tisch auf ihn eindringenden Fragen sind klar und werden meist ohne Stockung gegeben. Ab und zu sucht Grupen nach dem Ausdruck.

 

Peinlich sucht er alles, was als Ausreden gedeutet werden könnte, zu vermeiden. Als ihm vorgeworfen wird, schon im vorigen Jahre bei der Ruderpartie auf der Alster in Hamburg die Dorothea Rohrbeck absichtlich in Lebensgefahr gebracht zu haben, und ihm die Frage vorgelegt wird, ob er beim Kentern des Bootes nicht selbst des Ertrinkens ausgesetzt gewesen wäre, erwidert er ohne Stocken, die Bejahung der Frage läge nahe, aber trotz des Verlustes des einen Armes sei er der Ueberzeugung, sich schwimmend über Wasser halten zu können. Auch Widersprüche zwischen den Aussagen der Zeugen und seiner Erklärung erschüttern ihn nicht. Er bleibt bei seinen Behauptungen.

 

Nur ganz vereinzelt versagt Grupen. Auf die Frage, wer ihn plötzlich, als er mit Fräulein Rohrbeck und Fräulein Zahn in Hamburg weilte, um sein Vermögen gebracht habe, verweigert er in höflicher Weise die Auskunft. Auf eine andere Frage, weshalb er erst jetzt mit der Behauptung auftrete, daß Ursula in den letzten Tagen vor dem Morde auffällig traurig gewesen sei, weiß er keine Antwort zu geben. Im Allgemeinen aber gibt Grupen auf alle Fragen fest und ruhig Antwort, nur in den Erwiderungen auf die Anfragen des Staatsanwaltes klingt ein Ton feindseliger Erregung durch.

 

Trotzdem: Die Vernehmung des Angeklagten hat noch vieles unklar gelassen. Das Geheimnis, das das Verschwinden der Frau Grupen umlagert, ist um nichts geklärt worden. Der Angeklagte deutet in öffentl. Sitzung nur an, daß seine Frau abnorme sexuelle Anforderungen gestellt hat und unzufrieden wegen der Nichterfüllung ihrer Wünsche gewesen wäre. Unklar bleibt auch das Verhältnis zwischen Grupen und den beiden Kleppelsdorfer Damen. Frl. Zahn wie auch Frl. Rohrbeck fühlten sich vom Vormund über Gebühr kurz gehalten. Daraus entstand ein Prozeß. Grupen spielte sich als Helfer und Beschützer der Damen auf, verhandelte hinter ihrem Rücken aber mit dem Vormund. Dies und noch manche Einzelheit, die merkwürdige Gelassenheit und Untätigkeit, mit der die Nachricht von dem Verschwinden der Frau Grupen durch die Nächstbeteiligten aufgenommen wurde, bleiben zunächst noch völlig ungeklärt.

 

Im Einzelnen ist zu berichten:

 

Das Sachverständnis in Hypnose.

 Die Verteidigung stellte den Antrag, den von der Anklagebehörde als Sachverständigen für Suggestion geladenen Gaswerksdirektor   W r o b e l - Hirschberg abzulehnen, weil Herrn Wrobels Vernehmung im Vorverfahren gegen das Gesetz zustandegekommen sei und weil Herr Wrobel auf dem Gebiete der Suggestion ein Amateur sei, der ein Urteil von wissenschaftlichem Wert nicht abgeben könne. Herr Wrobel erklärt, sich seit zwanzig Jahren theoretisch und praktisch mit Hypnose und Suggestion beschäftigt zu haben. Die Bücher namhafter Gelehrter auf diesem Gebiete habe er studiert, auch hätten ihn Hirschberger Aerzte zur Anwendung von Hypnose und Suggestion im Heilverfahren herangezogen. Irgend ein Examen habe er nicht gemacht. Oberstaatsanwalt Dr.   R e i f e n r a t h   widersprach dem Ablehnungsantrage. Die Anklagebehörde sei berechtigt gewesen, Herrn Wrobel im Ermittelungsverfahren zu vernehmen. Das Gericht beschloß zunächst, den Kreisarzt Medizinalrat Dr.   S c h o l z - Hirschberg und den Geh. Medizinalrat Dr.   M o l l - Charlottenburg über die Eignung des Herrn Wrobel als Sachverständigen zu vernehmen. Beide Herren verneinen die Eignung. Das Gericht gibt nach langer Beratung dem Ablehnungsantrage statt. Oberstaatsanwalt Dr.   R e i f e n r a t h   behält sich vor, Herrn Wrobel, der nunmehr den Saal verläßt,   a l s   Z e u g e n   vernehmen zu lassen.

 

Der Vorsitzende beginnt mit der

Vernehmung des Angeklagten.

 

Mit leiser, aber sicherer Stimme und spitzem Akzent schildert Grupen seinen Lebenslauf. Am 20. August 1894 in Haseldorf bei Pinneberg geboren, habe er dort die dreiklassige Volksschule besucht. Nach vollendeter Schulzeit sei er zunächst in einem landwirtschaftlichen Betriebe tätig gewesen und dann zu einem Maurermeister in die Lehre gegangen. Bei seiner Gesellenprüfung sei seine Arbeit als die beste anerkannt worden. Während seiner Ausbildungszeit habe er sich an Vergnügungen nicht beteiligt. Er habe die besten Zeugnisse aufzuweisen. 1914 sei er als Kriegsfreiwilliger bei den Königsulanen in Hannover eingetreten. Im Felde sei er an Typhus erkrankt und vor Verdun habe er den linken Unterarm verloren. Nach seiner Entlassung aus dem Lazarett habe er die staatliche Baugewerksschule in Hamburg besucht und im Sommer praktisch gearbeitet. Auch im Maschinenbaufach habe er sich Kenntnisse angeeignet: einige Monate sei er auf der Vulkan-Werft beschäftigt gewesen. Dort habe er freiwillig seine Entlassung genommen, um sich dann als Bauführer in Hamburg zu betätigen.

 

Zweimal verlobt.

Vorsitzender: Es wird behauptet, daß Sie mehrmals verlobt gewesen seien. - Angekl.: Das ist richtig. - Vorsitzender: Die erste Verlobung ist aufgehoben worden, von wem? - Angeklagter: Von meiner Seite, weil mich die Aeußerung meiner Braut: „Was soll ich mit dem Kriegskrüppel?“ verletzt hatte. - Vorsitzender: Auch Ihre zweite Verlobung ist auseinander gegangen? und Sie sollen dem Mädchen gedroht, ihm sogar einmal einen Drohbrief geschrieben haben? - Angeklagter: Ich habe niemals gedroht. Ich habe nur geschrieben, daß ich die Verlobungsgeschenke zurückhaben möchte, sonst müßte ich gerichtlich vorgehen. - Vorsitzender: Sie sollen das Mädchen, nach dem es sich mit einem Anderen verlobt hatte, mit Erschießen bedroht haben? - Angeklagter: Das ist frei erfunden! - Vors.: Hüten Sie sich, etwas auszusprechen, das Ihnen dann von den Zeugen widerlegt werden könnte. - Oberstaatsanwalt   R e i f e n r a t h :   Als das Mädchen geheiratet hatte, ist der Angeklagte nicht dann zu dem Ehemann gegangen und hat ihm in die Hand versprochen, die Frau in Ruhe zu lassen? - Angekl.: Davon ist mir nichts bekannt. - Vorsitzender: Warum ist nun die zweite Verlobung aufgelöst worden? In der Voruntersuchung haben Sie gesagt, das junge Mädchen sei viel gereist und nicht wirtschaftlich gewesen. - Angeklagter: Nein, ich war selbst schuld daran.

 

Frau Schade = Frau Grupen.

Vorsitzender: Sind Sie damals nicht schon zu Frau Gertrud Schade in Beziehungen getreten? - Angeklagter: Ich lernte Frau Schade im August 1919 kennen. Veranlassung dazu hat eine Zeitungsannonce gegeben, die ich aus Scherz hatte veröffentlichen lassen.

 

Vorsitzender, zu den Geschworenen gewendet: Frau Gertrud Schade war die Tochter der Frau Bankdirektor Eckert aus zweiter Ehe, Frau Rohrbeck die Tochter aus erster Ehe. Frau Rohrbecks Tochter ist die verstorbene Dorothea Rohrbeck, diese also eine Enkelin der Frau Eckert und eine Nichte der Frau Schade. Frau Schade soll ihren Ehemann, der Apothekenbesitzer in Perleberg war, durch ein Jagdunglück verloren haben, stand aber nicht alleine, hatte vielmehr ihr beiden Kinder Ursula und Irma, sowie eine Pflegetochter Ruth bei sich.

 

Angeklagter: Frau Schade wohnte in Itzehoe. Während des Krieges hatte sie ein Verhältnis mit einem Stabsveterinär.

 

Vors.: Frau Schade war 13 Jahre älter. Das wußten Sie. Warum haben Sie sich mit ihr verlobt? Es ist doch selten, daß ein Mann von Ihren Lebensjahren eine um 13 Jahre ältere Witwe mit drei Kindern heiratet. - Angekl.: Ich hatte die Ueberzeugung, daß es eine wirklich gute Frau sei; später bin ich anderer Ansicht geworden. - Vorsitzender: Sie sind also zur Heirat geschritten aus Liebe, nicht aus Berechnung in Hinblick auf das Vermögen der Frau Schade oder um Ihr gesellschaftliches Ansehen zu heben? - Angeklagter verneint das letztere.

 

Vors.: Bei Frau Schade wohnte auch deren Mutter, die Frau Eckert? War Frau Eckert mit der Heirat einverstanden? - Die Antwort des Angeklagten ist unverständlich. Der Tag der Hochzeit sei der 22. Dezember 1919 gewesen. Wir wohnten in Itzehoe im eigenen Hause, das ich einem Umbau unterzog. - Der Vorsitzende stellt fest, daß Grupen schon als Bräutigam Generalvollmacht sowohl von Frau Schade, wie auch von Frau Eckert erhalten habe. Auf Grund dieser Generalvollmacht hat er sich 17 000 Mark aus einer Hypothek abtreten lassen, das Geld aber, das den Kindern der Frau Schade gehörte, an sich genommen. - Angeklagter: Ich habe auf der Quittung ausdrücklich vermerkt, daß ich diese Summe den Kindern zur Verfügung stellen will. Wir haben anfangs glücklich mit einander gelebt. Das Verhältnis trübte sich, als meine Frau mit Forderungen auf ehelichem Gebiete kam, die ich nicht erfüllen konnte. Meine Frau beschäftigte sich auch wenig mit dem Haushalt; sie war bestrebt, viel herum zu reisen. - Vorsitzender: Sie haben in der Voruntersuchung gesagt, daß noch ein anderer Grund mitgewirkt hätte, das Verhältnis nicht zum Besten zu gestalten. - Angeklagter: Meine Frau hatte mir gestanden, ein Verhältnis mit einem Fabrikbesitzer Schultz gehabt zu haben. Dieser Mann gehörte einer Freimaurerloge an, bei der auch der verunglückte Schade Mitglied war. Mit dem Fabrikbesitzer hatte meine Frau als Witwe eine Reise nach Köln gemacht und dort mit ihm mehrere Tage in einem Hotel gewohnt. Ich habe ihr dieses Verhältnis nicht besonders übel genommen. (Da der Angeklagte schwer verständlich wird, muß er auf Anordnung des Vorsitzenden in der Mitte des Saales Platz nehmen.)

 

Vorsitzender: Was waren das für Forderungen, die Ihre Frau an Sie stellte? - Angekl.: Meine Frau hatte stets Bier, Wein und Liköre im Hause gehabt. Einmal hatte sie zu viel getrunken und im Rausch stellte sie an mich Anforderungen, die kein Mensch erfüllen kann. Da sagte sie mir, was der Fabrikbesitzer konnte, mußt Du auch tun können. Weiter hat sie mit Angaben gemacht über das   J a g d u n g l ü c k   ihres Mannes, das gar kein Jagdunglück gewesen sei. - Vorsitzender: Es wird behauptet, daß auf der Jagd auch jener Fabrikbesitzer zugegen gewesen sei. Darauf beziehen sich wohl die Andeutungen, daß es sich nicht um einen Unglücksfall, sondern um einen absichtlichen Mord handele. - Angeklagter: Meine Frau hat, wie ich schon sagte, die Andeutungen im Rauschzustande gemacht. - Vorsitzender: Sie sind später mit Ihrer Frau von Itzehoe nach Ottenbüttel gezogen. Die Anregung soll von Ihnen ausgegangen sein? Angeklagter: Ich habe den Umzug nicht angeregt. Der Umzug war aber notwendig geworden, weil das Wohnungsamt zur teilweisen Beschlagnahme der Räume in Ottenbüttel schreiten wollte und es unzulässig war, daß wir über zwei Wohnungen verfügten. - Vorsitzender: Während Sie im Umzuge begriffen waren, traf der

 

der erste Besuch von Fräulein Dorothea Rohrbeck

 

und Fräulein Zahn ein. - Angeklagter: Wir hatten nach Kleppelsdorf unsere Verheiratung mitgeteilt, die Mitteilung ist aber kühl aufgenommen worden. Ich wollte daher anfangs den Besuch ablehnen. - Vorsitzender: Der Besuch galt ja nicht Ihnen, sondern der Großmutter der Dorothea Rohrbeck, der Frau Eckert. Angeklagter: Fräulein Zahn sagte: sie mach eine Reise zu sämtlichen Verwandten, weil es deren Pflicht sei, ihm im Prozeß gegen den Vormund Vielhack beizustehen.

 

Der   V o r s i t z e n d e   bemerkt aufklärend: Der Vater von Dorothea Rohrbeck hatte im Testament eine gewisse Summe zum Unterhalt seiner Tochter ausgesetzt, aber mit dieser Summe konnte Frl. Zahn wegen der Teuerungsverhältnisse, die inzwischen eingetreten waren, nicht auskommen. Fräulein Zahn hat sich infolgedessen genötigt gesehen, die Hilfe der Verwandten in Anspruch zu nehmen. Der Vormund hatte Fräulein Zahn gekündigt und es war einen Anzahl Prozesse zwischen ihm und Fräulein Zahn entstanden. Fräulein Zahn bestand darauf, daß sie im Testament als Erzieherin der Dorothea Rohrbeck eingesetzt sei. - Angekl.: Fräulein Zahn hat mir gesagt, daß sie sich einschränken und Schulden machen müsse. Ich habe ihr erwidert, sie möchte sich an die Herren Pinge und Alfred Rohrbeck wenden, dann werde ich ihr ebenfalls aushelfen. - Vorsitzender: Haben Sie sich nicht gleich angeboten, aus Ihrem überreichen Einkommen einen Zuschuß zu geben? - Der Angeklagte bestreitet das. - Vors.: Sie sollen bei der Unterredung mit Fräulein Zahn geäußert haben, daß Ihre Frau krebsleidend sei. - Angeklagter: Das hat mir meine Frau selbst gesagt. Ob ich es Fräulein Zahn gesagt habe, ist mir nicht erinnerlich. - Vorsitzender: Sind nicht auch die Briefe zur Sprache gekommen, die Frau Eckert an das Vormundschaftsgericht in Lähn geschrieben hat? - Angeklagter: Das mag sein. - Vorsitzender: Ihre Schwiegermutter, die Frau Eckert, hat in diesen Briefen gegen Fräulein Zahn Stellung genommen, später aber widerrufen und schließlich den Widerruf ebenfalls widerrufen.

 

Vorsitzender: Fräulein Zahn behauptet, Sie hätten ihr auf einem Ausfluge nach Ottenbüttel gesagt, Sie wollten sich von Ihrer Frau scheiden lassen und wollten sie heiraten. - Angeklagter: Es ist möglich, daß ich über das Verhältnis zu meiner Frau gesprochen habe, bestreite aber, Fräulein Zahn einen Heiratsantrag gemacht zu haben.

 

Vors.: Sind Sie nicht mit den Damen auch nach Hamburg gefahren? - Angekl.: Ja! - Vors.: Haben Sie den Damen dort Geschenke gemacht? - Angekl.: Ich habe Fräulein Rohrbeck ein Paar Schuhe geschenkt. Dem Fräulein Zahn habe ich das Geld für ihre Einkäufe ausgelegt. Sie hatte mich darum gebeten und mir gesagt, sie würde es mir in Itzehoe zurückerstatten, hat es aber nicht zurückgegeben.

 

Vors.: Sie hatten den Damen einen Gegenbesuch in Aussicht gestellt und wollten mit Ihrer Frau nach Kleppelsdorf fahren! - Angekl.: Ich bin am 6. September 1920 allein nach Kleppelsdorf gereist. - Vors.: Wenn man verheiratet ist, macht man Gegenbesuche mit seiner Frau. - Angekl.: Der Besuch galt in erster Linie der materiellen Hilfe für Fräulein Rohrbeck. Ich habe auch in Kleppelsdorf die dringendsten Rechnungen bezahlt. - Vors.: Ja, Fräulein Zahn spricht von 850 und 2000 Mark. - Angekl.: Die Summen weiß ich nicht mehr genau.

 

Vors.: Bei dieser Gelegenheit sollen Sie geäußert haben, Sie möchten sich in Kleppelsdorf oder Umgegend als Naturfreund niederlassen? Sie wollten mit Fräulein Bauer, der Tochter des Gegenvormundes, in Verkehr treten und die Stimmung der Vormünder erkundigen. - Angekl.: Fräulein Zahn sagte mir, Fräulein Bauer könne keinen Mann bekommen. - Vors.: Hatten Sie nicht auch geäußert, daß Sie die Verwaltung des Gutes Kleppelsdorf übernehmen würden? - Angekl.: Davon ist keine Rede gewesen. Als ich hörte, daß die Felder nicht richtig abgeerntet würden, habe ich nur gesagt, daß ich die Bewirtschaftung anders machen würde. Zur Verwaltung des Gutes fehlten mir aber die nötigen Kenntnisse vollkommen. Ich war zwei Tage in Kleppelsdorf und bin nach Hause gefahren, nachdem ich den Besuch meiner Frau in Aussicht gestellt hatte.

 

Das Verschwinden von Frau Grupen.

Vors.: Was ist dann in Ottenbüttel passiert? Hatte Ihre Frau irgend etwas angedeutet, was sie beabsichtigte? - Angekl.: Meine Frau machte Andeutungen, daß   s i e   n a c h   A m e r i k a   fahren wolle.

 

Vors.: Wir kommen nun zu dem   V e r s c h w i n d e n   I h r e r   F r a u .   Da möchte ich Sie bitten, sich möglichst ausführlich zu äußern. Es ist doch an und für sich ganz wunderbar, daß eine Frau, die erst kurze Zeit verheiratet ist, Ihren Mann und ihre Kinder verläßt, um nach Amerika zu gehen. - Angekl.: Sie hat keinen Grund angeführt. - Vors.: Was sagten Sie als Ehemann? - Ich habe das nicht ernst genommen. Ich habe es als Scherz aufgenommen.

 

Vors.: Am 17. September sind Sie mit Ihrer Frau und Ihrer Schwiegermutter zum Notar nach Itzehoe gefahren. - Angekl.: Dort hat meine Frau zwei Hypotheken im Betrag von 52 000 Mark auf meinen Namen schreiben lassen. - Vors.: Haben Sie sich nicht auch von Frau Eckert Generalvollmacht erteilen lassen? - Angekl.: Nur auf Wunsch meiner Frau.

 

Vors.: Sie waren also jetzt im Besitz einer Generalvollmacht von Ihrer Frau, von Ihrer Schwiegermutter und ließen sich auch noch Hypotheken abtreten. Haben Sie denn vor dem Notar erklärt, daß Sie den Gegenwert für die Hypotheken gegeben haben? - Angekl.: Der Notar hat die Frage aufgeworfen, ob der Gegenwert erledigt sei. Darauf hat meine Frau gesagt: Ja, also eine Antwort gegeben, die nicht mit den Tatsachen übereinstimmte.

 

Vors.: Am 18. September sind Sie mit Ihrer Frau wieder beim Notar gewesen. Was haben Sie da gemacht? - Angekl.: Da haben wir die   G ü t e r t r e n n u n g   erklärt. - Vors.: Es ist doch wunderbar, wenn Sie auf einmal ohne gerichtlichen Grund Gütertrennung vereinbaren, nachdem Sie sich von Ihrer Frau und Schwiegermutter Generalvollmacht hatten geben lassen. - Angekl.: Die Gütertrennung ist von meiner Frau gewünscht worden. Ueber den Grund bin ich mir heute noch nicht klar. - Vors.: Ich auch nicht.

 

Was passierte am 19. September,

der ein Sonntag war? - Angekl.:   D a   i s t   m e i n e   F r a u   a b e n d s   n a c h   I t z e h o e   g e f a h r e n .   - Vors.: Wollen Sie sich nicht näher darüber auslassen?

 

Angekl.: Meine Frau wollte angeblich   n a c h   K l e p p e l s d o r f   fahren. - Vors.: Wie verabschiedete sich Ihre Frau von den Kindern und ihrer Mutter? - Angekl.: Nach meiner Ansicht hat sie sich wie immer verabschiedet. Ich habe dabei nichts beonderes gefunden.

 

Vors.: Hat Frau Eckert nicht eine Aeußerung getan: ach, es sei so traurig, daß die Tochter wegfahre, und hat Ihre Frau darauf nicht geantwortet: ach, ich fahre ja bloß nach Kleppelsdorf und bin bald wieder da? - Angekl.: Das ist mir nicht erinnerlich.

 

Vors.: Nun fuhren Sie im Wagen mit Ihrer Frau nach Itzehoe, acht Kilometer von Ottenbüttel. Nahmen Sie noch jemand mit? - Angekl.: Ja, die beiden Dienstmädchen, die Kläschen und die Gnierakowski. - Vors.: Lenkten Sie das Fuhrwerk selbst? - Angekl.: Ja. - Vors.: Wie war Ihre Frau bekleidet? - Angekl.: Sie hatte einen grünen Hut. Ob sie einen Mantel hatte, kann ich nicht genau sagen, aber einen Pelzkragen hatte sie mit. - Vors.: Wie war die Frau unterwegs? - Angekl.: Es ist mir nichts aufgefallen.

 

Vors.: Unterwegs haben Sie Kläschen und dann die Gnierakowski abgesetzt? Hat Ihre Frau auf dem Wege der Kläschen irgend etwas gegeben? - Angekl.: Ich habe gesehen, daß meine Frau der Kläschen einen Brief übergab. Sie äußerte dabei, daß in dem Briefe etwas bezüglich der Wäsche enthalten sei. Ich habe mich infolgedessen um den Brief nicht weiter gekümmert.

 

Vors.: In welchem Zuge ist Ihre Frau gefahren? - Angekl.: Das kann ich nicht sagen, weil ich am Bahnhof bei den Pferden geblieben bin. - Vors.: Also Sie haben Ihre Frau nicht auf den Bahnsteig begleitet? Hatte Ihre Frau nichts im Wagen zurückgelassen? - Angekl.: Ja, den Pelzkragen.

 

Vors.: Sie sind dann nach Ottenbüttel zurückgefahren. In der Voruntersuchung haben Sie ausgesagt, daß Sie eines der Dienstmädchen, das Sie während der Fahrt abgesetzt hatten, im Vereinshause abholen wollten? - Angekl.: Es kann möglich sein, daß ich dies dem Mädchen versprochen habe, aber weil es spät geworden war, bin ich allein nach Hause gefahren.

 

Vors.: Sie behaupten also, daß Sie vom Bahnhof Itzehoe sofort nach Hause gefahren und dort geblieben sind. Was passierte am nächsten Morgen? Ich möchte bemerken, daß   s e i t   d e m   1 9 .   S e p t e m b e r   F r a u   G r u p e n   v e r s c h w u n d en   i s t .   A l l e   N a c h f o r s c h u n g e n   n a c h   i h r   h a t t e n   k e i n e n .   Auch auf die Nachrichten in den Zeitungen über den Tod ihrer eigenen Tochter hat sie kein Lebenszeichen gegeben. - Angekl.: Frau Eckert sagte, sie glaube nicht, daß meine Frau nach Kleppelsdorf gefahren sei. Daraufhin habe ich nach Kleppelsdorf telegraphiert: „Trude nach dort abgereist.“

 

Vors.: Was hatte die Kläschen auf dem Abort gefunden? - Angekl.: Einen Brief von meiner Frau. - Vors.: Was stand in dem Briefe? - Angekl. zögernd: In dem Briefe waren Angaben gemacht,   d a ß   s i e   n i c h t   n a c h   K l e p p e l s d o r f   f a h r e ,   sondern verreisen wolle. - Vors.: Hat nichts von den Kindern und der Mutter daringestanden und davon, daß sie nach Amerika gehe und daß die Mutter und die Kinder unbesorgt sein könnten? - Angekl.: Das weiß ich nicht.

 

Vors.: Am 20. September war Ihr Geburtstag. War da nicht eine kleine Feier in Aussicht genommen? - Angekl.: Nein, meine Frau hat vor ihrer Abreise zum Ausdruck gebracht, daß der Geburtstag acht Tage später gefeiert werden soll.

 

Der Inhalt der Stahlkassette.

Vors.: Sie sind in dieser Zeit zu dem Steuerbeamten Lange gegangen und haben ihm erzählt, daß Ihnen ein Schlüssel zur   S t a h l k a s s e t t e   fehle. Was hatten Sie in der Kassette? - Angekl.: Mein Geld. - Vors.: Lange hat Ihnen einen Rat gegeben, wie man die Kassette ohne Schlüssel öffnen könne. Diesen Rat haben Sie auch befolgt. - Angekl.: Ja, ich habe die Mädchen aus der Küche gerufen. Die Mädchen haben die Kassette gehalten, ich habe dagegen geschlagen und da sprang die Kassette auf. Ich sah, daß kein Geld darin war, sondern nur ein Kouvert und mehrere kleine Zettel. Das Kouvert war an den Rechtsanwalt und Notar Reinicke in Itzehoe gerichtet. - Vors.: Haben Sie sonst noch etwas gefunden? - Angekl.: Es lag ein Zettel darin, eine   A b r e c h n u n g   v o n   d e r   S p a r k a s s e .

 

Vors.: Es ist festgestellt worden, daß   F r a u   G r u p e n ,   bevor sie verschwand, die   E i n z a h l u n g e n   f ü r   i h r e   K i n d e r   I r m a   u n d   U r s u l a   u n d   d a s   P f l e g e k i n d   R u t h   v o n   d e r   S p a r k a s s e   a b g e h o b e n   und daß sie sich dann persönlich am 18. September von Itzehoe   n a c h   L ü b e c k   a b g e m e l d e t   hat. Frau Grupen hatte sich vor ihrer Abreise auch bemüht, einen Anteilschein der Handelsgesellschaft deutscher Apotheker über 17 000 Mk. abzusetzen. - Angekl.: Der Anteilschein ist für 12 000 Mk. angeboten worden, meine Frau hat also unbedingt Geld haben müssen.

 

Verteidiger Justizrat Dr.   M a m r o t h   wirft die Frage auf, ob Frau Grupen vor ihrer Abreise sich hat Kleider ausbessern und Kostüme anfertigen lassen, und ob sie viel in Schauspielerkreisen verkehre. - Vors.: Ist Ihre Frau während der Kriegszeit Vereinen beigetreten und wollte sie nicht zur Bühne gehen? - Angekl.: Schon in ihrer Jugendzeit wollte sie zur Bühne, hat aber von den Eltern nicht die Erlaubnis erhalten. Vor ihrer Abreise hatte sie sich fünf Kleider machen lassen und die Sachen in einen Koffer verpackt.

 

Vors.: Sie nehmen an, daß diese 60 000 Mk. Ihre Frau mitgenommen hat? - Angekl.: Ja, meine Frau war immer bestrebt, sich viele Barmittel zu verschaffen.

 

Vors.: Was geschah mit dem Kouvert, das Sie in der Kassette gefunden haben? - Angekl.: Ich habe es zu dem Notar Reinicke geschafft, der hat das Kouvert geöffnet, da waren verschiedene Briefe drin. Die Briefe hat dann der Notar geöffnet. Es stand darin,   d a ß   m e i n e   F r a u   m i c h   v e r l a s s e n   h a t   und die Briefe waren gerichtet an Boos, Schade, Dorothea Rohrbeck, Frau Eckert, an einen Amtsrichter und an noch zwei Personen.

 

Vors.: Haben Sie nun sofort der Frau Eckert mitgeteilt, daß ihre Tochter nach Amerika gegangen sei? - Angekl.: Nein, mit diesen Briefen bin ich nach Berlin gefahren zum Herrn Schade, dem Vater des verunglückten ersten Mannes meiner Frau. Von Berlin fuhr ich nach Kleppelsdorf. - Vors.: Sie hatten aber gehört, daß Ihre Frau in Kleppelsdorf nicht eingetroffen sei? - Angekl.: Ich habe angenommen, daß sie sich verspätet und inzwischen doch dort angelangt sei.

 

Der Koffer der Frau Grupen.

Staatsanwalt: Warum schickten Sie ihr nicht bald den Koffer nach? Die Frau hatte doch kein Stück Wäsche mit. - Angekl.: Das konnte ich nicht wissen. - Vors.: Sie haben aber Ihrer Frau nach Kleppelsdorf telegraphiert: Koffer noch hier. - Verteidiger Dr. Ablaß: War irgend etwas über die Dauer der Reise nach Kleppelsdorf gesprochen worden? - Angekl.: Es waren acht Tage vorgesehen. - Staatsanwalt: Der Angeklagte wußte ganz genau, daß der Koffer in eine Waschanstalt nach Hamburg geschickt werden sollte und daß über den Koffer gar nicht mehr zu verfügen war. Der Vorsitzende verliest den Brief, den Frau Grupen auf der Fahrt zum Bahnhof Itzehoe dem Dienstmädchen übergeben hatte und der an den Knecht Raske gerichtet war. Der Brief lautet: „Otto soll morgen früh, den 20. 9. 20, wenn die Kinder zur Schule gefahren werden, den Rohrplattenkoffer, der im Schlafzimmer steht, Inhalt schmutzige Wäsche, als Eilgut auf meinen Namen nach Itzehoe-Bahnhof senden, wo derselbe abgeholt wird.“ Staatsanwalt: Der Koffer hatte also für die Frau gar kein Interesse mehr. Warum telegraphiert der Angeklagte: „Koffer noch hier.“ Warum ist der Koffer, der als Eilgut abgesandt werden sollte, 14 Tage stehen geblieben? - Angekl.: Der Transport des Koffers war mit dem Wagen, mit dem die Kinder zu Schule fuhren, nicht möglich. Ich hätte einen besonderen Wagen stellen müssen, aber die Pferde fehlten.

 

Vors.: Wann ist Ihnen der Zettel an Raske ausgehändigt worden? - Angekl.: Meines Wissens habe ich ihn erhalten, bevor der Abschiedsbrief bekannt wurde.

 

Vors.: Es ist auffallend, daß Sie, obwohl Sie und Ihre Frau Bankkonten hatten, einen so großen Betrag von 60 000 Mark in der Kassette verwahrten. - Angekl.: Der Betrag war kurz vorher eingegangen aus dem Verkauf von Vieh.

 

Vors.: Von Berlin fuhren Sie nach Kleppelsdorf. Am 26. September waren Sie dort. Was wollten Sie in Kleppelsdorf? - Angekl.: Ich wollte Dörte bitten, zur alten Großmutter zu kommen. Ich nahm an, daß Dörte als Enkelin der Großmutter etwas zur Seite stehen könnte.

 

Vors.: Was sagten Sie den Damen über das, war in Ottenbüttel passiert war? - Angekl.: Ich habe erzählt, daß meine Frau mich verlassen habe und daß sie Geäußert habe, nach Amerika zu wollen. - Vors.: Haben Sie auch gesagt, daß die Frau nach Kleppelsdorf fahren sollte, um den Damen Geld zu bringen? - Angekl.: Das kann möglich sein.

 

Vors.: Warum veranlaßten Sie Dorothea Rohrbeck, zur Großmutter zu fahren, warum sollte Fräulein Zahn nicht mit? - Angeklagter: Weil Fräulein Zahn mit Frau Eckert nicht gut stimmte.

 

Staatsanwalt: Ist es wahr, daß Ihre Frau 10 000 Mach nach Kleppelsdorf bringen wollte? - Angekl.: Das hat sie mir gegenüber zum Ausdruck gebracht.

 

Mit Dorothea Rohrbeck in Berlin.

Vors.: Sie fuhren also mit Fräulein Rohrbeck nach Berlin. Was haben Sie dort gemacht? - Angekl.: Ich habe Fräulein Rohrbeck zunächst im Christlichen Hospiz untergebracht und bin dann gegangen, eine Wohnung zu suchen. Als ich zurückkam, ging ich mit Fräulein Rohrbeck und einer Freundin von ihr in ein Restaurant. - Vors.: Als Sie mit den Damen in dem Restaurant saßen, sollen Sie plötzlich aufgesprungen sein und gesagt haben:   D a   g e h t   m e i n e   F r a u   v o r ü b e r !   - Angekl.: Ich habe damit zum Ausdruck bringen wollen, daß die vorübergehende Frau Aehnlichkeit mit meiner Frau hatte. - Vors.: Warum sind Sie aber sofort weggegangen? - Angekl.: Weil ich mit meinem Anzug nicht für das vornehme Lokal paßte.

 

Vors.: Nun sollen Sie bei einer Frau in Altona ein Zimmer für Sie und Ihre Nichte bestellt haben. - Angekl.: Ich habe nur für Dörte für den   T a g   ein Zimmer bestellt, damit sie sich von der Fahrt ausruhen konnte, während ich auf dem Versorgungsamt zu tun hatte.

 

Vors.:   D o r o t h e a   R o h r b e c k   h a t   o f f e n b a r   e i n e   g r o ß e   A n t i p a t h i e   g e g e n   S i e   a u f   d i e s e r   F a h r t   b e k o m m e n   u n d   v o n   B e r l i n   a u  s   a n   F r ä u l e i n   Z a h n   g e s c h r i e b e n ,   s i e   m ö c h t e   s o f o r t   n a c h k o m m e n ,   s o n s t   v e r z w e i f l e   s i e .   - Angekl.: Ich bestreite, Fräulein Dorothea Rohrbeck Veranlassung gegeben zu haben, diesen Brief zu schreiben.

 

Der Abschiedsbrief von Frau Grupen an ihre Mutter.

Vors.: Sie kamen nun mit Dorothea Rohrbeck bei der Großmutter in Itzehoe an. Was machten Sie dort? - Angekl.: Dort habe ich Frau Eckert den Abschiedsbrief gegeben. - Der Vorsitzende legt dem Angeklagten den Brief vor, der ihn wieder erkennt.

 

Vors.: Der Abschiedsbrief, den eine Tochter, die nach Amerika geht, an ihre Mutter schreibt, lautet:

 

„Ottenbüttel, 12. September 20.

Meine liebe Mutter!

Wenn Du in den Besitz dieser Zeilen gelangst, bin ich auf dem Wege nach Amerika, den ich ja schon des öfteren in Gedanken zurückgelegt habe, wie Du aus meinen Bemerkungen entnehmen konntest. Lange genug habe ich die Fessel in Deutschland getragen, und hat sich endlich mein Künstlerblut dagegen aufgelehnt, indem ich Deutschland den Rücken kehre. Du darfst nicht denken, daß Peter die Veranlassung zu diesem Schritt war, respektive unser Zusammenleben. Denn den Plan hatte ich schon, bevor ich Peter kennen lernte, und waren mir nur durch die Verhältnisse und meinen Besitz die Hände gebunden. Peter wird für die Kinder sorgen und Dir helfen. Es küßt Dich in Liebe

Deine Tochter Trude.“

 

Vors. zum Angeklagten: Haben Sie einen Abschiedsbrief von Ihrer Frau bekommen? - Angekl.: Nein.

 

Vors.: War nun die Großmutter sehr erfreut über den Besuch ihrer Enkelin? - Angekl.: Meines Erachtens war sie nicht sehr erfreut, aber auch nicht traurig. - Vors.: Sie sind mit Fräulein Rohrbeck drei oder vier Tage bei der Großmutter geblieben? Was geschah dann?

 

Die Fahrt auf dem Alster - Bassin.

Angekl.: Wir fuhren nach Hamburg. Fräulein Zahn war inzwischen nachgekommen. - Vors.: Auf dieser Reise haben Sie die beiden Damen auf dem Alsterbassin gerudert? Es wird Ihnen zum Vorwurf gemacht, daß Sie Dorothea Rohrbeck zweimal in Lebensgefahr gebracht haben. - Angekl.: Dörte hat schon immer für eine Alsterfahrt geschwärmt. Ich habe ihr daher den Vorschlag gemacht, nicht ins Theater zu gehen, sondern den Nachmittag zu einer Ruderpartie zu benutzen. - Vors.: Es wird Ihnen zur Last gelegt, daß Sie immer in die Wellen der Dampfer hineingefahren sind und dadurch das Boot in Gefahr gebracht haben, so daß sogar einmal vom Dampfer gerufen wurde: Vorsicht! Es kommen zwei Vorfälle in Betracht, einmal war Fräulein Zahn dabei. - Angekl.: Fräulein Zahn war ängstlich, während die Dörte scherzte. - Vors.: Sie sollen einmal das Ruder weggeworfen und sich dann lang in das Boot hingelegt haben, so daß Fräulein Rohrbeck um Hilfe gerufen habe. - Der Angeklagte bezeichnet den Vorfall als harmlos. Um das Ruder zu haschen, das dem Fräulein Rohrbeck entfallen war, habe er sich stark nach vorn gelegt; sich lang hinzulegen, sei bei der Konstruktion des Bootes ganz unmöglich. - Vors.: Fräulein Rohrbeck hat sich zu einer ganzen Anzahl Personen ausgelassen, daß der Vorgang nicht so harmlos gewesen sei. Sie will das sichere Gefühl gehabt haben,   d a ß   S i e   i h r   n a c h   d e m   L e b e n   t r a c h t e t e n .   - Angekl.: Ich kann nicht glauben, daß Fräulein Rohrbeck so etwas gesagt hat. - Verteidiger Dr. Mamroth: Haben Sie etwa das Mädchen mit seiner Angst geneckt? Der Angeklagte gibt dies als möglich zu. Ueberdies sei er ein guter Schwimmer, aber die Vorgänge seien ganz ungefährlich gewesen.

 

Vors.: Warum hatten Sie in Hamburg den Damen erklärt, Sie müßten plötzlich zu Ihrer kranken Mutter? - Angekl.: Ich hatte Fräulein Zahn 7500 Mark übergeben und ihr gesagt, daß ich unmöglich länger dableiben könne. Bald würde ich aber in der Lage sein, ihr weitere Mittel zu übersenden. Augenblicklich wäre ich wegen der Mitnahme der Gelder durch meine Frau hierzu nicht in der Lage. Fräulein Zahn sagte, ich solle auf keinen Fall Gelder an das Postamt in Lähn, sondern an die Post in Hirschberg adressieren, denn in Lähn dürfe kein Mensch etwas davon wissen.

 

Eine neue Reise Dorotheas.

Vors.: Nach Oldenbüttel zurückgekehrt, haben Sie am 1. November Fräulein Rohrbeck 500 Mark übersandt mit der Aufforderung, am nächsten Tage nach Berlin zu kommen. - Angekl.: Ich habe nach Kleppelsdorf ein Telegramm gesandt und angefragt, ob eine Zusammenkunft in Berlin erwünscht wäre. Darauf ist eine bejahende Antwort eingegangen.

 

Vors.: Bereits am 30. Oktober telegraphierten Sie: Erwarte Dich bestimmt Dienstag abend 10 Uhr Wartesaal zweiter Klasse Görlitzer Bahnhof. Sie kamen auf einmal auf dem Görlitzer Bahnhof mit dem Auto vorgefahren und sagten, Sie müßten sofort nach Hamburg. Was sollten die Damen mit Ihnen in Hamburg? - Angekl.: Dort hatte ich von einem Geschäftsfreund Geld zu erwarten, mit dem ich Fräulein Zahn helfen wollte.

 

Vors.: Haben Sie den Damen nicht gesagt, Sie müßten sie auch mitnehmen nach Itzehoe, dort brauchten Sie ihre Unterschrift in einem Familienrat im Kampfe gegen den Vormund? - Angekl.: Fräulein Zahn hat mich gebeten, an dem Familienrat teilzunehmen.

 

Vors.: Warum sind Sie aber von Hamburg nach Kiel gefahren? - Angekl.: Weil bei den großen Ausgaben, welche Frl. Zahn machte, der Aufenthalt in Hamburg teurer gewesen wäre, als die Fahrt nach Kiel.

 

Vors.: Haben die Damen auf dem Rückwege von Kiel nach Hamburg davon gesprochen, daß Sie ihnen Geschenke machen wollten? Ob sie etwa einen Weihnachtswunsch hätten? - Angeklagter: Ja! Die Dörte hat einen Wunschzettel geschrieben und mit ausgehändigt. Fräulein Rohrbeck wünschte sich verschiedene Kleiderstoffe. Dem Fräulein Zahn wollte ich eine jährliche Rente von 10 000 Mark aussetzen.

 

Der Vorsitzende ersucht den Angeklagten um nähere Angaben über die angeblichen großen Ansprüche des Fräulein Zahn und ersucht ihn, sich dabei nicht in Widerspruch zu setzen mit den Aussagen, die Fräulein Zahn beeiden werde. In der Voruntersuchung habe der Angeklagte auf viele Fragen die Antwort verweigert, auf andere Fragen erklärt, darüber erst mit Auskunft zu geben, wenn er sich mit seinem Verteidiger beraten habe. - Verteidiger Dr. Ablaß bemerkt, er habe in der Voruntersuchung dem Angeklagten gesagt, wenn er etwas nicht genau wisse, solle er angeben, sich darüber erst später erklären zu wollen, um sich nicht in Widersprüche zu verwickeln und dadurch einen ungünstigen Eindruck zu machen. - Vorsitzender: Man kann aber aus dieser Erklärung andere Schlüsse ziehen. Welche Schlüsse die Geschworenen ziehen, unterliegt nicht meiner Beurteilung.

 

Vors.: Weiß der Angeklagte nicht anzugeben, wie groß die Ausgaben waren, die Fräulein Zahn gemacht? - Staatsanwalt: Warum hat der Angeklagte die Damen überhaupt nach Berlin eingeladen, und warum ist er nach Kiel anstatt nach Hamburg gefahren? - Angekl.: Ich bin nach Kiel gefahren, weil mir der Aufenthalt der Damen in Hamburg zu teuer geworden wäre, außerdem wollte ich in Kiel meine kranke Mutter besuchen.

 

Vors.: In Hamburg sollen Sie mit den Damen in ein Absteigequartier gegangen sein? - Angekl.: Ich wußte nicht, daß es ein solches Quartier ist und ich glaube es auch nicht. - Vors.: Die Damen sollen sich hier aber gar nicht wohlgefühlt haben, auch das Zimmer gefiel ihnen nicht. Wohnten Sie übrigens in derselben Wohnung? - Angekl.: Jawohl, aber in einem anderen Zimmer. - Vors.: Sie sollen abends weggegangen sein und nachts an die Tür der Damen geklopft haben? - Angekl.: Ich sah noch Licht in ihrem Zimmer und wünschte ihnen „Gute Nacht“. Dabei habe ich an die Zimmertür geklopft. - Der Angeklagte bestreitet dann, daß er, wie man ihm zum Vorwurf macht, in Hamburg überhaupt ein Absteigequartier gehabt habe.

 

Vors.: Am anderen Morgen sollen Sie nun den Damen erklärt haben, daß Sie ihnen finanziell nicht helfen könnten. - Angekl.: Jawohl, ich schickte Fräulein Zahn eine Visitenkarte. - Der Inhalt der Karte wird verlesen und lautet: „Liebe Berti! Ich werde um 10 Uhr nicht hier sein können, da ich zu meinem Bruder zu einer notwendigen Besprechung muß.“ - Vors.: Und zwei Stunden später schrieben Sie dann einen Brief, daß Sie in der ganzen Voruntersuchung nichts darüber geäußert, daß Sie Ihr ganzes Vermögen verloren hätten, und schickten ihnen 200 Mark, damit sie nach Hause fahren konnten. - Der Angeklagte bejaht dies.

 

Grupen nach der Abreise seiner Frau.

Vors.: Was haben Sie in Oldenbüttel über den Verbleib ihrer Frau mitgeteilt? Haben Sie überhaupt Ermittelungen angestellt? - Angekl.: Ich habe geglaubt, daß sie sich bei dem Fabrikbesitzer Schulz, mit dem sie ein Verhältnis hatte, aushalte.

 

Vors.: Der Frau Eckert haben Sie gesagt, Ihre Frau sei nach Hamburg, bei Vielhaak haben Sie gesagt, daß Sie mit Ihrer Frau schiedlich friedlich auseinander gegangen seien. Einer anderen Frau haben Sie gesagt, daß sie zu einer Freundin gefahren sei, und wieder einer anderen Frau, daß sie zur Bühne gegangen sei.

 

Verteidiger   D r .   A b l a ß   fragt, ob es richtig sei, daß der   F a b r i k b e s i t z e r   den ehebrecherischen Verkehr mit   G r u p e n s   F r a u   auch nach dem Tode ihres ersten Mannes fortgesetzt habe, und ob Frau Grupen aus Perleberg gegangen sei, weil sie von der Gesellschaft gemieden wurde, und ob ein Verfahren gegen den Fabrikbesitzer wegen des angeblichen Jagdunglücks des Schade geschwebt habe. Der Angeklagte bejaht das erstere, ob aber ein Ermittelungsverfahren gegen den Fabrikbesitzer geschwebt hat, weiß er nicht.

 

Ein Geschworener: Wie ist es möglich, daß der Angeklagte innerhalb dreier Stunden sein ganzes Vermögen verloren hat? - Angekl.: Ich hatte einem Geschäftsfreund großes Vertrauen entgegengebracht. - Vors.: Wie groß war der Verlust? - Angekl.: Das weiß ich nicht genau.

 

Grupen und Fräulein Zahn.

Vors.: Wir kommen jetzt zu einem anderen Kapitel. Nachdem, was Sie uns bisher erzählt, Angeklagter, haben Sie für Fräulein und Fräulein Rohrbeck sehr freundschaftliche Gefühle gehegt. Hinter deren Rücken haben Sie aber ganz anders gehandelt. Am 14. September haben Sie an   V i e l h a c k   geschrieben, daß Sie mit ihm in Verbindung treten wollen. Was erzählten Sie nun dem Vormund? - Angekl.: Ich mußte annehmen, daß die Sache mit dem Vormund nicht so schlimm sei. - Vors.: Haben Sie dem Vormund nicht auch erzählt, daß Fräulein Zahn für die Erziehung der Dörte nicht geeignet sei? - Angekl.: Jawohl, in einigen Punkten war ich auch der Ansicht. - Vors.: Wieso? - Angekl.: Fräul. Zahn erzählte dem Kinde ihre Liebesgeschichte. - Vors.: Was war das für eine Liebesgeschichte? - Angekl.: Sie hätte zu Rohrbeck in näheren Beziehungen gestanden.

 

Vors.: Es ist richtig, daß sie in sehr nahen Beziehungen zur Familie Rohrbeck gestanden hat, denn sie hat sich des Kindes nach dem Tode der Mutter angenommen, und Rohrbeck hat sie noch auf dem Sterbebett heiraten wollen. Angeklagter, Sie scheinen auch hier den Mund recht voll genommen zu haben. - Angekl.: Ich möchte hier keine weiteren Erklärungen abgeben.

 

Vors.: Sie haben weiter dem Vormund erklärt, daß Fräulein Zahn zu viel ausgebe. Sie hätten ihr bereits 3000 Mk. gegen Quittung gegeben, und nun wollte sie noch 8000 Mk. haben. Eine Quittung ist aber tatsächlich nicht vorhanden. - Der Angeklagte erklärt hierzu, daß in der Tat eine solche Quittung nicht vorhanden sei, daß ihn aber der Vormund deshalb als Zeugen vorschlagen wollte in einem Prozeß, der zwischen dem Vormund und Fräulein Zahn schwebte. Er habe aber gebeten, davon abzusehen, weil er erst nach Kleppelsdorf fahren und Erkundigungen einziehen wollte.

 

Vors.: Auf der einen Seite machen Sie also Geschenke, auf der anderen Seite stellen Sie sich dem Vormund zur Verfügung. Sie haben dann dem Vormund geschrieben, daß Sie kommen wollen, tatsächlich sind Sie aber erst am 12. Januar zu ihm gefahren und haben hier Fräulein Zahn schlecht gemacht. U. a. haben Sie erzählt, daß Fräulein Rohrbeck zuviel Zigaretten rauche usw. - Der Angeklagte erklärt hierzu, daß er es nicht für recht gehalten habe, daß Fräulein Zahn es billigte, daß Dörte sich von dem Taschengeld, das er, Grupen, ihr gegeben, sich sofort eine Zigarettenspitze gekauft habe.

 

Die Reise nach Kleppelsdorf.

Weiter wird festgestellt, daß Grupen nach Kleppelsdorf geschrieben hat, Vielhack wolle ihn in dem Prozeß als Zeugen nennen, die Dörte und Fräulein Zahn möchten deshalb nach Hamburg kommen. Inzwischen hatte man in Kleppelsdorf erfahren, daß Grupen tatsächlich als Zeuge benannt war, und Dorothea Rohrbeck fragte ihn deshalb brieflich, ob dies wahr sei. Grupen schrieb dann, daß er eventuell auch nach Hirschberg kommen könne, um mit dem Notar Rechtsanwalt Dr. Pfeiffer die Sache zu besprechen. Fräulein Zahn teilte Grupen mit, er solle nach Hirschberg zum Notar kommen. Darauf telegraphierte Grupen, er komme; ob die Großmutter vorübergehend mitkommen dürfe.

 

Vors.: Was wollten Sie mit dem Rechtsanwalt besprechen? - Angekl.: Ich war mißtrauisch geworden, ob die Angaben von Fräulein Zahn auch stimmten. Der Vormund erzählte mir, daß man in Kleppelsdorf zu große Ausgaben mache, während man mir dort gesagt hatte, der Vormund habe den Wald, das Auto und die Pferde verschleudert, sodaß sie nicht einmal Pferde hätten, um das Korn vom Felde abzufahren. Von Kleppelsdorf war die Antwort gekommen: „Besuch willkommen.“

 

Darauf reiste der Angeklagte mit Frau Eckert, der Ursula und Irma Schade, sowie der Stütze Mohr nach Kleppelsdorf.

 

Vors.: In Kleppelsdorf war der Empfang wohl etwas kühl, weil fünf statt zwei Personen kamen. - Angekl.: Als wir in Kleppelsdorf ankamen, haben wir lange warten müssen, ehe man uns ein Zimmer anwies. Frau Eckert war darüber ehr ärgerlich, ebenso Ursula. Wie der Angeklagte weiter erzählt, war Frau Eckert so erregt, daß sie sagte: Sie werde es der Kleppelsdorfer Gesellschaft noch abgewöhnen, und es würde in Kleppelsdorf, wie der Vormund gesagt hätte, noch ein Ende mit Schrecken nehmen.

 

Hierauf wurden zum besseren Verständnis für die Geschworenen zwei Tafeln aufgestellt, auf denen die Grundrisse des Schlosses aufgezeichnet waren. An Hand dieser Zeichnungen zeigte der Angeklagte dann, daß seiner Familie im Erdgeschoß eine Wohnung angewiesen wurde und zwar im sogenannten Schlafzimmer. Aus diesem führt eine Tür in die Plättstube, daran anstoßend war das sogenannte Amtszimmer. Der Angeklagte selbst schlief im zweiten Stock in einem anderen Flügel.

 

Keine falsche eidesstattliche Versicherung.

 Am 9. Februar fuhr Grupen zum Rechtsanwalt Dr. Pfeiffer in Hirschberg. Dort sollte er eine eidesstattliche Versicherung abgeben, daß ihm nichts davon bekannt sei, daß die Rohrbeck für Fräulein Zahn einen Revers unterschrieben habe. Der Angeklagte bemerkt weiter, daß er Frau Eckert nicht beeinflußt habe und daß er keine falsche eidesstattliche Versicherung fallen gelassen.

 

Vors.: Womit vertrieben Sie sich in Kleppelsdorf die Zeit? - Angekl.: Ich habe gelesen und hielt mich in der Regel in den Räumlichkeiten des ersten Stockes auf. - Der Angeklagte gibt dann eine nähere Erklärung der Räumlichkeiten im ersten Stock. Diese bestanden in einem Schlafzimmer, einem Kinderzimmer, an das sich das sogenannte   W i n t e r - W o h n z i m m e r   schloß. Dieses hatte einen Ausgang nach dem Kinderzimmer und einen durch ein Schrankzimmer auf den Flur. - Vors.: Haben Sie in Kleppelsdorf Ausflüge gemacht? - Angekl.: Blos einmal, sonst war ich immer zu Hause.

 

Die Traurigkeit Ursula Schades.

Vors.: Was machten die Kinder? - Angekl.: Die haben gelesen. Nachdem der Vorsitzende bemerkt, daß die Kinder recht vergnügt gespielt haben sollen, fragt er den Angeklagten: In welcher Gemütsverfassung war   U r s u l a ?   - Angeklagter: Sie war in Itzehoe manchmal sehr traurig und hat öfter geweint. Ich habe wiederholt versucht, den Grund zu erforschen, sie sagte ihn mir aber nicht. Auf der Fahrt hierher, - wir fuhren zweiter Klasse, - hatte ich auch den Kindern gesagt, sie möchten sich etwas hinlegen. Ursula tat es aber nicht. Während der Fahrt äußerte Ursula, sie freue sich gar nicht mehr auf den Besuch, habe auch Dörte nicht mehr lieb, weil sie so häßlich zur Großmutter sei. Ich glaube nicht, daß, wie man sagt, Ursula auf der Fahrt vergnügt gewesen sei. - Vors.: Haben Sie bemerkt, daß Ursula eine sogenannte Untertasche trug. - Angekl.: Das weiß ich nicht. - Der Angeklagte gibt dann noch an, daß ihm Frau Eckert gesagt, Ursula habe in der Nacht vom 12. zum 13. sehr unruhig geschlafen und sogenannte Angstzustände gehabt. Weiter erklärt er, daß   z w i s c h e n   d e m   9 .   u n d   1 4 .   F e b r u a r   Ursula der Stütze Mohr einen   B r i e f   gegeben habe, der eine Ueberraschung für die Großmutter sei. Er weiß nicht, ob Ursula gesagt habe, sie möchte den Brief erst morgen abgeben. Weiter wird festgestellt, daß Ursula einen   B r i e f   a n   e i n e   F r a u   B a r t e l s   in Itzehoe geschrieben hat. In dem Briefe teilt sie mit, daß sie sich   f r e u e ,   in Kleppelsdorf zu sein. Zum Schluß heißt es:   „ E s   g r ü ß t   S i e   I h r e   U r s e l . „   Darüber stand das offenbar erst später hineingeschriebene Wort:   „ t r a u r i g e “ .   Der Angeklagte weiß keine Erklärung dafür, warum Ursula geschrieben hat: „Ihre   t r a u r i g e   Ursel.“ Dieser Brief ist aber   n i c h t   a b g e s c h i c k t   worden, sondern der Angeklagte hat ihn in seine Gesäßtasche gesteckt. - Vors.: Warum haben Sie in der ganzen Voruntersuchung nichts darüber geäußert, daß Ursula traurig war. - Angekl. schweigt.

 

Der Angeklagte über den Mordtag.

Ueber die   E r e i g n i s s e   a m   1 4 .   F e b r u a r ,   dem Mordtage, gibt der   A n g e k l a g t e   f o l g e n d e   S c h i l d e r u n g :   Im Laufe des Vormittags ist Fräulein   R o h r b e c k   mit   I r m a   in der Stadt gewesen, von wo sie gegen ½ 12 Uhr zurückkamen. Fräulein Rohrbeck ging in das Kinderspielzimmer, während er sich im Nebenzimmer befand. Die Verbindungstür zwischen den beiden Zimmern stand offen. Ich habe nicht gehört, daß Fräulein Zahn das Dienstmädchen   M e n d e   mit einem Auftrage zur Stadt sandte. Ich habe Mühle gespielt mit   U r s u l a ,   die aber sehr unaufmerksam dabei war, dann mit Irma.   U r s u l a   h a t   d a n n   d a s   Z i m m e r   v e r l a s s e n   u n d   s o l l   F r ä u l e i n   R o h r b e c k   n a c h   u n t e n   g e r u f e n   h a b e n .   Fräulein   Z a h n   hat sich aus dem Nebenzimmer mit mir über den Stand der Spielpartie der Mühle unterhalten. Kurze Zeit darauf habe Fräulein Zahn Irma nach unten geschickt, um Dörte zu holen. Irma hat erst die Mühlepartie zu Ende spielen dürfen. Ich sagte darauf zu Fräulein Zahn: „Irma wird gleich gehen, wir sind sofort fertig.“ Irma ging auch nach unten,   f a n d   a b e r   D ö r t e   n i c h t .   Sie kam zurück und wollte einen Apfel in den Ofen werfen, konnte aber die Tür des Ofens nicht aufbekommen. Irma ging dann nach dem Abort und warf den Apfel dort hinein, während ich mit der Stütze Mohr weiter Mühle spielte.

 

Staatsanwalt: Der Angeklagte gibt also zu, zeitweilig mit Frau Eckert und Fräulein Mohr   a l l e i n   im Zimmer gewesen zu sein.

 

Angekl.: Jawohl. Irma war zweimal kurze Zeit außerhalb des Zimmers, das zweite Mal, nachdem die Mende uns zu Tisch gerufen hatte. - Vors.: Fräulein Zahn wird bekunden, daß wiederholt die Tür geklinkt hat?

 

Angekl.: Ja, Irma hat zweimal das Zimmer verlassen und ist zweimal wieder hereingekommen.

 

Vors.: Das kann Fräulein Zahn nicht gemeint haben. Sie selbst hatte ja das eine Mal Irma beauftragt, Fräulein Rohrbeck zu suchen.

 

Vors.: Sind Sie nicht auch im Zimmer hin- und hergegangen? - Angekl.: Ich habe Fräulein Zahn gebeten, von den Apfelsinen, die ich im Mühlespiel verloren hatte, zwei zurückzugeben. Bloß zu diesem Zweck ging ich   i n   d a s   N e b e n z i m m e r .   Darauf habe ich gemeinschaftlich mit Irma und der Mohr weitergespielt. Das Dienstmädchen   M e n d e   kam herauf und sagte: „Es ist angerichtet.“ Als wir uns zum Essen begeben wollten,   k a m   u n s   d i e   M e n d e   a u f   d e r   T r e p p e   e n t g e g e n   mit den Worten:   D i e   K i n d e r   l i e g e n   u n t e n ! “   Der Angeklagte will nicht gehört haben, daß Fräulein Rohrbeck zu Ursula, als diese sie, die Rohrbeck, aus dem Zimmer geholt hat, sagte: „Ursel, ich komme gleich mit.“ Er will auch das Aufstehen und Weggehen der Rohrbeck nicht gesehen haben.

 

Angekl.: Nachdem die Mende uns entgegenkam mit dem Schreckensruf, sind wir alle sofort nach unten gelaufen. Ich habe im ersten Moment das Bedürfnis gehabt, einen Arzt herbeizurufen, deshalb lief ich zum Telephon. Unterwegs traf ich Fräulein Zahn und sagte dieser, sie solle einen Arzt rufen lassen. Ich ging dann in das Zimmer zurück und legte Dörte aufs Bett.

 

Die Sicherung der Mordwaffe.

Der Angeklagte gibt dann eine Beschreibung des Zimmers und seiner Einrichtungsgegenstände. Daß ich aufgeregt war, ist bei diesem Vorfall wohl verständlich. Als der Arzt kam, habe ich gebeten: Herr Doktor, helfen Sie Ursel zuerst. - Vors.: Wo lag die Ursula? - Angekl.: Sie kauerte am Schrank. - Vors.: Haben Sie Verletzungen gesehen? - Angekl.: Ja. Von einem der Anwesenden wurde dann gesagt:   D o r t   l i e g t   d i e   P i s t o l e .   - Vors.: Haben Sie die Pistole aufgehoben? - Angeklagter: Ich glaube, daß ich sie aufgehoben und auf einen in der Nähe stehenden Rohrplattenkoffer gelegt habe.

 

Vors.:   H a b e n   S i e   d i e   P i s t o l e   g e -   o d e r   e n t s i c h e r t ?   - Angekl.: Das weiß ich nicht. - Vors.: Die Pistole soll gesichert gewesen sein! - Angeklagter: Es ist möglich, daß ich die Pistole ganz mechanisch gesichert habe. Ich kann mich auf die Vorgänge nicht mehr so genau besinnen. - Vors.: Wissen Sie nicht mehr, ob Sie den Sicherungsflügel herumgelegt haben?  Angekl.: Das ist möglich, denn im Krieg ist uns ja immer und immer wieder gesagt worden, daß man die Waffe sichern soll. - Vors.: Haben Sie sofort erkannt, daß dies Ihre Waffe war? - Angekl.: Nein, weil ich die Pistole noch nicht lange hatte.

 

Der Brief „an Großmutti“.

 Bei der   U r s u l a   wurde bekanntlich eine   S c h a c h t e l   m i t   1 9   P a t r o n e n   in einer   U n t e r b i n d e t a s c h e   und ein   B r i e f   gefunden. Der Brief kommt zur Verlesung. Er lautet:

 

„Kleppelsdorf, 9.

Liebe Großmutti!

Sei mir nicht böse, daß ich Vati den Revolver aus dem Schreibtisch genommen habe. Ich will Dir helfen, Du sollst Dich nie mehr an Dörte ärgern. Als Vati Onkel Wilhelm das zeigte, habe ich zugesehen, wie es gemacht wurde, da hab ich mir ihn nachher heimlich mitgenommen. Es grüßt Dich und Vati.            Ursel.“

 

Die Adresse des Briefes lautete:   „ A n   G r o ß m u t t i . “

 

Vors.: Es soll dies derselbe Brief sein, der schon mehrere Male von der Mohr der Großmutter gegeben werden sollte.

 

Vors.: Sie sollen zu Frau Eckert gesagt haben:   „ D a   s o l l   e s   j a   m e i n e   P i s t o l e   s e i n . “   - Angekl.: ich habe am Nachmittag zu Frau Eckert gesagt: „An der ganzen Sache bin ich schuld, weil ich die Pistole nicht eingeschlossen habe.“ Frau Eckert sagte mir darauf: „Beruhige Dich doch,   D u   w a r s t   d o c h   d i e   g a n z e   Z e i t   b e i   m i r .“

 

Der Angeklagte gibt auf Befragen zu , daß er zu Sanitätsrat Dr. Scholz gesagt hat: „Können Sie Ursel nichts mehr geben, damit sie wenigstens aussagen kann, was sie dazu bewogen hat?“ - Vors.: Das soll geschehen sein,   n a c h d e m   Ihnen der Arzt gesagt hatte, daß hier alle ärztliche Kunst vorüber sei. - Angekl.: Wenn schon ich auch wußte, daß Ursel vielleicht nicht mehr zu retten sei, so hatte ich den Arzt doch gebeten, ob er sie nicht doch wenigstens noch einmal zum Bewußtsein erwecken könne.

 

Ein Geschworener; Wie lange Zeit mag vergangen sein, bis der Arzt gekommen ist? - Angekl.: Das können ungefähr 20 Minuten gewesen sein.

 

Justizr.   A b l a ß :   Ist die Wunde und das Gesicht der Ursula abgewischt worden? - Angekl.: Ja, die Schwester hat mit einem nassen Handtuch der Ursula das Gesicht abgerieben.

 

Vors.: Wie ist es möglich, daß die Pistole dahin gekommen ist? - Angekl.: Ich habe mir den Revolver gekauft, weil meine alte (hier fehlt Text, aber das Schriftbild geht ununterbrochen weiter) Ich habe die Pistole im Schreibtisch in Ottenbüttel aufbewahrt und habe sie meinem Bruder übergeben, der mich während meiner Abwesenheit vertreten sollte.   I c h   w e i ß    n i  c h t ,   w e r   d e n   R e v o l v e r   m i t   n a c h    K l e p p e l s d o r f   g e n o m m e n   h a t .   Das Fach, in dem der Revolver lag, hatte ich für meinen Bruder offen gelassen.   I c h   h a b e   U r s u l a   e i n m a l   b e i   d i e s e m   F a c h   g e s e h e n   und ihr einen Verweis erteilt und sie aus dem Zimmer gewiesen. Ich nehme an, daß sie den   R e v o l v e r   a n   s i c h   g e n o m m e n   und mit nach Kleppelsdorf genommen hat.

 

Auf die Frage, wie Ursula den Revolver wohl transportiert habe, sagte der Angeklagte: Ich weiß es nicht. Ich vermute, daß sie ihn im Mantel getragen hat und folgere dies daraus, daß sie sich im Kupee nicht hinlegen wollte.

 

Sachverständiger Kreisarzt   D r .   P e t e r s -   Löwenberg: War die Waffe   g e l a d e n ,   als Sie sie dem Bruder übergaben? - Angekl.: Ja. - Verteidiger   D r .   A b l a ß :   Kann der Angeklagte selbst laden? - Angekl.: Wir haben uns beide daran beteiligt.

 

Darauf wird die Verhandlung um 8 Uhr abends auf Dienstag vertagt.

 

 

*

Dienstag-Sitzung.

Zu Beginn der heutigen Sitzung wird die kommissarische Vernehmung einer in Ottenbüttel wohnenden Entlastungszeugin beschlossen, die an Grippe erkrankt ist. Die Zeugin soll bekunden, daß Grupen, als ihm nahegelegt wurde, nach dem Verschwinden seiner Frau seine Stiefkinder zu verlassen, erklärt habe: „Nein, das tue ich nicht, ich habe die Kinder lieb.“

 

Auf Anregung des Sachverständigen, Geheimrat   L e s s e r ,   wird beschlossen, bei der morgen in Kleppelsdorf stattfindenden Verhandlung   S c h i e ß v e r s u c h e   an einem lebenden Tier vorzunehmen, um festzustellen, ob eine Geschwulst bei Schußwunden nur dann entsteht, wenn der Schuß aus nächster Nähe abgegeben worden ist.

 

Als Zeugen sind heute vorgeladen: Fräulein   Z a h n ,   Herr   V i e l h a c k ,   Rechtsanwalt   D r .   P f e i f f e r ,   Frau   E c k e r t ,   Frl.   M o h r ,   Landgerichtsrat   D u b i e l   und Photograph   B l u m e .

 

Die Erbschaft von Kleppelsdorf.

Grupen wird hierauf aufgefordert, nochmals eine Erklärung abzugeben über seine nach der Entdeckung des Doppelmordes angeblich geplante Aeußerung zu Frau Eckert: „Weißt Du auch, daß Du jetzt Erbin von Kleppelsdorf bist?“

 

Angekl.: Ich habe diese Aeußerung nicht getan. Wir saßen abends gegen 8 Uhr im unteren Eckzimmer. - Vors. (unterbrechend): Sie sollen die Aeußerung bereits nachmittags 3 Uhr getan haben. - Angekl.: Das ist ausgeschlossen. Als wir abends zusammensaßen, hat Frau Eckert davon gesprochen, daß Herr Alfred Rohrbeck jetzt nicht mehr so große Sorge zu haben brauche, da er Erbe geworden sei. - Vors.: Hat Frau Eckert mit Ihnen nicht davon gesprochen, wie im Falle eines Todes der Dorothea Rohrbeck sich die Erbschaftsverhältnisse gestalten würden? - Angekl.: Ich habe Frau Eckert an jenem Abend gesagt, daß sie Miterbin sei, daß ich ihr aber gesagt hätte, wieviel auf sie entfalle, ist mir nicht bekannt. - Vors.: Es wird behauptet, daß Sie kurz nach 3 Uhr, als Amtsgerichtsrat Thomas aus Lähn am Tatort eingetroffen war, gesagt haben: „Die ganze Schuld an dem Verhängnis liegt daran, daß ich die Pistole nicht eingeschlossen habe.“ - Angekl.: Ja, und Frau Eckert beruhigte mich, indem sie sagte, ich könne doch nichts dafür, daß die Ursula die Pistole an sich genommen habe.

 

„ B l e i b t   b e i   E u e r e r   A u s s a g e ! “

Dem Angeklagten wird vorgehalten, daß er, als der Landjäger Klopsch im Flur des Schlosses Telefonierte, hinzugetreten sei, und als ihn der Landjäger aufgefordert habe, wieder in sein Zimmer zurückzugehen, geantwortet habe, „ich werde wohl bewacht?“

 

In der Nacht zum 15. wurde dem Angeklagten seine Verhaftung mitgeteilt. Der Landjäger Klopsch verbot dem Angeklagten, sich mit Frau Eckert und dem Fräulein Mohr zu unterhalten. - Vors.: Haben Sie bei der Abführung nicht gesagt:   „ W e n n   I h r   a u s s a g t ,   d a ß   I h r   w i ß t ,   d a ß   i c h   o b e n   i m   Z i m m e r   w a r ,   k o m m e   i c h   m o r g e n   w i e d e r   f r e i “ ?   - Angekl.: Ich habe nur gesagt, daß sich meine Unschuld sicherlich in einigen Tagen herausstellen wird. - Vors.: Am nächsten Tage wurden Sie vom Gefängnis in Lähn wieder nach Kleppelsdorf zurück- und von dort nachmittags nach Hirschberg gebracht. Da haben Sie vom Landjäger Klopsch verlangt, sich von Frau Eckert und der Irma verabschieden zu dürfen. - Angekl.: Ich bin mir nicht bewußt, daß ich das verlangt habe. Man hat mich aber unten zum Abschied erwartet. - Vors.: Sie sollen beim Abschied gesagt haben:   B l e i b t   b e i   E u e r e r   A u s s a g e !   - Angekl.: Das ist möglich! - Vors.: Landjäger Klopsch soll Ihnen verboten haben, von der Sache mit Ihren Angehörigen zu sprechen. Dieses Verbot sollen Sie aber nicht beachtet, Sie sollen trotzdem weiter gesprochen haben, und zwar in   P l a t t d e u t s c h .   - Angekl.: Es ist möglich, daß ich mit Fräulein Mohr plattdeutsch gesprochen habe; sie solle sich vollkommen an die Wahrheit halten und auch sagen, daß wir uns näher gestanden haben.

 

Vors.: Sie sollen vor Ihrem Transport nach Hirschberg den Amtsgerichtsrat Thomas gefragt haben, ob Frau Eckert, Fräulein Mohr und die kleine Irma bei ihrer Angabe bleiben, daß Sie   d i e   g a n z e   Z e i t   n i c h t   v o n   I h r e m   T i s c h e   w e g g e g a n g e n    seien? - Angekl.: Eine solche Frage hätte ich nur stellen können, wenn mir bekannt geworden wäre, daß eine neue Vernehmung der Drei stattgefunden hat, ich habe aber davon nichts gehört.

 

Ein Heiratsantrag?

Vors.: Nun will ich Ihnen die bestimmte Frage vorlegen: Haben Sie jemals Fräulein Dorothea Rohrbeck einen Heiratsantrag gemacht? - Angekl. (mit Entschiedenheit): Nein. - Vors.: Es werden aber Zeugen auftreten, die bekunden werden, daß Fräulein Rohrbeck ihnen mitgeteilt und auch geschrieben habe, daß Sie ihr einen Heiratsantrag gemacht haben. - Angekl.: Ich bin fest überzeugt, daß dies die Zeugen nicht bekunden können. Es wird ja auch möglich sein, einen solchen Brief, wenn er existiert, vorzulegen. - Vors.: In der Voruntersuchung ist festgestellt worden, daß Fräulein Rohrbeck der Oberschwester Grube, dem Frl. Zahn und auch Herrn Dr. Baier Mitteilungen von Ihren Heiratsanträgen gemacht hat. - Angekl.: Einen feststehenden Heiratsantrag habe ich Dörte Rohrbeck nicht gemacht. Ich habe mich nur bereit erklärt, dem Fräulein Rohrbeck auf ihre Bitten hin meine Unterstützung zuteil werden zu lassen, aber einen Heiratsantrag wollte ich daraus nicht verleiten.

 

Ursula.

Sachverständiger Geheimrat   D r .   L e s s e r   wünscht Aufklärung über das Temperament der Ursula Schade und ihr Verhältnis zu dem Angeklagten. Der Angeklagte erklärt, Ursula sei häufigem Stimmungswechsel unterworfen gewesen. Er habe schon 1919 von ihr den Eindruck gewonnen, daß sie zu Schwermut neide, Zeitweise sei sie auch lustig gewesen.

 

Ueber das Verhältnis der Dorothea Rohrbeck zu ihrer Großmutter Eckert äußert sich der Angeklagte dahin, daß, wenn der Großmutter das Benehmen der Dörte nicht gefallen habe, dies auf Fräulein Zahn zurückzuführen sei. - Vors.: Wenige Tage vor der Tat soll eine Unterhaltung über das Verbleiben der Ursula auf Schloß Kleppelsdorf stattgefunden haben. - Angekl.: Fräulein Zahn hat gesagt, die Kinder könnten in Kleppelsdorf bleiben. Sie hat jedenfalls angenommen, daß dann die Kündigung vom Vormund nicht durchgeführt werden würde.

 

Hypnose?

Verteidiger   D r .   A b l a ß :   H a t   d e r   A n g e k l a g t e   s i c h   j e m a l s   m i t   H y p n o s e   b e s c h ä f t i g t ?   - Angekl.:   N e i n ,   n i e m a l s !

 

Der Schütze Grupen.

Vors. zum Angeklagten: Sind Sie ein guter Schütze? - Angekl.: Ich habe vor meiner Militärzeit kein Gewehr in Gebrauch genommen. Im Felde wurde ich mit dem Infanteriegewehr ausgebildet und nachher habe ich in Itzehoe einen Revolver gehabt. Man kann annehmen, daß ich verhältnismäßig gut schieße. Ich bin Ehrenmitglied der Schützengilde in Ottenbüttel und habe erste und zweite Preise bekommen. - Vors.: Haben Sie sich im Pistolenschießen geübt? - Angekl.: Davon ist mir nichts bekannt.

 

Ein Geschworener: War Ursula Schade Linkshänderin? - Angekl.: Nein, Rechtshänderin.

 

Die Verhandlung wendet sich nunmehr dem zweiten Teil der Anklage, dem von Grupen an seiner Stieftochter verübten   S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e n   zu. Die   O e f f e n t l i c h k e i t   wird während dieses Teiles der Verhandlung   a u s g e s c h l o s s e n .   Der Antrag des Staatsanwalts, die Presse zuzulassen, wurde vom Gerichtshof abgelehnt. Auch die Pressevertreter müssen den Saal verlassen.

(Fortsetzung folgt.)

 

 

 

Donnerstag, den 8. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.

 

Beendigung der Vernehmung Grupens.

Frl. Zahn als Zeugin.

Hirschberg, 7. Dezember 1921.

Am Dienstag wurde die Vernehmung des Angeklagten Grupen zu Ende geführt. Der Eindruck, den man zu Anfang seiner Vernehmung von ihm erhalten und den wir gestern geschildert, bleibt weiterhin bestehen. Mit größter Spannung sah man am Dienstag nachmittag der Vernehmung einer Hauptzeugin, der Erzieherin Fräulein   B e r t h a   Z a h n ,   entgegen. Sie macht ihre Aussagen mit großer Sicherheit, so weit ihr Gedächtnis reicht. Besonderes Interesse beanspruchten einmal ihre Angaben über die angesichts des großen Vermögens der Dorothea Rohrbeck geradezu empörend geringen Mittel, welche dieser und ihrer Erzieherin zur Bestreitung des größten Teiles des Haushalts zur Verfügung gestellt worden waren, und dann die Inszenierung der Reisen, zu denen Grupen die beiden Damen unter Anknüpfung an ihre Geldverlegenheiten zu bestimmen wußte. 100 bis 150 Mark wöchentlich erhielt die Millionenerbin von Kleppelsdorf zur völlig ungenügenden Bestreitung von Ausgaben, die jeder noch so wirtschaftlich denkende Mensch unter diesen Umständen für höchst bescheiden und selbstverständlich halten mußte. Der Vorsitzende, dessen Verhandlungsführung ihm bereits allgemeine Sympathien verschafft hat, nahm auch Gelegenheit, diesen Punkt besonders zu unterstreichen. Das Kapitel „Konfirmationskleid“ insbesondere ist schwer zu begreifen. Daß der Angeklagte über manche Aussagen von Frl. Zahn weinig erbaut ist, erscheint nahe liegend, indessen weiß er sich zu beherrschen. Ungeklärt bleiben die Gründe, die Grupen veranlaßt haben, die beiden Kleppelsdorfer Damen, angeblich um ihnen Geld zu geben, nach Berlin gelockt und von dort nach Hamburg und Kiel, um den Ausdruck des Vorsitzenden zu gebrauchen, „verschleppt“ hat und sie dann dort unter der falschen Angabe, sein Vermögen verloren zu haben, plötzlich allein hat sitzen lassen. Zwischen den Aussagen Grupens und denen des Frl. Zahn über diese dunklen Vorgänge klaffen mancherlei Widersprüche. Bis zum Hauptereignis am Mordtage sind die Aussagen von Frl. Zahn am Dienstag noch nicht vorgedrungen. am heutigen Mittwoch finden Besichtigungen und Verhandlungen in   K l e p p e l s d o r f   statt, worauf die Vernehmung von Frl. Zahn am Donnerstag fortgesetzt werden dürfte.

 

Wir berichten über den weiteren Verlauf der Verhandlung:

 

Die Verhandlung wendet sich nunmehr dem zweiten Teil der Anklage, dem von Grupen an seiner Stieftochter verübten   S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e n   unter

 

Ausschluß der Oeffentlichkeit

 

zu. Grupen bestritt das ihm zur Last gelegte Sittlichkeitsverbrechen an der 13 Jahre alten Stieftochter Ursula. Es steht andererseits fest, daß die Ursula schwer geschlechtskrank war und auch der Stiefvater ein Leiden hatte. Grupen konnte einen der Aerzte, wo das Kind in Hamburg behandelt wurde, nicht näher bezeichnen. Ein anderer Arzt, Dr. Georg Reyer-Hamburg, ist als Zeuge zur Stelle. Grupen behauptet im übrigen, daß die Mutter das Kind anormal behandelt habe, was wohl ein Grund für ihr späteres Verschwinden sei.

 

Grupens Vermögensverhältnisse

werden nach Wiederherstellung der Oeffentlichkeit erörtert. Der Angeklagte, der bekanntlich das Maurerhandwerk gelernt hat, macht folgende Angaben: Sein erstes Geld verdiente er 1913 als Bauführer; er habe damals sparsam gelebt und etwas zurückgelegt. 1919 erhielt er das väterliche Grundstück in Haseldorf zum Geschenk, wogegen er sich zur Zahlung einer jährlichen Rente von 1000 Mk. am seine Eltern verpflichtete. Auf der Vulkanwerft hat er sich insofern gut gestanden, als er sich die Lebensmittel zum Teil von Hause kommen lassen konnte. Dann ist er einige Zeit in der Bootsbauerei seines Vaters tätig gewesen. In jener Zeit sind ihm vom Reiche 9000 Mk. für den im Kriege verlorenen Unterarm ausgezahlt worden. Später hat er durch Gutachten bei Grundstücksverkäufen Nebenverdienste gehabt. Als er Frau Schade heiratete, hatte er ungefähr 20 000 Mark Vermögen.

 

Vors.: Sie haben aber in Hamburg verschiedentlich Darlehen aufgenommen. - Angekl.: Ja, der plötzlichen Verlegenheiten habe ich mir einmal 700 und dann 2000 Mk. geborgt. - Vors.: Haben Sie sich vor der Verlobung mit Frau Schade als sehr begütert ausgegeben? - Angekl.: Ich habe nur den Eindruck erweckt, daß ich meine Zukunft nicht besorgt zu sein brauche. - Der Angeklagte gibt eine eingehende Darstellung der Vermögensverhältnisse seiner Frau und seiner Schwiegermutter, der Frau Eckert. Mit Angaben über seine persönlichen Vermögensverhältnisse ist er sehr zurückhaltend.

 

Vors.: Sie haben Wertpapiere Ihrer Frau verkauft. - Angekl.: Ich habe mich dazu für berechtigt gehalten, weil meine Frau mein Vermögen mitgenommen hat. - Vors.: Haben Sie nicht auch den   B r i l l a n t s c h m u c k   I h r e r   S c h w i e g e r m u t t e r   verkauft? - Der Angeklagte setzt auseinander, daß er den Schmuck bei einem Pfandleiher in Hamburg nach seiner Meinung für 5000 Mk. verpfändete; er wollte den Schmuck wieder abholen und dann auf der Bank deponieren. - Vors.: Nachdem Ihre Frau fort war, haben Sie auch ihr Pelzjackett und ihren Regenmantel in Hamburg verpfändet. - Der Angeklagte bestätigt dies.  - Staatsanwalt: Wie kommt es denn, daß der Angeklagte den Regenmantel versetzen konnte; seine Frau hatte ihn doch bei ihrem Verschwinden angehabt. - Angekl.: Meine Frau hatte bei der Abreise den Regenmantel, der aus Zeltbahnstoff gefertigt war, über die guten Kleider angezogen. Ich sagte bereits, daß sie den Pelzkragen im Wagen zurückgelassen hatte. Beim Ausziehen des Regenmantels hat sie jedenfalls den Pelzkragen abgelegt und ihn vergessen. - Staatsanwalt: Bisher hat der Angeklagte nie etwas davon gesagt, daß auch der Regenmantel im Wagen zurückgelassen worden ist. Ich werde auch unter Beweis stellen, daß der Angeklagte auch die   R i n g e   seiner verschwundenen Frau verkauft hat. - Auf die Frage des Vorsitzenden gibt der Angeklagte zu, das   S i l b e r   seiner Frau, etwa 5 bis 8 Kg., verkauft zu haben.

 

Es tritt eine Mittagspause ein.

 

In der Nachmittagssitzung bemühen sich der Vorsitzende und der Staatsanwalt, vom dem Angeklagten eine bestimmte …rung über seinen   j e t z i g e n   V e r m ö g e n s s t a n d   zu erhalten. Der Angeklagte erklärt, hierüber genaue Auskunft nicht geben zu können, fügt aber hinzu, daß er die Verteidigerhonorare aus eigenen Mitteln bezahle. Nach Erörterung eines Testaments, das der Angeklagte einmal gemacht hat, wird die Vernehmung des Angeklagten geschlossen und in die

 

Beweisaufnahme

 

eingetreten. Als erste Zeugin wird

d i e   E r z i e h e r i n   F r ä u l e i n   B e r t a   Z a h n

aufgerufen. Die 42jährige Dame erscheint in Trauerkleidung. Sie bekundet:

 

Im Frühjahr 1905 kam ich als Hausdame und gleichzeitig als Erzieherin der Dorothea Rohrbeck, die 1 ¼ Jahr alt war, nach Kleppelsdorf. Damals lebte Herr Rohrbeck noch. Dörtes Mutter war ein Vierteljahr nach der Geburt ihres Töchterchens gestorben. Vorher war Frau Eckert ein Jahr im Hause. Ich hatte das Gefühl, daß Frau Eckert mich nicht gern kommen sah. 1914 erkrankte Herr Rohrbeck. Wir begleiteten ihn nach Schandau in ein Sanatorium, wo ich seine Pflege übernahm. Als er starb, hinterließ er als Erbin seine einzige Tochter.

 

Das Erbe

bestand aus dem Rittergut Kleppelsdorf nebst Vorwerken sowie einer Besitzung in Tempelhof. Etwa 1 300 000 Mk. Barvermögen waren vorhanden. Herr Rohrbeck hatte in seinem Testament vom März 1912 Herrn   V i e l h a c k   a l s   V o r m u n d   seiner Tochter eingesetzt. Das Testament enthielt auch einen Nachtrag ungefähr folgenden Inhalts: „Ich bestimme hierdurch, daß über die Ausbildung, Erziehung und den Aufenthalt meiner Tochter Dorothea lediglich Fräulein Zahn zu bestimmen hat und zwar im Einverständnis mit dem Vormund.“

 

Verteidiger Dr.   A b l a ß :   Es wird behauptet, daß Frau Eckert befürchtete, daß Herr Rohrbeck Sie heiraten würde. Frau Eckert soll aber gewollt haben, daß ihre Tochter Gertrud, die spätere Frau Schade, Herrn Rohrbeck heirate. - Frl. Zahn: Ja. Frau Eckert hatte den Wunsch. So viel ich weiß, bestand auch eine ganz kurze Verlobungszeit. - Dr. Ablaß: Frau Eckert soll auch die Befürchtung gehabt haben, daß Ihr Bruder die Dörte heirate. Als Herr Rohrbeck erkrankt war, soll Frau Eckert Ihnen vorgehalten haben, Sie sollten keine Erbschleicherei trieben. - Frl. Zahn: Frau Eckert hat mir allerdings Erbschleichereigeschichten erzählt, ich entnahm daraus, daß sie es nicht ohne Absicht getan hat. - Verteidiger Dr.   M a m r o t h :   Ist es richtig, daß davon die Rede war, daß Herr Rohrbeck Sie heiraten wollte. - Fräulein Zahn: Jawohl. In Schandau äußerte er den Wunsch, daß wir als Verheiratete nach Hause fahren möchten. Darauf habe ich gesagt, ich würde es gern tun. - Verteidiger Dr.   A b l a ß :   Nach dem Tode des Herrn Rohrbeck soll Frau Eckert Sie sehr unfreundlich empfangen haben, weil Herr Rohrbeck ihr sein Erbe ausgesetzt hatte. - Frl.   Z a h n :   Ja. - Vors.: Sie kamen mit dem Vormund in Differenzen. - Frl. Zahn: Den ersten Anlaß hierzu gab der Wunsch des Vormundes, die Hauslehrerin zu entfernen, weil er deren Unterricht für Dörte nicht haben wollte. Ich war damit nicht einverstanden, denn es war eine vorzügliche Lehrerin, und auch sonst eine angenehme Hausgenossin. - Vors.: Der Vormund hat Ihnen auch den Vorwurf gemacht, daß Sie zu viel Geld ausgeben. - Frl. Zahn: Ja. Er setzte

das Haushaltsgeld

auf   m o n a t l i c h   1 0 0 0   M a r k   fest. Davon mußte ich sämtliche Ausgaben des Haushaltes, der Erziehung, des Unterrichts und die Gehälter der Hausangestellten, die Kleidung, die Reisen usw. bezahlen. Die Lehrerin bekam damals, es war im Sommer 1916, 100 Mark monatlich. Die Gehälter machten die Hälfte meiner gesamten Ausgaben aus. - Vors.: Sie haben früher gesagt, Fräulein Rohrbeck sei nicht ganz gesund gewesen, wegen ihrer Schwäche hätte sie viel Fettes bekommen müssen. - Frl. Zahn: Das ist richtig. Obwohl die Lebensmittelpreise stiegen, wurden meine Ausgaben auf   w ö c h e n t l i c h   1 2 0   M a r k   festgesetzt. Davon brauchte ich allerdings die Gehälter nicht zu bezahlen. Vom 1. Oktober 1920 ab erhielten wir   w ö c h e n t l i c h   s o g a r   n u r   1 0 0   M a r k .

 

Vors.:   D i e   M i l l i o n e n e r b i n   v o n   K l e p p e l s d o r f   e r h i e l t   a l s o   w ö c h e n t l i c h   1 0 0   M a r k   f ü r   d e n   H a u s h a l t ,   und es wurde von Ihnen verlangt,   d a v o n   n o c h   d i e   W i r t s c h a f t e r i n   u n d   z w e i   M ä d c h e n   z u   b e z a h l e n !   - Frl. Zahn: Die Gehälter machten monatlich 250 Mark aus, so daß mir   g a n z e   1 5 0   M a r k   f ü r   d e n   H a u s h a l t   ü b r i g   blieben.

 

Vors.: Wie kam der Vormund dazu, zu sagen, daß Sie verschwenderisch gelebt hätten. - Frl. Zahn: Das weiß ich nicht. - Vors.: Haben Sie sich nicht einmal an den Gegenvormund gewendet? - Frl. Zahn: Ja, an Herrn   B a u e r ,   der in den letzte Jahren Verwalter des Gutes war. - Vors.: Es ist wunderbar, daß der Gegenvormund ein Angestellter des Vormundes ist. - Frl. Zahn: Ich habe dies auch bei dem Vormundschaftsgerichts zur Sprache gebracht, und da wurde mir gesagt: Sie sehen, daß es geht! Herr Bauer hat mir mit Rat beigestanden und war sehr freundlich, als er sich noch in Neuhof befand. Als er nach Kleppelsdorf kam, machte er mir zum Vorwurf, daß ich nicht vorsichtig genug in meinem Verhältnis zu den Familienangehörigen des Rohrbeckschen Hauses wäre.

Hier   e r l i s c h t   p l ö t z l i c h   d a s   e l e k t r i s c h e   L i c h t   im Saale. Es werden Petroleumlampen herbeigebracht, die den Tisch des Gerichtshofes und den Platz der Verteidiger spärlich beleuchten. Der Vorsitzende ordnet an, auch für den Pressetisch Lampen herbeizuschaffen. In der Dunkelheit wird die Verhandlung fortgesetzt.

 

Verteidiger Dr.   A b l a ß   zu Frl. Zahn: Ist Ihnen bekannt, daß das Vormundschaftsgericht an seinem Standpunkt festgehalten hat, daß Sie die Zerwürfnisse mit den Vormündern durch Ihr taktloses Verhalten herbeigeführt haben. Der   V o r s i t z e n d e   wirft die Bemerkung dazwischen, es sei aber auch bekannt, daß das Landgericht sich auf einen entgegengesetzten Standpunkt gestellt habe. - Frl. Zahn: Ja, das Landgericht Hirschberg hat allen meinen Klagen stattgegeben. - Vors.: Der Vormund hat Ihnen auch das   G e h a l t   g e s p e r r t .   - Frl. Zahn: Das Landgericht hat aber im Wege der einstweiligen Verfügung angeordnet, daß das Gehalt weiter gezahlt werden solle. - Verteidiger Dr.   A b l a ß :   Diese Angelegenheit ist durch den Tod der Dörte Rohrbeck unentschieden geblieben.

 

Vors.: Wie sind Sie zu den Beziehungen mit dem Angeklagten gekommen? - Frl. Zahn: Dörte wurde 1920 konfirmiert. - Vors.: Hatten Sie vorher etwa davon gehört, daß   F r a u   S c h a d e   sich mit dem Angeklagten verheiratet hatte?  Fräulein Zahn: Ja, sie hatte es mir selbst geschrieben. Wir hatten die Verwandten gebeten, zur Konfirmation zu kommen, aber sie sind nicht erschienen, ebenso wenig der Vormund. Wir hatten   d e n   V o r m u n d   g e b e t e n   u m   M i t t e l   z u r   A n s c h a f f u n g   e i n e s   Konfirmationskleides.

 

D a s   h a t   e r   z u r ü c k g e w i e s e n .   Da gingen wir aufs   V o r m u n d s c h a f t s g e r i c h t ,   und es wurde mir gesagt,   i c h   s o l l t e   a u s   d e n   a l t e n   G e s e l l s c h a f t s a n z ü g e n   d e s   V a t e r s   e i n   K o n f i r m a t i o n s k l e i d   m a c h e n !   - Vors. (erstaunt): Aus den alten Gesellschaftsanzügen des Vaters? Wer hat Ihnen das gesagt? Der Vormundschaftsrichter? - Fräulein Zahn: Ja. Ich habe nun einen Antrag gestellt und mit Unterstützung des Vormundschaftsrichters haben wir schließlich 800 Mark erhalten. Mit den 800 Mark habe ich nicht gereicht, denn Dörte brauchte außer dem Konfirmationskleid ein Paar Stiefel und einige Wäschestücke, Leibwäsche hatte ich ihr selbst aus Kinderbettwäsche gemacht. Dann wollten wir auch dem Geistlichen etwas geben, aber

d a s   V o r m u n d s c h a f t s g e r i c h t

schrieb, das sollte ich alles von dem Haushaltsgeld nehmen. Ich habe die noch notwendigen Sachen zum Teil aus eigenen Mitteln bestritten. - Vors.: Haben Sie sich in Ihrer Not nicht an Verwandte gewendet? - Frl. Zahn: Ja, ich hatte an Herrn   P i n g e l   geschrieben. Der hat es nicht für richtig gefunden, daß ich mir Geld borge. Aber ich wußte nicht, was ich machen sollte. Er hat mir auch einmal Geld geschickt. - Die Frage eines Geschworenen, ob Frl. Zahn in ihrer Not und Bedrängnis sich auch an einen ehemaligen Offizier in Lähn gewandt habe, ihr ein Darlehen gegen Bürgschaft zu verschaffen, bejaht die Zeugin, und fährt fort: Im Juli 1920 wollten wir eine Verwandtenreise antreten, weil Dörte noch niemals zu ihren Verwandten gekommen war, außer zu ihrer Großmutter in Berlin.   W i r   b a t e n   d e n   V o r m u n d   u m   R e i s e g e l d .   D a s   l e h n t e   e r   a b .   Da wandten wir uns an den jungen Herrn Pingel, der uns 2000 Mark sandte. Am Tage vor der Beerdigung Dörtes hat sich der junge Herr Pingel, der aktiver Offizier in Hannover war, erschossen.

 

In Itzehoe und Ottenbüttel.

Wir fuhren am 27. oder 29. Juli zunächst zur Großmutter nach Itzehoe. Wir wurden sehr herzlich, ganz gegen mein Erwarten, aufgenommen. Am nächsten Tage entschloß sich Grupen, mit uns einige Tage nach Hamburg zu fahren, um uns die Stadt zu zeigen. Auch damit waren wir gern einverstanden. Ich hatte den Eindruck, von Grupen, daß an Geld nicht gespart zu werden brauchte. Dörte bekam gleich am ersten Morgen in Itzehoe ein Paar Stiefel.  Ich sollte mir auch Geschenke wünschen. Als ich mir in Hamburg eine Bluse kaufte und sie an der Kasse bezahlen wollte, bat mich der Angeklagte, ihm die Freude zu bereiten, die Bluse zu bezahlen.

 

Vors. (zur Zeugin): Sind Sie mit Dörte und mit dem Angeklagten in der Zwischenzeit nicht mal nach einem anderen Orte gefahren? - Frl. Zahn: Ja, nach Ottenbüttel, wo uns der Angeklagte sein Landgut zeigen wollte. Es war das letzte Haus am Ende der Dorfstraße. Ich wunderte mich, daß Frau Grupen in dieser Einsamkeit leben wollte, noch mehr aber darüber, daß ein seinen Beruf ausübender Mann dorthin gehen konnte.

 

Vors.: Hat Ihnen der Angeklagte in Ottenbüttel nicht erzählt, es wäre sein Wunsch, daß Sie seine Frau würden. - Frl. Zahn: Ich weiß nicht, ob das in Ottenbüttel war. - Vors.: Hat der Angeklagte in Hamburg nicht erzählt, er habe einen   r e i c h e n   O n k e l   i n   A m e r i k a ,   den müsse er spätestens in den nächsten Tagen aufsuchen wegen Erbschaftsverhältnissen, und es wäre sehr schön, wenn Sie ihn begleiten würden. - Frl. Zahn: Ja, davon hat er gesprochen, aber er wollte auch seine Frau mitnehmen. - Angekl.: Wir haben damals am Hamburger Hafen von den schlechten Verhältnissen in Deutschland gesprochen; daß ich einen direkten Vorschlag gemacht habe, nach Amerika zu fahren, ist nicht der Fall. - Frl. Zahn: Es schien aber ein fester Plan des Angeklagten zu sein, denn er sagte, daß eine Erbschaft geregelt werden müsse.

 

Vors.: Hat Ihnen der Angeklagte oder seine Frau nicht einen Gegenbesuch versprochen? - Frl. Zahn: Ja, beide wollten im September kommen. Anfang September kam aber nur Grupen. Er sagte, seine Frau wäre mit dem Umzuge nach Ottenbüttel noch nicht fertig. In Kleppelsdorf gab er mir 1000 Mark zur Bezahlung von zwei dringenden Rechnungen. Später habe ich Geld in Raten von ihm erhalten, zusammen 4200 oder von 4800 Mark. Grupen wollte sich als Sommerfrischler in Kleppelsdorf niederlassen und sich dem   F r l .   B a u e r   nähern, um die Verhältnisse der beiden Vormünder zu erkunden. Nach zwei Tagen fuhr er aber wieder weg. Er sagte, in nächster Zeit würde seine Frau kommen. Am 20. September erhielt ich auch die Nachricht:   „ T r u d e   g e s t e r n   a b g e r e i s t . “   Wir erwarteten Frau Grupen am 20. nachmittags 4 Uhr in Hirschberg. Da sie aber nicht eintraf, nahmen wir an, daß sie sich in Berlin verweilt habe und später kommen würde. Auf unsere Mitteilung an Grupen, daß seine Frau nicht gekommen sei, erhielten wir von ihm die telegraphische Antwort:   „ K o f f e r   n o c h   h i e r . “   Einige Tage später erschien der Angeklagte wieder in Kleppelsdorf und erzählte mir, daß seine Frau häufig von Amerika gesprochen habe und wahrscheinlich nach Amerika gegangen sei. Er brachte Abschiedsbriefe seiner Frau zum Vorschein, darunter ein an Dörte gerichtetes Schreiben. Der Vorsitzende ordnete die Verlesung des Briefes an, welcher lautet:

 

„Ottenbüttel, 12. 9. 1920.

Liebe Dörte!

Ich sende Dir vor meiner Abreise nach Amerika noch einen Abschiedsgruß, und wünsche Dir, daß sich Dein Leben in Zukunft sonnig gestalten möge. Es wäre wohl das Beste ein lieber, guter Mann, der Dir mit Rat und Tat zur Seite steht.   N i m m   D i r   O n k e l   P e t e r   a l s   g u t e s   B e i s p i e l ,   der sehr viel verloren hat und jetzt viel verlieren wird und dennoch alle Lebensstürme überwindet.

            Die herzlichsten Grüße von Deiner

Tante Gertrud.“

 

Es werden dann die

Abschiedsbriefe der Frau Grupen

verlesen, die in der Kassette des Angeklagten gefunden wurden. Sie sprechen sämtlich von der Absicht der Frau, nach Amerika zu gehen.

 

Diese Schriftstücke sollen den Schreibsachverständigen zur Begutachtung vorgelegte werden, ob sie von der Hand der Frau Grupen herrühren. Auf Antrag des Staatsanwalts wird zu dieser Begutachtung auch der Geheimrat Dr.   M o l l   hinzugezogen, um festzustellen, ob, wenn Frau Grupen diese Briefe selbst geschrieben habe, die Schreiberin sich nicht in einem Zustande der   „ s e e l i s c h e n   U n f r e i h e i t “   gefunden habe.

 

Bei ihrer weiteren Vernehmung bekundet Fräulein Zahn noch: Bald nachdem Frau Grupen verschwunden war, kam Grupen nach Kleppelsdorf. Er erzählte, seine Frau habe ihm gesagt, sie sei am Vormittag des 19. September von Kleppelsdorf angerufen worden, sie solle bald nach dem Gelde dort erscheinen. Infolgedessen sei die Frau schon am Nachmittag abgefahren und habe sich offenbar sehr viel Geld eingesteckt. Von Kleppelsdorf ist aber Frau Grupen nicht angerufen worden. Der Angeklagte war anscheinend über das Verschwinden seiner Frau sehr gefaßt. Als Grupen wegfuhr,   b a t   e r ,   d a ß   D ö r t e   m i t f a h r e   damit sie die Großmutter über den Verlust der Tochter tröste. Da mir immer der Vorwurf gemacht worden war, daß ich Dörte der Großmutter entfremde, ließ ich Dörte allein mitfahren. Auch tat uns Frau Eckert leid, weil sie die Tochter verloren hatte. Allerdings bin ich dann auf die Bitte der Dörte Rohrbeck nachgefahren.

 

Die Zeugin schildert dann

die Fahrt mit Grupen und Dörte

von Berlin aus nach   H a m b u r g   und die gestern mit dem Angeklagten eingehend geschilderte   F a h r t   a u f   d e m   A l s t e r b a s s i n .   Sie hat zunächst den Eindruck gehabt, daß sie der Angeklagte mit dem Rudern gegen die Dampferwellen nur aus Spaß ängstigen wollte. Deshalb habe sie auch Dörte das zweite Mal allein mit Grupen fahren lassen. Nach dieser zweiten Fahrt habe ihr allerdings Dörte gesagt, daß   s i e   e i n e   f u r c h t b a r e   A n g s t   g e h a b t   u n d   G r u p e n   e i n   g a n z   m e r k w ü r d i g e s   W e s e n   g e z e i g t   h a b e .   Aber damals sei auch Dörte noch der Ansicht gewesen, daß Grupen diese Gefahr nicht absichtlich herbeigeführt habe. Im November hat allerdings dann   D ö r t e   gesagt:

 

„Paß auf, Grupen trachtet uns nach dem Leben.“

 

In Hamburg erklärte plötzlich der Angekl., er müsse nach Kiel zu seiner kranken Mutter fahren, er werde das Geld, das er den Damen versprochen hatte, mit der Post senden. Dieses Geld ist aber nie angekommen, denn der Angeklagte hat es (wie er auch gestern zugegeben hat), gar nicht abgesandt. Trotzdem hat er dann noch immer behauptet, er habe den Betrag auf der Bank erhoben und bei der Post eingezahlt, es müsse also auf der Post verloren gegangen sein.

 

Die zweite Reise nach Hamburg.

Wie die Zeugin weiter behauptet, sandte Grupen am 1. November telegraphisch 500 Mk. mit der Aufforderung, am nächsten Tage nach Berlin zu kommen. Auf dem Görlitzer Bahnhof kam Grupen sehr spät an, als die Damen schon in der Stadt Quartier suchen wollten. Es war im Auto und nötigte die Damen fast gewaltsam zum Einsteigen. Unterwegs erklärte der Angeklagte, sie   m ü ß t e n   s o f o r t   m i t   n a c h   H a m b u r g   und von dort nach   I t z e h o e   fahren, da der dortige Rechtsanwalt für ihn eine „Vollmacht zu einem Familienrat“ ausstellen solle, was aber „nur in ihrer Gegenwart“ geschehen könne. Auf dem Lehrter Bahnhof stiegen sie in ein Abteil, das verschlossen war, das Grupen aber öffnete, sodaß die drei in einem Abteil allein waren, was der Zeugin nicht gefiel. Als Grupen mit Dörte allein reiste, hat er dasselbe getan, er wurde aber damals von dem Schaffner aus dem Abteil verwiesen. In Hamburg erklärte Grupen, daß er in geschäftlicher Angelegenheit   n a c h   K i e l   fahren müsse, und er forderte sie zur Mitfahrt auf, damit sie sich allein in Hamburg nicht zu sehr langweilten. Der Angeklagte bleibt dabei, die Damen nach Hamburg nur deshalb mitgenommen zu haben, weil er nur dort das Geld flüssig machen konnte und die Damen nicht die Zusendung des Geldes durch die Post oder die Bank gewünscht hätten.

 

Vors.: Der Angeklagte behauptet, daß er deshalb mit Ihnen nach Kiel gefahren sei, weil ihm der Aufenthalt mit Ihnen in Hamburg zu teuer gewesen, da Sie zu hohe Ansprüche stellten. - Die Zeugin bestreitet dies entschieden.

 

Auf der Fahrt nach Kiel waren die Drei in vergnügter Stimmung und Dörte schrieb für das bevorstehende Weihnachtsfest einen Wunschzettel an Grupen auf, der aber, wie der ganze Inhalt erweist, nur scherzhaft gemeint war. Demgegenüber behaupten der Angeklagte und die Verteidiger, daß es sich dabei um ernsthafte Wünsche der Dörte gehandelt habe, was aber die Zeugin ganz entschieden bestreitet. Es hat den Damen auch mißfallen, daß Grupen den Wunschzettel mit auffälliger Hast zu sich steckte.

 

Auf Veranlassung der Verteidigung wird hier noch einmal die Frage der angeblich hohen   A n s p r ü c h e   der beiden Damen und ihr Geldverbrauch erörtert. Die Zeugin Zahn erklärt, daß sie   9 0 0 0   M a r k   S c h u l d e n   gemacht habe, sie weist aber im einzelnen nach, daß es sich dabei um durchaus notwendige Ausgaben handelte, deren Höhe durchaus nicht zu beanstanden ist.

 

In der Hasselbrookstraße.

Frl. Zahn erzählt dann weiter: Als wir von Kiel nach Hamburg zurückgekehrt waren,   f ü h r t e   u n s   G r u p e n   i n   s e i n e   P r i v a t w o h n u n g ,   was Dörte und mir nicht gefiel, aber wir fürchteten, daß wir die Hotelrechnung nicht würden bezahlen können, wenn wir seiner Einladung nicht folgten. Die Pension Hasselbrookstraße 37 machte auf die Damen einen sehr befremdenden und unheimlichen Eindruck. Als Grupen dort in der Nacht nach Hause kam, klopfte er an unsere Zimmertüre, wir haben aber nicht geantwortet. Am nächsten Morgen sandte er mir eine Visitenkarte, auf der stand, daß er zu einer wichtigen Besprechung müsse. Später erhielt dann Dörte einen Brief von ihm, in dem er mitteilte, daß er   s e i n   g a n z e s   V e r m ö g e n   v e r l o r e n   habe und uns nicht mehr helfen könne. (Grupen gibt übrigens zu, daß diese Schilderung stark übertrieben war.) Zweihundert Mark für unsere Rückreise hatte er beigelegt. Wir fuhren sofort nach Kleppelsdorf zurück und bedauerten Grupen. Wir boten auch Grupen und der Großmutter mit den Kindern Wohnung auf Kleppelsdorf an, bis Grupen sich wieder eine neue Existenz gegründet haben würde. Die Großmutter schrieb aber, sie könnte jetzt im Winter nicht reisen und die Kinder müßten in die Schule gehen. Von Grupen selbst hörten wir lange Zeit nichts, bis wir erfuhren, daß er vom Oberlandesgericht

als Gegenzeuge gegen uns

benannt sei. Seitdem hatten wir natürlich eine große Abneigung gegen Grupen, der sich bis dahin als unser Helfer aufgespielt hatte. Dörte hatte allerdings   s c h o n   i m m e r   e i n e   A n t i p a t h i e   g e g e n   G r u p e n ,   und sie erklärte wiederholt, daß ihr sein ganzes Verhalten unsympathisch sei.

 

Angekl.: Wie kommt es dann, daß sich sowohl Fräulein Zahn wie Fräulein Rohrbeck gegenüber Bekannten sehr lobend über mich ausgesprochen haben. - Verteidiger Dr. Mamroth:   Widerstrebte es eigentlich nicht dem Fräulein Rohrbeck und Ihnen, von einem Manne, der Ihnen so unsympathisch war, Geld anzunehmen und darum zu bitten? - Zeugin: Das Geld hat uns Grupen angeboten. Ich kann nur wiederholen, daß der Angeklagte dem Fräulein Rohrbeck   d i r e k t   u n h e i m l i c h   war und sie wiederholt äußerte, daß sie3 das Gefühl habe, daß er   i h r   n a c h   d e m   L e b e n   t r a c h t e .   - Verteidiger Dr. Mamroth: Vielleicht begann Ihre Antipathie erst, als Sie erfuhren, daß der Angeklagte als Gegenzeuge gegen Sie in Betracht kam. - Zeugin: Nein, Dörte hatte schon immer eine Abneigung gegen Grupen.

 

Der letzte Besuch auf Kleppelsdorf.

Im Januar schrieb Grupen zu unserem Erstaunen einen Brief. Er meldete sich für den 9. Februar an, es kam aber nicht nur Grupen und die Großmutter, sondern auch noch die Stütze Mohr und die beiden Kinder Irma und Ursula. Da dieser Besuch aber eher eintraf, als angenommen, waren die Vorbereitungen für die Aufnahme nicht getroffen und die Stimmung war deshalb kühl. Mit dem

Besuch beim Anwalt

wollte Grupen wahrscheinlich den schlechten Eindruck verwischen, den die Kenntnis von seinem Gegenzeugnis in Kleppelsdorf gemacht hatte. Von einer eidesstattlichen Versicherung wurde nicht gesprochen. Grupen bekundete bei dem Anwalt Dr. Pfeiffer, daß er von den Angaben im Schriftsatz des Oberlandesgerichts nichts wüßte. Er machte dann den Eindruck, als sei ihm eine große Last von der Seele genommen, als habe er sich in unseren Augen wieder rehabilitiert. Bis zum 14. Februar war er fast ständig im Hause. Er äußerte, es sei ihm unangenehm, daß man in Lähn von dem Verschwinden seiner Frau wüßte, denn man würde sagen, er sei schuld daran. In diesen Tagen kam viel Besuch nach Kleppelsdorf, und Grupen hielt sich dabei immer   i m   H i n t e r g r u n d e ,   blieb nur auf unseren besonderen Wunsch da oder kam wieder dazu. Am Sonntag veranlaßte er uns zu einem Besuch der Lehnhausburg und wollte mit uns auf den Turm. Wir erwiderten, dazu müsse man erst den Schlüssel aus dem Schlosse holen, aber Grupen verschaffte sich gewaltsam Zugang zum Turm, was uns wegen unseres Verkehrs mit der Familie Haugwitz sehr unangenehm war, so daß Dörte und ich zurückblieben.

 

Ein   G e s c h w o r e n e r   fragt, auf welche Weise sich Grupen denn den Zugang zum Turme verschafft habe, denn es sei schon das zweite Mal, daß man von einem gewaltsamen Oeffnen verschlossener Türen durch ihn höre. - Fräulein Zahn weiß nichts darüber. Er hat gelegentlich gefragt, ob wir denn immer unsere Zimmer zuschlössen? Wir haben seitdem stets die Haustüren, die Schlafzimmertüren und die Türen zu den Nachbarzimmern neben unseren Zimmern geschlossen gehalten. Grupen hat gesagt, er könne jede Tür aufmachen, ein Fußtritt, und sie sei offen. - Der Angeklagte behauptet, zum Turme in Lehnhaus führe eine Gittertür, durch die man hindurchgreifen könne.

 

Angekl.: Wenn ich Fräulein Zahn so unheimlich erschien, wie kann sie dann von einem so unheimlichen Menschen 1000 Mk. annehmen? - Zeugin: Wenn so viel Besuch kam, wie diesmal, kommen wir mit unserem geringen Haushaltsgeld erst recht nicht aus. Ich habe das Geld, was er uns anbot, mehrere Tage hindurch zurückgewiesen, aber er drängte es uns geradezu auf, und ich sagte schließlich zu, um den Besuch wenigstens möglichst gut zu verpflegen. Aber schließlich wurde das Geld doch nicht angenommen, denn ich wollte kein Entgeld beanspruchen, um Frau Eckert zu beweisen, daß ich nicht die egoistische Person sei, für die sie mich hielt.

 

Der Vorsitzende schließt nun kurz vor ½ 9 Uhr die heutige Sitzung. Mittwoch Besichtigung und Vernehmungen in Kleppelsdorf.

 

*

Lokaltermin in Kleppelsdorf.

Lähn, 7. Dezember. (Drahtm.)

Am Mittwoch vorm. ½ 10 Uhr versammelte sich das Schwurgericht im Hirschberger Gerichtsgebäude. Da ein Autoomnibus erst mit einstündiger Verspätung erschien, konnte die Abfahrt erst eine Stunde später erfolgen, so daß man in Kleppelsdorf erst um ¾ 12 Uhr ankam.

 

Im ersten Wagen befanden sich der Angeklagte und mehrere Polizeibeamte. Vor dem Schlosse in Kleppelsdorf hatte sich eine Anzahl Zuschauer eingefunden, die Grupen mit Verwünschungen empfingen.

 

Bei dem Eintreten in das Schloß veränderte sich die Gesichtsfarbe des Angeklagten in ganz merklicher Weise. Die Verhandlungen begannen dann in einem im oberen Stockwert des Schlosses gelegenen kleinen Saale.

 

1921-12-08-4-Zeichnung3

 

Grupen behauptet, den Platz 1 in der Zeit, in der die tat geschehen ist, nicht verlassen zu haben, während die Anklagebehörde behauptet, daß er unbemerkt von Frl. Zahn, durch das Schrankzimmer (C) das Winterzimmer verlassen hat und auf demselben Wege zurückgekehrt ist.

 

 

 

Freitag, den 9. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.

 

Die Verhandlung am Tatort.

 

Hirschberg, 8. Dezember.

Die Abfahrt aller zur Gerichtsverhandlung gehörigen Persönlichkeiten nach Kleppelsdorf am Mittwoch Vormittag vollzog sich nicht völlig glatt, denn, wie bereits berichtet, der eine Autoomnibus erschien erst mit einstündiger Verspätung, so daß eine Stunde der sehr kostbaren Zeit verloren ging, und dann hatte sich diesmal doch einiges Publikum angesammelt, welches neugierig den Wagen umdrängte, in dem sich der Angeklagte befand.

 

Endlich ging die Fahrt los. Nach zwei Sitzungstagen sind die Beteiligten eines Prozesses Mitglieder einer eigenartigen, nur durch geistige Fäden verbundene Gemeinschaft. Richter, Geschworene, der Angeklagte, die Zeugen, Sachverständige, Berichterstatter, sind wie die Figuren eines Schachbretts mitten in der Entwicklung eines Spiels in gewissem Sinne von einander abhängig geworden. Der Mittelpunkt, um den sich aller Gedanken drehen, ist der Angeklagte. Man spricht nicht mit ihm, aber beobachtet ihn in seiner merkwürdigen, nach keiner Seite ausdeutbaren Ruhe. Das frisch gesunde Gesicht, der jugendlich energische Mund und die beiden scharfen wachsamen Augen, - alles strotzt von Leben und Geistesgegenwart, und ist dennoch gebändigt von einem Willen, dem es vielleicht nicht schwer wird, fest zu bleiben. Denn die Nerven dieses Mannes - schuldig oder nicht - sind sicherlich eisern, das hat auch wieder der Verlauf des heutigen Tages gezeigt.

 

Die Wagen rollen durch die hügelige schneefreie Landschaft, die im Frühjahr, Sommer und Herbst von so intimem Liebreiz ist und auch heute noch, am grauen Dezembertage, seine zeichnerische Reize aufweist. Nach einer Stunde ist Lähn erreicht und sofort auch Schloß Kleppelsdorf. Ein paar Dutzend Dorfbewohner erwarten die Gäste, - dem Angeklagten wird das Wort „Mörder“ nachgerufen. Alle Teilnehmer an der Fahrt betreten das Haus, zu dem auch das Publikum in zulässigem Umfange Zutritt hat. Noch wird das verschlossene Mordzimmer nicht betreten; man begibt sich in den Saal des ersten Stockes, wo durch Tische und Stühle die Szenerie des Gerichtssaales hergestellt ist. Die Gerichtspersonen ziehen ihre schwarzen Talare über Pelze und Wintermäntel. Kurz konstituiert sich die Sitzung, und man begibt sich wieder in das unsere Erdgeschoß, zunächst in das Speisezimmer, das auf unserer in der Sonntagsnummer veröffentlichten Skizze als Gartenzimmer bezeichnet ist, dem die Veranda vorgelagert ist. Dann wird das Mordzimmer aufgeschlossen, das vom Tage der Tat an bis heute unter Verschluß geblieben ist.

 

Im Mordzimmer.

G r u p e n   ersucht beim Betreten des Zimmers den Vorsitzenden, ihn gegen eine Zuhörerin zu schützen, die ihn „Mörder“ genannt hatte. O. L. R.   K r i n k e   entsprach sofort seinem Wunsche mit den Worten: „Die Tat ist furchtbar, die Erregung verständlich, eine Angeklagter ist aber noch kein Verurteilter.“

 

Im Zimmer liegen noch die Kissen auf den Betten, auf die man die jungen Leichen gelegt hatte. Noch zeigt der Teppich große schwarze Flecke: die Blutlachen. Noch liegt der Stuhl umgestürzt da. Mit völliger Ruhe behält der Vorsitzende auch hier in dem engen Raume die Leitung in der Hand.

 

Die Lage der Leichen und die Wunden.

Zunächst wird durch die Dienstmädchen   M e n d e   und   H i r s c h   dargestellt, wie die Körper gelegen haben.

 

Kreis-Medizinalrat   D r .   P e t e r s -   Löwenberg äußert sich über den Leichenbefund. Die Kleidung der Dörte Rohrbeck war   d r e i m a l   d u r c h l ö c h e r t .   Eine Schussöffnung befand sich an der rechten Brust unter der Achselhöhle. Das Geschoß war quer durch die Brust in den Hals gedrungen, wo an der linken Halsseite eine Ausschußöffnung festgestellt wurde. Der zweite Schuß auf Fräulein Rohrbeck war ein Kopfschuß mit der Einschußöffnung überm Genick. Das Geschoß ist am hinteren Nasenrachenraum stecken geblieben. Dorothea Rohrbeck muß, so sagt Dr. Peters, als sie erschossen wurde, sich nach links geneigt haben; hätte sie auf einem Stuhl gesessen, hätte ihre Kleidung stark beblutet sein müssen. Als Todesursache kommt Ersticken in Frage. Die Ursula Schade hat einen Schuß in die rechte Stirn erhalten. Es war ein Steckschuß, die Kugel wurde im Gehirn unter der Schädeldecke gefunden. Eine Kopfverletzung rührt vom Sturz gegen den Schrank her.

 

Lange Zeit erforderten die Feststellungen über die Lage der Leichen. Fräulein   M e n d e ,   die als erste die Bluttat entdeckt hatte, behauptet, sie habe die Dörte nur am Arm gefaßt und beim Namen gerufen. Dörte habe in der Mitte des Zimmers quer über dem Läufer gelegen, die linke Wange in einer Blutlache, das Gesicht nach der Tür zum Speisezimmer gerichtet. Ursula Schade befand sich, zusammengekauert, am Schrank, der neben der Rollstube führenden Tür steht. Die Zeugin bestreitet, als sich Zweifel über die Lage der Leichen ergaben, diese Lage verändert zu haben. Medizinalrat   D r .   P e t e r s   hält es für wahrscheinlich, daß Dorothea Rohrbeck im Todeskampfe ihre Lage verändert habe.

 

Frl.   H i r s c h   unterstützt die Bekundungen der Mende. Beide Zeuginnen und auch Frl.   Z a h n   sagen aus, daß Dörte Rohrbeck, als man sie fand, noch geatmet habe. Sie haben die Dörte und die Ursula auf die Betten gelegt.

 

Sanitätsrat   D r .   S c h o l z -   Lähn ist als erster Arzt am Tatort gewesen. Er fand Frl. Rohrbeck bereits tot vor. Der   A n g e k l a g t e   stellt die Zwischenfrage, ab Frl. Hirsch wisse, daß, als sie ins Mordzimmer kam, Dorothea Rohrbeck sich noch bewegt habe. Frl.   H i r s c h :   Dörte war noch warm und hat noch geatmet. Gerüttelt habe ich sie nicht.

 

Vert.   D r .   M a m r o t h   stellt nach dem Hinweis des Staatsanwalts auf den umgestürzten Stuhl, auf dem möglicherweise Dorothea Rohrbeck gesessen hat, fest, daß 10 Personen unmittelbar nach der Tat im Mordzimmer versammelt waren und sich dort bewegt haben. Auf seine Frage, ob am Tage nach der Bluttat in dem Zimmer Veränderungen vorgenommen worden seien, erklärt Frl.   Z a h n :   Am Tage nach der Tag wurden die Leichen aus den Betten genommen, entkleidet und auf Tische in der Rollstube gelegt. Im Mordzimmer wurde nichts aufgeräumt, es wurde bald vom Amtsvorsteher verschlossen. Grupen und seine Schwiegermutter haben seit der dritten Nachmittagsstunde das Zimmer nicht mehr betreten. Die Nacht nach dem Morde bin ich mit Schwester Auguste bis etwa früh 5 Uhr bei den Toten geblieben.

 

Der   A n g e k l a g t e   bittet, den Sachverständigen Dr. Peters veranlassen zu wollen, sich die Stellen der Blutspritzer genau anzusehen. Er selbst nimmt die Blutspritzer in Augenschein.

 

Die Schußwaffe.

Frl.   M e n d e   gibt an, daß die Pistole am linken Knie der Ursula Schade gelegen habe. Frl.   H i r s c h   bestätigt dies.

 

Frl.   Z a h n :   Als Grupen ins Mordzimmer kam und die Leichen sah, sagte er:   „ D a   i s t   j a   g e s c h o s s e n   w o r d e n ! “   Ich rief: „Wo ist die Waffe?“ Grupen ging zur Leiche der Ursula und hob den Revolver auf. Frau Eckert fragte vorwurfsvoll: „Wie kommen die Kinder zu der Waffe?“

 

Postverwalter   G r i m m i g -   Lähn: Etwa um 12 ¾ Uhr war ich am Tatort. Dörte Rohrbeck lag tot auf dem Bett. Als ich das Röcheln aus dem anderen Bett vernahm und erschreckt dorthin sah, stand Frau Eckert, die neben Schwester Auguste auf einem Stuhl saß, auf und sagte: „Ja, ich verliere   z w e i   Enkelkinder.“ Ich fragte nach der Waffe. Die lag auf dem vor dem Liegesofa stehenden   T i s c h .   Grupen selbst daß auf dem Sofa. Als alter Jäger hielt ich es für meine Pflicht, den Revolver sofort zu sichern. Das machte mir Schwierigkeiten, weil mir dieses Browningsystem nicht bekannt war. Mit Mähe gelang es mir, den Sicherungsflügel herumzulegen. Ich beschlagnahmte die Waffe und stellte zu Hause fest, daß ich sie nicht   g e sichert, sondern   e n t sichert hatte. Der Revolver hat also   g e s i c h e r t   auf dem Tisch gelegen. In dem Magazin befanden sich noch zwei Patronen. Während ich am Tatort war, wurde in den Kleidern der Ursula Schade eine Patronenkästchen und der Brief an die Großmutter gefunden. Der Brief wurde verlesen. Vor der Verlesung hatte auf meine Frage, wem die Pistole gehöre, niemand eine Antwort gegeben. Nachher aber brach Grupen in weinerlichem Tone in die Worte aus: „Es ist   m e i n e   Waffe, da bin ich schuld an dem Verhängnis!“ Die Großmutter Eckert beruhigte ihn: „Du kannst ja nicht dafür, Du hast ja die Waffe für Bruder Wilhelm gekauft.“

 

Der   A n g e k l a g t e ,   vom Vorsitzenden befragt, ob   e r    die Waffe vom Fußboden aufgehoben und wohin er sie gelegt habe, erklärt: „Wenn ich überhaupt die Waffe aufgehoben habe, was ich heute nicht genau weiß, so habe ich sie   a u f   d e n   R o h r p l a t t e n k o f f e r   a m   O f e n   g e l e g t . “   Er gibt zu, mit der Handhabung der Sicherung Bescheid gewußt zu haben, weil er diese seinem Bruder erklärt habe. Mit dem Revolver aber habe er nie geschossen.

 

Vert.   D r .   M a m r o t h   richtet an Frl. Zahn die Frage, wann die Patronenhülsen gefunden worden seien. Frl.   Z a h n :   Noch am Mordtage.

 

Angekl.   G r u p e n :   Ich bitte, durch Befragen der Zeugin Hirsch festzustellen, daß dies nicht stimmt. - Vors.: Wollen Sie damit sagen, daß Frl. Zahn uns anlügt? - Vert.   D r .   M a m r o t h   (einlassend): Der Angeklagte will wohl nur sagen, daß ein Irrtum vorliegt. - Frl.   Z a h n :   Ich weiß, daß nach den Patronen gesucht wurde, als Dörte noch auf dem Bett lag. - Frl.   H i r s c h :   Die Patronen wurden am Mordtage gesucht. Herr Grimmig hat die Anregung dazu gegeben.

 

Verschlossen oder nicht?

Ein   G e s c h w o r e n e r   bittet um Aufklärung, ob die hinter dem Mordzimmer liegende Rollstube verschlossen war. Fräulein   M e n d e :   Ich hatte in der Rollstube den Ofen geheizt und sollte schon um 11 ½ Uhr den Tisch zum Essen decken, weil Frl. Dörte, wie immer Montags, nach Hirschberg fahren wollte. Sie ist aber nicht gefahren, weil schlechtes Wetter war. Ich habe die Tür zur Rollstube nicht verschlossen. - Frl.   H i r s c h :   N a c h   der Tat war die Tür verschlossen,   v o r h e r   war sie aber offen. - Vors.: Man nimmt an, daß ein Mörder die Türe hinter sich verschließt, damit ihm das nicht getötete Opfer nicht nachlaufen kann. - Frl.   M e n d e   bleibt bei ihrer Behauptung, die Tür nicht verschlossen zu haben. - Frl.   Z a h n :   Es ist möglich, daß Frl.   M o h r ,   die in der Rollstube mit Staubwischen beschäftigt war und die das Staubtuch im Mordzimmer hat liegen lassen, die Tür verschlossen hat. - Ein   G e s c h w o r e n e r :   Wo hat der Schlüssel gesteckt? In der Tür nach innen (nach dem Mordzimmer zu) oder auf der anderen Seite? - Frl.   Z a h n   und die beiden Dienstmädchen   M e n d e   und   H i r s c h   erwidern, daß der Schlüssel nach innen, also auf das Mordzimmer zu, gesteckt habe.

 

Die Zeugin   M e n d e   bestätigt, daß Grupen, als er die Treppe herunterkam, gerufen hat: „Berti, die Kinder!“ Der Angeklagte bemerkt hierzu, daß er als erster nach Aerzten telephonieren wollte. Da er aber die Fernsprechnummer nicht sogleich finden konnte, habe dies Frl. Zahn getan.

 

Der   S t a a t s a n w a l t   wünscht von Frl. Zahn zu wissen, ob die nach dem Park führende Tür der an das Speisezimmer angebauten Veranda verschlossen gehalten worden sei. - Frl.   Z a h n :   Die Verandatür war gewohnheitsmäßig verschlossen, es wurde aber nicht täglich nachgesehen, ob dies auch wirklich der Fall war. Die Verandafenster sind nur von innen aus zu öffnen, alle übrigen Fenster im Erdgeschoß sind vergittert.

 

Die Verhandlung im Mordzimmer schließt damit, daß   a u f   A n t r a g   d e s   A n g e k l a g t e n   die Entfernungen zwischen den Leichen und den Fundstellen der Patronenhülsen mit dem Metermaß genau festgestellt werden. Es ergibt sich, daß die Fundstellen von der Leiche der Ursula 5,66 Meter entfernt sind.

 

Hierauf begibt sich das Gericht in die   H a u p t k ü c h e .   Dort lehrt die Besichtigung, daß es bei der starken Bauart des Schlosses unmöglich sei, die im Mordzimmer gefallenen Schüsse über den Flur hinweg durch die Vorküche zu hören.

 

Genau wie zur Stunde des Mordes.

In den Räumen des ersten Stockwerkes wurden Feststellungen getroffen, wo Grupen sich vor der Bluttat aufgehalten habe. Er, Frau Eckert, Frl. Mohr und die kleine Irma mußten dieselben Plätze einnehmen, die sie in der kritischen Stunde inne hatten. Dasselbe tat Frl. Zahn in ihrem Zimmer, während Frl. Hirsch den Platz markierte, den Dorothea Rohrbeck eingenommen hatte, bevor sie von Ursula Schade nach unten gerufen wurde. Frl.   M o h r   wurde bei dieser Gelegenheit auf ihre Zeugenpflicht aufmerksam gemacht, und vom Vorsitzenden gefragt, ob sie mit dem Angeklagten verlobt sei. Sie   v e r n e i n t e   das. Als auch der   A n g e k l a g t e   dies verneint, bemerkt ihm der Vorsitzende: „Sie wissen ja, Sie hatten ihr die Heirat versprochen.“   I r m a ,   die zu weinen begann, sich aber auf das gütige Zureden des Vorsitzenden bald beruhigte, machte Angaben über das Mühlespiel mit Grupen. Sie habe dabei Aepfel gegessen und einmal Aepfelreste nach der Toilette getragen.

 

Staatsanwalt: Ich bitte den Angeklagten Grupen zu entfernen und durch ein Phantom (Ersatzperson) zu ersetzen.   G r u p e n   steht sofort auf und sagt: Das ist mir auch sehr angenehm! An seine Stelle setzt sich ein Polizeikommissar. Nun geht ein Dienstmädchen hinaus. Eine Weile darauf hörte man die Türe klinken und die Worte:   D ö r t e ,   k o m m   d o c h   m a l   und die Antwort Dörte´s:   G l e i c h   k o m m e   i c h .   In der beinahe gespenstischen Stille hörte man dieses Zwiegespräch, die letzten Worte, die vor acht Monaten zwei unglückliche Menschenkinder sprachen, wie aus weiter Ferne. Dann hört man die etwas deutlichere Stimme des Fräulein Zahn:   I r m a ,   s i e h   d o c h   m a l ,   w o   D ö r t e   i s t . -   Grupen konnte alle diese Worte aus dem Zimmer hören.

 

Auch die Zeitdauer des Verweilens der kleinen Irma, als sie auf den Wunsch des Fräulein Zahn sich in das Erdgeschoß begeben hatte, um nachzusehen, wo Dörte sei, wurde festgestellt. Sie brauchte dazu 1 ½ Minuten. Ein Erwachsener brauchte 59 Sekunden, um im gewöhnlichen Schritt von Grupens Platz bis zum Tatort und zurück zu gelangen.

 

Dann ist der eigentliche Lokaltermin beendet. Es ist ½ 3 Uhr. Der Vorsitzende verkündet, daß der gegenwärtige Besitzer des Hauses allen Anwesenden einen Teller Suppe anbiete. Man nimmt dankend an und begiebt sich zurück in den unteren Stock … … ..zimmer.

 

Schießversuche.

Nach der Mittagspause ersuchte zu Beginn der Verhandlung im Saal der Schießsachverständige   W a l t e r ,   daß in dem Mordzimmer Schießversuche mit der Mordwaffe gemacht werden möchten zur Vorbereitung seines Gutachtens. Dem Antrage wird stattgegeben, auch der Angeklagte ist damit einverstanden, bittet sogar darum. Die Schießversuche wurden dann gemacht und dauern mehrere Stunden.

 

Die Stimmung der Ursel.

Zeugin   M e n d e   wird dann eingehend über ihre Wahrnehmungen gefragt, die sie vom Eintreffen Grupens vom 8. Februar an bis zum Mordtage hatte. Die Zeugin bekundet, daß der Empfang kühl und daß Grupen bei seiner Anwesenheit fast immer im Zimmer war und gelesen oder Mühle gespielt habe. Die kleine   U r s u l a   war bei Tisch   m e i s t   t r a u r i g   und aß sehr wenig, sie war   a b e r   a u c h   w i e d e r   l u s t i g   und tollte im Garten herum. Von einer Verstimmung der Ursula gegen Dorothea Rohrbeck hat die Zeugin nichts bemerkt, auch nichts von einem Revolver oder Patronen. Die Zeugin kam gegen ½ 1 Uhr von der Post und rief bald darauf zum Essen. Im Uebrigen machte sie dieselben Angaben wie am Vormittage.

 

Eine neue Bekundung.

Vors.: War der Angeklagte nach dem Auffinden der Leichen sehr aufgeregt? - Zeugin: Ja. Er sagte gleich zur Großmutter:   „ D a   w e r d e   i c h   w o h l   d i e   S c h u l d   k r i e g e n . “   Dann setzte er sich aufs Sofa. - Verteidiger Dr. Ablaß: Diese Aeußerung ist neu. Ich bitte, die Zeugin zu fragen, warum sie früher davon nie etwas gesagt hat. - Zeugin: Ich wurde ja früher nie darum gefragt. Auf eingehende Ermahnung, sich die Sache richtig zu überlegen, gibt die Zeugin dann an, nicht mehr genau zu wissen, ob diese Worte vor oder nach Verlesung des Briefes an die Großmutter gefallen seien. Der Zeugin ist aufgefallen, daß, als sie Grupen nach der Tat gegen 3 Uhr zu der Vernehmung durch den Amtsrichter rufen sollte, die Tür im Eßzimmer, wo sich   G r u p e n   u n d   F r a u   E c k e r t   befanden, verschlossen war und auch auf Klopfen nicht gleich geöffnet wurde. Sie will   h i n t e r   d e r   T ü r   P a p i e r g e r ä u s c h e   gehört haben.

 

Die Zeugin   H i r s c h   bekundet im wesentlichen dasselbe wie am Vormittag. Sie hat sich, ebenso wie die Zeugin Mende, gewundert, daß der Angeklagte am Tage vor dem Morde ihr 50 und der Mende 20 Mark Trinkgeld gegeben habe für die Mehrarbeit, die sie durch den Besuch zu leisten hatten. Eine besondere Erregung hat sie dem Angeklagten nicht angemerkt. Er war wie immer, auch kurz vor dem Morde. Die Zeugin hat gehört, wie Fräulein Zahn nach dem Revolver fragte und wem er gehöre. Sie hat auch gehört, daß Grupen sagte: das ist doch der Revolver, den ich gekauft habe! Hierbei kam es bei einer kurzen Bemerkung des Verteidigers Dr. Ablaß: Sehr richtig! zu einem Zusammenstoß zwischen dem Staatsanwalt und den Verteidigern. Der Staatsanwalt wollte einen Gerichtsbeschluß herbeigeführt haben, daß solche Bemerkungen unzulässig seien. Die Verteidiger stellten einen gleichen Antrag, da der Oberstaatsanwalt mit einem Geschworenen während der Verhandlung gesprochen habe. Der Vorsitzende bat, davon abzusehen, da doch alle lediglich das Bestreben haben, die Wahrheit zu finden. Schließlich wurden denn auch von beiden Seiten die Anträge zurückgezogen.

 

Der   V o r s i t z e n d e   fragt die Zeugin   H i r s c h   dann, ob sie noch sonst etwas Verdächtiges gemerkt habe. Die Zeugin verneint das.

 

Das Zeugnis des Arztes.

Zeuge Sanitätsrat   D r .   S c h o l z   machte Angaben über seine Wahrnehmungen bei seinem Erscheinen im Schlosse, in das er sogleich gerufen worden war. Er hörte, daß Grupen nach Verlesung des Briefes sagte: „Da bin ich also doch schuld!“ Die Großmutter beruhigte ihn, was dem Zeugen auffiel, da sie im Anblick ihrer erschossenen Enkel den Schwiegersohn tröstete. Der Zeuge bestätigt, daß Grupen ihn gebeten, doch Ursel etwas zu geben, damit sie sagen könne, wer es gewesen sei. - Vors.: Ist Ihnen das aufgefallen? - Zeuge: Ja. - Wie Dr. Scholz weiter bekundet, hat er, der Zeuge, sofort gesagt: Hier liegt Mord vor, kann hier niemand Aufschluß geben? Er hat dann Fräulein Zahn gefragt, was sie darüber denken. Diese sagte ihm:   A c h   G o t t ,   e s   g i b t   s o   b ö s e   M e n s c h e n   i m   H a u s e !   Von diesem Augenblicke an, so sagt der Zeuge, hatte ich   d e n   A n g e k l a g t e n   i m   V e r d a c h t .

 

Ein Beisitzer: Wollte der Angeklagte mit seiner Ruhe das gute Gewissen zeigen, oder war das fingiert? - Zeuge: Das letztere nahm ich an.

 

zeuge Postverwalter Grimmig: Ich verkehre seit zehn Jahren im Rohrbeckschen Hause und war in alle Verhältnisse eingeweiht. Ich bin   m i t   d e r   v o r g e f a ß t e n   M e i n u n g   am Mordtage hierher gekommen, daß der Angeklagte   G r u p e n   d e r   M ö r d e r   ist. Ich hatte mir meinen Browning in die Tasche gesteckt mit der Absicht, den Täter niederzuschießen, wenn er mir entgegentritt. Wäre ich   n i c h t   mit der vorgefaßten Meinung hierher gekommen, dann hätte ich   G r u p e n   n i c h t   f ü r   d e n   T ä t e r   gehalten,   d e n n   e r   w a r   r u h i g .   Dagegen konnte ich mir das   V e r h a l t e n   d e r   F r a u   E c k e r t   nicht erklären, die beim Anblick der beiden niedergeschossenen Enkel so ruhig war. - Vors.: War Ihnen bekannt, daß der Angeklagte dem Fräulein Zahn und dem Fräulein Rohrbeck unsympathisch war? - Der Zeuge bejaht dies, ebenso sie andere Frage, ob davon gesprochen worden sei, daß Grupen der Dörte nach dem Leben getrachtet hat, und daß sich die Damen vor ihm fürchteten.

 

„Dann bin ich beruhigt.“

Amtsgerichtsrat   T h o m a s   gibt als Zeuge an, daß ihn der Angeklagte vor seinem Transport nach Hirschberg gefragt hat, ob die Untersuchung etwas Neues ergeben habe. Der Zeuge hat erwidert: Eigentlich nichts. Die weitere Frage des Angeklagten,   o b   F r ä u l e i n   M o h r   u n d   s e i n e   S c h w i e g e r m u t t e r   b e i   i h r e n   A u s s a g e n   g e b l i e b e n   s i n d ,   hat der Zeuge bejaht. Darauf sagte der Angeklagte:   „ D a n n   i s t   e s   g u t ,   d a n n   b i n   i c h   b e r u h i g t . “   Etwas Auffälliges hat der Zeuge, als er im Schlosse eintraf, bei Grupen nicht gefunden. Er setzte sich zunächst aufs hohe Pferd, wurde aber sehr kleinlaut, als ihm mit der Verhaftung gedroht wurde.

 

Zeuge Kriminalbeamter   L a c h n i t t -   Hirschberg hat die Umgebung genau untersucht und dabei keine Spuren gefunden, die darauf hindeuten konnten, daß jemand von außen in das Mordzimmer gekommen sei.

 

Zeuge Justizobersekretär   K l a p p e r -   Lähn ist auf Wunsch des Zeugen Grimmig mit nach dem Schlosse gegangen. Grimmig zeigte ihm dort den Revolver. Auf die Frage des Zeugen, wem die Waffe gehöre, hat der Angeklagte gesagt: „Die Waffe gehört mir, ich bin an allem Schuld, warum habe ich sie nicht in den Schreibtisch eingeschlossen.“ Dem Zeugen fiel auch das   m e r k w ü r d i g e   B e n e h m e n   d e r   G r o ß m u t t e r   auf, die den Angeklagten am Aermel streichelte und sagte: „Aber Peter, wie kannst Du das sagen, Du kannst doch nichts dafür.“ In der Wohnung des Zeugen Grimmig hat der Zeuge den Revolver entsichert. Dabei hat er festgestellt, daß Herr Grimmig am Mittag den Revolver   n i c h t   g e s i c h e r t ,   s o n d e r n   e n t s i c h e r t    hat.

 

Zeuge Oberlandjäger   K l o p s c h   hat bald, nachdem er ins Schloß gerufen worden war, den Eindruck gehabt, daß hier ein Mord vorliegt. Es fiel ihm   d a s   g l e i c h g ü l t i g e   B e n e h m e n   G r u p e n s   u n d   d e r   F r a u   E c k e r t   auf. Erst als die Krankenschwester gegen 3 Uhr nachmittags sagte: „Ursula hat ihren letzten Atemzug getan,“ da schien es den Beiden nahe zu gehen.   D e r   Z e u g e   h i e l t   d a s   f ü r   K o m ö d i e ,   weil sie jeden Augenblick den Amtsgerichtsrat erwarteten, der die Untersuchung einleiten sollte. Auf die Frage, wer wird   d e n   s c h ö n e n   B e s i t z   n u n   e r b e n ,   sagte   F r a u   E c k e r t :   „ D i e   H ä l f t e   R o h r b e c k ,   d i e   H ä l f t e   i c h . “

 

„Ihr bleibt bei Eurer Aussage!“

Zeuge   K l o p s c h   bestätigt, daß   G r u p e n ,   als er weggebracht werden sollte, zu   F r ä u l e i n   M o h r   u n d   s e i n e r   S c h w i e g e r m u t t e r   g e s a g t   h a t :   „ I h r   b l e i b t   b e i   E u e r e r   A u s s a g e ! “   Trotz seines Verbotes an Grupen, so bekundet der Zeuge weiter, das Sprechen zu unterlassen, hat Grupen der Mohr dann noch etwas   i n   p l a t t d e u t s c h e r   S p r a c h e   gesagt, was ich aber nicht verstand.

 

Zeugin   Z a h n   wird darüber befragt, wie sich   d e r   A n g e k l a g t e   i m   M o r d z i m m e r   verhielt. - Zeugin: Er war sehr aufgeregt und hat geweint. Ich konnte nur nicht begreifen, daß ich erst dreimal habe Grupen bitten müssen, er möge mir helfen, Dörte aufs Bett zu legen. Es machte dies auf mich einen merkwürdigen Eindruck, und ich hatte das Gefühl, daß   d e r   T ä t e r   w o h l   s e i n   O p f e r   n i c h t   a n f a s s e n   w o l l t e . -   Angekl.: Hat die Zeugin nicht zu Fräulein Hirsch gesagt, ich solle bei Dörte nicht mithelfen? - Zeugin: Das habe ich nicht gesagt. Ich hatte den Eindruck, es wäre Grupen unangenehm, bei Dörte zu sein, denn   e r   k a m   n i c h t   e i n   e i n z i g e s   M a l   z u r   L e i c h e .

 

Sanitätsrat   D r .   S c h o l z   gibt dann noch Auskunft, wie die Wunde bei der Schade behandelt worden ist. Es ist der Verwundeten ein   U m s c h l a g   a u f   d e n   K o p f   gelegt worden. Daß die   W u n d e   a b g e w a s c h e n   worden wäre, hat er nicht gesehen, er hat es auch der Krankenschwester verboten. Wenn an der Wunde   P u l v e r s c h l e i m   gewesen wäre, hätte er ihn sehen müssen.

 

Krankenschwester   A u g u s t e   H ö h n k e :   Ich habe Ursula einen Umschlag um den Kopf gemacht.   D i e   W u n d e   h a b e   i c h   n i c h t   a b g e w i s c h t .   Der Angeklagte war unruhig und war nur besorgt um Ursula. Beide, Grupen sowohl wie Frau Eckert, waren ruhig, aber traurig. Daß gesagt worden sei: „Nun bist Du ja Erbin von Kleppelsdorf“, habe ich nicht gehört. - Verteidiger Dr. Mamroth: Hatten Sie den Eindruck, als ob Grupen bei der Traurigkeit im Innern nicht recht dabei war? - Zeugin: Ich habe nicht darauf geachtet.

 

Damit war die Verhandlung in Kleppelsdorf beendet.

 

Bei der Abfahrt des Angeklagten aus dem Gutshofe kurz nach 8 Uhr abends nahm eine   g r o ß e   M e n s c h e n m e n g e ,   die sich dort angesammelt hatte, eine   d r o h e n d e   H a l t u n g   g e g e n   G r u p e n   an. Man drängte gegen das Auto, und es wurden viele Verwünschungen gegen ich laut.

 

*

Die Sitzung am Donnerstag.

Mit der Begutachtung der Echtheit der   A b s c h i e d s b r i e f e   der verschwundenen Frau Grupen sind Geheimrat   M o l l   und Professor   S c h n e i d e m ü h l   beauftragt worden. Der   V o r s i t z e n d e   bemerkt heute zu Beginn der Sitzung, daß Grupen viele Briefe von seiner Schwiegermutter, Frau Eckert, habe schreiben lassen, die er aber selbst unterschrieben habe. Der Angeklagte habe sich in der Untersuchungshaft viel mit Dichten beschäftigt. Geheimrat Moll lehnt es ab, diese dichterischen Ergüsse zur Schriftvergleichung zu benutzen, bittet vielmehr um möglichst harmlose Briefe des Angeklagten. Diesem Wunsche wird entsprochen. Auf besonderen Wunsch des Sachverständigen erhält er zur Schriftvergleichung auch noch den Brief, den Frau Grupen an den Angeklagten auf die bekannte Zeitungsanzeige hin geschrieben hat und der mit den Worten beginnt: „Sehr geehrter Herr, zwar widerstrebt es mir, auf diesem Wege eine Bekanntschaft zu machen . . . . . „

 

Schlussvernehmung der Erzieherin Frl. Zahn.

Frl. Zahn: Am Sonntag (der Mord war Montags) waren wir vormittags auf dem Lehnhausberg. Nach dem Mittagessen haben wir uns wie gewöhnlich bis zum Kaffee zurückgezogen. Nach dem Kaffee saßen wir im Kinderzimmer in ersten Stock. Die Tür nach dem Winterwohnzimmer war eingeklinkt. Zwischen 2 und 3 Uhr hörten wir im Nebenzimmer sprechen, und Dörte machte mich darauf aufmerksam, daß die   O f e n t ü r   s e h r   h ä u f i g   a u f -   u n d   z u g e m a c h t   w u r d e .   Dörte begann Klavier zu spielen, und wir haben gemeinschaftlich gesungen. Ursel stand scheu beiseite und schien sehr wenig fröhlich zu sein. Grupen kam hinzu. Er war sehr lebhaft und redete vom Tanzen. Dörte wollte tanzen, aber nicht mit Grupen. Auch ich lehnte es ab, mit ihm zu tanzen. Daher hat er mit der Großmutter Eckert getanzt. Im Winterwohnzimmer zog mich Grupen in ein Gespräch über Dörtes Charakter. Ich konnte ihm nur Gutes mitteilen. Dörte selbst hat mich in jenen Tagen fast keinen Schritt verlassen, weil sie in Unruhe war. Bei dem Gespräch mit Grupen hatte ich den Eindruck, daß er wünschte, wir sollten uns seinen freieren Ansichten anschließen. Die Unterhaltung gestaltete sich zu einem   R e l i g i o n s g e s p r ä c h .   Ich schlug daher abends vor, etwas aus Maltzahns Erbauungsbuch vorzulesen, um Grupen zu überzeugen, daß man doch an Gott glauben könne und müsse. Ich las das erste Kapitel, Dörte das zweite. Im Laufe des Abends fragte mich Grupen, ob es vielleicht vorteilhaft wäre, wenn Ursel längere Zeit in Kleppelsdorf bleibe, meine Erziehungsmethode gefalle ihm. Ich sagte zu, zumal Dörte die Ursel sehr gern hatte. Für den nächsten Tag (Montag) war eine Autofahrt nach Schreiberhau vorgesehen. Da aber Schneewetter war, wurde die Fahrt verschoben. Dörte ging wie immer im Laufe des Vormittags die Postsachen holen, und zwar mit   I r m a   S c h a d e .

 

Staatsanwalt: Hatten Sie den Eindruck, daß die Kinder (Dörte und Ursel) gut miteinander standen? - Frl. Zahn: Die Kinder standen sich immer gut. Dörte hatte beobachtet, daß Ursula ein auffallend scheues und gedrücktes Wesen hatte. Dörte meinte, Ursel müsse eine Sorge haben. Jedenfalls hatte die Traurigkeit der Ursula mit etwaigen Unstimmigkeiten der Kinder nichts zu tun.

 

Ursulas Krankheit.

Vors.: Frl. Zahn, wußten sie, daß Ursula krank war? - Frl. Zahn: Ich glaube, beim ersten Besuch in Hamburg sprach Grupen flüchtig davon, daß Ursula an Furunkeln leide. Später hat auch die Großmutter über die Furunkeln zu mit gesprochen und auch gesagt, wo sie sitzen. Dies geschah in Dörtes Anwesenheit, was mir sehr unangenehm war. Ursula sagte mir auch:   „ D e r   g u t e   V a t e r   f ü h r t   d i e   B e h a n d l u n g   s e l b s t   a u s . “

 

Die Stunde der Tragödie.

Fräulein Zahn: Montag in der 12. Stunde saß ich mit Dörte im Kinderzimmer. Ich rechnete an meinem Tisch.   D ö r t e   saß an ihrem Tisch am Fenster und beschäftigte sich mit einer Modenzeitung. Wir hatten eine Hochzeitseinladung erhalten, und für Dörte sollte ein Hochzeitskleid angefertigt werden. Dörte war in dieser Stunde sehr vergnügt, schon monatelang hatte sie sich auf die Hochzeit gefreut.   G r u p e n   kam zweimal aus dem Nebenzimmer zu uns, sah sich um und ging zurück.

 

J.-R. Dr. Ablaß (unterbrechend): Sie hatten sich mit dem Angeklagten über religiöse Fragen unterhalten. Der Angeklagte soll dabei erklärt haben, er glaube nicht an einen persönlichen Gott: er glaube an ein höheres Wesen in dem Sinne, daß er „es“ die   L i e b e   nenne. - Frl. Zahn: Ja, das hat der Angeklagte gesagt. - Vert. Dr. Mamroth: Ist es richtig, daß der Angeklagte abends Nachtgebete mit den Kindern verrichtet hat? - Frl. Zahn: Das ist in Itzehoe geschehen; ob auch in Kleppelsdorf, das weiß ich nicht.

 

Frl. Zahn fortfahrend: Gegen 12 Uhr sandte ich das Hausmädchen mit der Einschreibquittung, die mir Dörte von der Post gebracht hatte, weg, um das Paket zu holen. Um diese Zeit kam Ursula an die Tür meines Zimmers, machte die Tür auf und sagte:   „ D ö r t e ,   k o m m   d o c h   m a l ! “ ,   worauf Dörte ging. Ursula sprach etwas hastig, aber freundlich. Ich hatte ein ganz   m e r k w ü r d i g e s   E m p f i n d e n   dabei; denn erstens   h a b e n   s i c h   d i e   K i n d e r   n i e   u n t e n   a u f g e h a l t e n ,   und zweitens hörte ich im Nebenzimmer, wo Grupen, Irma, die Großmutter und die Mohr saßen,   d i e   T ü r   a u f -   u n d   z u m a c h e n .   Schritte hörte ich von meinem Zimmer aus   n i c h t ,   weil überall   T e p p i c h e   liegen. Nach einer Minute ging ich ins Nebenzimmer und veranlaßte Irma, nach Dörte zu sehen. Grupen sagte: „Irma wird gleich gehen.“ Irma ging. Sie kam auch gleich wieder und sagte: „Ich kann Dörte nicht finden. „ Ich hatte das Gefühl, daß Irma nicht weit gegangen war. Kurze Zeit darauf mußte ich eine Gemüseschüssel besorgen und zu diesem Zweck durch das Zimmer gehen, wo Grupen, Irma und die Mohr in Anwesenheit der Großmutter Mühle spielten. Ob Ursula bei den Spielenden saß, weiß ich nicht. Als Dörte noch mit mir im Zimmer saß, hat Grupen versucht, durch die offene Tür eine Unterhaltung mit mir anzuknüpfen. Ich war darüber ärgerlich. Es waren ganz nichtige Sachen, von denen er sprach. Als ich durch das Zimmer nach der Gemüseschüssel ging, hat mich der Angeklagte sehr genau angesehen. Als ich der Mende aufgetragen hatte, die Kinder zum Essen zu rufen, kam diese bald eiligst zurück, riß die Tür auf und rief:   „ D i e   K i n d e r   l i e g e n   i m   F r e m d e n z i m m e r ! “   Frl. Zahn gibt nun die bekannte Schilderung von dem Auffinden der Leichen. Als sie Grupen und seine Schwiegermutter veranlaßt hatte, das Zimmer zu verlassen, habe ihr Grupen beim Hinausgehen die Hand entgegengestreckt, die sie aber nicht angenommen habe. Die Zeugin bestätigt, daß Grupen den Revolver mitten auf den Tisch gelegt habe.

 

Angeklagter: Ich habe an dem kritischen Tage keine Halbschuhe, sondern die Stiefel getragen, in denen ich hier vor Gericht stehe.

 

Grupen und Frau Eckert.

Frl. Zahn:   D a s   V e r h ä l t n i s   z w i s c h e n   F r a u   E c k e r t   u n d   G r u p e n   war besonders herzlich. Ich habe ein solch inniges Verhältnis zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn nie kennen gelernt. Auch anderen Personen ist dieses außerordentliche Verhältnis aufgefallen. - Staatsanwalt: Haben Sie gesehen, daß der Angeklagte auch seine Schwiegermutter auffallend zärtlich gestreichelt hat? - Zeugin: Das Verhältnis war jedenfalls ganz außergewöhnlich. Die zu Dörte getane Aeußerung des Angeklagten:   „ W a s   w ü r d e t   I h r   s a g e n ,   w e n n   i c h   d i e   G r o ß m u t t e r   h e i r a t e ?   habe ich allerdings nicht ernst genommen.

 

Sachverständiger Geheimrat Dr. Lesser: Bestanden Differenzen zwischen Großmutter und Frl. Rohrbeck? - Frl. Zahn: Bei dem Besuch in Itzehoe war das Verhältnis zwischen beiden sehr herzlich. Im November 1919 war der Geburtstagsbrief von Großmutter an Dörte auffallend kühl und das Verhältnis wurde ungünstiger. Allerdings lag in dieser Zeit der Widerruf und die Zurücknahme dieses Widerrufs durch Frau Eckert.

 

Auf Befragen des Geheimrats Dr. Kesser sagt Frl. Zahn dann   ü b e r   d i e   U r s u l a :  Das Mädchen war nach meiner Ansicht nicht von übermäßiger Intelligenz. Als sie im November mitkam, war sie gegen früher merkwürdig verändert. Während sie früher fröhlich war, erschien sie jetzt   s e h r   g e d r ü c k t   u n d   s c h e u .   Sie aß auch wenig. Ursel war nicht frühreif und vorlaut, sondern ein artiges Kind. Das   V e r h ä l t n i s   z w i s c h e n   D ö r t e   u n d   U r s e l   w a r   s e h r   gut. Ich kann mir nicht erklären, wie Ursel in dem Abschiedsbriefe an die Großmutter schreiben konnte, sie solle sich nicht mehr über Dörte ärgern. Dörte hat jedenfalls die Großmutter nicht schwer gekränkt. Ursel war ein gutartiges Kind, das ich einer moralisch niedrigen Handlung nicht für fähig halte.

 

J.-R. Dr. Ablaß: Wie war Ursel   k ö r p e r l i c h   entwickelt?  Frl. Zahn: Sie war zart und schwächlich, langaufgeschossen und hager, so daß man Mitleid mit ihr haben mußte. Ich hielt Ursel für ein leicht zu beeinflussendes Kind, sie war sehr kindlich. Ich glaube, daß Ursel auch leicht umzustimmen war.

 

Auf Befragen des Staatsanwalts sagt die Zeugin noch, daß Ursel, aber auch die kleine Irma, anscheinend mit schwärmerischer Liebe an ihrem Stiefvater, also dem Angeklagten, hingen.

 

Schreibsachverständiger Professor   S c h n e i d e m ü h l   verlangt von der Zeugin Auskunft über den Eindruck, den sie von den Briefen der verschwundenen Frau Grupen hatte. Die Verteidiger beantragen, diese Frage erst dann zuzulassen, wenn auch Professor Dr. Jeserich anwesen sei. Der Sachverständige bemerkt dazu, daß Professor Dr. Jeserich kein Gegensachverständiger für ihn sei, denn er habe sich schon seit 40 Jahren mit Schriftenvergleichung beschäftigt. Der Gerichtshof beschließt, die weiteren Fragen zuzulassen.

 

Aus den Antworten der Zeugin auf die vielen Fragen des Sachverständigen geht hervor, daß sie eine wesentlich   A b w e i c h u n g   i n   d e n   S c h r i f t z ü g e n   der Briefe der Frau Grupen der früheren und letzten Briefe bemerkt haben will. Die Schriftzüge in den letzten Briefen waren gegen früher zu regelmäßig und immer kehrten dieselben Redewendungen wieder. Es schien der Zeugin, als ob Frau Grupen auch geistig eine andere geworden, nicht mehr so selbständig als früher war. Auch in ihrem Aeußeren war sie nicht mehr so gepflegt als früher. Zwischen ihr (Zahn) und Frau Grupen habe kein gespanntes Verhältnis bestanden.

 

Damit sie die Vernehmung der Zeugin Zahn beendet. Es tritt eine Mittagspause bis 3 Uhr ein.

 

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Freitag, den 9. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Hypnose und Verbrechen.

Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf stellt die Richter vor eine ganze Anzahl der schwierigsten, aber auch interessantesten Probleme. Vor allem wird es sich darum handeln, durch Sachverständige festzustellen, inwieweit ein hypnotischer Einfluß die Triebfeder für ein Verbrechen sein kann, denn die Anklage behauptet ja, daß der Peter Grupen seine Stieftochter Ursula durch Hypnose völlig unter seinen Willen gebracht habe, und daß auch verschiedene Zeugen, wie die Großmutter der Ermordeten und das Dienstmädchen, unter dem hypnotischen Banne des Angeklagten stehen.

 

Damit wird eins der dunkelsten Kapitel unseres Seelenlebens und eine der umstrittensten Fragen auf dem Gebiet der forensischen Psychiatrie aufgerollt, denn so wenig wie die Wissenschaft überhaupt bisher weiß, worauf die Wirkung der Hypnose beruht, so wenig ist sie sich klar über die Stärke und über die Grenzen des Einflusses, der durch Hypnose ausgeübt werden kann. Der vor kurzem verstorbene Göttinger Psychologe Verworn hat ausgeführt, daß das Wesen der Hypnose in einer gesteigerten Suggestibilität besteht.

 

„Eine Suggestion“, so erklärt er, „ist eine Vorstellung, die bei einer Person künstlich erweckt wird, ohne von ihr in dem normalen Umfange der Kontrolle der Kritik unterworfen zu werden. Suggestibilität ist die Fähigkeit, solche Suggestionen anzunehmen, und die Suggestibilität ist groß, wenn die Vorstellungen, die wir auf diese Weise einem Menschen geben, ganz besonders leicht und kritiklos angenommen werden. Das ist das eigentliche Wesen der Hypnose.“

 

Suggestionen sind im täglichen Leben so weit verbreitet, daß wir uns gar nicht über sie klar werden; sie spielen beim Kind eine besondere Rolle, da es sich sehr leicht dem Einfluß solcher Suggestionen hingibt und hauptsächlich auf diese Weise erzogen wird. Aber auch Massensuggestionen wirken auf jedes Theaterpublikum, auf jede versammelte Menge ein. Diese gewöhnliche Suggestibilität erscheint uns als etwas ganz Natürliches; sie fällt erst auf, wenn sie einen unnormalen Grad erreicht, und dann fangen wir an, von einem hypnotischen Zustand zu reden. Wie aber nun die Hypnose einen so hohen Grad der Suggestion erreicht, daß sie den Willen ganz ausschaltet, ist noch nicht genügend erklärt. Auch da gibt es gewisse Grenzen, und in der Bestimmung dieser Einschränkung hypnotischer Macht liegt die Hauptfrage bei ihrer Ausnützung für Verbrechen. „Verbrecherische Suggestionen“, sagt der Wiener Gelehrte Wagner-Jauregg in seinem Buch „Telepathie und Hypnose im Verbrechen“, „werden nur dort   e r n s t l i c h   verkommen, wo sie auf gleichberichtete Ansätze und Anlagen treffen. Die Theaterverbrechen, die bei Versuchen und Vorstellungen gelingen, sind keine Prüfsteine, denn das „moderne“ und „stehlende“ Medium weiß doch zumeist irgendwie um den wahren Sachverhalt“. Jedenfalls ist man bei neuesten englischen und amerikanischen Versuchen nicht imstande gewesen, eine sittlich gefestigte Persönlichkeit durch Hypnose zur Verübung ungesetzlicher Handlungen zu bringen.

 

Das „Hypnose-Verbrechen“ hat zunächst durch seine Verwendung in der Literatur Aufsehen erregt, am meisten durch du Mauries Roman „Trilby“. Doch schon im Jahre 1863 behandelt ein Schauspiel „Der polnische Jude“ von Erdmann Chatrian dies Thema, in dem ein Mörder durch Hypnose in diesem Stück zum Geständnis gebracht wurde. Der bekannte und auch im Grupen-Prozeß als Sachverständiger fungierende Psychiater Albert   M o l l   hat jedoch einen derartigen Fall für unglaublich erklärt, und jedenfalls ist der Versuch, durch Hypnose Geheimnisse herauszulocken, ebenso unsicher wie verwerflich. Die Richter verwerten auf diese Weise erzwungene Geständnisse nicht. In verschiedenen großen Prozessen ist der Zusammenhang zwischen Hypnose und Verbrechen eingehend behandelt worden, ohne daß bisher unter den Sachverständigen Einstimmigkeit erreicht wurde. Wie A. Memminger in seinem Buch „Hakenkreuz und Davidstern“ hervorhebt, fand der erste Hypnose-Prozeß in Deutschland im Jahre 1894 in München statt. Es handelte sich um einen polnischen Hypnotiseur Czinski, der eine 38jährige, sehr hübsche Millionären, die Baronin Helene von Zedlitz-Neukirch, zunächst wegen ihres Kopfwehs behandelte und dann so völlig in seine Gewalt brachte, daß sie sich mit ihm trauen ließ. Bei der Verhandlung erklärten verschiedene Psychiater, es sei durchaus möglich, daß Czinski die Dame durch Hypnose vollkommen in seine Gewalt gebracht habe; dem aber trat der Bonner Professor Fuchs entgegen, und der Verteidiger erklärte, die Verliebtheit der Baronin in den interessanten Polen sei durchaus nichts so Ungewöhnliches, daß sie nur durch den geheimnisvollen Vorgang der Hypnose erklärt werden könne. Das Gericht verzichtete denn auch darauf, den in einem Liebesverhältnis möglichen hypnotischen Einfluß abzugrenzen, und sprach den Polen von diesem Teil der Anklage frei.

 

Am eingehendsten ist wohl das hypnotische Problem vor Gericht in dem Pariser Mordprozeß   B o m p a r d   besprochen worden. Die Lebedame Bompard hatte die Ermordung eines reichen Freundes auf das genaueste vorbereitet und sollte ihren Geliebten Eyraud durch hypnotische Mittel zur Ausführung des Mordes angestiftet haben. Unter den Sachverständigen standen sich zwei „Schulen“ gegenüber: die Pariser Aerzte unter der Führung Charcots erklärten die Möglichkeit einer derart suggerierten Mordtat für ausgeschlossen; die Professoren von Ranch, in ihrer Spitze Bernheim, hielten die Verübung eines Mordes durch Suggestion durchaus für möglich. Die Pariser Zeitungen erklärten damals, daß dadurch überhaupt jede sittliche und rechtliche Verantwortung der Uebelthäter aufgehoben werde, daß dann auch Adam beim Sündenfall schuldlos gewesen sei, „der Prozeß des ersten Menschenpaares revidiert und das Menschgeschlecht wieder ins Paradies eingesetzt werden müsse“. Die Geschworenen lehnten die Möglichkeit der Hypnose ab und verurteilten Eyraud zum Tode.

 

 

 

Sonnabend, den 10. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.

 

Dramatische Zwischenfälle.

Der Vormundschaftsrichter als Zeuge.

 

Hirschberg, 9. Dezember.

Die Verhandlung am Donnerstag war reich an bewegenden Momenten. Irma, der toten Ursel kleine Schwester, belastete ihre Stiefvater schwer. Sie bekundete, überraschen für alle Prozeßbeteiligten,   d a ß   G r u p e n   in der Zeit, da Dörte und Ursel den Tod gefunden haben,   d o c h   d a s   W i n t e r z i m m e r   i m   e r s t e n   S t o c k   v e r l a s s e n   h a t .   Die starke Bewegung, die dabei durch den Zuschauerraum ging, erschien durchaus begreiflich, wurde doch hier zum ersten Male eine fühlbare Bresche in die Mauer gelegt, mit der der Angeklagte sich bisher zu umgeben gewußt hat. Er suchte die Aussage der kleinen Irma dadurch zu entkräften, daß er das Kind als verlogenen Charakter hinstellte, doch wurde diese Unterstellung durch weitere Zeugenaussagen zurückgewiesen.

 

Von ganz andrer Art waren die Aussagen des Amtsgerichtsrats   T h o m a s -   Lähn, welcher hier weniger als die den Tatbestand des Mordes feststellende und verhaftende Amtsperson erschien, als vielmehr als   V o r m u n d s c h a f t s r i c h t e r ,   der seine Ansichten über das, was ein junges Mädchen in der Lage von Dorothea Rohrbeck mindestens beanspruchen durfte, äußern mußte. Ohne seinem guten Glauben irgendwie nahe treten zu wollen, müssen wir doch gestehen, daß wir selten ein solches Maß von Weltfremdheit gefunden haben, wie es sich hier offenbarte. Vom 1. April 1919 ab sollte Frl. Zahn den Haushalt ausschließlich der Gehälter mit 120 Mark wöchentlich bestreiten, und vom 1. Oktober 1920 ab einschließlich der Gehälter mit 100 Mark! Das geht an sich schon über die Hutschnur, aber noch viel weiter geht, daß es Herrn Vormundschaftsrichter Thomas nicht möglich war, einzusehen, daß hier ein Widerspruch klaffte, dem nachzugeben und den zu beseitigen doch wohl einiger Grund vorlag. Der Vorsitzende machte kein Hehl aus seiner Verwunderung, und es wird wohl nicht viel Menschen im Saale gegeben haben, die ihm darin nicht zu folgen vermochten. Daß besonders die Damen des Zuschauerraumes nicht damit einverstanden waren, daß man aus seidenen Herrensporthemden seidene Mädchenkonfirmationsblusen machen soll, wenn man Millionenerbin ist, kann man ihnen ebenfalls nicht verdenken. Zur Entdeckung des Täters dienten ja alle diese Dinge nicht, aber sie warfen ein sehr grelles Licht auf die Verhältnisse, unter denen Dörte Rohrbeck samt ihrer Erzieherin zu leben genötigt war, und aus diesen Verhältnissen heraus werden ja erst beider Beziehungen zu dem Angeklagten verständlich.

 

Dörtes Angst.

In der Nachmittagssitzung wurde zunächst Oberschwester Emma   K u b e   aus Lähn vernommen. Dörte Rohrbeck hat ihr im Dezember die Erlebnisse bei der   A l s t e r f a h r t   erzählt und schon damals von den Heiratsanträgen gesprochen, die ihr Grupen gemacht habe. Dörte sagte zur Oberschwester: „Weißt Du,   G r u p e n   ist ein   g a n z   s c h l e c h t e r   K e r l .   Ich habe dir vor einigen Monaten von dem reichen Onkel erzählt, über den wir uns freuten, aber das ist ja alles anders. Bei der Alsterfahrt hat er die Ruder fortgeworfen, daß ich Angst bekamt. Ich glaube, es war auf mein Leben angesehen.“ Als die Oberschwester einwandte: „Dörte, du machst Scherz“ erwiderte Dörte in bestimmtem Tone: „Nein nein. Und die   H e i r a t s a n t r ä g e !   Es ist mir direkt unheimlich geworden. Ich dankte Gott, als ich wieder fort war.“ Die Zeugin bekundet weiter: Grupen hat in Kleppelsdorf nicht den Eindruck eines gebildeten Mannes gemacht. Im Februar ist die Zeugin krank gewesen. Da habe Dörte sie eines Tages aufgeregt besucht und ihr mitgeteilt, daß Grupen mit der Großmutter, Ursula, Irma und einer Stütze auf Schloß Kleppelsdorf eingetroffen sei. Die Zeugin hat sich über Grupens Besuch in Kleppelsdorf deshalb gewundert. weil ihr bekannt geworden war, welche zweifelhafte Rolle Grupen in dem Prozeß der Erzieherin Zahn gegen den Vormund gespielt haben soll. Der Dörte hat sie den Rat gegeben, nicht allein im Hause zu bleiben und die   S i l b e r s a c h e n   w e g z u s c h l i e ß e n .   Dörte sagte: „Denke dir, er will unser Gut bewirtschaften, und er hat mir wieder einen   H e i r a t s a n t r a g   gemacht. Grupen döst so vor sich hin und tut gar nichts. Ach, du liegst geborgen in deiner Ecke, und mich   g r u s e l t s ,   wenn ich in mein Haus gehe!“ - Die Zeugin bekundet weiter: Dörte liebte Frl. Zahn mit kindlicher Anhänglichkeit. Als neunjähriges Kind hat sie ihr zum Geburtstag für 1,50 Mk. einen Fingerhut und noch etwas Schönes kaufen wollen. Ich sagte: „Für 1,50 Mk. wirst du nicht viel bekommen.“ Da antwortete Dörte: „Mehr darf ich nicht ausgeben. Es ist von meinem Taschengeld, und wenn ich mehr ausgebe, würde Frl. Zahn sich nicht freuen.“ Frl. Zahn hat keinen Luxus getrieben, und die Dörte ist durch ihre Schlichtheit aufgefallen. Die Zeugin hat, weil der verstorbene Rohrbeck sie gebeten, nach seinem Tode ihre Hand über Dorothea zu halten, stille Erkundigungen darüber eingezogen, wie Frl. Zahn wirtschaftet. Sie hat aber nie etwas für Frl. Zahn Ungünstiges feststellen können. Von der Großmutter sagte die Zeugin: Ja, das war nicht das Ideal einer Großmutter. Von Liebe kann ich da gar nicht sprechen; ein zärtliches Verhältnis bestand nicht zwischen Dörte und Frau Eckert. Dörte, ein sein empfindendes Kind, hat zu mir sehr wenig von ihrer Großmutter gesprochen.

 

Die Aussagen der Irma Schade.

Als nächste Zeugin wird die zwölfjährige   I r m a   S c h a d e ,   Schwester der Ursula, aufgerufen. Der Staatsanwalt beantragt, während dieser Vernehmung den

Angeklagten aus dem Saale zu entfernen,

weil die kleine Irma in Tränen ausgebrochen sei, als sie sich beim Lokaltermin neben Grupen setzen sollte. Verteidiger Dr. Ablaß widerspricht dem Antrage, dem aber das Gericht nach kurzer Beratung stattgibt mir der Begründung, es sei zu befürchten, daß die jugendliche Zeugin nicht die Wahrheit sagen werde, wenn der Angeklagte, ihr Stiefvater, im Saale verbleibe. Der Angeklagte wird abgeführt.

 

I r m a   S c h a d e   macht von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht keinen Gebrauch. Sie hat ihren Stiefvater schon in Kellinghusen gesehen, bevor er sich mit ihrer Mutter verheiratete. Grupen ist gut zu den Kindern gewesen, haben ihnen aber manchmal auch Schläge gegeben, besonders dann, wenn sie auf seine Fragen nicht gleich antworteten. Die Ursel hat der Stiefvater besonders gern gehabt.

 

Ueber das   V e r s c h w i n d e n   d e r   M u t t e r   weiß Irma nicht viel zu sagen. Nach dem Kaffee ist die Mutter plötzlich aufgestanden mit den Worten: „Ich muß schnell weg!“ Sie hat sich von den Kindern so verabschiedet, wie zu einer Reise von ein paar Tagen. Ueber Ursulas Eigenart befragt, äußert sich Irma dahin, daß Ursel immer ein bißchen traurig gewesen sei und immer gleich geweint habe. - Vorsitzender: War es eine Heulliese? - Zeugin: Ja. Sie weinte immer über jedes kleine Bischen. - Die Zeugin bejaht auch die Frage, ob der Stiefvater abends mit den Kindern gebetet habe.

 

Auf der Fahrt nach Kleppelsdorf mit dem Stiefvater, der Großmutter, Ursula und der Stütze Mohr habe letztere nicht schlagen können. weil Irma, wie sie aussagt, mit dem Kopfe auf dem Schoße der Ursula geruht habe. - Vors.: Hast Du dabei etwas bemerkt, daß Ursula etwas Hartes in der Unterbindetasche hatte? - Zeugin: Nein. - Vors.: Weißt Du, was ein Revolver ist, kennst Du auch Patronen? - Zeugin: Ja. - Vors.: Hast Du bei Ursula jemals einen Revolver und Patronen gesehen? - Zeugin: Nein.

 

Bei der Ankunft in Kleppelsdorf hat die Großmutter sich darüber gewundert, daß niemand nach dem Bahnhof gekommen war, weder Dörte, noch Fräulein Zahn. Irma erzählt, wie sie am Tage vor dem Morde mit Ursula und Dörte im Garten gespielt habe. Dörte hat sich über Ursel sehr gefreut. - Vors.: Wer hat Euren Reisekoffer gepackt? - Irma: Die Großmutter. Den Schlüssel zum Koffer hatte der Vater. Wir brachten die Sachen, die mitgenommen werden sollten, einzeln an, und Großmutter packte sie ein. Anfangs hat Irma mit Ursula in einem Zimmer geschlafen, später mußte Ursula bei der Stütze Mohr schlafen. Am Montag (dem Mordtag) bin ich mit Dörte zur Post gegangen. Auf dem Rückwege haben wir uns Apfelsinen gekauft. Wieder im Schlosse angelangt, ist Dörte sofort zu Fräulein Zahn ins Zimmer gegangen, ich in das Zimmer, wo Grupen mit der Großmutter und der Mohr saß. Ursula kam mir auf dem Korridor entgegen mit der Frage: „Wo seid Ihr so lange geblieben?“ Sie hatte auf die Apfelsinen gewartet, ist aber gar nicht traurig gewesen. Ursula ist darauf nach unten gegangen. Als ich mich an den Tisch zum Mühlespiel setzte, hörte ich, daß Fräulein Zahn mir sagte, ich solle Dörte und Ursula suchen. Ich ging hinunter zum Eßzimmer, rief Ursel und Dorte, erhielt aber keine Antwort. Dann ging ich in die Küche, wo mir die Mädchen sagten, daß sich auch dort Ursel und Dörte nicht befänden.

 

Eine schwerwiegende Aussage.

Ich ging dann wieder hinauf und wollte einen Apfel essen, da er aber schlecht war, wollte ich ihn in den Ofen werden. Auf Veranlassung von Ihm trug ich den Apfel zum Abort und warf ihn dort hinein.

 

We kam dann hinter mir der

ins Schrankzimmer

(große Bewegung im Saale), wo Er dann geblieben ist, weiß ich nicht. Ich kam allein zur Stube zurück. Wann Er zurückgegangen ist, weiß ich nicht. Ich weiß aber, daß er vorher eine Apfelsine in das Nebenzimmer trug und auf Dörtes Schreibtisch legte.

 

Der Vorsitzende fragt die Zeugin wiederholt und eindringlich, unter Hinweis auf das achte Gebot, ob sie bei der Behauptung bleibe, daß   G r u p e n   i h r   n a c h g e g a n g e n   sei. Sie bleibt dabei. Auf die Frage eines Geschworenen, ob der Stiefvater sie mit dem Apfel zum Abort   g e s c h i c k t   habe, antwortete sie mit einem bestimmten   „ J a “ .

 

Verteidiger Dr. Mamroth: Du bist schon dreimal vernommen worden. hast aber davon nichts gesagt. - Vors. (zur Zeugin): Warum hast Du früher nichts davon gesagt, daß Dein Vater Dich mit dem Apfel weggeschickt hat und daß er Dir gefolgt ist? - Zeugin: Ich hatte es vergessen.  Aber gestern beim Termin im Schlosse ist es mir eingefallen. Niemand hat es mir eingeredet.

 

Verteidiger Dr. Ablaß: Ist Dir Dein Vater oder Deine Mutter lieber gewesen? - Zeugin: Ich habe beide gern gehabt. - Vors.: Warum hast Du gestern im Schlosse geweint?

 

Zeugin: Weil ich Angst vor ihm hatte.

 

Der Angeklagte wird hierauf wieder in den Saal geführt und es wird ihm die Aussage der Irma verlesen. Er erklärt darauf: Als Irma den Apfel wegwerfen wollte, habe ich nur die Tür zum Schrankzimmer aufgemacht, bin aber   i m   Z i m m e r   g e b l i e b e n .   Die Irma ist schon als kleines Kind eine   v e r s t o c k t e   L ü g n e r i n   gewesen. Sie hat einmal der Großmutter ein Portemonnaie weggenommen, das Geld vernascht und die Tat erst nach langen Ermahnungen nach vier Tagen eingestanden.

 

Grupens stechender Blick.

Verteidiger Dr. Ablaß regt an,   d e m   V a t e r   i n s   G e s i c h t   zu sagen, daß er ihr nachgefolgt sei. -   D e r   S t a a t s a n w a l t   w i d e r s p r i c h t   dieser Anregung und bittet den Sachverständigen Geheimrat Dr. Moll zu befragen, ob gegen die Anregung des Verteidigers nicht Bedenken bestehen. Im Zuhörerraum entsteht große Aufregung.   I r m a   b e g i n n t   z u   w e i n e n ,   läuft von dem in der Nähe der Anklagebank stehenden Zeugenstuhle weg und klammert sich wie Schutz suchend an einen vor der Geschworenenbank sitzenden Sachverständigen. - Verteidiger Dr. Ablaß stellt den   f o r m e l l e n   A n t r a g ,   daß Irma ihre Bekundung dem Angeklagten ins Gesicht sage. - Staatsanwalt: Der Antrag ist unzulässig. Es steht nirgends im Gesetz, daß ein Zeuge dem Angeklagten Bekundungen ins Gesicht sagen muß. - Geheimrat Dr. Moll: Bei dem stechenden Blick des Angeklagten muß ich mich   g e g e n   den Antrag des Verteidigers aussprechen.

 

Der Gerichtshof zieht sich zur Beschlußfassung zurück und verkündet nach längerer Beratung die   A b l e h n u n g   des Antrages des Verteidigers unter Berufung auf die Strafprozeßordnung und auf die Ansicht des Sachverständigen Dr. Moll, daß sonst die Wahrheit beeinträchtigt werden könnte.

 

Die Vernehmung der Irma Schade schließt damit, daß sie auf Veranlassung des Geheimrats Lesser sich die   U n t e r b i n d e t a s c h e   mit Patronen und Revolver anlegen muß, um festzustellen, ob Ursula Schade die Tasche mit diesem Inhalt getragen haben kann, ohne daß es auffallend gewesen wäre. Irma sagt, daß die Tasche sie im Gehen belästige und immer gegen die Beine schlage.

 

Irmas Charakter.

Es folgt die Vernehmung von   F r a u   E r n a   L u x ,   Schwägerin der verschwundenen Frau Grupen. Die kleine Irma ist von ihr als Pflegekind angenommen worden. Die Zeugin verneint die Frage des Vorsitzenden. ob der Irma die Bekundung, Grupen sei ihr beim Forttragen des Apfels nachgegangen, eingeredet worden sei. Als Irma vor 14 Tagen die Zeugenvorladung erhalten habe, habe sie ihr erzählt, daß Grupen ihr in der grauen Jacke gefolgt sei. - Vors.: Was ist die kleine Irma für ein Kind? - Zeugin: Ein sehr liebes Kind. Ich habe sie seit Februar im Hause, aber auch schon früher kennen gelernt. - Vors.: Haben Sie die Irma auf Lügen ertappt? - Zeugin: Auf kleinen Kinderlügen, eine wirkliche Schlechtigkeit habe ich bei ihr noch nicht bemerkt. - Vors.: Hat sie auch mal was genommen? - Zeugin: Ein paar Blaubeeren hat sie genascht.

 

Hier   e r l i s c h t   wieder das   e l e k t r i s c h e   L i c h t .

 

Der Vormundschaftsrichter.

Amtsgerichtsrat   T h o m a s -   Lähn wird jetzt bei fast völliger Dunkelheit des Saales vernommen, so daß die Berichterstattung über den ersten Teil seiner Vernehmung sich keine genaueren Aufzeichnungen machen kann. Es entwickelt sich eine von sehr verschiedener Weltanschauung zeugende Wechselrede zwischen dem Vorsitzenden und dem Zeugen, deren Inhalt im Wesentlichen die

 

Ernährungs- und Kleidungsverhältnisse

 

der Millionenerbin   D o r o t h e a   R o h r b e c k   ist. Der Zeuge war mit mehreren Unterbrechungen während der Kriegszeit, wo er mehrfach eingezogen war,   V o r m u n d s c h a f t s r i c h t e r .   Er war in Uebereinstimmung mit dem Vormund Vielhack der Ansicht, daß in Kleppelsdorf unter Fräulein Zahn zu große Ausgaben gemacht würden. Zum Erstaunen des Vorsitzenden bekennt der Zeuge, daß er tatsächlich der Meinung war, daß sich   a u s   d e n   S a c h e n   d e s   v e r s t o r b e n e n   R o h r b e c k    hätten   K l e i d u n g s s t ü c k e   f ü r   D o r o t h e a   machen lassen, -   a u s   s e i d e n e n   S p o r t h e m d e n   eines Herren ließen sich doch   B l u s e n   für den Konfirmationstag eines jungen Mädchens machen! (Starke Bewegung beim weiblichen Element im Zuschauerraum worauf wieder eine Rüge des Vorsitzenden erfolgt.) Der Zeuge bestreitet aber ausdrücklich, daß er der Meinung gewesen sei, aus den Kleidern des Herrn Rohrbeck hätte das   K o n f i r m a t i o n s k l e i d   für Dorothea selbst gemacht werden sollen, denn dafür seien 800 Mark ausgeworfen worden.

 

Wie der Zeuge weiter bekundet, kamen dann die neuen Steuern und rund 621 000 Mark Reichsnotopfer, so daß sich das Kapital verringerte. Der Vormund bekam zunächst jährlich 2000 Mark und Ersatz der Reisekosten, sowie 15 Mark Tagegelder bei Reisen. - Vors.: Und wie oft kam da der Vormund nach Kleppelsdorf? - Zeuge: Jährlich höchstens zweimal. Später stellte der Vormund den Antrag, seine Entschädigung auf 4000 Mark zu erhöhen, was aber zu hoch erschien, so daß ich die Festsetzung auf nur 3000 Mark durchsetzte. - Vors.: Ist es eigentlich nicht bedenklich, daß der Gegenvormund Bauer, der doch die Rechte des Mündels gegen den Vormund vertreten soll, als Gegenvormund gewissermaßen der Untergebene des Vormundes war? - Zeuge: Diese Bedenken habe ich auch gehabt: da aber keine Beschwerden kamen, habe ich mich damit abgefunden. - Vors.: Von dem Mündel und der Erzieherin lagen jedenfalls viele Beschwerden vor.

 

Der Zeuge macht dann nähere Angaben über die Gelder, die Fräulein Zahn für den Haushalt und die Erziehung erhielt. Im Jahre 1915/16 wurden an Fräulein Zahn 26 000 Mark gezahlt, wofür sie Gärtner, Köchin und die beiden Dienstmädchen bezahlten mußte. Fräulein Zahn selbst erhielt monatlich (200) Mk. 1916/17 waren es rund 24 000 Mark, dann wieder 24 000, dann 21 000, dann 29 900. Im ersten und im letzten Falle sind die Naturalien eingerechnet, in den anderen Fällen nicht. - Vors.: Es ist doch merkwürdig: je größer die Teuerung wurde, desto niedriger wurden die dem Mündel zugebilligten Unterhaltungsgelder. Und mit 100 Mark wöchentlich wollten die beiden Damen auskommen? - Zeuge: Sie erhielten ja auch noch Naturalien. Herr Rohrbeck hatte 10 000 Mark für die Erziehung seiner Tochter ausgesetzt. - Vors.: Damit hatte er doch sicherlich nur die Ausgaben für die   E r z i e h u n g   gemeint, aber nicht die Kosten für den gesamten Unterhalt. - Zeuge: Der Vormund und ich waren jedenfalls der Meinung, daß damit der   g a n z e   U n t e r h a l t   gemeint sei. Jedenfalls war der Vormund der Ansicht, daß die beiden Damen mit diesem Gelde auskommen konnten. - Vors.: Wie erklären Sie aber dann die Tatsache, daß die beiden Damen von Verwandten und Bekannten Geld borgen mußten? - Zeuge: Ich habe von dieser Tatsache erst kurz vor dem Tode der Dorothea Rohrbeck erfahren. Jedenfalls haben die Damen wohl über die Verhältnisse gelebt. Rohrbeck hatte bestimmt, daß seine Tochter   e i n f a c h   b ü r g e r l i c h   erzogen werden sollte. (Heiterkeit im Zuschauerraum, die vom Vorsitzenden wieder gerügt wird.) - Vors.: Können Sie bestimmte Tatsachen angeben, daß die beiden Damen zu viel Geld ausgegeben haben? - Zeuge: Bestimmte Tatsachen kann ich hierfür nicht anführen, aber die Zahl der Dienstboten war wohl zu groß. - Vors.: Um das Schloß im Stande zu halten, mußten doch auch Leute da sein. Und die 120 Mark, die die beiden Damen zuletzt für ihren Haushalt erhielten, mußten sie sich noch wöchentlich von Herrn Bauer holen? - Zeuge: Das gefiel mir ja auch nicht.

 

Vors.: Der Vormund hat dann Fräulein Zahn wiederholt gekündigt, obwohl in dem Testament stand, daß sie die Erziehung des Fräuleins bis zu deren Mündigkeit leiten sollte. Glaubten der Vormund und Sie, daß Sie hierzu ein Recht hatten? - Zeuge: Das war jedenfalls die Ansicht des Vormundes und meine auch. - Vors.: Ihre Ansicht, aber die oberen Gerichte waren jedenfalls anderer Ansicht. (Heiterkeit, die der Vorsitzende rügt.) Weshalb wollte der Vormund Fräulein Zahn entlassen? - Zeuge: Er war der Ansicht, daß ihm Fräulein Zahn das Mündel   e n t f r e m d e .   - Vors.: Aber der Vormund hatte doch gar keine persönlichen Beziehungen zu Fräulein Rohrbeck! Er was doch nur ein früherer Jagdgast des Herrn Rohrbeck.

 

Vors.: Nach den bei den Akten befindlichen Attesten des Dr. Kreisel in Breslau war Dorothea Rohrbeck leidend und sollte gute Verpflegung und Aufenthalt auf dem Lande haben. Trotzdem wollte der Vormund, daß sie in ein Pensionat nach der Stadt gehen sollte, was ihr gewiß gesundheitlich nicht zuträglich gewesen wäre. - Zeuge: Ich hatte auch dagegen Bedenken, deshalb war ich gegen diesen Plan, zum mindesten war ich dafür, daß dann nur ein Pensionat in Frage komme, in welchem alle Vorbedingungen für ärztliche Beaufsichtigung vorhanden waren. Dabei muß ich aber erwähnen, daß Fräulein Zahn selbst die Absicht hatte, mit Dorothea in die Stadt zu ziehen, da war ihr der Stadtaufenthalt nicht bedenklich; der Widerstand kam erst, als Dorothea Rohrbeck allein in die Stadt gehen wollte. - Vors.: Stand es nicht im Widerspruch mit den Bestimmungen des Testaments, wenn man Fräulein Zahn von Fräulein Rohrbeck trennen wollte, zumal zwischen den beiden doch das innigste Verhältnis bestand? - Zeuge: Der Vormund war jedenfalls der Ansicht, daß er dies tun dürfe. - Vors.: Das war seine persönliche Ansicht. - Zeuge: Der Vormund hielt die Erziehung durch Fräulein Zahn nicht für ganz unbedenklich. Fräulein Zahn hat z. B. alle Streitigkeiten, die sie mit dem Vormund hatte, der Dorothea erzählt. - Vors.: Das war doch bei dem innigen Verhältnis zwischen den beiden ganz natürlich. Es ist auch die Rede, daß Fräulein Zahn sich taktlos gegen den Vormund benommen haben soll. - Zeuge: Ich habe diesen Ausdruck gebraucht, weil bei Anwesenheit des Vormundes die beiden Damen nach Hirschberg fuhren, wie er annahm, zu einer Musikstunde. Später stellte sich allerdings heraus, daß eine zahnärztliche Behandlung der Grund der Reise war, so daß sich der Vorwurf der Taktlosigkeit nicht aufrechterhalten läßt.

 

Verteidiger Dr. Ablaß: Der Zeuge hat nach bestem Gewissen pflichtgemäß gehandelt, da er die Darstellung des Vormundes, den er für einen durchaus glaubwürdigen Ehrenmann halten mußte und in dessen Angaben er natürlich nicht den geringsten Zweifel setzen konnte, für richtig hielt. Eine Verpflichtung für ihr, die Verhältnisse im einzelnen zu prüfen, hatte er als Vormundschaftsrichter nicht. - Vors.: Er hätte sich doch wohl selbst Gewißheit über die Verhältnisse verschaffen können, zumal die vielen Beschwerden kamen. - Zeuge: Ich hatte keine Veranlassung, an der Richtigkeit der mir vom Vormund gegebenen Unterlagen zu zweifeln.

 

Verteidiger Dr. Ablaß: Wie haben sich die Einnahmen gegenüber den Ausgaben gestellt? Es ist doch so, daß der Vormund und der Zeuge der Ansicht waren, daß die Ausgaben nicht in dem richtigen Verhältnis zu den Einnahmen standen, so daß zu der Zeit, wo mit dem Alter des Mündels die Ausgaben größer wurden, nicht mehr das nötige Kapital vorhanden war. Die Herren waren der Ansicht, daß sich wohl eine Herabsetzung der Kosten für den Haushalt erzielen ließe. - Vors.: Es wäre wohl die Pflicht des Zeugen gewesen, genaue Erkundigungen einzuziehen, zumal so viele Beschwerden eingingen, darunter sogar eine vom Waisenrat.

 

Die Kastanienbäume als „Grund zum Selbstmord“.

Zeuge: Es sollten im Park einige alte Kastanienbäume geschlagen werden, weil sie morsch waren und ihr Sturz drohte. Dorothea Rohrbeck, die sehr in diesen Bäumen hing, kam nicht zu mir, sondern ging zu dem Waisenrat und ließ durch diesen für die Bäume bitten. Ich habe dies dem Vormund geschrieben und erhielt die Antwort, daß die Bäume doch beseitigt werden müßten, weil sie beim Sturz das Dach beschädigen konnten. Am Tage vor der Tat wurde dies Fräulein Rohrbeck mitgeteilt. Als ich am nächsten Tage nachmittags gegen 3 Uhr auf dem Bahnhof von der Tat hörte, ging mir durch den Kopf, ob nicht Fräulein Rohrbeck aus Schmerz über die Nichterfüllung ihrer Bitte Selbstmord verübt haben könnte. Ich gab daher, als ich in dem Schlosse, in das ich mich sofort begab, zu Fräulein Zahn diesem Gedanken Ausdruck. Auf dem Wege zum Schlosse gaben allerdings die Herren, die mich abholten, auch anderen Vermutungen Ausdruck. Auch wurde mir damals schon Grupen als wahrscheinlicher Täter genannt. - Vors.: Der Gedanke, daß ein junges Mädchen wegen einer solchen Sache Selbstmord verüben könnte, ist dich eigentlich wohl etwas sehr fernliegend.

 

Der Vormundschaftsrichter über Fräulein Zahn.

Zeuge: Es war ja auch nur eine Vermutung, die mir damals durch den Kopf ging. Fräulein Zahn war   k u r z   n a c h   d e r   T a t   n i c h t   d i e   g e r i n g s t e   E r r e g u n g   anzumerken, während ich selbst angesichts der Leichen in einer furchtbaren Aufregung war. Ich habe nie eine Frauensperson gesehen, die in einer solchen Situation so ruhig war. Da kam mir der Gedanke, ob denn die Liebe des Fräulein Zahn zu Fräulein Rohrbeck vielleicht doch nicht so groß war.

 

Fräulein   Z a h n ,   die im Zuschauerraum ist, ruft aus: Das ist zuviel! Ich kann nicht mehr! und bricht in heftiges Weinen aus. Mit Erlaubnis des Vorsitzenden verläßt sie den Saal.

 

Zeuge Thomas: Ich kann nur erklären, daß ich an Fräulein Zahn keine Erregung bemerkt habe, war mir auffiel. Er gibt allerdings auf Vorhalten des Vorsitzenden zu, daß es sich bei Frl. Zahn auch um die Starrheit des Schmerzes handeln konnte. - Verteidiger Dr. Ablaß bezeichnet den Zeugen als in Fragen des Taktes geradezu vorbildlich.

 

Ein   G e s c h w o r e n e r   wünscht Aufklärung, welche Vermutungen der Zeuge über die Tat gehabt hat, ob ihm auf dem Wege vom Bahnhof nicht auch schon mitgeteilt worden sei, daß hier ein Mord vorliege. - Zeuge: Auch diese Vermutung wurde geäußert; ich habe ja dann auch in der Nacht Grupen verhaftet. Zeuge erklärt nochmals, daß Fräulein Zahn eine bewunderungswürdige Ruhe an den Tag gelegt habe. - Vors.: Ich habe vorhin nach dem Ton Ihrer Aussage die Empfindung gehabt, als wollten Sie an Fräulein Zahn eine üble Kritik üben.

 

Eine Erklärung der Geschworenen.

Ein   G e s c h w o r e n e r :   Im Namen aller Geschworenen wünsche ich zu erklären, daß wir uns der Beurteilung des Herrn Vorsitzenden über die Aussage des Zeugen anschließen. - Verteidiger Dr. Ablaß: Ich beantrage die   P r o t o k o l l i e r u n g   des Beschlusses der Geschworenen. - Es entspinnt sich eine Debatte zwischen dem   S t a a t s a n w a l t ,   der meint, daß hier kein richtiger Beschluß der Geschworenen vorliegt, und dem Verteidiger   D r .   A b l a ß ,   der betont, daß die Tatsache, daß die Geschworenen diese Erklärung abgegeben haben, doch nicht zu leugnen sei. - Der Gerichtshof berät darüber, nachdem er sich zurückgezogen, und der Vorsitzende verliest die nach Wiedererscheinen erfolgte   E i n t r a g u n g   i n   d a s   P r o t o k o l l ,   welche dem Wunsche des Verteidigers entspricht und feststellt, daß der Zeuge an Frl. Zahn keine ungünstige Kritik üben, sondern nur sein Erstaunen über ihre Selbstbeherrschung zum Ausdruck bringen wollte.

 

Nochmals das Haushaltsgeld.

Zeugin   Z a h n   gibt dann nochmals die Beträge an, die ihr der Vormund mit Genehmigung des Vormundschaftsrichters als Haushaltsgeld zugebilligt hat. Vom 1. Juli 1916 bekam ich monatlich 1000 Mk., wovon ich alle Ausgaben zu decken hatte. Auf einer Konferenz der Vormünder und des Vormundschaftsrichters war dieser Betrag festgesetzt worden. Es wurden als Gesamtausgaben 18 000 Mk. festgesetzt, 12 000 Mk. erhielt ich in bar, 6000 Mk. wurden für Naturalbezüge aus dem Gut gerechnet. Vom 1. April 1920 ab bekam ich wöchentlich   1 2 0   M a r k   a u s s c h l i e ß l i c h   der Gehälter, vom 1. Oktober 1920 wöchentlich   1 0 0   M a r k   e i n s c h l i e ß l i c h   der Gehälter! Das reichte natürlich nicht aus.

 

Dann wird noch Güterdirektor   B a u e r -   Kleppelsdorf, der Gegenvormund, vernommen, aber nur über seine Beobachtungen am Mordtage. Er kam erst später hinzu, da er an diesem Tage in Löwenberg war. Er hat dann als Amtsvorsteher das Mordzimmer versiegelt. Sonst bekundet der Zeuge nichts wesentliches. Ueber seine Tätigkeit als Gegenvormund wird er nicht vernommen.

 

Hierauf wird die Weiterberatung auf Freitag vertagt.

 

*

Sitzung am Freitag.

Vernehmung von Marie Mohr.

Die Sitzung am Freitag wird mit der Vernehmung der Stütze   M a r i e   M o h r   eingeleitet. Die 21 Jahre alte Zeugin wird unter Aussetzung der Vereidigung vernommen.

 

Vors.: Sie haben in der Voruntersuchung gesagt, Sie glaubten alles, was der Angeklagte sage. Vor dem Untersuchungsrichter haben Sie auf erklärt, daß Sie gar nicht wüßten, warum alles niedergeschrieben werde, Sie hielten das für eine große Papierverschwendung. Mit Rücksicht auf diese Aeußerungen und auf Ihr Verhältnis zu dem Angeklagten muß ich Sie ganz besonders darauf aufmerksam machen, daß Sie hier die reine Wahrheit zu sagen haben. - Oberstaatsanwalt   D r .   R e i f e n r a t h   beantragt, während der Vernehmung der Zeugin den   A n g e k l a g t e n   a u s   d e m   S a a l   z u   e n t f e r n e n .   - Die   V e r t e i d i g e r   erheben   E i n s p r u c h .   Sie befürchten keine Beeinflussung der Zeugin durch den Angeklagten. - Geheimrat   D r .   M o l l   hält die Besorgnis einer Beeinflussung für   b e g r ü n d e t .   Es handle sich um ein junges Mädchen, das zu dem Angeklagten in sehr intimen Beziehungen gestanden habe. - Das   G e r i c h t   l e h n t   d e n   A n t r a g   d e s   S t a a t s a n w a l t s   a b ,   es behält sich aber vor, den Angeklagten abführen zu lassen, sobald die Befürchtung einer Beeinflussung begründet erscheint. Geheimrat Moll wird gebeten, dem Gerichtshof mitzuteilen, wann etwa dieser Zeitpunkt eintreten sollte. Der Vorsitzende ersucht die Zeugin, zu den Geschworenen gewendet zu sprechen.

 

Frl.   M o h r ,   die an einer Mandelentzündung erkrankt ist und daher schwer verständlich ist, bekundet: Im Dezember 1920, also nach dem Verschwinden der Frau Grupen, bin ich in Grupens Haus als Stütze gegangen, und zwar auf Wunsch meiner Mutter, während der Vater dagegen gewesen ist. Die Ursel ist ein liebenswürdiges Kind gewesen; die Leute erzählten, daß Ursel auf ungesatteltem Pferde geritten sei. In der Hand des Kindes habe ich nie eine Schußwaffe gesehen, auch nicht ein ähnliches Spielzeug. Auf der Reise nach Kleppelsdorf habe ich keinerlei Wahrnehmungen gemacht, daß Ursula   e i n e n   R e v o l v e r   o d e r   e i n   P a t r o n e n k ä s t c h e n   u n t e r   d e n   K l e i d e r n   trage. Auch beim Spielen und Schaukeln der Kinder im Park habe ich nie wahrgenommen, daß Ursula einen harten Gegenstand bei sich trage. In Kleppelsdorf ist Ursula   n u r   z e i t w e i s e   t r a u r i g   gewesen. Frau Eckert hat sich über den kühlen Empfang in Kleppelsdorf aufgeregt. Der Empfang ist deshalb so unfreundlich gewesen, weil Grupen und Frau Eckert mit den Kindern unangemeldet gekommen waren. Frau Eckert hat auch gesagt: „Ich habe schon recht, daß ich in Kleppelsdorf nicht gern gesehen bin. Dörte ist ebenso verschwenderisch wie Frl. Zahn, und es kann schon stimmen, was Herr Vielhack geschrieben habe, daß es einmal ein Ende mit Schrecken nehmen werde.“ Erst habe ich mit Irma, dann mit Ursula im Amtszimmer geschlafen. Ursula hatte die ersten Nächte bei der Großmutter Eckert zugebracht. Frau Eckert klagte aber, daß Ursula schwer träume und unruhig schlafe. Frau Eckert erzählte auch, daß Ursel sie einmal nachts geweckt habe mit der Frage: „Wo ist der Karton?“ Ursel hat damit den Bücherkarton gemeint. Wenige Tage nach der Ankunft in Kleppelsdorf schrieb Ursel an eine Frau Bartel einen Brief. Da er nicht richtig war, habe ihn Ursel zerrissen und noch zweimal geschrieben und sich dann sehr gefreut, als er ihr gelungen war. Am 9. oder 10. Februar hat mir Ursula

 

einen Brief an Großmutter

 

übergeben und gesagt, das wird

 

eine große Ueberraschung für Großmutti

 

sein. Ursula forderte aber den Brief zurück und sagte, Großmutter solle ihn erst übermorgen erhalten. Am nächsten Tage wollte Ursula, daß ich den Brief noch nicht abgebe, weshalb ich ihr ihn wieder zurückgab.

 

Staatsanwalt: Was hatten Sie für einen Eindruck, als die Ursel sagte: das soll eine Ueberraschung für Großmutter sein? - Zeugin: Ursula war   s e h r   v e r g n ü g t   d a b e i . -   Vors.: Hat damals der Angeklagte von dem Brief etwas gehört? - Zeugin: Nein.

 

Verteidiger Dr. Ablaß: Ist die Ursula einmal nachts an das Bett der Großmutter gegangen und hat sie dabei geweint? - Der Staatsanwalt weist darauf hin, daß dieser Vorgang im Zusammenhang stehe mit Dingen, die in geheimer Sitzung zu beraten seien. - Der Verteidiger ist damit einverstanden.

 

Die   Z e u g i n   bestreitet, die Rollstube jemals verschlossen zu haben.

 

Hat Grupen das Zimmer verlassen?

Vors. (mit erhobener Stimme):   I s t   d e r   A n g e k l a g t e   d e r   k l e i n e n   I r m a ,   als sie den Apfel nach dem Abort trug,   n a c h g e g a n g e n ?

Zeugin:   N e i n !

Vors.: Ist Grupen aber nicht aufgestanden und hat er der Irma nicht die Tür zum Schrankzimmer aufgemacht?

Zeugin:   N e i n .  -   Vors..: Der Angeklagte hat es gestern selbst gesagt! Ist Grupen im Zimmer hin und her gegangen?

Zeugin:   N e i n ,   wir haben Mühle gespielt.

Verteidiger Dr. Mamroth: Sie haben schon in der Voruntersuchung erklärt, Sie seien bereit, jederzeit zu beschwören, daß Grupen das Zimmer nicht verlassen habe.

 

Ein Beisitzer macht die Zeugin darauf aufmerksam, daß sie in ihrem heutigen Verhör verschiedene Fragen nicht mit derselben Genauigkeit beantwortet hat, wie die, ob Grupen das Zimmer verlassen habe. Die   Z e u g i n   erwidert, sie habe andere Sachen vergessen, weil sie unwichtig seien.

 

Vors.: Hat der Angeklagte später nicht gesagt:   e s   i s t   g u t ,   d a ß   w i r   a l l e   g e s a g t   h a b e n ,   d a ß   i c h   i n   m e i n e m   Z i m m e r   w a r ? -   Zeugin: Ich kann mich darauf nicht erinnern.

 

Verteidiger Dr. Ablaß weist darauf hin, daß die Zeugin schon in früheren Vernehmungen erklärt habe: „Ich weiß, daß Grupen nicht hinausgegangen ist, weil wir Mühle gespielt haben.“

 

Sachverständiger Dr. Moll (zur Zeugin): Haben Sie die Unterhaltung gehört, die der Angeklagte mit Fräulein Zahn im Nebenzimmer geführt hat? Der Angeklagte soll Fräulein Zahn dabei gefragt haben, was Küßchen auf plattdeutsch heißt.

Zeugin kann sich hierauf nicht erinnern.

Angeklagter: Ob sie wisse. daß er die von Irma gebrachten Apfelsinen zu Fräulein Zahn in das Nebenzimmer getragen und diese gefragt habe, ob sie die Apfelsinen schälen und zuckern wolle. - Zeugin: Das kann sein. - Vors.: Ich mache Sie darauf aufmerksam. daß Sie in der Voruntersuchung erklärt haben,   a l l e s   z u   g l a u b e n ,   w a s   d e r   A n g e k l a g t e   s a g e .    Ueberlegen Sie sich Ihre Aussagen.

 

Angeklagter: Ich bitte darum, daß die Zeugin jede Rücksicht auf mich fallen läßt. - Vors.: Das ist ganz selbstverständlich. Die Zeugin hat gar keine Rücksicht auf Sie zu nehmen.

 

Frl.   M o h r   bekundet weiter, daß sie sich gegen Abend im sog. Amtszimmer mir Frau Eckert, der kleinen Irma und Grupen eingeschlossen habe. - Vors.: Warum ist zugeschlossen worden? - Zeugin: Das weiß ich nicht.

 

Vors.: Hat der Angeklagte nicht gesagt: Es ist doch gut, daß wir zusammen waren, da wird meine Unschuld bald an den Tag kommen.

 

Zeugin: Kann sein, daß er es gesagt hat. - Auf wiederholtes Befragen erklärt die Zeugin:   I c h   w e i ß   e s   n i c h t .  

 

Vors.: Was hat Grupen zu Ihnen gesagt, als er abgeführt wurde?  Zeugin: Ich solle die Wahrheit sagen, dann wird sich seine Unschuld bald herausstellen. Vors.: Hat er nicht gesagt, daß er, wenn Sie bekunden, daß er oben war, bald wieder frei sein werde? - Zeugin: Das weiß ich nicht! - Vors.: Aber überlegen Sie es sich genau. Ein anderer Zeuge bekundet diese Aeußerung. - Zeugin: Ich weiß es nicht.

 

Plattdeutsch.

Vors.: Was sagte Grupen zu Ihnen, als er am nächsten Tage nach einer nochmaligen Vernehmung im Schloß nach Hirschberg abgeführt wurde? - Zeugin: Das weiß ich nicht. - Auf wiederholtes Befragen erklärte die   Z e u g i n ,   daß der Angeklagte gesagt habe, ich solle die Wahrheit sagen, daß wir oben im Zimmer zusammen waren. - Vors.: Als der Landjägermeister Klopsch dem Angeklagten das weitere Sprechen verbot, hat da der Angeklagte nicht   p l a t t d e u t s c h   g e s p r o c h e n ,   und was? - Zeugin: Ich weiß es nicht. - Auf wiederholtes Befragen des Vorsitzenden sagt die Zeugin schließlich: Der Angeklagte wird seine Ermahnung, die Wahrheit zu sagen, wiederholt haben. - Vors.: Da brauchte doch der Angeklagte nicht plattdeutsch zu sprechen. Hat er wirklich das gesagt? - Zeugin: Es kann sein.

 

Die   Z e u g i n   muß dann die Worte: Sag die Wahrheit, dann komme ich bald heraus! in Plattdeutsch sprechen. Sie spricht dies aber so aus, daß alle Anwesenden die Wort verstehen, während der Landjägermeister Klopsch die Worte des Angeklagten damals nicht verstanden hat. - Der Angeklagte spricht die Worte plattdeutsch aus, die er damals gesprochen haben will: „Segg de Wohrheet un gif man tau, dat wi tausamen verköhrt hebben.“ Diese Worte kann, besonders bei dem Tonfall des Dialekts, niemand im Gerichtssaal verstehen. - Sachverständiger Dr. Peters: Ich verstehe auch plattdeutsch. Diese Worte lauten: Sag die Wahrheit, und gib nur zu, daß wir zusammen verkehrt haben. - Zeugin: Ja, das hat er gesagt. - Vors.: Es ist doch merkwürdig, vorhin habe ich Sie so eingehend gefragt, was der Angeklagte gesagt hat, und Sie haben immer und immer wieder versichert, daß Sie es nicht mehr wüssten, und jetzt wissen Sie es auf einmal.

 

Weiter gibt die Zeugin an, daß Frau Eckert das Gepäck für Kleppelsdorf eingepackt hat. Sie hat nicht bemerkt, daß die Ursula etwas unter ihrer Kleidung versteckt hatte. Während die Zeugin immer behauptet hatte, daß die Sachen in einem Reisekorb gewesen sind, bekundet Frl. Zahn, daß dies nicht richtig ist, es sei ein Rohrplattenkoffer gewesen. Die Zeugin Mohr gibt dies dann auch zu.

 

Es folgen dann eine Reihe von Fragen der Sachverständigen nach dem   G e m ü t s z u s t a n d   d e r   U r s u l a .   Auch diese Zeugin bekundet, daß Ursel oft traurig war.

 

Auf Befragen des Schießsachverständigen gibt die Zeugin an. daß der Angeklagte in Ottenbüttel   S c h i e ß ü b u n g e n   m i t   e i n e m   R e v o l v e r   angestellt hat.

 

Als wieder nach einer Aussage eine Bewegung im Zuschauerraum entsteht, bittet der Verteidiger   D r .   A b l a ß   den Vorsitzenden, gegen solche Kundgebungen einzuschreiten. - Vors.: Ich habe schon wiederholt solche Kundgebungen gerügt und werde unnachsichtlich bei jeder Kundgebung des Beifalls oder Mißfallens den Zuschauerraum   r ä u m e n   lassen.

 

Der   A n g e k l a g t e   b e a n t r a g t   s e l b s t   kurz vor 1 Uhr den   A u s s c h l u ß   d e r   O e f f e n t l i c h k e i t ,   der auch erfolgt.

 

(Fortsetzung folgt.)

 

 

 

Sonnabend, 10. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

(Woher Kleppelsdorf seinen Namen hat)

Für Geschichtsforscher dürfte es nicht uninteressant sein, zu hören, daß der Kleppelsdorfer Hof, in alten Schriften auch Klöppelsdorfer Hof oder Klepperhof genannt, davon seinen Namen hat, daß einst auf demselben die schweren Rüstpferde, - Klepper genannt - standen, die zur Burg Lehnhaus gehörten.

 

 

 

Sonnabend, den 10. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Peter Grupen.

Wer als Zuhörer und Zuschauer in einen Schwurgerichtssaal geht, in dem ein Mordprozeß zur Verhandlung steht, pflegt sich auf Grund von Berichten, aus Lebenserfahrungen aller Art und auch nach seinem Phantasie- und Empfindungsvermögen heraus schon ein Bild von der Persönlichkeit des Angeklagten in einer Art Strichmanier entworfen zu haben. Mit vorgefaßter Meinung von dem „Kerl“, der´s wohl gewesen sein wird, gehen sehr viele in den Saal. Neugierig, wie er wohl aussehen und wie er sich benehmen wird gegenüber der Wucht der Anklage, sind alle und interessant ist ein des Mordes Angeklagter immer besonders für denkende und fühlende Menschen, die über seelische und soziale Probleme nachsinnen und wissen, daß die Handlungen, ja die Worte und Gedanken der einzelnen immer in einem gewissen Zusammenhange mit dem Charakter der Zeit stehen, und jeder, auch der ärgste Verbrecher, doch immer noch ein Bruchteil des Volkes ist. In einem völkischen Zustande, bei dem man tagtäglich auf Habgier stößt, in einer Nachkriegszeit, in welche die natürlichen Wirkungen der Nichtschätzung von Menschenleben noch nachzittern, wird ein Mord und ein dieses Verbrechens angeklagter Volkgenosse wahrscheinlich etwas anders angesehen, wie in ganz normalen Zeiten, und dennoch: das Wörtlein Mord! wird immer die Spannung hervorrufen, die z. B. Schiller in einem Satze seiner „Räuber“ zum Ausdruck bringt: „Wie eine ganze Hölle von Furien um das Wort flattert!“ Gespannt sind die Leute immer, ob dem den Mordes Angeklagten etwas anzumerken ist von der Angst, in der er ja nach dem „allgemeinen Empfinden“ befangen sein muß. Man erwartet jedenfalls „Szenen“ und auf das Auftreten des Hauptakteurs in der Tragödie menschlicher Verirrungen ist jedermann neugierig, wißbegierig.

 

Es ist eine alte Erfahrung, daß zu allen Zeiten sich Frauen ganz besonders lebhaft für energische willensstarke Männer interessieren. Im Kleppelsdorfer Mordprozeß haben wir die erwartete Zusammensetzung des Publikums, d. h. vorwiegend Frauen. „Ganz anders“ haben sich zweifellos viele Besucher des Saales den des Mordes an zwei jungen Mädchen angeklagten Peter Grupen vorgestellt. Man erwartete wohl einen durch zehnmonatliche Untersuchungshaft mitgenommenen Mann mit funkelnden „Hypnotiseur-Augen“ etc. „Andere sehen doch so blaß aus.“ hörte ich eine Dame hinter mir flüstern. Nun, Peter Grupen sieht erstaunlich blühend aus, mit roten Backen im runden Gesicht, das ein blondes Schnurrbärtchen ziert, das für den strammen 27jährigen Mann fast zu klein geraten ist. Er erinnert in seiner ganzen militärischen Haltung noch an den ehemaligen Hannoverschen Ulanen, der den Krieg mitgemacht hat. Im linken Aermel steckt der Oberarmstumpf des zerschossenen Armes, mit dem rechten Arm stützt sich Peter Grupen bei stundenlangem Stehen leicht auf eine Stuhllehne, wenn er im Raume vor den Geschworenen steht, die seine etwas dünne und hohe Stimme bei dem schnellen Sprechen so besser verstehen als von der Anklagebank her. In seiner eleganten, hellen Gürteljoppe, mit dem blendend weißen Stehkragen und dem modernen Schlips, in den tadellosen hohen Ledergamaschen, kurz in der gesamten „Aufmachung“, könnte Peter Grupen, wenn er nicht in seiner Bewegungsfreiheit und Abreise durch den fatalen Mordverdacht behindert wäre, sich getrost in ein Auto setzen, z. B. nach Krummhübel oder Schreiberhau fahren, um dort als kreditfähiger und anspruchsvoller Fremder von einem Obergastwirtsgehilfen sofort freudig taxiert und bedient zu werden. Ja, so „forsch“ sieht Peter Grupen aus, der ehemalige Maurerpolier, Vulkanwerftzeichner, Bauführer, Kleingutsbesitzer aus Ottenbüttel, dieser blonde Holsteiner, geboren am 20. September 1894 als Sohn eines Bootsbauers in Haseldorf bei Pinneberg, in der Gegend von Altona, der „eheverlassene“ Gatte, der … seit seinem Geburtstage 1920 verschollenen Frau, der angeblich nach Amerika ausgewanderten ehemaligen Apothekerwitwe und Mutter der erschossenen Ursula. Dies Stiefkind des Glücks ist ganz gewiß von einer Kugel aus der kleinen Selbstladepistole Grupens tödlich getroffen worden. Ob sie Selbstmord verübt, auch die Dörte Rohrbeck erschossen hat, wie der bei ihr aufgefundene Brief an Großmutti Eckert besagt, das ist die große Rätselfrage.

 

Peter Grupen aber, der Angeklagte, kämpft jetzt um sein Leben vor den Geschworenen. Eine Hundertschaft von Indizien aus der Anklageschrift des Staatsanwalts zielt und schießt auf ihn, Peter Grupen wehrt sich sehr gewandt und läßt sich nie verblüffen, er versucht Zug um Zug Verdachtsgründe zu widerlegen mit häufig ohne weiteres einleuchtenden, wenn auch nicht immer überzeugenden Darlegungen, die durch ein erstaunliches Gedächtnis von Einzelheiten gestützt werden. Mit einer gewissen Eleganz, ja stellenweise mit einer juristisch-logischen Sicherheit des Ausdrucks, weiß er kniffliche Fragen zu beantworten, ja kennzeichnet sogar zuweilen mit kritischer Schärfe gegnerische Wendungen, wendet mit Vorliebe das Wort logisch an. Er benimmt sich wie ein geschulter Diskussionsredner und hält sich dabei an die durchaus berechtigte Weisung seines Verteidigers Justizrats Dr. Ablaß, der selbst betont, daß er dem Angeklagten dringend geraten habe, nie die Lehre zu vergessen: Was bei einem Zeugen als Irrtum ausgelegt werden kann, kann dem Angeklagten, wenn der sich widerspricht, als Schuldbekenntnis in die Wagschale fallen und ihn zu Unrecht belasten. Also der Angeklagte hält sich in den Grenzen vorsichtiger Abwägung. Mit gesellschaftlich üblichen Umgangsformen weiß Peter Grupen Bescheid, er hat sich bisher stets bei Einwendungen oder Unterbrechungen angemessener Wendungen bedient, nur zuweilen gegenüber dem Staatsanwalt zeigt er eine gereizte Schärfe. Alles in Allem: Bei der Vernehmung zeigt der Angeklagte Peter Grupen eine große rednerische Gewandtheit, die jedenfalls geeignet ist, das Interesse an seiner Persönlichkeit und an dem Prozesse überhaupt zu vertiefen. Die Bekundungen der Zeugen und Sachverständigen werden ja vermutlich manche Behauptung erschüttern, aber der erste Eindruck, wie sich auch das Ergebnis der Verhandlung des schwierigen Indizienprozesses weiter gestalten mag, wird sicherlich bei sehr vielen Zuhörern haften bleiben: Dieser Peter Grupen erleichtert seinen beiden bewährten Verteidigern das Leben, er ist selbst ein hervorragender Verteidiger in eigener Sache.

 

 

 

Sonntag, den 11. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“:

Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.

 

Der Vormund.

Hirschberg, 10. Dezember.

In der Verhandlung am Freitag sollte anfänglich Frau Eckert vernommen werden, und man sah dieser Vernehmung mit Spannung entgegen, doch mußte sie auf Sonnabend vertagt werden. Einen sehr breiten Raum nahm statt dessen die Vernehmung des Vormundes   V i e l h a c k   ein.

 

Am heutigen Vormittag wurde dann Frau   E c k e r t   vernommen und machte dabei hochbedeutsame Aussagen.

 

Im Einzelnen ist zu berichten:

 

Die Nachmittagssitzung beginnt mit der Vernehmung von Dörte Rohrbecks Vormund, dem 65 Jahre alten Hauptmann a. D.   E r i c h   V i e l h a c k   aus Charlottenburg. Der verstorbene Rohrbeck ist mein Jagdfreund gewesen. Daß ich zum Vormund der Dorothea bestellt war, habe ich erst durch Fräulein Zahn erfahren. Diese schrieb mir, daß Rohrbeck krank in einem Sanatorium in Schandau liege und bat mich, ihn zu besuchen.

 

Rohrbecks Testament.

Der Zeuge schildert nun, unter welchen Umständen das Testament des sterbenden Rohrbeck zustande kam, und wie er, der Zeuge, sich bemühte, dabei Frl. Zahns Stellung zu sichern, weil er sich sagte, es werde mit ihr ein leichteres Arbeiten sein als mit den Verwandten.

 

Vors.: Die 10 000 Mark sollten für die   E r z i e h u n g   sein? - Zeuge: Dieser Ansicht war ich nicht. Ich nahm an, daß mit den 10 000 Mark der   g a n z e   U n t e r h a l t   bestritten werden sollte. Mit Einwilligung des Vormundschaftsrichters wurde die Summe für den gesamten Haushalt auch auf 18 000 Mk. erhöht. Damit sollte sie schalten und walten, wie sie wollte, aber sich auch unter allen Umständen begnügen.

 

Vors.: Sie hätten aber berücksichtigen müssen, daß alles teurer geworden ist. Warum haben Sie nicht beim Vormundschaftsgericht beantragt, das Haushaltsgeld zu erhöhen. - Zeuge: Weil ich dieser Ansicht nicht war. Wir alle haben uns einschränken müssen.

 

Vors.: Wußten Sie, daß Fräulein Rohrbeck leidend war? - Zeuge: Ja, deshalb wollte ich auch Fräulein Rohrbeck bald in eine Pension geben. Aber Frl. Zahn wollte durchaus nicht. Anfangs dachte ich gar nicht daran, sie zu entfernen. Aber Dörte wurde von mir gewaltsam fern gehalten. Kleppelsdorf, Gieshübel und Kuttenberg waren 1200 Morgen, wovon 600 unter dem Pfluge. An Barvermögen waren allerdings 1 1/3 Millionen Mark vorhanden. Frl. Zahn kam nie mit dem Gelde aus und hat nach meiner Ansicht sehr schlecht gewirtschaftet.

 

Vors.: Mit der Bewirtschaftung des Gutes hatte Frl. Zahn ja nichts zu tun, davon verstand sie auch nichts. Es kommt uns darauf an, von Ihnen zu wissen, ob Fräulein Zahn mit den 18 000 Mark auskommen konnte. - Zeuge: Ich hielt es für unbedingt notwendig, daß Fräulein Zahn damit auskomme.

 

Der Vormund über Dörtes Erziehung.

Vors.: Warum wollten Sie das Kind von Fräulein Zahn entfernen? - Zeuge: Weil sie es nicht so erzog, wie ich es wünschte. Ich wollte Dörte möglichst lange ihre Kindlichkeit erhalten und dafür sorgen, daß sie möglichst mit ihresgleichen in Verkehr trete.

 

Vors.: Warum haben Sie Fräulein Zahn gekündigt? - Zeuge: Weil sie mir immer entgegenarbeitete und ich dem Vater versprochen hatte, daß das Kind zu einer tüchtigen, soliden Hausfrau erzogen werden solle.

 

Vors.: Inwieweit hat Frl. Zahn Ihren Intentionen nicht entsprochen? - Zeuge: Auf direktem Wege konnte ich keine Aufklärung über die Erziehung in Kleppelsdorf erhalten. Ich mußte mich auf Hintertüren verlegen. Infolgedessen schrieb ich an Fräulein Christians, die früher ein Vierteljahr lang Erzieherin in Kleppelsdorf war. Fräulein Christians erzählte mir allerlei Kleinigkeiten von Kleppelsdorf, es würde schlecht gegessen und schlecht gewirtschaftet. Fräulein Zahn sei aber stolz auf eine unglaubliche Menge Konserven, die sie eingeweckt hatte und die noch für drei Jahre reichen. - Vors.: Die Konserven waren wohl vorbereitet, weil Dörte in Pension gehen sollte. - Zeuge: Zucker sei nie auf den Tisch gekommen, obwohl Fräulein Zahn 10 Zentner gekauft hatte. - Vors.: Durch das Einwecken ist sicher viel Zucker draufgegangen.

 

Zeuge: In Erziehungsfragen war Fräulein Zahn sehr merkwürdig. Auf dem Spazierwege ist Dörte immer 20 Schritt vor und 20 Schritt hinter ihr gegangen. Auf eine Frage von Fräulein Christians äußerte Fräulein Zahn: Lassen Sie nur das Kind gehen, es grübelt gern. - Vors.: Hören Sie mal, das ist doch aber alles Klatsch!

 

Dörtes „Verlobung“.

Zeuge: Fräulein Christians hat auch erzählt, daß   D ö r t e   m i t   e i n e m   L e u t n a n t   M a t t h ä i   v e r l o b t   sei. Dieser ist dann gefallen, was Dörte nicht erfahren sollte, aber sie erfuhr es in Lähn doch, kam heulend nach Hause und ist wochenlang nicht fähig gewesen, dem Unterricht zu folgen. - Vors.: Eine richtige Verlobung wird es wohl nicht gewesen sein? - Zeuge: Das Bild des Leutnants hat auf ihrem Schreibtisch gestanden. - Der Vorsitzende bestätigt, daß dies noch nach dem Tode der Dörte der Fall gewesen sei. - Zeuge: Ich habe es für unverantwortlich gehalten, daß Fräulein Zahn ein vierzehnjähriges Kind, von dem sie wußte, daß ihre Verwandtschaft leidenschaftlich veranlagt war, in Liebesaffären verwickelte. - Vors.: Haben Sie wirklich an die Liebesgeschichte geglaubt? - Zeuge: Ja. - Vors.: Aber weitere Ermittelungen haben Sie nicht angestellt?  Zeuge: Leutnant Matthäi war ja tot.

 

Wie sich der Vormund weiter informierte.

Staatsanwalt: Wenn Fräulein Christians Sie nun schmählich belogen hätte, so würde Ihr Urteil über Fräulein Zahn und die Dörte auf ganz falscher Grundlage aufgebaut sein. - Zeuge: Allerdings. - Vors.: Warum haben Sie sich nicht bei anderen Leuten erkundigt, z. B. bei der Oberschwester Kube, die mit den Verhältnissen in Kleppelsdorf ausgezeichnet bekannt war. Oberschwester Kube ist seit 20 Jahren in Lähn und hat gestern ein tadelloses Zeugnis über Fräulein Zahn gegeben. - Zeuge: Ich war   v o n   a n d e r e r   S e i t e   g e w a r n t   w o r d e n ,   a u f   d a s   Z e u g n i s   v o n   O b e r s c h w e s t e r   K u b e   e t w a s   z u   g e b e n .   Sie soll im Hause des Herrn Rohrbeck eine allzu vertraute Rolle gespielt haben. (Beweg. im Zuschauerraum)

 

Staatsanwalt: Wer hat Sie gewarnt? - Zeuge: So oft ich in Lähn war, von der Oberschwester Kube habe ich nie etwas gehört. - Vors.: Mit wem haben Sie in Lähn gesprochen? - Zeuge: Mit keinem Menschen. (Allgemeines Kopfschütteln im Saale) - Vors.: Als Vormund hätten Sie sich nicht einseitig auf die Ansichten einer ehemaligen Angestellten verlassen dürfen.

 

Ein Geschworener fragt den Zeugen, warum er sich über die Verlobungsgeschichte, an der kein wahres Wort sei, nicht bei der Familie des Leutnants Gewißheit geholt habe. - Zeuge: Ich habe von der ganzen Liebesaffäre erst Kenntnis bekommen, nachdem der Leutnant tot war, und hatte keine Veranlassung, mich hinterher noch zu informieren. - Vors.: Doch, Herr Vormund, Sie waren immer einseitig informiert. Ihr Mündel hat bis zum Tode des Vaters mit dessen Wissen und Willen unter Fräulein Zahn gestanden.

 

Staatsanwalt (zum Zeugen Vielhack): Wenn Sie nun erfahren, daß Ihre Informationen unrichtig waren, hätten Sie sich dann anders zu Fräulein Zahn gestellt? - Zeuge: Ich hatte gar nicht die Absicht, beide zu trennen. Hätte Fräulein Zahn das Kind in meinem Sinne erzogen, so hätte sie ewig in Kleppelsdorf bleiben können. Aber Frl. Zahn wollte mich rausgraulen. Es war meine Pflicht, so zu handeln, wie ich es für richtig hielt.

 

Die Konfirmation und der Vormund.

Vors.: Es ist nun zur Sprache gekommen, daß Sie bei der   K o n f i r m a t i o n   der Dörte nicht zugegen gewesen waren. - Zeuge: Mir war ja die Erziehung abgenommen, ich hatte also bei der Konfirmation nichts zu suchen. Ich war ausgeschaltet und nur noch Vermögensverwalter. Wenn ich zur Konfirmation gekommen wäre und mich an den Tisch gesetzt hätte, und ich hätte da vielleicht ein Loblied auf Fräulein Zahn gehört, - stellen Sie sich   d i e   Situation vor. (Heiterkeit im Zuschauerraum)

 

Vors.: Sie sollen keine Mittel bewilligt haben zur Beschaffung der Konfirmationskleider. - Zeuge: Ich habe mich auf den Standpunkt gestellt, die 18 000 Mark   m ü ß t e n   reichen. Extraausgaben habe ich rücksichtslos nicht bewilligt, sondern immer auf das Vormundschaftsgericht verwiesen. Ich durfte keinen Pfennig mehr bewilligen, weil ich sonst über das Testament hinausgegangen wäre.

 

Verteidiger Dr. Ablaß: Herr Vielhack hat einmal dem Vormundschaftsgericht berichtet, wenn der Hausstand in Kleppelsdorf fünf Jahre so weitergeführt werde, so würde Dörte gezwungen sein, Kleppelsdorf zu verlassen, weil die Einnahmen die Ausgaben nicht deckten. - Zeuge: Das war meine Ueberzeugung. Im Gute ist schlecht gewirtschaftet worden. - Vors.: An der Wirtschaft im Gute ist Frl. Zahn nicht schuld. - Zeuge: Nachdem ich auf dem Gute die Buchführung eingeführt hatte, wurde festgestellt, daß in einem Jahre 2500 Liter Milch in die Wirtschaft gegangen sind, davon 1376 Liter in die Hauswirtschaft. Außerdem wurden zwei Schweine zu 5 Zentner in den Haushalt geliefert. - Staatsanwalt: Sie sagten ja selbst, daß Sie viel Eingewecktes im Schlosse gefunden haben, da sind doch die Schweine gut verbraucht worden. - Zeuge: Zwei Schweine von je 2 ½ Zentner sind für ein Landhaus wahrhaftig nicht zu viel. (Heiterkeit und Stimmung: Na also!)

 

Der Vormund und Grupen.

Die Vernehmung des Herrn Vielhack wendet sich nunmehr der Frage zu, wie er mit Grupen bekannt geworden sei. Zeuge: Ich habe Grupens Verlobungsanzeige bekommen. Bald war in Kleppelsdorf viel von „Onkel Peter“ die Rede. Im September 1920 erhielt ich von Grupen einen Brief, worin er mir seinen Besuch ankündigte, um sich mir   i n   m e i n e m   P r o z e ß   g e g e n   F r l .   Z a h n   z u r   V e r f ü g u n g   zu stellen. Er halte es für seine verwandtschaftliche Pflicht, gegen die Erziehung Dörtes durch Fräulein Zahn einzuschreiten. - Vors.: Die Erziehung Dörtes ging ihn doch herzlich wenig an. - Zeuge: Grupen erzählte mir weiter, daß Dörte in alle Liebeleien von Frl. Zahn eingeweiht sei. - Vors.: Haben Sie das geglaubt? Haben Sie etwas von den Liebeleien gehört? - Zeuge: Ich habe gehört, daß Dörte Bücher lese, die nicht für junge Mädchen geschrieben sind. Frl. Zahn soll auch eine Verlobung zurückgewiesen haben, um bei dem Kinde zu bleiben. - Vors.: Nun, das ist doch höchst ehrenvoll.

 

Zeuge: Grupen hielt die Erziehung Dörtes für unpraktisch. - Vors.: Grupen ist doch Maurerpolier, wie konnte er sich berufen fühlen, über die Erziehung zu urteilen? - Zeuge: Ich nahm an, daß er aus guter Familie sei. Er war ja Architekt.

 

Zeuge: Grupen erzählte mir, Frl. Zahn hätte zwei Eisen im Feuer. Sie unterhalte mit verheirateten Leuten Beziehungen. Mit wem, wollte er nur vor Gericht sagen. In der Bibliothek von Dörte sollten nach dem Urteil von Herrn Pingel   „ s e h r   b ö s e   B ü c h e r “   sein. Grupen behauptete ferner, er habe Frl. Zahn 3000 Mk. geborgt, um ihr Vertrauen zu erringen. Den Schuldschein hierüber habe Dörte unterschrieben. Er habe Frl. Zahn Geld gegeben, denn er sei ein reicher Mann und könne das Geld missen, wenn er es nicht wiederbekomme. Und dann erzählte er mir von einem Revers, den Dörte unterschrieben habe und durch den Frl. Zahn 10 000 Mk. Jahresrente ausgesetzt würden. Grupen habe der Dörte Vorhaltungen gemacht, daß sie den Revers unterschrieben habe, worauf sie sagte: „Ich unterschrieb ihn und werde ihn wiederholen, wenn ich majorenn bin.“ Er bat mich, von diesen Mitteilungen dem Frl. Zahn gegenüber zu schweigen, damit ich sie nicht mißtrauisch mache. Als Grupen wegging, sagte ich ihm:   „ E m p f e h l e n   S i e   m i c h   I h r e r   F r a u   G e m a h l i n . “ Darauf hat er nichts erwidert. Bei einer zweiten Unterredung erzählte Grupen von   T a n z s t u n d e n   in Kleppelsdorf, trotz des Verbotes, wodurch die Gesundheit der Dörte systematisch untergraben würde.

 

Staatsanwalt: Der Angeklagte hat gesagt, Frl. Zahn unterhalte ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann, und er werde bei Gericht den Namen nennen. Will er das jetzt tun? - Angekl.: Darüber lehne ich eine Erklärung ab.

 

Staatsanwalt: Grupen hat sich als reicher Mann aufgespielt und gesagt, er könne das Geld, was er dem Frl. Zahn borge, missen. - Angekl.: Ich habe nur gesagt, daß ich das Geld entbehren könne. Ich verfügte damals über eine Viertelmillion mit meinem Grundbesitz. - Vors.: Sie haben aber erklärt, daß Ihre Frau Ihnen 60 - 70 000 Mk. mitgenommen habe.

 

Zeuge: Auf eine Frage   n a c h   s e i n e r   F r a u   erwiderte Fr., sie hätten sehr glücklich miteinander gelebt. Aber ihre Leidenschaft für die Bühne und ihre Leidenschaftlichkeit überhaupt sei so groß gewesen, daß er eingesehen habe, die Ehe würde doch über kurz oder lang in die Brüche gehen. Daher habe er schließlich zugestimmt und ihr noch 60 000 Mk. auf die Reise mitgegeben. Seine Frau hätte ihn geheiratet, weil er ein sehr reicher Mann sei und sie ihre Kinder versorgt wissen wollte.

 

Vors. (zum Angekl.): Ihre Frau ist mit Ihrem Einverständnis abgereist? - Angekl.: Nein. Wenn ich dem Zeugen eine andere Darstellung gegeben habe, so bitte ich, sich in meine Lage zu versetzen. Man braucht doch nicht über alles den Leuten Auskunft zu geben.

 

Zeuge: Grupen sagte mir damals, er hätte an einer Ehe genug. Er würde die Großmutter bei sich behalten, die Kinder hingen schwärmerisch an ihm. Die Ursel und die Irma stritten sich jeden Morgen, wer ihm den Kaffee besorgen solle.

 

Staatsanwalt (zum Zeugen Vielhack): Wunderten Sie sich nicht darüber, daß Ihnen der Angeklagte aus freien Stücken Intimitäten über seine Frau erzählte. Er war Ihnen ja fremd. - Zeuge: Ja, ich habe mich darüber gewundert, aber über das Vorleben der Frau Grupen habe ich schon früher von den Offizieren meines Regiments Verschiedenes gehört. - Angekl.: Mir war bekannt, daß meine Frau in Berliner Kreisen sich nicht des besten Rufes erfreute.

 

Die Vernehmung des Vormundes ist nun beendet.

 

Die eidesstattliche Versicherung.

Rechtsanwalt   D r .   P f e i f f e r   gibt nun Auskunft über den Prozeß, den Frl. Zahn gegen den Vormund Vielhack führte, und in dessen Verlaus die besondere Verstimmung der Damen Zahn und Dorothea Rohrbeck gegen Grupen deshalb Platz gegriffen hat, weil dieser in dem Prozeß plötzlich als Gegenzeuge gegen sie vom feindlichen Vormund genannt erschien, obwohl er sich bisher immer als freundlicher Helfer aufgespielt hatte. In dem Prozeß hat Frl. Zahn bekanntlich gegen den Vormund gesiegt. Die Schilderung des Zeugen läßt die große Hartnäckigkeit erkennen, mit welcher der Vormund den Prozeß führte. Die einzelnen juristischen Seiten dieser ganzen Prozessgeschichte interessieren im übrigen wenig. Die Damen wollten, nachdem sie Grupen als falsch erkannt, nichts mehr mit ihm zu tun haben. Grupen schrieb nun, die Damen sollten nach Hamburg kommen, er werde ihnen das Reisegeld schicken, und dann werde er alles klarstellen. Der Zeuge hatte den Eindruck, als wenn Grupen in der ganzen Sache nicht ehrlich gehandelt hätte. - Auf die Frage des Vorsitzenden bestreitet   G r u p e n ,   daß er sich dem Vormund als Gegenzeugen angeboten habe. - Zeuge Dr. Pfeiffer: Die Damen wollten nicht reisen, wollten auch Grupen nicht empfangen, sondern wollten, daß dieser nach Hirschberg zu mir komme, und das geschah auch am 9. Februar, wo Grupen dann die eidesstattliche Versicherung abgab, daß er zu Vielhack keine Aeußerung getan habe, die diesen berechtigte, ihn, Grupen, als Gegenzeugen gegen Frl. Zahn zu nennen. -   G r u p e n   bestreitet auch heute, daß er zum Vormund gesagt habe, daß Dorothea einen Revers zugunsten Frl. Zahn hinsichtlich einer Rente von 10 000 Mk. für diese unterschrieben habe, obwohl die Rede von einem solchen Revers gewesen sei.

 

Staatsanwalt: Hat der Angeklagte die eidesstattliche Erklärung deshalb abgegeben, weil er wußte, daß man ihn nicht länger im Hause Kleppelsdorf dulden werde, wenn er es nicht täte? - Grupen: Nein. - Vert. Justizrat Dr. Ablaß: Ist es richtig, daß sich Grupen die Erklärung so lange überlegte, weil er sich in einer gewissen Verlegenheit befand, aber jedenfalls   o h n e   die Absicht, sich den Aufenthalt in Kleppelsdorf zu sichern? - Grupen: Ja. Selbstverständlich war ich dann froh, daß die Sache endlich geklärt war.

 

Frl. Zahn: Es war die Rede davon, daß auch Frau Eckert eine solche eidesstattliche Versicherung abgeben solle, man hatte auch sie in Verdacht, und Grupen äußerte das auch von ihr und auch von seiner Frau, daß eine von ihnen Vielhack die anstößigen Mitteilungen gemacht haben könne. Ueber das Verbleiben von Grupen in Kleppelsdorf haben wir uns zwar gewundert, aber wie hielte ihn doch nun nicht mehr für schuldig, daß er falsches Spiel gespielt.

 

Die Kognakflasche.

Hauptm.   T s c h u n k e   vom Reichswehrministerium in Berlin hat bei seiner Schwester gehört, wie die anwesende Dorothea Rohrbeck ihre Furcht vor dem Angeklagten äußerte, und zwar nach der Fahrt von Kleppelsdorf nach Berlin. Dorothea erzählte auch, daß Grupen eine Flasche mit Kognak der Großmutter gegeben habe, die verdächtig war.

 

Verteidiger Dr. Mamroth: Da ich der Presse sogar die Nachricht verbreitet worden ist, daß der Angeklagte wegen Giftmordversuches an seiner Schwiegermutter angeklagt sei, so bitte ich um die Feststellung, daß es sich hier um ein ganz harmloses Getränk handelte. - Vors.: Nach der Untersuchung handelt es sich um ein Getränk, das etwas Bittermandelöl enthält, aber zur Vergiftung keineswegs geeignet ist. - Staatsanwalt: Die Anklagebehörde ist nie der Ansicht gewesen, daß es sich hier um einen Giftmordversuch handelt, sie erwähnt die Sache nur, um zu zeigen,   w e l c h e   F u r c h t   d i e   D a m e n   in Kleppelsdorf vor dem Angeklagten hatten, daß sie ihm einen Giftmordversuch zutrauten. - Verteidiger Dr. Mamroth: Und uns beweist es, daß man selbst diese ganz harmlose Sache gegen den Angeklagten verwendet.

 

Nochmals die „sehr bösen Bücher“.

Rittergutsbesitzer   P i n g e l ,   der jetzige Besitzer von Kleppelsdorf, ein Verwandter der ermordeten Schloßherrin, bekundet, daß ihm der Angeklagte erzählt habe, er werde sich von seiner Frau scheiden lassen,   u m   F r ä u l e i n   Z a h n   z u   h e i r a t e n .   Fräulein Rohrbeck habe ihm erzählt, daß ihr Grupen sehr unsympathisch sei. Bald nach der Tat hat der Zeuge den Garten und Park des Schlosses von Kleppelsdorf untersucht, aber keine Spuren gefunden, die darauf hindeuten, daß von außen jemand in das Schloß eingedrungen sei. - Vors.: Was waren das für Bücher in der Bibliothek? - Zeuge: Moderne Romane, aber keine Bücher, die das geschlechtliche Gebiet berühren.

 

Gemeindevorsteher   D ö r i n g -   Kuttenberg kann nur aussagen, daß Dorothea vor dem Besuch Grupens große Angst gehabt hat. Bei Frau   R o h d e -   Erdmannsdorf hat sich Frau Eckert beklagt, daß ihr Dorothea durch Frl. Zahn entfremdet werde. Werkführer   B r ü c k n e r -   Lähn kann bekunden, daß Dorothea die Großmutter nicht leiden konnte. Rittergutsbesitzer   A l f r e d   R o h r b e c k   aus Zielenzig, ein Bruder des verstorbenen Rohrbeck, hat nur festgestellt, daß sich nach dem Morde in Park und Garten nichts Verdächtiges fand.

 

In Berlin bei Dressel.

Fräulein   S e i d e l   aus Berlin war eine Freundin der Dorothea Rohrbeck und war mit ihr zusammen, als diese mit dem Angeklagten auf der Durchreise nach Hamburg in Berlin war. Grupen, der sich in einem Gespräch mit Dorothea sehr abfällig über den Vormund Vielhack äußerte, führte die beiden jungen Damen zu Dressel zum Speisen, ging aber bald wieder aus dem Lokal, mit dem Vorgeben, er habe auf der Straße seine Frau gesehen und wolle ihr folgen. Er gab den Damen 150 Mk.; die Zeche betrug allerdings 156 Mk., so daß, wie die Zeugin zur allgemeinen Heiterkeit erzählte, die Damen noch 6 Mk. zuzahlen mußten, wofür sie aber kein Trinkgeld gaben. Grupen hatte ihnen nachher 100 Mark und Schokolade geschenkt. Am Abend hatten sich die Drei zu einem Besuch des Berliner Theaters verabredet, Grupen erschien sehr unpünktlich, bezahlte aber dann noch die Eintrittskarten. Der Angeklagte wollte die Zeugin, die damals die Handelshochschule besuchte,   a l s   P r i v a t s e k r e t ä r i n   m i t   e i n e m   m o n a t l i c h e n   G e h a l t   v o n   7 5 0   M a r k   m i t   n a c h   H a m b u r g   n e h m e n ,   worauf diese aber nicht einging. Sie hatte nicht den Eindruck, daß sich Dörte vor ihrem Onkel fürchtete. - Angekl.: Die Zeugin sollte nicht zu mir, sondern zu einem Bekannten in Stellung kommen. Von Dressel bin ich weggegangen, weil ich mich in meinem Anzug in dem feinen Lokal genierte. - Zeugin: Später schrieb mir Dörte: Sei froh, daß Du nicht mit nach Hamburg gefahren bist, Grupen hat mir auf der Fahrt einen Heiratsantrag gemacht.

 

Fräulein   M a g d a   M o h r ,   eine Schwester der Stütze Mohr aus Ottenbüttel, bekundet, daß sich Frau Eckert über ihre Enkelin Dörte beklagt hat. Frau Eckert sagte auch, der Vormund werde schon recht haben, wenn er sage, in Kleppelsdorf werde es noch ein Ende mit Schrecken nehmen. Grupen war im Orte gut bekannt, genoß einen guten Ruf und war sehr kinderlieb. Er hat nicht unsolide gelebt. - Vors.: Der Angeklagte hat doch sehr oft sein weibliches Dienstpersonal gewechselt und eigentlich doch jedem bei ihm ich Stellung befindlichen Mädchen die Heirat versprochen. - Die Zeugin kann hierüber nichts bekunden. - Im Wesentlichen die   g l e i c h e   A u s s a g e   macht die   M u t t e r   der beiden Mohr, Frau Hofbesitzer Mohr aus Ottenbüttel.

 

Hypnose?

Bemerkenswert ist die Aussage der Lyzeallehrerin Fräulein    K i e f e r t   aus Itzehoe, in deren Klasse die   U r s u l a   S c h a d e   von Michaelis 1920 bis Februar 1921 gegangen ist. Sie sagt aus: In einer Stunde, aber nicht bei mir, ist von der Hypnose gesprochen worden. Dabei sagte Ursula Schade:   i h r e   M u t t e r   k e n n e   e i n e n   M a n n ,   w e n n   d e r   j e m a n d   f e s t   a n s e h e ,   s o   m ü ß t e   d i e s e r   m a c h e n ,   w a s   d e r   M a n n   w o l l e .   Wenn er aber die Augen wegwende, dann sei es vorbei. Sie nannte auch die Straße, in der dieser Mann wohnen sollte, es war eine Querstraße von der Wohnung Grupens. Ursula erklärte, den Namen des Mannes dürfe sie nicht sagen. Das erste Mal sagte Ursula, sie selbst kenne auch den Mann, später jedoch, nur ihrer Mutter sei der Mann bekannt. Möglich sei allerdings, daß auch ein Magnetiseur gemeint sein konnte, der dort wohnte, aber die Daten von dessen Zuzug und der Aeußerung der Ursula seien unsicher. Ursula war ein körperlich zartes Wesen, sehr gut, aber auch sehr empfindlich. Sie gehörte zu den schwachen Schülerinnen, war aber sehr fleißig, und da sie von Hause tüchtig angehalten wurde, kam sie auch in der Schule mit. Sie war immer fröhlich und beteiligte sich auch an den Spielen der anderen Kinder.   I c h   h a l t e   e s   f ü r   u n m ö g l i c h ,   d a ß   d i e s e s   K i n d   j e m a n d   n i e d e r g e s c h o s s e n   h a t   o d e r   d a ß   s i e   d i e   H a n d h a b u n g   e i n e s   R e v o l v e r s   a u c h   n u r   k a n n t e .   Ich kann mir nicht vorstellen, daß das Kind auch nur auf den Gedanken einer solchen Tat kommen konnte.   I r m a   ist körperlich kräftiger, sonst aber auch ein gutes Kind, soweit ich das beurteilen kann.

 

Hierauf wurde nach 9 Uhr die Weiterverhandlung auf Sonnabend vertagt.

 

*

Sitzung am Sonnabend.

Bei Eröffnung der Sonnabend-Sitzung teilte der Vorsitzende mit, daß am   M o n t a g   voraussichtlich während der ganzen Dauer der Verhandlung   d i e   O e f f e n t l i c h k e i t   a u s g e s c h l o s s e n   sein wird. Die für Montag ausgestellten Eintrittskarten sind für Mittwoch gültig.

 

Rechtsanwalt   D r .   P f e i f f e r   bekundet noch, die Postkarte gelesen zu haben, die Dorothea Rohrbeck auf der mit Grupen nach Berlin unternommenen Reise an Frl. Zahn gerichtet hat und die mit den Worten schließt: „Komme bald, sonst hänge ich mich.“ Der Zeuge habe sich sehr darüber gewundert, wie Dorothea Rohrbeck so aufgeregt schreiben konnte. - Frl.   Z a h n   erklärt sich bereit, die Karte dem Gericht einzureichen.

 

Justizrat Dr. Mamroth richtet an Frl. Seidel die Frage, ob Dörte in Berlin tatsächlich so verängstigt gewesen sei, wie die Zeugin behauptet habe, und wie sie sich die Karte erklären könne. - Zeugin: Dörte war sehr fröhlich, wenn Grupen nicht dabei war.

 

Frau Eckert als Zeugin.

Unter großer Spannung erfolgt jetzt die Vernehmung der 77 Jahre alten Frau Agnes Eckert, Schwiegermutter des Angeklagten. Die Vereidigung wird ausgesetzt.   F r a u   E c k e r t   erklärt, ihr Verhältnis zu dem verstorbenen Herrn Rohrbeck sei ein gutes gewesen, aber die Liebe der Dörte habe sie nicht gewonnen. Die Dörte habe mehr zu den Verwandten des Fräulein Zahn gehalten, als zu ihren eigenen Verwandten. Zwischen Frau Gertrud Schade, der Tochter der Zeugin aus zweiter Ehe, und Herrn Rohrbeck habe ein gutes Verhältnis bestanden. Als Frau Schade Witwe geworden war, habe Herr Rohrbeck sich mit ihr verlobt und eine Reise mit ihr nach Berlin unternommen, bald darauf aber das Verlobungsverhältnis gelöst. Der Tod meines Schwiegersohnes Schade wurde auf einen Unglücksfall auf der Jagd zurückgeführt, es hat aber auch eine   U n t e r s u c h u n g   g e g e n   d e n   S e i f e n f a b r i k a n t e n   S c h u l t z   aus Perleberg stattgefunden, der meiner Tochter Unterricht in der Buchführung erteilte, und mit ihr auch eine Reise gemacht hatte. Gertrud war sehr liebevoll zu mir. Die Bekanntschaft mit Grupen ist, wie mir meine Tochter erklärte, durch eine Heiratsanzeige zustande gekommen.

 

Angekl.: Ist es wahr, daß die Zeugin gesagt habe, wenn das Verhältnis der Tochter zu ihr nicht besser würde, würde sie sich das Leben nehmen.

 

Zeugin: Das ist mir gar nicht eingefallen. Ich habe nach der Verlobung meiner Tochter mit Grupen ihr 24 000 Mk. zur Verfügung gestellt, um sich eine Villa zu kaufen.

 

Staatsanwalt: Hatte Ihre Tochter nach dem Tode des Mannes nicht auch ein Verhältnis mit dem Stabsveterinär Reske?

 

Zeugin: Ja. Es ist ein Jammer, daß er gestorben ist, denn er meinte es sehr herzlich zu meiner Tochter.

 

Vors.: Was hielten Sie von Grupen?

 

Zeugin: Er hatte einen sehr netten Eindruck gemacht und wir haben es ihm hoch angerechnet, daß er meine Tochter mit ihren drei Kindern heiraten wollte. Die Hochzeit fand im September 1919 in Itzehoe statt. Ich wohnte in demselben Hause. Grupen war furchtbar wenig zu Hause, er befand sich viel auf Reisen. Das Verhältnis zwischen ihm und meiner Tochter war in der ersten Zeit gut. Später verschlechterte es sich, es gab allerlei Differenzen. Einmal rief mich sogar meine Tochter in der Nacht zu Hilfe, ich weiß aber nicht mehr, was vorgefallen war. Grupen wollte immer allein reisen. Zu den Kindern war er stets gut. Die Ursel war ein stillen, ruhiges Kind. Sie war traurig, als ihr Vater gestorben war. Als mir der Besuch von Dörte und Frl. Zahn angekündigt wurde, war ich sehr erfreut. Ich habe aber von dem Besuch nicht viel gehabt, denn Grupen drängte die Damen zur Fahrt nach Hamburg. In Ottenbüttel hatte Grupen meiner Tochter ein Pferd geschenkt, und Dörte und Frl. Zahn haben darauf geritten, und sind sehr vergnügt dabei gewesen.

 

Vors.: War Ihre Tochter Gertrud krebsleidend? - Zeugin: Nein. - Vors.: Der Angeklagte behauptet, er hätte Ihre Tochter nicht geheiratet, wenn er etwas von dem Leiden gewußt hätte. - Zeugin: Ich habe von dem Leiden keine Ahnung.

 

Vors.: Sie haben mal   B r i e f e   a n   d a s   A m t s g e r i c h t   L ä h n   geschrieben, worin Sie sich über die Erziehung der Dörte durch Frl. Zahn ungünstig aussprachen. - Zeugin: Ja! Der Angeklagte hat auf meine Anregung geschrieben. Diese Briefe sind nach dem Besuch Dörtes in Itzehoe dann aus Anregung des Angeklagten widerrufen worden, weil, wie dieser sagte, das Dörte schaden könnte. Später wurde   d i e s e r   Widerruf von der Großmutter   a b e r m a l s   w i d e r r u f e n   und zwar wieder auf Anraten des Angeklagten. Dieser Brief ist   g e g e n   i h r e   U e b e r z e u g u n g   geschrieben worden, sie hat es sehr bereut.

 

Vors.: Was ereignete sich in den Tagen des 17., 18. und 19. September? Wir kommen jetzt zu dem   V e r s c h w i n d e n   I h r e r   T o c h t e r .

 

Frau Eckert: Am 17. sollte ich eine Hypothek von 37 000 Mk. an Grupen übertragen. - Vors.: Warum denn? Zeugin: Das ist es eben, warum war ich denn so dumm? - Vors.: Sie hatten dem Angeklagten doch auch schon Generalvollmacht gegeben, ebenso wie Ihre Tochter. - Zeugin: Ja. Weil ich mit den Steuergeschichten usw. nicht Bescheid wußte.

 

Vors.: Was ereignete sich nun am 19. September? - Zeugin: Meine Tochter schrieb an diesem Tage und sagte am Nachmittag, sie fährt nach Kleppelsdorf.

 

Vors.: Hat Ihre Tochter einmal davon gesprochen, daß sie eine größere Reise unternehmen wollte? - Zeugin: Ja, sie sagte öfter, Deutschland gefällt mir nicht mehr, ich gehe nach Amerika, dann hole ich Euch nach. Die Zeugin hat das für Scherz gehalten. Die Reise nach Kleppelsdorf war ihr ganz unklar. Frau Grupen verabschiedete sich sehr flüchtig, so, als wenn sie nur wenige Tage weg wollte. Als der Angeklagte am Abend zurückkam, hat sie Grupen nicht mehr gesprochen, erst am nächsten Tage. Im Schlafzimmer stand ein Koffer mit Wäsche, der bahnlagernd nach Hamburg geschickt werden sollte. Zwei Tage darauf fuhr Grupen nach Kleppelsdorf, um, wie er angab, Dörte zu holen. Der Zeugin hat der Angeklagte nichts davon gesagt, daß seine Frau Abschiedsbriefe geschrieben, in denen sie sagt, daß sie nach Amerika geht.

 

Vors.: Angeklagter, konnten Sie denn Ihre Schwiegermutter nicht besser trösten, als Frl. Rohrbeck? - Angekl.: Ich wollte erst Nachforschungen anstellen, ehe ich der Frau Eckert etwas von dem Verschwinden ihrer Tochter sagte, während dieser Zeit sollte Dörte die Großmutter trösten.

 

Vors.: Glaubten sie denn, daß Ihre Tochter nach Amerika gegangen sei? - Zeugin: Ich glaubte, daß es eine fixe Idee von ihr gewesen sei.

 

Vors.: Haben Sie denn nie Nachforschungen angestellt?

 

Zeugin: Grupen sagte mir, er habe einen Detektiv in Hamburg mit den Nachforschungen beauftragt, der hat erforscht, daß es   F r a u   G r u p e n   g u t   g i n g e .   Außerdem erzählte er soviel Schlechtigkeiten von ihrer Tochter, daß sie schon selbst nicht mehr nachforschen wollte. Der Angeklagte hat ihr auch häßliche Bilder von ihrer Tochter gezeigt. Die Zeugin fährt weinend fort, daß sie damals gesagt hat:   „ A c h   G o t t ,   w a s   i s t   d e n n   a u s   m e i n e r   T o c h t e r   g e w o r d e n ? “   Angesehen hat sie die Bilder nicht. Einmal hat sie geschrieben an Schade, wo ihre Tochter wohl sein könnte? Diesen Brief hat ihr der Angeklagte verboten abzuschicken und geäußert: „Wenn Du diesen Brief abschickst, sind wir beide fertig!“ Die   F a h r t   i m   F e b r u a r   n a c h   K l e p p e l s d o r f   kam ihr überraschend. Sie richtete sich auf etwa acht Tage dort ein. Unterwegs hat ihr der Angeklagte gesagt, es wird wohl etwas länger dauern, sie solle nur sagen, es sei wegen des Umzugs in Itzehoe. Die Zeugin gibt dann an, daß sie die Koffer nach Kleppelsdorf selbst gepackt hat. Ursel ist an den Koffer nicht herangekommen. Die Zeugin hat auch nicht gesehen, daß Ursel etwa in der Unterbindetasche etwas auffälliges gehabt hat.

 

Vors.: Hat die Ursel mit einem Revolver einmal geschossen? - Zeugin: Nein. Ich habe aber einen Revolver und Patronen im Schreibtisch bei Grupen gesehen und daß er diesen Revolver dem Bruder übergeben hat wegen etwaiger Einbrecher. - Vors.: Haben Sie vor der Reise gesagt: In Kleppelsdorf werde es einmal ein Ende mit Schrecken geben?  Zeugin: Nicht daß ich wüßte. Ich erinnere mich nicht, das jemals gesagt zu haben. Frl. Mohr und Frau Mohr bekunden hierauf, daß diese Aeußerung von Frau Eckert getan worden sei. Die Zeugin entsinnt sich trotzdem nicht darauf. - Ein Geschworener ersucht, den Angeklagten selbst zu befragen, ob die Geschichte mit dem Detektiv zutreffe und ob er der Schwiegermutter erzählt habe, der Detektiv habe erforscht, die Tochter sei mit einem reichen Manne durchgegangen und es ginge ihr gut.

 

Angeklagter: Ich habe keinen Detektiv beauftragt. Ich habe das der Frau Eckert nur erzählt, weil ich die Schwiegermutter beruhigen wollte. (Bewegung.)

 

Ein Geschworener fragt weiter nach den unzüchtigen Photographien. Die Frage soll in nichtöffentlicher Sitzung beantwortet werden.

 

Vorsitzender: Welches Benehmen zeigte Ursel in Kleppelsdorf? - Frau Eckert: Sie war heiter, nur einmal weinte sie, als sie einen Brief, den sie an Frau Bartels geschrieben hatte, noch einmal schreiben sollte. Sie weiß nicht, wer der Ursel den Auftrag zum Schreiben des Briefes gegeben habe.

 

Vors.: Ist Ihnen am Tage vorher etwas an Ursel aufgefallen? - Frau Eckert: Es war mir merkwürdig, daß Ursel traurig war, wenn sie nicht mit dem Angeklagten zusammen war, sie hing mit großer Liebe an ihm,   s i e   w a r   w i e   g e b a n n t   a n   d e n   M a n n .   Daß das Verhältnis Ursels zu Dörte ein abneigendes war, hat die Zeugin nicht gemerkt; sie bestätigt aber, daß Ursel in der Nacht zum 14. Februar schlecht geträumt hat. Die Tür von der Rollstube zu dem Fremdenzimmer habe sie nicht verschlossen. Als wir oben mit Grupen zusammensaßen, war anfangs auch die Ursula dabei.

 

Die Vorgänge am Mordtage.

Frau Eckert: Am 14. Februar saß ich im sogenannten Winterwohnzimmer und häkelte. Grupen spielte mit der Mohr Mühle, Ursula saß auf dem Sofa und las. Dann war Ursula weg, ich habe ihr Weggehen nicht beobachtet. Dann spielte Frl. Mohr mit der Irma, während der Angeklagte mehrmals im Zimmer auf und ab ging. Er sprach auch mit dem im Nebenzimmer befindlichen Fräulein Zahn. Irmgard stand dann auf, um die Reste von einem Apfel, den sie gegessen hatte, wegzubringen. Auch der Angeklagte war aufgestanden und ich habe angenommen, daß er vielleicht der Irma den Ofen zeigen wollte, in den sie die Apfelreste werfen sollte.   D a n n   h a b e   i c h   e i n i g e   Z e i t   d e n   A n g e k l a g t e n   n i c h t   i m   Z i m m e r   g e s e h e n ,   v i e l l e i c h t   b i n   i c h   a u c h   e t w a s   e i n g e n i c k t .   Ich habe ihn nicht das Zimmer verlassen sehen oder hören. Die Zeit, in der ich den Angeklagten nicht beobachtet habe, würde nach meiner Ansicht genügen, die Tat unten zu verüben.   U r s u l a   t r a u e   i c h   a u f   k e i n e n   F a l l   d i e   T a t   z u .   Ich halte es sogar für vollständig ausgeschlossen, daß die körperlich sehr schwache Ursel, die nicht einmal eine schwere Kanne heben konnte, die Tat überhaupt ausführen konnte.

 

Vorsitzender: Aber bei Ihren früheren Vernehmungen, besonders in Kleppelsdorf, haben Sie doch erklärt, daß Sie beschwören könnten, der Angeklagte habe überhaupt nicht das Zimmer oben verlassen, auch nicht auf Minuten.

 

Zeugin: Damals glaubte ich noch nicht, daß die furchtbare Tat, wie ich beim Lokaltermin erfahren, in so wenigen Minuten ausgeführt sein kann. Ich nahm an, daß es sich um eine Viertelstunde handeln müßte. Nachträglich bin ich an der Zuverlässigkeit meiner Wahrnehmung in Zweifel geraten und halte jetzt die Behauptung aufrecht, daß ich Grupen ein paar Minuten aus den Augen verloren hatte.

 

Auf Antrag des Verteidigers   D r .   A b l a ß   wird ein von der Zeugin an Wilhelm Grupen gerichteter Brief vom 15. Februar verlesen, in dem es u. a. heißt:

 

Ein furchtbares Unglück kam über uns. Ursel hat aus Peters Schreibtisch den Revolver mitgenommen und gestern nachmittag die Dörte und sich selbst erschossen. Ist das nicht entsetzlich? Damit nicht genug, hat man Peter verhaftet, da man der Ursel das nicht zutraut. In der Zeit des Unglücks waren wir mit Irma oben im Wohnzimmer, war wie beide beschwören können. Also muß sich ja seine Unschuld herausstellen.

 

Die Zeugin verneint die Frage des Verteidigers Dr. Ablaß, ob sie sich in den kritischen Momenten in einem hypnotisierten Zustande befunden hätte, und fügte hinzu, sie sei überhaupt nicht zu hypnotisieren.

 

Die Vernehmung der Frau Eckert geht fort.

 

 

 

Dienstag, den 13. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.

 

Weitere Zeugenvernehmung.

Hirschberg, 12. Dezember.

Sonnabend nachmittag ist die Vernehmung der Frau Eckert, der Schwiegermutter des Angeklagten, soweit ihre Aussagen für die öffentliche Sitzung geeignet sind, zu Ende geführt worden. Ihre Bekundungen brachten noch mancherlei bemerkenswerte Einzelheiten. Am Montag sollte währen des ganzen Tages die Oeffentlichkeit ausgeschlossen bleiben. Die Verhandlung war aber zunächst wieder öffentlich und brachte einige interessante Aussagen. Bestätigt wurde weiter die Angst Dörtes vor dem Angeklagten, und bestätigt wurde auch die bereits von dem Vorsitzenden bekundete Auffassung, daß die Verlobung Dörtes mit Leutnant Matthäi lediglich eine Mädchenschwärmerei war. Die bedeutsame Aussage von Frau Eckert, daß Grupen das Zimmer in den Minuten vor der Mordtat verlassen hat, wird, nachdem sie selbst bereits von ihrer Schläfrigkeit gesprochen, durch die Aussage von Rittergutsbesitzer Lux über ein zur Prüfung der Beobachtungsfähigkeit der Beteiligten vorgenommenes Experiment in bemerkenswerter Weise beleuchtet. Im Anschluß daran machte Gaswerksdirektor   W r o b e l   auf Grund eines praktischen Versuchs beachtenswerte Aussagen über die Beeinflussungsfähigkeit der drei Zeugen, die für den Aufenthalt Grupens in den kritischen Minuten in Frage kommen, der Frau Eckert, der Stütze Mohr und der kleinen Irma. Zum Schluß der Vormittagssitzung bekundeten die beiden Untersuchungsrichter Näheres über Grupens Verhalten in der Voruntersuchung. Beide Untersuchungsrichter sind auf Grund des ihnen vorliegenden Materials zu der Ueberzeugung von der Schuld des Angeklagten gekommen. Montag nachmittag wird unter Ausschluß der Oeffentlichkeit verhandelt.

 

Aus der weiteren

Vernehmung der Frau Eckert

am Sonnabend Nachmittag tragen wir im Einzelnen noch nach:

 

Fr. Eckert: Der Angekl. hat, als er am Abend des Mordtages abgeführt wurde, zu mir gesagt: „Wenn Du sagst, daß ich im Zimmer war, bin ich morgen wieder frei.“ Auch hat er gesagt: „Wenn Ihr bei Eurer Aussage bleibt, bin ich morgen wieder frei.“ Mir ist nichts davon bekannt, daß Wertpapiere der Frau Grupen in Hamburg von dem Angeklagten abgehoben worden sind.

 

Die Zeugin bekundet weiter, daß im Laufe des Nachmittags am Mordtage der Angeklagte geäußert hat: Weißt Du auch, daß Du jetzt Herrin von Kleppelsdorf bist? Hier wird noch einmal Oberlandjäger   K l o p s c h -   Lähn gehört, der erklärt, daß er im Laufe des Nachmittags dir Frau Eckert gefragt habe, wer nun den schönen Besitz erbe, worauf er die Antwort erhielt: Der Bruder des verstorbenen Herrn Rohrbeck und ich. Ich habe gefragt, um im Interesse der Untersuchung Einblick in die Familienverhältnisse zu erhalten. Frau Eckert kann sich auf dieses Gespräch nicht mehr erinnern, während der Angeklagte behauptet, diese Antwort auf die Frage des Landjägers sei die Bemerkung, die er getan haben sollte. Oberlandjäger Klopsch erklärt aber, daß der Angeklagte nicht anwesend war, als er die Frage an Frau Eckert richtete.

 

Ueber das Verschwinden der Frau Grupen

macht die Zeugin folgende Angaben: Der 19. September war ein Sonntag. Meine Tochter saß vormittags am Schreibtisch. Nach dem Kaffeetrinken sagte sie mir, daß sie nach Kleppelsdorf fahre. Damit hatte sie mich nicht überraschend, denn schon vorher war über diese Absicht gesprochen worden. - Vors.: Hat Ihre Tochter früher irgend etwas von einer   l ä n g e r e n   Reise gesagt? - Zeugin: Ja, sie sagte, in Deutschland gefalle es ihr nicht mehr, sie gehe nach Amerika. Wenn es ihr dort gefalle, hole sie uns nach. Ich habe das für Scherz gehalten. - Vors.: Wie verabschiedete sich denn Ihre Tochter? - Zeugin: Ganz flüchtig, gar nicht herzlich. Auch von den Kindern verabschiedete sie sich wie sonst und nicht, als ob sie eine längere Reise vorhabe. - Vors.: Hatte sie Schmuck und Ringe mitgenommen? - Zeugin: Darauf habe ich nicht geachtet. Meine Tochter hatte nur einen Handkoffer bei sich. - Vors.: Hat sie sich vor ihrer Abreise Kleider machen lassen? - Zeugin: Nein, sie hat sich nur vier Kleider modernisieren lassen. - Vors.: Wann kam der Angeklagte zurück? - Zeugin: An demselben Tage. Er hat aber erst am nächsten Tage mit mir gesprochen.

 

Schmucksachen und Kleider

Vors.: Hat der Angeklagte gearbeitet und die Haushaltskosten bestritten? - Zeugin: Der Angeklagte sprach viel von seiner Bautätigkeit, auch von einem Kompagnon. Meinen   S c h m u c k   wollte er in Dänemark verkaufen. Tatsächlich hat er ihn   v e r s e t z t   und mir gegenüber behauptet, den Schmuck habe seine Frau nach Amerika mitgenommen. Die Silbersachen meiner Tochter wollte er bei einer Hamburger Bank in Sicherheit bringen. Ich habe ihm dabei geholfen, es zu verpacken. Aber er hat das Silber versetzt. Die Saloneinrichtung, die meine Tochter vor der Verheiratung mit Grupen besaß, ist von den Eheleuten gemeinsam verkauft worden. Grupen hat nach dem Verschwinden seiner Frau gesagt, er verfüge über ein Vermögen von einer Viertelmillion. Ursel und Irma seien ihm das Liebste auf der Welt. Er hat ein Testament gemacht, und die Kinder als seine Erben eingesetzt. Drei Finderringe seiner Frau hat er zu einem Goldarbeiter gebracht, um sie verändern zu lassen. Auch die   g o l d e n e   A r m b a m d u h r   s e i n e r   F r a u   hat er zum Umarbeiten zu einem Goldarbeiter getragen, und als er von mir später nach dem Verbleib der Uhr gefragt wurde, habe er geantwortet: „Denke Dir, das goldene Armband ist dem Goldarbeiter aus dem Arbeitszimmer   g e s t o h l e n   worden!“ (Heiterkeit im Zuhörerraum) Der von der Frau Grupen zurückgelassene   K o f f e r ,   der nach einem an den Knecht Raske (Roske?) gerichteten Zettel schmutzige Wäsche enthielt und nach Hamburg in eine Waschanstalt geschafft werden sollte, ist von der Zeugin vierzehn Tage nach der Abreise der Frau Grupen geöffnet worden. In dem Koffer befanden sich die   K l e i d e r ,   die sich Frau Grupen hatte umändern lassen,   s e h r   s c h ö n e s   S c h u h z e u g ,   ein alter Schmuckkasten ohne wesentlichen Inhalt und   s a n d e r e   Wäsche. - Vors.: Hat der Angeklagte nicht davon gesprochen, daß von der Hamburger Güterexpedition nach dem Koffer gefragt worden sei? - Zeugin: Ja, er hat gesagt, er gibt hundert Mark, wenn er erfahre, wer nach dem Koffer gefragt habe.

 

Vors.: Hat der Angeklagte zu Ihnen gesagt, seine Frau habe sich nach Lübeck abgemeldet? - Zeugin: Das hat er mir erzählt.

 

Vors.: Hat der Angeklagte, als er schon in der Untersuchungshaft saß, Ihnen nicht einen Brief geschrieben, in dem er Ihnen eine strafbare Handlung vorwarf? - Zeugin: Ja, es handelte sich um Wäsche meiner Tochter und um meine eigene Wäsche. Er behauptete, ich hätte beim Aussortieren Wäsche, die meiner Tochter gehöre, an mich genommen. - Vors.: Wollte er Ihnen mit diesem Briefe drohen und Sie einschüchtern, daß Sie gewisse Aussagen nicht machen? - Zeugin: Das weiß ich nicht.

 

Angekl.: Die Zeugin hat mir eine eidesstattliche Versicherung zugehen lassen, daß sie ein Anrecht auf die gesamte Wäsche habe. - Zeugin: Ich weiß nicht, daß ich eine solche eidesstattliche Versicherung abgegeben habe.

 

Vors.: Ich muß eine Zwischenfrage stellen: Was ist die kleine Irma für ein Kind? - Zeugin: Irma ist   w i e   j e d e s   K i n d .   Sie hatte mir einmal beim Staubwischen   5 0   M a r k   e n t w e n d e t   und sich dafür Verschiedenes gekauft. Sie hat wegen dieser Unredlichkeit fürchterliche Hiebe erhalten, sowohl von ihrem Vater wie von mir. Seitdem ist nichts mehr vorgekommen. - Angekl.: Irma hat oft gesagt, sie habe keine Schularbeiten auf.  Zeugin: Davon ist mir nichts bekannt.

 

Vert. Dr. Ablaß (zur Zeugin): Es wird behauptet, daß Ihre Tochter das ganze Vermögen des Pflegekindes Ruth Reske zu ihren Gunsten beiseite geschafft habe. - Zeugin (entrüstet): Meine Tochter hat nicht einen Schritt getan, um die Ruth Reske um ihr Vermögen zu bringen.

 

Aus dem Absteigequartier

Der nächste Zeuge, Schneidermeister August   W a r n i n g   aus Hamburg soll u. a. Aussagen über das Verschwinden der Frau Grupen machen können. - Vors.: In Hamburg wurde einmal die Leiche einer Frau angeschwemmt, die einen schweren Schnitt durch den Hals hatte. Ein Dienstmädchen soll Ihnen gesagt haben, daß sie die Leiche kenne. - Zeuge: Ich weiß davon nichts, kenne auch den Namen des Dienstmädchens nicht. Ich weiß nur, daß Grupen in meinem Hause sein Absteigequartier hatte. - Vors.: Wissen Sie, ob Grupen einmal einen langen Gummischlauch mit in sein Absteigequartier mitgebracht hat? Es wird behauptet, daß er damit die Damen vergiften wollte. - Zeuge: Davon ist mir nichts bekannt.

 

Frau Elise   W a r n i n g ,   die Frau des Vorzeugen, kann nichts Wesentliches bekunden. Grupen hat einmal bei ihr für Frl. Zahn und Dorothea Rohrbeck ein Zimmer gemietet. Am andern Tage hat Grupen durch einen Dienstmann einen Brief an die Damen gesandt und ihnen mitgeteilt, daß er in einer dringenden Geldangelegenheit schnell abreisen mußte. Frl. Zahn hat darauf gesagt: „Das ist komisch.“ Als Frl. Zahn fragte, was für das Quartier zu bezahlen wäre, habe ich geantwortet, daß Grupen das Zimmer gemietet und auch bezahlt habe.

 

Vert. Dr. Mamroth: Ist es richtig, daß Grupen Ihnen gesagt hat, eine der Damen esse sehr gern Hamburger Räucheraal, Sie möchten ihr daher zum Abendbrot Räucheraal bringen? - Zeugin: Ja. - Ueber das Auffinden der Frauenleiche in einem Hamburger Wasserloch hat die Zeugin von anderer Seite nur ein Gerücht gehört.

 

Der Staatsanwalt behauptet, Grupen habe noch andere Wohnungen in Hamburg gehabt. - Angeklagter: Das bestreite ich entschieden. - Staatsanwalt: Wir werden die Zeugen darüber hören. - Vert. Dr. Ablaß (zur Zeugin): Ist Grupen einmal mit   d e r   k l e i n e n   U r s u l a   bei Ihnen gewesen? - Zeugin: Ja, er sagt mir, die Ursula sei krank, und sie hat auf dem Sofa schlafen müssen. Einen Gasschlauch habe ich bei Grupen nicht gesehen.

 

Eine Bitte an die Presse.

Der Vorsitzende bemerkt, daß in diesem Prozeß eine große Menge Schreiben und Telegramme mit allerlei Behauptungen bei den Behörden einlaufen. Auch bei Frau   R e i c h s p r ä s i d e n t   E b e r t   ist ein Schreiben eingegangen, von dem eine Abschrift bei den Akten ist.

 

Oberstaatsanwalt Dr. Reiffenrath bittet im Interesse aller Prozeßbeteiligten die Presse, Eindrücke irgendwelcher persönlicher Art nicht zu veröffentlichen, insbesondere nicht über die Persönlichkeit des Angeklagten. Artikel, wie „Peter Grupen“ und „Hypnose und Verbrechen“ im Boten, brächten auf falsche Gedanken. Wir haben den Wunsch, daß die Presse nur über Tatsachen und über den Gang der Verhandlungen berichte.

 

Justizrat Dr. Ablaß äußert sich als Verteidiger in ähnlichem Sinne. Für einen Strafprozeß ist die Stimmung das Gefährlichste, was es gibt. Stimmungsberichte bringen etwas heraus, was dem Angeklagten derartig nachteilig sein kann, daß er sagt: Ich möchte nicht mehr versuchen, mein Recht zu wahren. Wenn die gelesenste Hirschberger Zeitung immer schreibt: „Der Doppelmord in Kleppelsdorf“, so gibt es keinen Leser, der nicht sagt: Hier ist ein Doppelmord begangen worden. Ob ein Doppelmord vorliegt, das ist aber doch erst die Frage, über die wir am Schlusse des Prozesses Gewißheit haben werden. Die Presse sollte den Standpunkt der Objektivität nicht verlassen und alles vermeiden, was Stimmung   g e g e n   gen Angeklagten macht.

 

Der Vorsitzende erklärt, daß er sich den Ausführungen des Staatsanwalts und des Verteidigers anschließe.

 

Hierauf wird die Verhandlung bis Montag Vormittag vertagt.

 

*

Die Sitzung am Montag.

Die Montagssitzung eröffnet der Vorsitzende, Oberlandesgerichtsrat   K r i n k e ,   mit einigen geschäftlichen Mitteilungen, worauf in zunächst öffentlicher Sitzung die Zeugenvernehmung wieder aufgenommen wurde.

 

Oberstaatsanwalt   D r .   R e i f e n r a t h   richtet vor dem Zeugenaufruf an den Angeklagten die Frage, ob es richtig sei, daß seine verschwundene Frau am 5. Juni 1882   i n   B e r l i n   geboren sei. - Angekl.: In Berlin? Das kann stimmen.

 

Nochmals die Kognakflasche und anderes.

Frau Oberst   S e m e r a k   gibt Auskunft über eine Unterredung, die sie im Januar d. J. mit Dorothea Rohrbeck gehabt hatte. Fräulein Rohrbeck hat ihr erzählt, daß sie den Inhalt einer Kognakflasche untersuchen lassen wollte. Als die Zeugin nach dem Grunde fragte, antwortete Dörte: „Ich fürchte, daß Grupen mir nach dem Leben trachtet.“ Nach der Ursache zu dieser Befürchtung befragt, erzählte Dörte die Alsterpartie. Grupen habe damals durchaus keinen Spaß gemacht, als er sein Ruder fortwarf. Die Zeugin bekundet weiter, es sei unwahr, daß Frl. Zahn das Verhältnis Dörtes mit dem Leutnant Matthäi begünstigt habe; es habe sich dabei überhaupt nur um eine Mädchenschwärmerei gehandelt.

 

Rittergutsbesitzer   L u x :   Es fiel mir auf, daß Frau Eckert, als wir nach dem Morge in dem Winterzimmer saßen, wo am 14. Februar Mühle gespielt wurde, am Ofen saß, einnickte und wieder aufwachte. Ich kam auf die Idee, festzustellen, ob es der Frau Eckert auffalle, wenn jemand die Tür öffne und das Zimmer verlasse. Ich ging durch das Billardzimmer hinab bis zum Fremdenzimmer. Nach etwa 50 Sekunden kam ich zurück und hatte   n i c h t   den Eindruck, daß Frau Eckert meine Abwesenheit bemerkt hätte. - Vors.: Wie ist der Charakter der kleinen Irmgard Schade, die Sie in Pflege genommen haben? - Zeuge: Ich habe viel Freude an dem Kinde. Es ist geradezu empörend, daß dem Kinde wegen einer einfachen Lüge Eigenschaften beigemessen werden, die es tatsächlich gar nicht hat. - Vert. Dr. Mamroth: Kannten Sie die Mutter der Irma Schade? - Zeuge: Bei einem Besuch gewann ich den Eindruck, in einem sehr geordneten Hauswesen zu sein. Meine Frau hat mir einmal von der Angelegenheit des Fabrikbesitzers Schultz erzählt, sonst ist mir über Frau Schade nichts bekannt geworden. - Staatsanwalt: Hatten Sie den Eindruck, daß die Mutter sehr an den Kindern hing? - Zeuge: Ja, den Eindruck bestätigte der geordnete Zustand der Sachen der Kinder.

 

Frau Hotelbesitzer   M e i s t e r e r n s t   aus Altona: Im September 1920 wünschte Frau Grupen bei ihr ein Zimmer. Da das Hotel aber besetzt war, ging Frau Grupen fort und ließ eine Pelzjacke zurück, die Pelzjacke ist nach einigen Wochen von Grupen abgeholt worden. Grupen selbst bestellte auch im September, nachdem seine Frau dagewesen war, ein Zimmer mit zwei Betten. Beim Oberkellner meldete er sich als „Architekt Peter Grupen mit Nichte“ an. Die Zeugin beauftragte den Oberkellner, dem Grupen, wenn er wiederkomme, zu sagen, daß die Nichte ein besonderes Zimmer haben müsse, weil es sich um ein noch nicht sechzehnjähriges Mädchen handelte. - Vert. Dr. Mamroth: Wollte nicht Grupen das Zimmer nur für einen Tag haben, damit Frl. Rohrbeck sich von der Nachtreise ausruhe, während er Besorgungen erledige? - Zeugin: Das weiß ich nicht.

 

„Desto besser kann ich schießen.“

Gutsverwalter   S c h ö p k e   aus Buckow bei Berlin hatte mit Grupen eine Unterredung, als er mit Dörte der Großmutter Eckert einen Besuch abstattete. Grupen rühmte sich ein guter Schütze zu sein, der wiederholt Schießpreise bekommen habe. Als ihn der Zeuge darauf hinwies, daß er nur einen Arm habe, bemerkte Grupen:   „ D e s t o   b e s s e r   k a n n   i c h    s c h i e ß e n . “   Dörte habe sich auf den Besuch der Großmutter gefreut, es sei ihr aber unangenehm gewesen, daß Grupen mitgekommen war. Zeuge hat die Ursula in Kleppelsdorf kennen gelernt. Ursel habe einen scheuen Eindruck gemacht, sei aber für freundliche Worte durchaus zugänglich gewesen. Zeuge weiß auch, daß Frl. Zahn gesagt hat: „Es ist furchtbar, daß dieser Mann (Grupen) in unserem Hause ist!“

 

Die Unterbindetasche?

 Eine Schülerin, die auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft mehrere Tage Ursulas Unterbindetasche mit dem Revolver und den Patronen getragen hat, sagt aus, daß sie dabei beim Gehen und bei häuslichen Verrichtungen sehr behindert worden sei.

 

Beeinflussungsexperimente?

Gaswerksdirektor   W r o b e l   hat im Auftrage des Staatsanwalts festzustellen versucht, ob die Stütze   M o h r ,   Frau   E c k e r t   und die kleine   I r m a   leicht oder schwer zu beeinflussen sind, ob sie unter dem Einfluß des Angeklagten stehen und wie ihre Aussagen bezüglich des Verlassens des Zimmers durch Grupen zu bewerten sind. Die Versuche wurden im Winterwohnzimmer an dem bekannten Tische, an dem Mühle gespielt worden war, vorgenommen. Sowohl die Irma wie Frau Eckert haben im Zustande suggestiver Beeinflussung nicht bemerkt, daß der den Versuchen beiwohnende Oberstaatsanwalt das Zimmer verließ. Die Stütze Mohr ist zwar, wie die übrigen Beteiligten, mit den Experimenten des Zeugen wohl einverstanden gewesen, hat aber den Versuchen Widerstand entgegengesetzt; sie war nicht dazu zu gewesen, die Brillantnadel auf der Krawatte des Zeugen fest anzusehen, sie sah vielmehr immer vorbei. Es mußte daher bei ihr von den Beeinflussungsversuchen Abstand genommen werden. Frl. Mohr hat damals dem Zeugen gegenüber ganz entschieden bestritten, daß Frl. Zahn beim Mühlespiel durch das Zimmer gegangen sei, dagegen hat sie wiederhold die Aeußerungen Grupens wiedergegeben: „Es ist gut, daß wir zusammen waren und daß Ihr wißt, daß ich das Zimmer nicht verlassen habe.“ Zum Schluß schildert der Zeuge ein an Dorothea Rohrbeck bei einer gesellschaftlichen Veranstaltung vorgenommenes Experiment auf dem Gebiete der Wachsuggestion.

 

Die Untersuchungsrichter.

Nach einer kurzen Pause wird Landgerichtsrat   P i e t s c h   vernommen, der eine kurze Zeit die Vernehmungen vorgenommen hat. Der Zeuge bekundet, daß Grupen gesagt habe, er hätte bei dem Auffinden der Leichen die Schußwaffe aufgehoben, gesichert und auf den Tisch gelegt. - Der Angeklagte bemerkt hierzu, daß er sich zunächst infolge der Aufregung nicht mehr genau auf das Auffinden der Waffe erinnern konnte. Erst später nach gründlicher Prüfung und auf wiederholtes Befragen habe er erklärt, wenn er den Revolver aufgehoben habe, dann habe er auch möglicherweise den Sicherheitsflügel umgelegt. Eine bestimmte Erklärung hierüber habe er aber nicht abgegeben und auch nicht abgeben können. An den Zeugen richtet der Vorsitzende die Frage, ob er bei der Vernehmung des Angeklagten den Eindruck hatte, daß dieser die Absicht hegte, den Gang der Untersuchung zu erschweren, oder ob er bestrebt war, die Sache aufzuklären. Der Zeuge erklärt hierzu, daß der Angeklagte damals auf die Frage, wo seine Frau sei, keine Antwort gegeben und den Zeugen vielmehr dabei sehr scharf angesehen und erklärt habe: Ich kann darüber nur in der Hauptversammlung Auskunft geben. Ich fürchte, mit meiner Auskunft meiner Frau und anderen Personen Ungelegenheiten zu bereiten. Ich hatte den Eindruck, daß der Angeklagte etwas zu verheimlichen hatte und verheimlichen wollte. Es schien, als ob sich der Angekl. auf mich stürzen wollte. Ferner hat der Angekl. bestritten, mit den beiden Dienstmädchen intim verkehrt zu haben. - Der Angeklagte bestreitet, die Absicht gehabt zu haben, sich auf den Zeugen zu stürzen. - Dem Zeugen Pietsch ist noch aufgefallen, daß der Angeklagte die aus dem Gefängnis gesandten Briefe mit einer sehr schönen, regelmäßigen Schrift geschrieben hat. Grupen behauptet hierzu, daß er im Gefängnis die Briefe viel sorgfältiger schreiben konnte, weil er mehr Zeit hatte. Auf Befragen des Verteidigers Dr. Ablaß erklärt der Zeuge   P i e t s c h   noch, daß er auf Grund des vorgelegten Materials den Angeklagten für schuldig gehalten habe.

 

Der nächste Zeuge ist der Geheimrat   D u b i e l ,   der die Untersuchung in der Hauptsache geführt hatte. Auch er ist auf Grund des vorliegenden Materials zu der Ueberzeugung von der Schuld des Angeklagten sowohl bezüglich des Mordes als auch des Sittlichkeitsverbrechens gekommen. Der Angeklagte war bei seinen Vernehmungen sehr gesprächig, aber sehr vorsichtig und er hütete sich, sich festzulegen. Der Zeuge bekundet dann, daß er nach der Tat eine Zusammenkunft der Stütze Mohr mit dem Bruder des Angeklagten, Wilhelm Grupen, verhindern wollte, beide hätten sich aber trotzdem getroffen. Ob und was sie aber für ihre Aussagen vereinbart haben, kann der Zeuge nicht angeben.

 

Mittagspause.

 

 

 

Mittwoch, den 14. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Kleppelsdorfer Mordprozeß.

 

Spiritistische Gerüchte über Frau Grupen.

Hirschberg, 13. Dezember.

Montag nachmittag wurde unter Ausschluß der Oeffentlichkeit verhandelt. Vorher war die Vernehmung des Untersuchungsrichters zu Ende geführt worden. Der Angeklagte verlor bei dieser Gelegenheit einen Augenblick die Ruhe, mit der er bisher in starker Selbstbeherrschung dem Gang der für alle Prozeßbeteiligten gleich anstrengenden Verhandlung gefolgt war. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und gebrauchte dabei zum ersten Male in all den Tagen die Wendung: „Ich bin unschuldig.“ Am heutigen Dienstag wurde zunächst weiter unter Ausschluß der Oeffentlichkeit verhandelt. Frau Grupens angebliche anormale Veranlagung, die nach des Angeklagten Behauptung das eheliche Verhältnis unhaltbar gemacht haben soll, war dabei Gegenstand der Beweisaufnahme. Im weiteren Verlauf der Sitzung gab der Vorsitzende Aufklärung über den Ursprung der seit Sonnabend in der Stadt umlaufenden Gerüchte, daß die   v e r s c h w u n d e n e   F r a u   G r u p e n   s i c h   i n   d e r   W e s t s c h w e i z   a u f h a l t e .   Nach der Mitteilung des Vorsitzenden befand sich unter den vielen Zuschriften, die bei ihm täglich eingehen, auch ein Schreiben der Breslauer Staatsanwaltschaft, wonach sich bei ihr ein Herr Eichler gemeldet habe, der Auskunft über den Aufenthalt der vermißten Frau Grupen geben könne. Frau Grupen soll sich in Turni (Westschweiz) aufhalten. Auf Veranlassung der Hirschberger Staatsanwaltschaft ist Eichler in Breslau polizeilich vernommen worden, wobei sich herausstellte, daß das Gerücht über den Aufenthalt der Frau Grupen   d a s   E r g e b n i s   e i n e r   s p i r i t i s t i s c h e n   S i t z u n g   i s t .   Der Gerichtshof hat unter diesen Umständen davon abgesehen, Herrn Eichler als Zeugen nach Hirschberg zu laden.

 

Aus den weiteren Aussagen des   U n t e r s u c h u n g s r i c h t e r s   D u b i e l   heben wir hervor: Als Grupen seinem Bruder Wilhelm gegenüberstand, weinte er und vermochte nicht zu sprechen. Ich hatte den Eindruck, daß Wilhelm Grupens Frau glaubte, ihr Mann würde auch verhaftet werden. Auf Veranlassung des Angeklagten habe ich die Stütze Mohr garüber vernommen, was sie von der „Ueberraschung“ (Ursulas Brief an Großmutti) wisse. Mir war es aufgefallen, daß die Mohr bei ihrer ersten Vernehmung nichts gesagt hatte von dem Briefe, der bei Ursula, als sie im Sterben lag, gefunden worden ist. Auf meine Frage, was sie von dem Briefe wisse, antwortete die Mohr ganz gleichgültig: „Ach so, der Brief.“

 

Verteidiger Dr. Mamroth: Schlossen Sie aus diesem Vorgange, daß der Angeklagte, der Sie zu der Vernehmung der Mohr über diesen Punkt veranlaßt hat, bemüht gewesen ist, die Ermittelungen zu fördern? - Zeuge: Meines Erachtens handelte es sich hier um einen Umstand, den der Angeklagte zu seinen Gunsten festgestellt wissen sollte. - Verteidiger Dr. Mamroth: Meinen Sie, daß die Mohr, die geneigt sein soll, für den Angeklagten Günstiges zu sagen, den Brief absichtlich verschwiegen hat? - Zeuge: Das weiß ich nicht, ich wunderte mich aber darüber, daß die Mohr einen so wichtigen Umstand nicht von selbst erwähnt hat.

 

„Ich bin unschuldig.“

Angeklagter (erregt): Obwohl mir der Staatsanwalt gesagt hat, er sei fest überzeugt, daß ich den Brief an Großmutti geschrieben habe, habe ich den Untersuchungsrichter auf den Brief aufmerksam gemacht und ihn ersucht, die Mohr darüber zu vernehmen. Der Herr Staatsanwalt bringt den Brief mit meiner Schuld vage in Verbindung. Meine Schuldfrage steht nicht fest und (der Angeklagte schlägt heftig mit der Faust auf den Tisch) ich behaupte: ich bin unschuldig. - Staatsanwalt: Ich bitte festzustellen, daß ein Widerspruch besteht zwischen den Erklärungen, die der Angeklagte am Sonnabend bezüglich der Briefe Ursulas an Frau Barthel gab, und seinen Aussagen über diesen Punkt bei der Vernehmung durch den Untersuchungsrichter. Am Sonnabend sagte der Angeklagte, er habe die Ursula nicht veranlaßt, an Frau Barthel zu schreiben. In der Voruntersuchung behauptete er das Gegenteil.

 

Der Vorsitzende stellt aus den Untersuchungsakten folgende Niederschrift fest: „Dem Angeschuldigten wurde der bei Ursula vorgefundene Brief an Großmutti und sein eigenes Schreiben an seinen Bruder Wilhelm Grupen vorgelegt, um die Uebereinstimmung der Schriftzüge festzustellen. Er erklärte: Ich habe den Brief an Großmutti nicht geschrieben, er ist meiner Ueberzeugung nach von Ursula geschrieben. Zwecks Schriftvergleichung wurde ihm der Brief der Ursula an Frau Barthels vorgelegt. Er erklärte: Ich hatte sie beauftragt, an Frau Barthels und deren Tochter in Itzehoe je einen freundlichen Brief zu schreiben. Ursula schrieb den einen Teil des Briefes an Frau Barthels, den anderen an die Tochter. Ich riß beide Seiten des Briefes auseinander und befahl Ursula an Frau Barthels und an die Tochter je einen Brief zu schreiben. Ursula schrieb einen zweiten Brief an Frau Barthels und benutzte den alten als Konzept. Der erste Brief muß in meiner schwarzen Hose stecken.

 

Der Angeklagte bemerkte hierauf, er gebe zu, die Ursula zu dem Briefe an Frau Barthels   v e r a n l a ß t ,   aber nicht   b e a u f t r a g t   zu haben.

 

Staatsanwalt (zu Frau Eckert): Der Angeklagte behauptete doch am Sonnabend,   S i e   hätten die Briefe an Frau Barthel veranlaßt. - Frau Eckert: Ich bin immer vorgeschoben worden.

 

Ein Geschworener: Ist festgestellt, daß die Haustüren dauernd verschlossen waren, besonders am Mordtage? - Frl. Zahn: Wir hielten beide Haustüren unter Verschluß. Die Tür in das sogenannte Eßzimmer war offen, die Verandatür war verschlossen. - Angeklagter: War die Tür nach dem kleinen Hof verschlossen? - Frl. Hirsch: Die Eingangstür vom kleinen Hof zum Küchenflur war stets verschlossen, ebenso die Tür vom Küchenflur zur Rollstube.

 

Auf Antrag des Staatsanwalts wird nunmehr die

 

Oeffentlichkeit ausgeschlossen.

 

Im Einverständnis mit den Prozeßbeteiligten bleiben die Pressevertreter im Gerichtssaal.

 

Die Beweisaufnahme wendet sich dem angeblichen Sittlichkeitsverbrechen an Grupens Stieftochter Ursula zu. Hierüber wird zunächst Frau   E c k e r t   vernommen. Die Ursula klagte eines Tages über Schmerzen, der Angeklagte erzählte ihr davon und fuhr mit dem Kinde zu einem Arzt. Grupen gab ihr als Ursache des Leidens eine harmlose Angelegenheit an. Ein Gehilfe des Angeklagten behandelte dann das Kind unter Grupens Leitung. Frau Eckert hat das damals als lobenswert empfunden, zumal niemand anders da war.

 

Die kleine Ruth   R e s k e ,   jetzt in Berlin-Zehlendorf bei den Großeltern, eine Pflegetochter der Frau Grupen, berichtet, daß die Frau des Angeklagten einmal von Amerika sprach und zu ihrem Mann sagte: „Wenn Du artig bist, Peter, nehme ich Dich mit.“ Die Ruth, offenbar ein sehr gewecktes Kind, erklärte heute, daß sie diese Aeußerung für Scherz gehalten habe.

 

Es erscheint dann ein damals 19 Jahre altes   D i e n s t m ä d c h e n   des Angeklagten. Ihr hat Grupen die Ehe versprochen, schon wie seine Frau noch bei ihm war. Die Zeugin hatte den Angeklagten gern und trat in engere Beziehungen zu ihm. Von einem Vergehen Grupens an seiner Stieftochter oder einer anormalen Handlung der Mutter der Ursula gegenüber weiß die Zeugin nichts.

 

Weiterhin werden noch einige Mädchen vernommen, die sich durch Eheversprechungen des Angeklagten verleiten ließen, mit ihm in nähere Beziehungen zu treten. Eins dieser Mädchen war in ähnlicher Art wie der Angeklagte und die kleine Ursula erkrankt. Ueber den Zusammenhand dieser Erkrankungen wurden gutachterliche Aeußerungen nicht abgegeben.

 

Um 8 ½ Uhr wird die Verhandlung auf Dienstag ½ 10 Uhr vertagt.

 

*

Dienstag-Sitzung.

Am Dienstag wurde zunächst in nichtöffentlicher Sitzung weiter verhandelt. Eine intime Freundin der verschwundenen Frau Grupen bekundet, daß der Angeklagte einmal zu seiner Frau gesagt habe: Durch Scheidung gehen wir nicht auseinander,   n u r   d i e   W a f f e   k a n n   u n s   t r e n n e n !   Der Angeklagte habe damit einen   S e l b s t m o r d   durch Erschießen gemeint: die Zeugin sei aber fest überzeugt, daß er Komödie spielte. Das Verhältnis zwischen den Eheleuten sei überhaupt nicht so gewesen, wie es nach außen hin schien, und wie es hätte sein sollen. Hinter verschlossenen Türen wird auch dann   W i l h e l m   G r u p e n ,   der Bruder des Angeklagten vernommen, der einen anormalen Vorgang zwischen der   F r a u   des Angeklagten und der   U r s u l a   beobachtet haben will.

 

Die   m e d i z i n i s c h e n   S a c h v e r s t ä n d i g e n   sprachen sich in ihrem Gutachten sehr zurückhaltend über die Wahrscheinlichkeit des dem Angeklagten zur Last gelegten Sittlichkeitsverbrechens aus. Die Möglichkeit eines intimen Verkehrs Ursulas mit dem Angeklagten wurde zugelassen, weil ein solcher Verkehr sich im Rahmen der Diagnose befindet.

 

Der Angeklagte erklärte sich mit dem Antrage eines Sachverständigen, von ihm eine Blutsprobe zur Feststellung einer gewissen Krankheit zu entnehmen, einverstanden.

 

Mittagspause.  Um ½ 4 Uhr wird die Oeffentlichkeit wieder hergestellt.

 

 

 

Donnerstag, den 15. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

4 Seiten ziemlich hell, aber Sonderausgabe zu dunkel mit Durchschimmern der Rückseite

Die Tragödie auf Schloß Kleppelsdorf.

 

Das Verschwinden der Frau Grupen.

Hirschberg, 14. Dezember.

 

In der Nacht zum Sonntag hofft man, das Urteil fällen zu können. Ob das Programm inne gehalten werden kann, steht freilich noch dahin. Es sind noch eine große Zahl Zeugen zu vernehmen, und die Sachverständigen, deren eine stattliche Zahl an der Gerichtsstätte versammelt ist, werden für ihre Ausführungen auch längere Zeit beanspruchen. Die Echtheit der Briefe, die Lage der Patronenhülsen, die Bahn der Geschosse, die Art der Wunden, die Frage der hypnotischen und suggestiven Beeinflussung und noch manches andere mehr bedarf noch der Klärung durch Gutachten. Einen vollen Tag, wenn nicht mehr, dürfte die Vorbereitung und Durchführung der Plädoyers erfordern.

 

Die Verhandlung selbst zeichnet sich trotz der Ueberanstrengung, die sie für alle Beteiligten bedeutet, auch heute noch wie am ersten Tage durch die ruhige und sachliche Form der Wahrheitsermittelung vorteilhaft von manchen Verhandlungen in jenen Zeiten aus, als Vertreter der Anklagebehörden ihre vornehmste Aufgabe in der Verfolgung politisch unbequemer Personen erblickten. Oberlandesgerichtsrat Krinke, klar und klug in seiner Fragestellung, manchmal nicht ohne Ironie und Humor, aber stets von gütiger Milde, die auch bei den peinlichsten Fragen die Befangenheit der Zeuginnen rasch zu bannen versteht, erweist sich immer mehr als Verhandlungsführer großen Schlages. Er ist von unerschütterlicher Geduld, und nur, wenn Zeugen, und noch obendrein solche, die vor Gericht zu verkehren gewohnt sind, ihre Aussagen in den Bart murmeln, klingt durch seine Ermahnungen, deutlich zu sprechen, ein Unterton der Unzufriedenheit durch.

 

Dienstag nachmittag ist unter gewaltigem Andrange des Publikums die Oeffentlichkeit der Verhandlung wieder hergestellt worden. Es kamen Dienstag und Mittwoch zunächst die Zeugen, die über das Verschwinden der Frau Grupen etwas zu bekunden wissen, zur Vernehmung.

 

Apothekenbesitzer Otto   S c h a d e -   Berlin (Vater des ersten Mannes der verschwundenen Frau Grupen): Ostern 1920 stellte mir meine Schwiegertochter Gertrud den Angeklagten als ihren Ehemann vor. Grupen machte einen günstigen Eindruck auf mich und nannte mich „Vater“. Auch erklärte er mir, daß er eine bessere Frau als Trude nicht hätte finden können. Wenige Tage nach dem 19. September fragte der Angeklagte bei mir telephonisch an, ob er mich im Wartesaal des Potsdamer Bahnhofs sprechen könnte. Ich war einverstanden. Als Grupen kam, richtete er an mich die Frage: „Hast Du Nachricht von Trude?“ Auf meine verneinende Antwort sagte er: „Denke Dir, sie ist fort nach Amerika!“ Ich ersuchte ihn, weiter zu erzählen, sobald meine Frau gekommen sei. Da wehrte er ab, und als meine Frau früher als erwartet kam, war er   s e h r   b e s t ü r z t .   Grupen äußerte, er habe seiner Frau ein angenehmes Leben bereiten, ihr ein Reitpferd kaufen wollen und für den Haushalt 50 000 Mk. hergegeben. 80 000 Mk. hätte er auf der Bank, in kurzer Zeit würde er Millionär sein. Meine Schwiegertochter hat zu mir niemals davon gesprochen, daß sie   n a c h   A m e r i k a   gehen wolle. Zur   B ü h n e   hatte sie ein gewisses Talent, aber es praktisch zu betätigen, ist nie ihre Absicht gewesen.

 

Vors.: Hat der Angeklagte Nachforschungen nach seiner Frau angestellt? - Zeuge: Der Angeklagte sagte mir, er hätte einen Detektiv mit Ermittelungen beauftrag, über den Erfolg hat er mir nichts mitgeteilt. Die Abschiedsbriefe seiner Frau hat er mir gezeigt. Ich erklärte ihm   s o f o r t ,   daß   T r u d e   u n m ö g l i c h   d i e s e   B r i e f e   g e s c h r i e b e n   haben könne. Eine solche   G e m ü t s r o h e i t   kann ich Trude nicht zutrauten. (Der Vorsitzende ersucht den Zeugen Wilhelm Grupen den Saal zu verlassen, weil er morgen nochmals eingehend vernommen werden soll.) Das Verhältnis meiner Schwiegertochter mit dem Fabrikbesitzer   S c h u l t z   ist uns bekannt geworden; wir haben ihr, als sie uns um Verzeihung bat, um des Familienfriedens willen, verzeihen. Das Verhältnis mit Schultz hatte sie erst nach dem Tode meines Sohnes.

 

Frau Margarethe   S c h a d e ,   die Gattin des Vorzeugen, hat den Angeklagten bei seinem ersten Besuch als sehr zurückhaltend kennen gelernt. Vor der Zusammenkunft auf dem Potsdamer Bahnhof hatte Grupen telegraphisch bei uns angefragt, ob seine Frau bei uns wäre. Die   A b s c h i e d s b r i e f e ,   die er uns zeigte, kamen mir   m e r k w ü r d i g   k ü h l   vor. Wenn meine Schwiegertochter wirklich nach Amerika gegangen sein sollte, so kann sie es nur in   g e i s t i g e r   U m n a c h t u n g   getan haben, denn sie hing sehr an ihren Kindern. - Vorsitzender: Sie waren bei der Beerdigung in Kleppelsdorf. Was haben Sie dort der   M a r i e   M o h r   weggenommen? - Zeugin: Einen Muff und einen Pelzkragen, um beides der kleinen Irma zu geben. Der Muff war Eigentum meiner Schwiegertochter, bezüglich des Pelzkragens kann ich das nicht bestimmt behaupten. Ueber die Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit der kleinen Irma kann die Zeugin, ebenso wie ihr Ehemann, aus eigener Erfahrung, nichts Nachteiliges sagen. Die   R u t h   R e s k e   habe ihr gegenüber darüber geklagt, daß der Vater (Grupen) sie geschlagen habe, wenn sie mal etwas nicht nach seinem Willen ausgeführt hatte; auch hätte sie schwer arbeiten müssen. Die Reise, die Ruth mit dem Vater nach Berlin gemacht habe, sei ihr (Ruth) schrecklich gewesen, weil der Vater sich mir viel Damen eingelassen habe.

 

Bürovorsteher Johann   G i l b -   Itzehoe hatte auf Wunsch des Angeklagten die in einem Kuvert verschlossenen Abschiedsbriefe seiner Frau entgegengenommen. Der Angeklagte sei sehr niedergeschlagen gewesen, obwohl er noch nicht wußte, was in den Briefen stand. Der Zeuge bestätigt, daß die Besitzung Grupens in Ottenbüttel ein einsames Häuschen sei, etwa 200 Meter von der Dorfstraße.

 

Der „geknickte Ehemann“.

Rechtsanwalt und Notar   R e i n e c k e -   Itzehoe: Ich habe die notariellen Akten über die Uebertragung von Hypotheken der Frau Eckert und der Frau Grupen an den Angeklagten aufgenommen, desgleichen über die Gütertrennung. Die Akte erfolgten am 17. und 18. September. An dem Wesen der Frau Grupen ist mir nichts aufgefallen. Als mir mein Bürovorsteher das Kuvert mit den Abschiedsbriefen der Frau Grupen übergab, fiel mir auf, daß kein Abschiedsbrief an den Angeklagten dabei war. Als ich Grupen von dem Inhalt der Briefe Kenntnis gegeben hatte, machte er auf mich den Eindruck eines   „ g e k n i c k t e n   E h e m a n n e s “ .    Da ich es für unmöglich hielt, daß Frau Grupen mit 72 000 Mk., die sie nach Angabe des Angeklagten mitgenommen haben soll, bei dem schlechten Valutastande nach Amerika kommen kann, gab ich dem Angeklagten den Rat, sofort Nachforschungen anzustellen, damit die Frau nicht etwa im Sumpf untergehe. „Sie müssen“, sagte ich zu Grupen, „alle Hebel in Bewegung setzen, um auf die Spur Ihrer Frau zu kommen. Erkundigen Sie sich bei den Schiffsgesellschaften, fragen Sie auch bei dem Fabrikbesitzer Schultz an, ob er etwas von dem Aufenthalt Ihrer Frau wisse.“ Nach vierzehn Tagen beauftrage mich Grupen mit der Einleitung der Ehescheidungsklage. Als ich im Februar von dem Morde in Kleppelsdorf las, da machte ich mir meine   e i g e n e n   G e d a n k e n   und   l e g t e   m e i n   M a n d a t   f ü r   G r u p e n   n i e d e r .   Ich wurde dann Abwesenheitspfleger der verschwundenen Frau Grupen und habe als solcher u. a. das von dem Angeklagten verpfändete Silber eingelöst.

 

Vors.: Angeklagter, haben Sie die Ratschläge des Zeugen befolgt? - Angekl.: Ich war in Berlin. - Vors.: Ich frage, ob Sie in Hamburg, wie es Ihnen der Zeuge geraten hat, bei der Dampfergesellschaft waren? - Angekl.: Ich war in Berlin. Der Zeuge hatte mir auch gesagt, ich solle mich nach der Abreise des Schultz erkundigen, der doch vielleicht mit meiner Frau durchgegangen war. Ich habe dann Frau Schade gefragt. - Vors.: Frau Schade, hat der Angeklagte Sie nach Schultz gefragt? - Fr. Schade: Er hat mich nur gefragt, ob der Schultz damals allein mir meinem Sohn auf der Jagd war, als er verunglückte.

 

Vors.: Was haben Sie sonst noch unternommen, um Ihre Frau zu finden? - Angekl.: Ich habe Herrn Rechtsanwalt Reinecke gebeten, sich bei der Polizei zu erkundigen. - Zeuge: Ich habe bei der Polizei telephonisch angefragt und den Bescheid bekommen, sie sei nach Lübeck abgemeldet.

 

Vors.: Und was haben Sie sonst getan, um Ihre Frau zu finden? - Angekl. (schweigt).  Vors.: Wollten Sie denn nun von Ihrer Frau nichts mehr wissen? - Angekl.:   N e i n .  

 

Vert. Dr.   M a m r o t h   stellt fest, daß der Angeklagte von den anempfohlenen Maßnahmen nur unterlassen habe, die Schifffahrtsgesellschaften zu befragen. Die Aussprache mit den Berliner Verwandten habe der Zeuge anempfohlen und der Angekl. befolgt. - Vors.: Der Herr Zeuge hat uns geschildert, daß Sie vollkommen geknickt waren. - Zeuge: Helle Tränen hat er geweint. - Vors. (fortfahrend): Und hier vor Gericht sagten Sie eben, daß Sie von Ihrer Frau nichts mehr wissen sollten - das ist doch ein Widerspruch. - Angekl.:   D a n n   i s t   d a s   e b e n   e i n   W i d e r s p r u c h .

 

Vors.: Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß die Geschworenen aus diesem Widerspruch Schlüsse ziehen können. - Angeklagter (nervös): Man weiß eben nicht, was das für eine Frau war - und ich wünsche keinem - -

 

Weg ist das Geld!

Staatsanwalt: Ist Ihnen bekannt, daß der Angeklagte vom Gefängnis aus noch immer mit der Generalvollmacht über das Vermögen der Frau Eckert verfügte? - Angekl.: Dann muß man eben x = 0 setzen, sonst stimmts nicht. - Staatsanw.: Das Vermögen der Frau Eckert soll dich (103 000?) Mark betragen haben. Wo ist das Geld? - Vors.: Weg! (Heiterkeit) -

 

Angekl.: Frau Eckert hat nichts gehabt. Die 109 000 Mark in Wertpapieren gehörten meiner Frau und nicht Frau Eckert. Ueber dieses Geld hat meine Frau zum größten Teil verfügt, oder es ausgegeben. - Vors.: Der Angekl. hat diesen Standpunkt allerdings immer eingenommen.

 

Bankier   G u l d a c k e r -   Itzehoe: Am 18. September ist Frau Grupen in meinem Geschäft gewesen. Da ich nicht anwesend war, hinterließ sie, daß sie am Montag, den 20. September, wiederkommen wollte. Etwa eine Woche nach dem Verschwinden der Frau Grupen ist der Angeklagte in großer Erregung zu mir gekommen und hat erzählt, daß seine Frau verschwunden sei und daß er sie in Berlin gesucht habe. Bei einer späteren Gelegenheit hat mir Grupen gesagt, seine Frau sei zu einer Freundin gefahren. Ueber Grupens persönlichen und geschäftlichen Ruf ist mir Nachteiliges nicht bekannt geworden. Daß Frau Eckert kein Geld hatte, um die von dem Angeklagten versetzten Brillanten einzulösen, ist dem Zeugen nicht bekannt.

 

Was die Kellinghusener sagen.

Amtgerichtsrat   L e m m e   aus Kellinghusen (wo Frau Schade eine Zeitlang gelebt hat) stellt der kleinen Ursula ein ähnliches gutes Zeugnis aus, wie die Lyzeallehrerin. Ursula sei ein zartes Kind gewesen, habe kaum einen Revolver halten können.

 

Vert. Dr. Ablaß: Wie langen haben Sie die Ursula gekannt? - Zeuge: Ich? Ich habe sie nicht gekannt. Ich weiß das nur von meiner Frau und die hat es von anderen Damen.

 

Dr. Ablaß: Haben Sie nicht eine Eingabe gemacht, der Angeklagte habe sich viel mit Maurerarbeiten beschäftigt und es sei die Vermutung aufgetaucht, daß er die Leiche seiner verschwundenen Frau eingemauert habe. - Zeuge: Ja, das sagen die Leute so.

 

Vert. Dr. Ablaß: Haben Sie nicht auch berichtet, bei einem Umzuge habe Grupen einen Schrank vom Wagen gestoßen, damit seine Frau erschlagen werde. - Zeuge: Ja, meine Frau sagte mir, die Leute sagten, Frau Haffner hätte erzählt, sie hätte bei dem Umzuge nach Itzehoe mitgeholfen. Als sie sich im Zimmer befand, habe sie plötzlich von der Straße her den Schrei einer weiblichen Person gehört. Sie sei zunächst an die Tür gestürzt, habe diese aber   v e r s c h l o s s e n   vorgefunden. Dann sei sie an das Fenster geeilt und habe gesehen, daß von dem vor dem Hause stehenden Möbelwagen ein Schrank gefallen war. Durch das Herablassen des Schranks   h ä t t e   F r a u   G r u p e n   s c h w e r   v e r l e t z t   w e r d e n   k ö n n e n .   Der Frau Haffner sei es aufgefallen, daß, als sie auf den Schrei zu Hilfe eilen wollte, die Tür verschlossen gewesen sei. - Vors.: Aus eigener Kenntnis wissen Sie also nichts? - Zeuge: Neun! - Vors.: Dann verzichten wir wohl auf den Zeugen?

 

Ein Schuß ins Kleppelsdorfer Herrenzimmer.

Der Vorsitzende teilt mit, daß ein bei ihm soeben eingegangenes Schreiben ihn veranlasse, an   F r l .   Z a h n   einige Fragen zu richten. In dem Schreiben wird behauptet, daß einmal   d u r c h s   F e n s t e r   a u f   D o r o t h e a   R o h r b e c k   g e s c h o s s e n   worden sei.

 

Frl. Zahn: Im Oktober 1919 - der Angeklagte war damals in Kleppelsdorf - wurde abends um ½ 10 Uhr durch das offene Fenster des Herrenzimmers geschossen. Es war ein Schrotschuß. Wir haben es uns damals nicht erklären können und nahmen an, daß der Schuß mehr dem Herrn Bauer gelten sollte.  - Vors.: Ist es richtig, daß Frl. Dörte durch den Schuß verletzt worden ist? - Zeugin: Dörte saß ja gar nicht in dem Zimmer, sie saß zwei Zimmer weiter und spielte Klavier. - Vors.: In dem Schreiben wird unterstellt, daß der Angeklagte den Schuß abgegeben habe. Dörte soll dem Frl. Semerak erzählt haben, sie sei an der Nase verletzt worden. - Staatsanwalt: Der Fall ist schon in der Voruntersuchung bekannt geworden.

 

Der Koffer.

Hierauf wird der Knecht Otto   R o s k e -   Ottenbüttel vernommen. Am 19. September habe er in Itzehoe das Gespann mit Grupen, seiner Frau und dem Dienstmädchen Kläschen gesehen. Als er um ½ 12 Uhr nachts nach Hause kam, habe er von der Kläschen den Zettel erhalten mit dem Auftrage der Frau Grupen, den im Schlafzimmer befindlichen Koffer mit schmutziger Wäsche zur Bahn zu schaffen. Grupen habe gesagt, der Koffer soll nicht fortgeschickt werden, wir hätten andere Beschäftigung. - Staatsanwalt: Ich stelle fest, daß der Angeklagte keinen Auftrag gegeben hat, den Koffer fortzuschaffen. - Vert. Dr. Ablaß: Der Koffer konnte nicht fortgeschafft werden, weil der Wagen, der die Kinder zur Schule brachte, zu klein war und für ein anderes Gespann andere Beschäftigung vorlag.

 

Ein   B e i s i t z e r   (zum Zeugen): Sie haben also den Koffer mit einem anderen Wagen nicht fortgeschafft, weil Sie hierzu keinen Auftrag von Grupen hatten? - Zeuge: Ja. - Ein Geschworener: Konnte Grupen das Pferd selbst ausspannen? - Angekl.: Ich bin allein imstande, die Gurte zu lösen. - Zeuge   R o s k e   bestätigt, daß Grupen die Pferde allein ausspannen könne.

 

Der Abschiedsbrief und die Kassette.

Dienstmädchen   G n i w a k o s k i   macht Bekundungen über das Auffinden des in der Toilette gefundenen   A b s c h i e d s b r i e f e s   der Frau Grupen an Frau Eckert. Auf dem zerknüllten Briefentwurf haben auch die Worte gestanden: „Liebe Dörte, sei stets gut zu Deiner Großmutter.“ Die Zeugin hat auch bei dem Oeffnen der Geldkassette durch Grupen mitgeholfen. Als die Kassette aufsprang. sei Grupen blaß gewesen, aber erst am nächste Tage habe er davon gesprochen, daß in der Kassette   6 0  0 0 0   M a r k   f e h l t e n .   Die Kläschen habe ihr erzählt, Grupen hätte ihr, als er vom Notar aus Itzehoe zurückkam, gesagt, seine Frau sei nach Amerika verschwunden. Aber früher schon habe Grupen zu Kläschen geäußert, seine Frau sei krank und würde nach Ansicht des Arztes   n u r   e i n   o d e r   z w e i   J a h r e   l e b e n .

 

Dienstmädchen   K l ä s c h e n :   Bei der Abfahrt nach Itzehoe am 19. September, dem Tage, an dem Frau Grupen verschwunden ist, sind die Eheleute fröhlich und vergnügt gewesen. Ich fuhr mit, um in Itzehoe ins Vereinshaus zu gehen. Dort sollte ich um 8 Uhr sein, und ich hätte noch Zeit gehabt, mit zum Bahnhof zu fahren.   F r a u   G r u p e n   h a t t e   e i n e n   Z e l t b a h n m a n t el   m i t .   Nachdem ich Grupen den in der Toilette gefundenen Zettel gegeben hatte, fuhr er mit dem aus der Kassette genommenen Kuvert zum Notar und bei seiner Rückkehr sagte er:   „ M e i n e   F r a u   i s t   w e g ,   i c h   b i n   f r e i ! “   - Vors.: Hatten die Eheleute manchmal Streit gehabt? - Zeugin: Ja, in der letzten Zeit. Einmal hat Grupen seine Frau „Frauenzimmer“ geschimpft, weil sie die Frau seines Bruders Wilhelm nicht grüßen wollte. - Vors.: Hat Frau Eckert nicht zu Frau Grupen gesagt: Mir ist so Angst, daß du reisest! - Zeugin: Ja, Frau Grupen sagte aber: habe keine Bange, ich komme bald wieder. Dau weißt ja,   d a ß   i c h   n i c h t   l a n g e   o h n e   m e i n e n   M a n n   l e b e n   k a n n . - Die Zeugin hat auch gehört, daß Grupen, als seine Frau einmal von einer längeren Reise sprach, sagte: Spukt Dir Amerika schon wieder im Kopf?

 

Zwischen den beiden Mädchen und dem Staatsanwalt entspinnt sich eine längere Aussprache darüber, ob sie nicht, wie sie früher bekundet haben, den Eindruck hatten, daß der Briefentwurf absichtlich auf die Toilette gelegt worden ist, damit er dort gefunden werden solle, und ob die Mädchen nicht   a b s i c h t l i c h   z u r   O e f f n u n g   d e r   K a s s e t t e   h i n z u g e z o g e n   worden sind, damit sie als Zeugen über den Inhalt der Kassette dienen könnten. Die Mädchen vermögen über die Eindrücke keine klare Auskunft zu geben. Beide wissen nicht, wer ihnen, als sie nachts mit Roske nach Hause zurückkehrten, das Tor aufgemacht hat. Die Kläschen bekundet, daß sie den Zettel am Sonntag, den 19. September,   v o r   d e r   A b f a h r t   der Frau Grupen gefunden hat, während sie früher erklärt hat, ihn erst am nächsten Tage, also am Montag, gefunden zu haben.

 

Kriminaloberwachtmeister   J a r c h o w -   Itzehoe bekundet: Die Kläschen habe bei ihrer ersten Vernehmung erklärt, sie habe den Eindruck gehabt, daß der zerknüllte Abschiedsbrief absichtlich so in der Toilette niedergelegt worden sei, um bald gefunden zu werden.

 

Pastor   T u s c h e -   Patschkau gibt Auskunft über den Charakter der kleinen   I r m g a r d   S c h a d e .   Irmgard habe ihm im Religionsunterricht stets Freude gemacht und er habe Veranlassung gehabt, sie vor anderen Kindern zu loben. Nicht ein einziges Mal habe er sie auf einer Lüge ertappt. Es habe ihn aufs tiefste empört, als er hörte, daß Irma als Lügnerin hingestellt werde.

 

Frau Grupens Glück.

D r .   M ü n z   aus Itzehoe: Zwischen Frau Grupen und ihren Kindern hat ein herzliches Verhältnis geherrscht. Frau Grupen ist eine gebildete, liebenswürdige Frau gewesen, die ihren Haushalt sehr in Ordnung gehalten hat und selbst schwere Arbeit nicht scheute. Sie hat sogar im Garten Bäume gefällt. Um ihre Kinder war sie sehr besorgt, besonders um die Ursel, die ein langaufgeschossenes, mageres, blutarmes Kind war. Die Kinder hingen mit gleicher Liebe an ihrer Mutter. Sie waren stets fröhlich und artig. Bei einem Besuch traf ich die damalige Frau Schade weinend an. Sie sagte mir: „Soeben habe ich ein Telegramm erhalten, daß mein Verlobter (Stabsveterinär Reske) an Influenza gestorben ist.“ Bei einem späteren Besuch empfing mich Frau Schade mit den Worten: „Sie sind Zeuge meines Unglücks gewesen; nun sollen Sie auch Zeuge meines Glücks sein - und stellte mir Grupen als ihren Verlobten vor. Anfangs wunderte ich mich darüber wegen des Mißverhältnisses der Jahre, aber ich hatte den Eindruck, daß sie aus Edelmut gehandelt hatte, weil Grupen im Kriege den einen Arm verloren hat. Ueber den Ruf, den Frau Grupen bei den Offizieren in Perleberg genossen haben soll, ist dem Zeugen damals nichts bekannt geworden. - Ich halte es für ganz ausgeschlossen, daß Frau Schade ihre Kinder länger als höchstens 14 Tage hätte verlassen können.

 

Vors.: Halten Sie es für möglich, daß Frau Schade das mit der Ursel gemacht hat, was hier behauptet worden ist. - Zeuge: Das möchte ich stark bezweifeln. Sie war eine lebhafte, aber edle Frau. - Vert. Dr. Ablaß. Halten Sie die Frau für fähig, die Tochter ihres Verlobten, die Ruth Reske, um ihr Vermögen zu bringen? - Zeuge: Nein.

 

Geheimrat Moll (zum Zeugen): Können Sie aus Ihrer Erfahrung bestätigen, daß Frauen, die in ihrem Liebesleben sehr temperamentvoll sind, doch brave Frauen und gute Mütter sein können? - Zeuge: Das möchte ich voll unterschreiben. Eine Frau kann heftig in ihren Liebesbeteuerungen, aber trotzdem reinen Herzens sein.

 

Vert. Dr. Mamroth: Können Sie aus Ihrer Erfahrung bestätigen, daß Männer zwischen 25 und 27 Jahren von gesunder Konstitution, und sinnlicher Veranlagung, vor denen sozusagen kein Mädchen sicher ist, doch recht brave und nützlich Mitglieder der menschlichen Gesellschaft sein können? - Zeuge: Das möchte ich nicht ohne weiteres unterschreiben. Wenn es sich um jüngere Männer unter 25 Jahren handelt, möchte ich auch diese Frage bejahen. Im allgemeinen sind die Männer ja polygam veranlagt.

 

Hierauf wurde die Sitzung auf Mittwoch Vormittag ½ 10 Uhr vertagt.

 

*

Die Sitzung am Mittwoch.

 

Die Schneiderin   E h l e r s -   Itzehoe kennt Frau Grupen seit Juni 1920. Sie hat für Frau Grupen ein Dirndlkleid angefertigt, Anfang September aus vier alten Kleidern neue angefertigt und ein Kostüm umgearbeitet, auch eine rote Bluse geliefert. Neue Stoffe hat sie zu den Kleidern nicht verarbeitet. - Staatsanwalt: Ich bitte, die Zeugin Frau Mohr zu befragen, wie sie zu ihrer Bekundung gekommen ist, Frau Grupen habe sich vor ihrem Verschwinden vier   n e u e   Kleider machen lassen. - Auf die entsprechende Frage des Vorsitzenden erklärt Zeugin   F r a u   M o h r :   Ich hatte Fräulein Ehlers so verstanden, daß sie neue Kostüme gearbeitet habe.

 

Die nächste Zeugin, Frau Luzie   H a f f n e r   macht Bekundungen über das Eheleben des Angeklagten. Zehn Tage, nachdem Grupen mit seiner Frau die Zeugin besucht hatte, wobei das Ehepaar einen zufriedenen Eindruck machte, hat die Zeugin in Itzehoe einen Gegenbesuch gemacht. Da ist sie furchtbar enttäuscht gewesen. Frau Grupen ärgerte sich schwer über die Unpünktlichkeit ihres Ehemannes. Sie hatte auch bei großen Unpünktlichkeiten Befürchtungen, daß ihm ein Unglück zugestoßen sein könnte. da er nur einen Arm hat. Grupen habe auch einmal nach Ottenbüttel fahren und sich dort erschießen wollen. Die Frau habe ihn deshalb in sein Zimmer eingeschlossen, Grupen aber habe die   T ü r   e i n g e s c h l a g e n .   Den   V o r f a l l   m i t   d e m   S c h r a n k   beim Umzuge nach Itzehoe stellt die Zeugin als harmlos dar: sie habe nicht den Eindruck gehabt, daß Grupen etwas Böses im Schilde führte.

 

Vors.: Hat Frau Grupen Ihnen erzählt, daß sie mit ihrem Mann eine nachträgliche Hochzeitsreise nach Amerika machen wolle, und zwar zu einem reichen Onkel des Angeklagten?

 

Zeugin: Ja. - Frl. Zahn: Der Angeklagte hat mir beim Besuch in Itzehoe erzählt, er habe ich Amerika einen sehr reichen Onkel, der ihn besonders im Erbe bevorzugt hätte. Der Angeklagte wollte spätestens im Juni 1921 abreisen. Seine Frau wollte er mitnehmen, und er fragte mich und Frl. Dörte, ob wir ihn begleiten wollten. Daß er mit seiner Frau nach Amerika fahren wolle, hielt ich für Ernst, die Aufforderung an Dörte und mich, ihn zu begleiten, für Spaß.

 

Zeugin   H a f f n e r :   Grupen hat in Ottenbüttel viel   a u f   V ö g e l   g e s c h o s s e n .   Die Ottenbüttler behaupten, Grupen habe seine Frau in einen Keller eingemauert.

 

Zeuge   B o o s -   Tempelhof, Bruder der Frau Eckert, sagt aus, er habe geglaubt, daß zwischen den Grupenschen Eheleuten ein gutes Einvernehmen herrsche. Frau Grupen habe ihren Mann sehr geliebt, der Angeklagte war ruhiger. Als ich hörte, Frau Grupen sei mit 70 000 Mark nach Amerika gegangen, sagte ich mir, daß mit tausend Dollar in Amerika nichts anzufangen sei und daß der Sachverhalt ein anderer sein müsse. Ich schrieb meiner Schwester, sie möchte alles tun, um das Verschwinden der Frau Grupen aufzuklären. Meine Schwester antwortet mir: „Peter besorgt alles.“ Es wundert mich auch, daß der Angeklagte, obwohl er die Ehescheidung beantragt hatte, verwandtschaftliche Besuche in Kleppelsdorf machte. Der   B r u d e r   des Angeklagte habe in Ottenbüttel auf ihn, den Zeugen, einen   u n h e i m l i c h e n   E i n d r u c k   gemacht, so daß der Zeuge annahm, Wilhelm Grupen wisse von der Tat in Kleppelsdorf mehr als sein Bruder Peter. - Ein Geschworener: Kann der Zeuge aussagen, welcher der beiden Brüder der willensstärkere ist? - Zeuge: Nein.

 

Auch dem Kindermädchen die Ehe versprochen.

Die Zeugin   G n i w a k o w s k y   wird auf ihren Wunsch nochmals vernommen, weil sie in ihrer gestrigen Aussage etwas vergessen habe. Das Verhältnis mit der Kläschen hatte der Angeklagte schon vor dem Verschwinden seiner Frau. Als Kläschen aber erfuhr, daß Grupen   a u c h   s e i n e m   K i n d e r m ä d c h e n   C h a r l o t t e   M ü l l e r   d i e   E h e   v e r s p r o c h e n   hatte, habe sie ihn zur Rede gestellt. Darauf sei es zu einer Auseinandersetzung zwischen Grupen und der Müller gekommen, wobei diese ihm um den Hals gefallen sei. Auch dies sei passiert, als Frau Grupen noch nicht weg war.

 

Staatsanwalt: Hat Grupen die Kläschen schon so behandelt, als wäre es sein Frau, sodaß Frau Grupen sich darüber geärgert hat? - Zeugin: Das weiß ich nicht.

 

Vors. (zum Angeklagten): Nun, was sagen Sie zu diesen Dingen? Von der Charlotte Müller haben wir bisher überhaupt noch nichts gehört.

 

Angekl.:   V o n   d i e s e n   V o r g ä n g e n   h a b e   i c h   n i c h t s   b e m e r k t .   (Heiterkeit bei den Zuhörern.)

 

Vert. Dr. Ablaß: Ist die Zeugin draußen im Flur von anderen Zeugen auf die jetzt bekundeten Vorgänge aufmerksam gemacht worden? Man kämpft hier anscheinend gegen dunkle Mächte. Vielleicht genügt es, daß ich an das Gewissen der Zeugin appeliere.

 

Vors.: Ich weiß nicht, wie wir Gespräche unter den Zeugen verhindern können. Ich bin aber bereit, die Zeugen darauf aufmerksam zu machen, daß sie möglichst wenig über diesen Fall untereinander sprechen. Von verschiedenen Zeugen liegen mir schriftliche Anträge vor, nochmals vernommen zu werden, weil sie glauben, etwas vergessen zu haben. Ich habe die Leute, da es sich um Unwesentliches handelte, beruhigen können: nur in einem Falle wird dem Antrage auf nochmalige Vernehmung stattgegeben.

 

Oberstaatsanwalt Reifenrath: Die Staatsanwaltschaft muß unter allen Umständen Wert darauf legen, daß jeder Zeuge, dem nachträglich etwas einfällt, dies uneingeschüchtert hier zur Kenntnis bringt. Es kommt nicht darauf an, den Täter aus der Schlinge zu ziehen, sondern ihn zu ermitteln und ihn zu überführen.

 

Vert. Dr. Ablaß: Auf der Verteidigerbank sitzen keine Menschen, die die Absicht haben, einen Angeklagten aus der Schlinge zu ziehen.

 

Vors.: Das nehme ich als ganz selbstverständlich an.

 

Vert. Dr. Mamroth: Es ist nicht die Aufgabe des Verfahrens, den Angeklagten zu überführen, sondern die Wahrheit festzustellen.

 

Vors. (zur Zeugin Kläschen): Was hat Ihnen der Angekl. erzählt, als er vom Notar aus Itzehoe kam? - Zeugin: Er sagte, seine Frau wäre weg. - Vors.: Hat er nicht gesagt: „Nun können wir heiraten?“ - Zeugin: Soviel ich weiß: nein!

 

Dann wird der Bruder des Angekl.   H e i n r i c h   G r u p e n   vernommen, der erklärt, von seinem Zeugnisverweigerungsrecht keinen Gebrauch machen zu wollen. Es wird ein Brief verlesen, den der Zeuge am 25. Oktober 1920 an den Angeklagten gesandt hat. In dem Briefe wird der Angeklagte von dem Zeugen aufgefordert, seinen Verpflichtungen gegenüber der Mutter nachzukommen, die er bei der Uebernahme des elterlichen Hauses übernommen hat. Ueber den Inhalt des Briefes selbst wird der Zeuge am Nachmittag ausführlich vernommen werden.

 

Frau Grupen und Herr Schultz.

Der nächste Zeuge ist Herr   v .   T o b o l t ,   Direktor der landwirtschaftlichen Schule in Perleberg. Er gehörte mit zu einem Freundeskreis, zu dem auch der Apothekenbesitzer Schade und dessen Frau, die spätere Frau Grupen, gehörte. Als 1911 Herr Schade auf der Jagd  tödlich verunglückt war, nahm sich der Fabrikbesitzer   S c h u l t z,   der auch mit zu diesem Freundeskreis gehörte, der Frau Schade an. Er führte ihr die Bücher und stand ihr bei, doch gewann er ihr Vertrauen offenbar mehr, als erlaubt war. Die andern Herrschaften brachen infolgedessen den Verkehr mit Frau Schade und Herrn Schultz ab, dem auch nahegelegt war,   a u s   d e r   L o g e   a u s z u t r e t e n .   Bald darauf zog Frau Schade nach Berlin und Herr Schultz mit seiner Frau nach Frankfurt a. M. Ob Frau Schade mit Herrn Schultz eine Reise unternommen hat, weiß der Zeuge nicht. Nach seiner Kenntnis ist das Verhältnis zwischen der Frau Schade und Herrn Schultz   e r s t   n a c h   d e m   T o d e   d e s   H e r r n   S c h a d e   e n t s t a n d e n .

 

Frau Zahntechniker   S t u b b e   aus Itzehoe war Nachbarin von Grupen. Sie war der Ansicht, daß die Ehe zwischen dem Angeklagten und seiner Frau anfangs sehr glücklich war. Frau Grupen hielt offenbar viel von ihrem Manne, dem sie auch viel zu Gefallen getan hat. Ob das auch von seitens des Angeklagten der Fall war, weiß die Zeugin nicht anzugeben. Frau Grupen war sehr fleißig, sie hat gearbeitet wie ein Mann. Die Familie zog viel um, sodaß es sehr viel Arbeit gab.

 

Frl.   W e s t e r m a n n   aus Itzehoe hatte den Eindruck, daß die ihr gut bekannte Frau Eckert stark inter dem Einfluß des Angeklagten stand. Bei Grupen war ein furchtbar unruhiger Haushalt durch die vielen Umzüge. Der Zeugin ist der Angeklagte unheimlich vorgekommen, doch kann sie für diese Ansicht keine bestimmte Begründung angeben. Als Frau Grupen verschwunden war, hatte die Zeugin gleich Verdacht gegen den Angeklagten. Als sie später nach der Kleppelsdorfer Sache diesen Verdacht gegen Frau Eckert äußerte, sagte diese: warum haben Sie das nicht früher gesagt! Die Umzüge erschienen der Zeugin mitunter wenig begründet, so der letzte Umzug von Itzehoe nach Ottenbüttel.

 

Frau Margarete   D i s t e l   aus Rostock bei Kellinghusen war eine gute Freundin der Frau Grupen, die sie als tüchtige Hausfrau und gute Mutter schilderte. Sie hatte die Empfindung, daß die beiden Eheleute nicht ui einander paßten. Bei einem Besuch der Zeugin benahm sich der Angeklagte auch nicht passend, er widersprach fortgesetzt seiner Frau, als wenn er sie reizen wollte. 

 

Von einer Amerikareise hat Frau Grupen nie gesprochen, im Gegenteil hatte sie erklärt, sie ließe sich Kleider machen, da sie im Winter 1921/22 in Gesellschaft gehen wollte. Eine dramatische Begabung hatte Frau Grupen, das zeigte sie bei ihren Vorträgen, aber von ihrer Absicht zur Bühne zu gehen, ist der Zeugin nichts bekannt. Frau Grupen liebte Schmuck und trug alle Tage ihre wertvollen Ringe.

 

Die Zeugin hält es für unmöglich, daß Frau Grupen ihren Kindern etwas Unanständiges zugemutet hätte. Frau Grupen soll eine edle Frau gewesen sein.

 

Zeuge Heinrich   S c h m i d t -   Ottenbüttel: Grupen war mein Nachbar. Er sagte mir, er könne mal mein Schwiegersohn werden. Da habe ich ihm geantwortet: „Dazu gehört erstens die Ehescheidung von Ihrer Frau, zweitens die Zuneigung meiner Tochter, drittens Klarheit über Ihre Gegenwart und Zukunft.“ - Vors.: „Da haben Sie ihm die richtige Antwort gegeben.“ - Zeuge (fortfahrend): Grupen hat mir später im Vertrauen gesagt, daß seine Frau im Auslande sei; er hätte sie schon gesucht, aber nicht gefunden. Das Geld, das die Frau mitgenommen habe, könne er verschmerzen. Frau Grupen, mit der ich viel verkehrt habe, kann ich nichts Schlimmes nachsagen. Aber auch der Angeklagte ist in Ottenbüttel gut beleumundet. - Staatsanwalt: Haben Sie nicht bei der polizeilichen Vernehmung erklärt, Grupen sei in sittlicher Beziehung nicht einwandsfrei und habe bei jeder Gelegenheit Frauenzimmer um sich? - Zeuge bestreitet, dies gesagt zu haben.

 

Bei Frau   R e r h ä u s e r   in Hamburg hat der Angeklagte gewohnt. Er sagte dort, daß er sich reich verheiraten wolle, und im Dezember teilte er mit, daß seine Frau nach Amerika gegangen sei. Die Zeugin hat ihm gegenüber gleich zum Ausdruck gebracht, sie könne es nicht glauben, daß Frau Grupen, von der sie die beste Meinung hatte, ihre Kinder verlasse.

 

Was Grupen für Geschäfte machte.

Frau   W o l g a r t -   Hamburg, eine frühere Verlobte des Angeklagten: Grupen hatte ein unruhiges Leben. Heute wollt er dies, morgen das. Einmal wollte er ein   L u f t s c h a u k e l g e s c h ä f t   errichten. Zu diesem Zweck hatte er sich mit der Hand in der Uhr (Uhr in der Hand) vor eine Luftschaukel gestellt, um festzustellen, wieviel der Besitzer in zwei Minuten einnehme. Auch einen   M i t t a g s t i s c h   wollte er anfangen. Er kaufte   a l t e   R ä d e r   durch Zeitungsinserate und verkaufte sie wieder. Von der Kleiderverwertungsstelle bezog er   K l e i d e r   und veräußerte sie ebenfalls. Er sagte, er wolle den   D o k t o r   m a c h e n   und eine   V i l l a   k a u f e n .

 

Vors.: Hatte er denn die Mittel dazu? - Zeugin: Er sagte, er bekäme   E r w e r b s l o s e n u n t e r s t ü t z u n g   und habe bei den Eltern ein Sparkassenbuch über 2000 Mk. Auch ein   P f e r d e g e s c h ä f t   hat er einmal gemacht, und als ihm sein Vater sagte, daß man dabei leicht hereinfallen könne, antwortete er: Da müßte ich nicht Peter Grupen heißen. Einen   R e v o l v e r   hatte er in der Schublade verwahrt. - Staatsanwalt: Wie kam denn der Angeklagte zu den Kleidern aus der Kleiderverwertungsstelle. das muß doch ein unlauteres Geschäft gewesen sein?

 

Zeugin: Unter falschen Angaben   u n d   m i t   S c h o k o l a d e   hat er in der Kleiderverwertungsstelle von der Verkäuferin bekommen, was man sonst nur gegen Bezugsschein erhält. Eines Tages überraschte er mich durch die Mitteilung, daß er sich mit Frau Schade verlobt hätte. Da habe ich ihm den Ring zurückgegeben, und da er ihn nicht annehmen wollte, den Rind in die Tasche von seines Vaters Mantel gesteckt.

 

Vors.: Hatte er nicht einen   e i g e n e n   M a n t e l ? -   Zeugin:   N e i n ,   er kam im Mantel seines Vaters. Seinen eigenen Mantel hatte er im Pfandhaus   v e r s e t z t .   - Staatsanwalt: Die Verlobung mit Ihnen machte er also im Paletot des Vater. - Zeugin: Ja. - Vors.: Also als Sie noch seine Verlobte waren, teilte Ihnen Grupen mit, daß er sich mit Frau Schade verlobt habe? - Zeugin: Ja, er sagte mir, das Verhältnis mit Frau Schade sei nicht ohne Folgen geblieben. Er müsse die Dame heiraten. Und ich solle zurückstehen. Er wollte monatlich eine Entschädigung für die Anschaffungen zahlen, die ich in Erwartung der Heirat gemacht hatte, ich erhielt aber nur einmal 100 Mark. Nach einigen Monaten telephonierte er mich an, und sagte, ich solle noch zu ihm halten, denn seine Frau sei krank und   w ü r d e   n i c h t   l a n g e   l e b e n .

 

Vors. (zum Angeklagten): Bestätigt es sich, daß Sie mit Frau Schade sich verlobten, während Sie mit der Zeugin noch verlobt waren? - Angekl.: Darüber will ich keine Angaben machen. - Vors.: Wollen Sie nicht der Wahrheit die Ehre geben und den Grund sagen, warum Sie sich mit Frau Schade verlobten? - Angekl.: Im Interesse der Zeugin und im Interesse meiner Frau gebe ich darüber keine Erklärung ab.

 

Der von der Verteidigung geladene Zeuge Karl   F r i t z l a r   soll darüber Auskunft geben, ob Frau Eckert zu ihm gesagt habe, Grupen sei unschuldig an dem Kleppelsdorfer Morde. Eher halte es Frau Eckert für möglich, daß ihn bei dem Verschwinden seiner Frau eine Schuld treffe. - Zeuge: Darauf kann ich mich nicht entsinne.

 

Hierauf tritt die Mittagspause bis ½ 4 Uhr ein. 

 

 

 

Freitag, den 16. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

 

Der Revolver.

Hirschberg, 15. Dezember

 

Die Zeugenvernehmung ist auch am Mittwoch noch nicht zu Ende geführt worden. Zunächst wurde noch weiter über das Verschwinden der Frau Grupen und allerhand Geschäfte verhandelt. Am späteren Abend wurde der Bruder des Angeklagten, Wilhelm Grupen, vernommen und über die angebliche Entwendung der Selbstladepistole durch die kleine Ursula Klarheit zu schaffen versucht. Die Aussagen der beiden Brüder, des Angeklagten und des Zeugen, gingen dabei nicht unwesentlich auseinander. Man entsinnt sich, daß der Angeklagte kurz vor der Abreise nach Kleppelsdorf seinem Bruder, während die kleine Ursel dabei stand, den Mechanismus der Waffe erklärt haben und den Revolver dann in eine unverschlossene Schublade seines Schreibtisches gelegt haben will. Später, so hatte der Angeklagte weiter bekundet, sei er mit seinem Bruder in das Zimmer zurückgekehrt und da habe die kleine Ursel am Schreibtisch gestanden. Wilhelm Grupen dagegen erklärte gestern,   a l l e i n   in das Zimmer zurückgekehrt zu sein und das   K i n d   m i t   d e r   W a f f e   i n   d e r   H a n d   getroffen zu haben. Er habe der Ursel die Waffe abgenommen und sie dabei ernstlich verwarnt. Demgegenüber blieb der Angeklagte dabei, mit im Zimmer gewesen zu sein und den Revolver nicht in der Hand des Kindes gesehen zu haben.

 

In der Nachmittagssitzung am Mittwoch wurde die Beweisaufnahme mit der Vernehmung des Kriminal-Oberwachtmeisters   J a r c h o w -   Hamburg fortgesetzt. Der Zeuge hat sich an den Nachforschungen nach Frau Grupen beteiligt und festgestellt, daß für Frau Grupen Pässe oder sonstige Auswandererpapiere nirgends ausgefertigt worden sind. Die Auswanderung nach Nordamerika ist noch heute sehr schwierig, und auch Auswanderer nach Südamerika unterliegen einer sehr strengen Kontrolle. Der Zeuge hält es für ausgeschlossen, daß Frau Grupen auf normale Weise nach Amerika gekommen ist.

 

Zerbrochene Ringe.

Den Verkauf der Ringe von Frau Grupen hat der Angeklagte dem Zeugen anfangs verschwiegen, dann aber zugegeben, daß er sie einem Goldarbeiter, von dem er 5000 Mk. geliehen hatte, für 1000 Mk. Restschuld verkauft habe.   Z w e i   R i n g e   w a r e n   z e r b r o c h e n ,   so daß der Verdacht bestand, die Ringe wären   g e w a l t s a m   v o m   F i n g e r   g e z o g e n   worden. Nach dieser Richtung konnten Feststellungen nicht getroffen werden.

 

Kriminal-Oberwachtmeister   G i e s e -   Itzehoe: Frau Grupen hat sich laut Meldeamtsregister am 18. September 1920   n a c h   L ü b e c k   abgemeldet. Es konnte nicht ermittelt werden, ob sie die Abmeldung   s e l b s t   vollzogen hat. In Lübeck ist Frau Grupen   n i c h t   angemeldet worden. Die Möglichkeit, daß Frau Grupen mit einem gefälschten Paß nach Amerika gelangt ist, kann nicht von der Hand gewiesen werden, eine Wahrscheinlichkeit  liegt aber nicht vor. Nach dem Verschwinden der Frau Grupen hat Zeuge zunächst Ermittelungen bei Frau Mohr angestellt, die über den Angeklagten sehr günstig urteilte, bezüglich der Frau aber behauptete, daß sie sittlich nicht einwandsfrei sei. Der Gemeindevorsteher von Ottenbüttel hat über beide Eheleute günstig geurteilt.

 

Vorsitzender: Die Einzigen, die ungünstig über Frau Grupen geurteilt haben, waren also die Mohrs? - Zeuge: Jawohl.

 

Verteidiger Dr. Ablaß: Ist irgend etwas darüber festgestellt worden, ob sich der Angeklagte jemals mit   H y p n o s e   beschäftigt hat? - Zeuge: Darüber wurde nichts ermittelt, es hat niemand etwas davon bemerkt.

 

Frau   S u d e n -   Hamburg, eine 76jährige Frau: Grupen hat mit meinem Neffen in einem Hamburger Lazarett gelegen und hat um die Hand meiner Nichte Bertha angehalten, der Vater war aber damit nicht einverstanden; Grupen sollte erst auf der Baugewerkschule sein Examen ablegen, und das Mädchen wäre auch noch zu jung. Nach vier Jahren, im November 1920, kam Grupen wieder zu uns. Wir hatten in der Zwischenzeit, und auch aus der Zeitung, gehört, daß Grupen mehrer Male verlobt war. Als er zu uns kam, sagte er zu mir: Seine Frau sei tot, die beiden Kinder gingen wieder zurück zur Familie, und er sei jetzt ein freier Mann, hätte auch so viel verdient, daß er nicht mehr zu arbeiten brauche. Grupen fragte nach meiner Nichte Bertha und verlangte wiederholt das Mädchen zu sprechen, was ich aber nicht zugab, er solle wiederkommen oder schreiben.

 

„Ich kann ohne Dich nicht leben!“

Frau Wilhelmine   K r u s e -   Haseldorf: Ich war mit Grupen verlobt und habe ihn viel mit Lebensmitteln unterstützt. Da Grupen mit einem anderen Mädchen ein Verhältnis anknüpfte, hob ich die Verlobung auf. Als ich mit meinem jetzigen Mann verlobt war, kam Grupen nach Haseldorf geradelt und traf mich auf der Straße. Er fragte mich, ob ich Verkehr habe. Ich sagte, daß ich mit Kruse, meinem jetzigen Mann verkehre. Da erwiderte er: „Den bekommst Du nicht. Du machst mich unglücklich, ohne Dich kann ich nicht leben“, zog einen   R e v o l v e r   und setzte ihn mir auf die Brust. Ich dachte, er wollte mich erschießen, siel ihm um den Hals und sagte aus Angst, daß ich wieder mit ihm verkehren wolle. Grupen verlangte, daß wir alle Wochen zusammen kämen; er würde für mich sorgen, ich solle nur in Stellung gehen, besonders nach Berlin, denn ich müßte mehr gebildet werden. Ich verkehrte aber nicht mit ihm, denn ich hatte Angst vor ihm und wollte auch Kruse treu bleiben. Grupen hat auch gewollt, daß ich   m e i n e   A u s s t e u e r   nach seiner Wohnung schaffe, auch fragte er   n a c h   m e i n e m   S p a r k a s s e n b u c h .   Da ich nicht mit ihm zusammen kam, schrieb er mir einen Brief, der meinen Mann veranlaßte, der Sache ein Ende zu machen. Ich gab Grupen seine Geschenke zurück, und mein Mann legte noch 60 Mk. dazu, und dann hat   G r u p e n   d i e   G e s c h e n k e   s e i n e r   n ä c h s t e n   B r a u t   g e s c h e n k t .   (Heiterkeit, auch bei Grupen.) Grupen besuchte uns darauf und versprach meinem Manne in die Hand, daß er von mir lassen wolle.

 

Angeklagter: Ich bitte die Zeugin zu fragen, ob es richtig ist, daß ich ihr bei Stellenwechsel und zur Bestreitung anderer Ausgaben Mittel gegeben habe. - Zeugin: Das ist richtig.

 

Zeuge Peter   K r u s e ,   der Ehemann der Zeugin, macht im Wesentlichen dieselbe Aussage. Die 60 Mk. waren für Grupens Auslagen für eine Bluse, Theater, Bahnfahrt etc. Grupen habe ihm gesagt, seine Braut könne jeden anderen heiraten, nur ihn, den Zeugen, nicht.

 

Der Staatsanwalt stellt fest, daß der Angeklagte bisher das Vorkommnis mit dem Revolver bestritten hat, es jetzt aber zugibt.

 

Dr.   B e i e r -   Lähn: Am Tage nach dem Morde hat mir Frau Eckert die Mitteilung von dem Verschwinden der Frau Grupen gemacht. Sie hat erst geglaubt, ihre Tochter sei nach Kleppelsdorf gefahren, dann habe ihr Grupen gesagt: nach Amerika, auf Grund eines Briefes, den sie aber nicht gelesen habe. Ich sagte zur Frau Eckert: „Wie konnten Sie sich, als Sie von dem Verschwinden Ihrer Tochter erfuhren, so ohne weiteres mit der Nachricht Ihres Schwiegersohnes zufrieden geben? Sie hätten doch selbst Nachforschungen anstellen sollen.“ Frau Eckert erklärte mir darauf, ihr Schwiegersohn hätte durch einen Hamburger Detektiv festgestellt, daß seine Frau auf ein Schiff gegangen und nach Amerika gefahren sei, und daß es ihr gut gehe. Frau Eckert erzählte, weiter ihr Schwiegersohn hätte ihr häßliche Briefe und Photographien von seiner Frau gezeigt, worauf sie ausgerufen habe: „Wenn das alles wahr ist, dann habe ich keine Tochter mehr!“

 

Sachverständiger Professor   M o l l :   Sind es die Bilder, von denen behauptet wird, sie wären   d u r c h s   S c h l ü s s e l l o c h   aufgenommen worden? - Angeklagter: Es sind die Bilder, die ich im kleinen Schreibtisch meiner Frau vorgefunden habe.

 

Zeuge (fortfahrend): Grupen hat sich nach Frau Eckerts Aussage   s c h l e c h t   ü b e r   D o r o t h e a   R o h r b e c k   geäußert und gesagt, es sei ein ganz verdorbenes Mädchen, die Liebschaften mit Offizieren habe. Ich hatte das Gefühl, daß Grupen Frau Eckert von ihrer Tochter und der Enkelin abbringen wollte. Die Offiziere, die mit Kleppelsdorf verkehrten, haben Dorothea immer als Kind behandelt. Von Grupen ist Dörte im Anfang sehr eingenommen gewesen, weil er in Hamburg sehr liebenswürdig gewesen sei, dann aber ist er ihr sehr unsympathisch geworden, besonders nachdem sie gehört hatte, daß er sich dem Vormund als Kronzeuge zur Verfügung gestellt hatte. Grupen habe unsaubere Hände und unsaubere Wäsche gehabt. Er renommierte mit seinem großen Architekturbüro in Hamburg, mit seiner Villa usw. Grupen hat Frl. Zahn Dörte gegenüber auf der Hamburger Fahrt schlecht zu machen gesucht, worüber diese sehr empört war, da Frl. Zahn ja der einzige Mensch sei, der es gut zu ihr meine; Grupen sagte auch zu ihr, daß Frl. Zahn   i h m   einen Heiratsantrag gemacht habe. Als ich mich, so sagte Dörte, darauf empört in eine andere Ecke des Abteils setzte, machte er   m i r   einen Heiratsantrag. Sie erzählte mir auch, sagt der Zeuge weiter, von ihrer Furcht nach der Alsterfahrt, wegen der Kognakflasche und war überzeugt, daß Grupen ihr nach dem Leben trachtete.

 

Verteidiger Dr. Ablaß: Ist Frau Eckert, als sie mit Ihnen am Tage nach dem Morde sprach, dabei geblieben, daß   G r u p e n   n i c h t   a u s   d e m   Z i m m e r   gegangen sei? - Zeuge: Jawohl. Dörte schilderte mir auch, wie Grupen immer mit dem Gelde herumgeworfen habe.

 

Angeklagter: Ich weise es zurück, daß ich Dörte Rohrbeck in der hier bekundeten Weise schlecht gemacht haben soll. - Der Zeuge bleibt dabei, daß sich Frau Eckert in diesem Sinne zu ihm geäußert habe. - Verteidiger Dr. Ablaß: Kann das nicht auf Aeußerungen des Vormundes zurückzuführen sein. - Zeuge: Das weiß ich nicht.

 

Das Verhalten der Frau Eckert.

Frau   D r .   B e i e r   bekundet: Frau Eckert hat gesagt: „Wenn ich wüßte, daß meine Tochter tot ist, würde   i c h   G r u p e n   f a l l e n   l a s s e n . “   Sie bedauerte Grupen sehr, der   „ a r m e   P e t e r “   war ihr geradezu die Hauptsache. Als mein Mann sagte: „Aber die Dörte ist doch tot und die Ursel“, sagte Frau Eckert: „Ach, die Dörte hat mich nie gemocht!“ Ich hatte den Eindruck, als meinte Frau Eckert, sie könne, wenn sie erst wisse, daß ihre Tochter tot sei, dann kein Mitleid mehr mit Grupen haben. Am Abend des 15. Februar, als man zu Tisch ging, fragte Frau Eckert, ob die Herren vom Gericht auch bei Tisch seien. Als ich bejahte, sagte Frau Grupen:   „ A c h ,   d a n n   m u ß   i c h   s e h e n ,   d a ß   i c h   m i r   n i c h t s   m e r k e n   l a s s e . “   Mir ist ferner aufgefallen: als ich ins Zimmer trat, hatte Frl.   M o h r   die   I r m g a r d   auf dem Schoß, und als ich diese fragte, ob sie nicht doch wüßte, daß Grupen das Zimmer verlassen habe, sagte die Mohr: „Grupen hat das Zimmer nicht verlassen,   n i c h t   w a h r ,   I r m a ? “   Und immer wieder bei meinen Fragen nahm die Mohr das Wort   v o r   Irma, und einmal   s c h ü t t e l t e   sie sogar das Kind, um es zu einer Antwort zu bringen. Auch hat die Mohr von dem Augenblick, als Grupen verhaftet war, gegen Frl.   Z a h n   Stellung genommen, sie auch nicht mehr gegrüßt, auch mich nicht, wohl, weil ich den Kindern etwas nahe stand. Dörte hat mir erzählt, sie hatte den Eindruck, als wäre die Hamburger Reise gar nicht nötig gewesen, und als bei der Großmutter erzählt wurde, die Tante sei in ein Sanatorium, da hätten beide wohl ein bischen geweint, aber dann war alles wieder wie sonst, und sie seien gar nicht traurig gewesen. Dörte sagte auch, es sei ihr alles vorgekommen wie Theater.

 

Verteidiger Dr. Ablaß: Hat Frau Eckert am 15. Februar gesagt, sie wisse ganz genau, daß Grupen das Zimmer nicht verlassen habe? - Zeugin: Ja.

 

Die 24 Jahre alte   H a r t j e ,   die bei dem Angeklagten in Stellung war, hat von ihm eine   g o l d e n e   A r m b a n d u h r   geschenkt erhalten, die sie noch besitzt. - Der Angeklagte gibt zu, daß es die Uhr seiner Frau sei.

 

Verteidiger Dr. Ablaß: Hat Grupen Ihnen einmal einen Brief an Herrn Boos vorgelesen, worin Frau Eckert schrieb, sie habe nur noch Aerger auf der Welt; hier wie in Kleppelsdorf, das beste sei, sie nehme sich das Leben! - Zeugin: Ich glaube, nein. - Der Angeklagte richtet verschiedene Fragen an die Zeugin, ob sie sich an dies oder das erinnere, doch kann diese nichts Bestimmtes sagen.

 

Verteidiger Dr. Mamroth: Erinnern Sie sich, daß der Angeklagte Sie einmal gebeten, sich der Ursula anzunehmen, weil diese immer so traurig sei. - Vors.: War denn Ursula traurig? - Zeugin: Jawohl, aber auch wieder sehr vergnügt. Ich dachte anfänglich, sie sei traurig wegen

des Verschwindens der Mutter, was sich dann abschwächte.

 

Auf eine Frage von Geheimrat   L e s s e r   nach dem Schulbesuch der Kinder sagt die Zeugin, daß alle drei Kinder anfänglich nicht in die Schule gegangen seien, sie sollten aber dann einen Hauslehrer erhalten, und inzwischen besuchten sie die Dorfschule.

 

Ueber Holland.

Zeugin   H a r t j e :   Grupen kam Anfang Oktober (am 19. September verschwand Frau Grupen) zu meinem Vater und sagte, daß seine Frau tot sei, ich solle ihm den Haushalt führen. Grupen erzählte mir dann, daß seine Frau ihm mit einem Offizier ausgerückt sei, und zwar   ü b e r   H o l l a n d   nach Amerika, wo sie an Syphilis gestorben sei.

 

Vors.: So schnell soll das gegangen sein? - Zeugin: Grupen sagte mir, daran könne man in ein paar Tagen sterben. Eine Sterbeurkunde könne er nicht beschaffen, denn sie sei in Amerika unter falschem Namen aufgetreten.

 

Angekl.: Meine Frau kannte in Holland eine Frau Seifenfabrikant   D r a l l e .   - Verteidiger Dr. Mamroth: Der Angeklagte hat nur von der Möglichkeit gesprochen, daß seine Frau über Holland gefahren sei. - Vors.: Der Angeklagte hat hiervon aber noch gar nichts erwähnt. Haben Sie sich nach Ihrer Frau in Holland erkundigt? - Angekl.: Ich nicht, aber Frau Neugebauer. - Er gibt im Uebrigen zu, daß es stimmen könne, was die Zeugin gesagt hat.

 

Die Uhren und Ringe der Frau Grupen.

Auf die Frage eines Geschworenen nach den Uhren der Frau Grupen sagt der Angeklagte: Meine Frau hatte zwei goldene Armbanduhren und eine Nickeluhr.

 

Frau Eckert, die wieder in den Saal gerufen wird: Meine Tochter hatte meines Wissens   n u r   e i n e   goldene Armbanduhr, die sie auf Reisen wohl immer trug. Ob auch am Tage der Abreise, kann ich nicht sagen.

 

Es folgt eine weitere Auseinandersetzung über die   R i n g e   und die   P e l z s a c h e n   der Frau Grupen, die später als versetzt bei Pfandleihern aufgefunden wurden. Insbesondere verdichtet sich das Interesse um den   M a n t el   und den   P e l z k r a g e n ,   den Frau Grupen mit auf dem Wagen hatte, den sie aber angeblich im Wagen zurückgelassen hat. Der Angeklagte behauptet zuerst, die Gegenstände in seinen Schrank getan zu haben, zieht aber dann diese Aussage   h a l b   z u r ü c k .

 

Vors.: Angeklagter, Sie müssen die Wahrheit sagen, Sie können auch die Aussage ablehnen; wenn Sie aber widersprechende Aussagen machen, müssen Sie darauf gefaßt sein, daß die entsprechenden Schlüsse gezogen werden.

 

Beim Pfandleiher.

Pfandleiher   L a n g e -   Hamburg: Im März 1920 kam der Angeklagte, den ich vorher nicht kannte, das erste Mal zu mir. Er brachte Schmucksachen mit Brillanten zur Beleihung. Ich taxierte die Sachen auf 6000 Mark. Der Angeklagte war damit einverstanden und nahm Pfandschein und Geld. - Vors.: Hat er gesagt, daß er die Brillanten im Auftrage seiner Frau verpfände? - Zeuge: Nein. Später versetzte er bei mir einen Regenmantel und einen Pelzkragen, am 6. Dezember eine Menge Silber für 2300 Mark. - Vors.: Ist der Angeklagte vorher bei Ihnen gewesen wegen der Pfandscheine über die Brillanten? Er behauptet nämlich, seine Frau hätte die Pfandscheine mitgenommen, weshalb er die Pfänder sperren lassen wollte. - Zeuge: Nein. - Vors.: Hat der Angeklagte das Silber nur deshalb bei Ihnen gelassen, weil er die Absicht hatte, es in einer Bank zu deponieren, die aber geschlossen gewesen sei? - Zeuge: Das glaube ich nicht.

 

Angekl.: Ich habe damals bei dem Silber zum Ausdruck gebracht, daß es in den nächsten Tagen wieder abgeholt werden würde. Am Gelde konnte mir nichts lieben, denn ich hatte damals Geld genug.

 

Staatsanwalt (zum Zeugen): Davon ist keine Rede, daß Sie ihm das Geld für das Silber aufgedrängt hätten? - Zeuge: Nein. - Angekl.: Die Pfandscheine habe ich, nachdem ich sie vergeblich gesucht hatte, in meinem Schreibtisch vorgefunden. Ich habe sie kurz vor meiner letzten Reise nach Kleppelsdorf meinem Bruder übergeben. - Staatsanwalt: In der Voruntersuchung hat der Angeklagte die Auskunft über die Pfandscheine verweigert. - Angekl.: Weil ich das Versetzen nicht gern eingestehen wollte. Als mein Bruder die Pfandscheine der Staatsanwaltschaft ausgehändigt hatte, habe ich mich darüber nicht mehr ausgeschwiegen.

 

Frau Grupens Vermögen.

Rechtsanwalt und Notar   R e i n i c k e -   Itzehoe äußert sich über das von Frau Grupen hinterlassene Vermögen. Die Pfandscheine über die Brillanten und das Silber habe er eingelöst, der Pelzkragen und der Regenmantel waren verfallen. Aus dem in Ottenbüttel verkauften Mobiliar und der Wäsche der Frau Grupen wurden 29 000 Mark gelöst. Die Hypotheken gehörten nicht mehr der Frau Grupen, denn die hatte sie an den Angeklagten abgetreten. Ueber das Vermögen der Frau Eckert kann Zeuge näheres nicht angeben. - Staatsanwalt: Die von Frau Grupen gemieteten   S t a h l f ä c h e r   waren   l e e r !   - Vors. (zum Angeklagten): Was haben Sie in die Ehe eingebracht? - Angekl.: Nur meine persönlichen Sachen und die Sachen meines Vaters.

 

Uhrmacher August   H e i n e -   Hamburg: Ich habe den Angeklagten kennen gelernt, als er in Hamburg die Baugewerkschule besuchte. Er war aus das angewiesen, was er von seinem Vater bekam. Ich habe ihm damals öfter ausgeholfen, einmal mit 500 Mk., die er zur ersten Zahlung auf eine Lebensversicherung brauchte. Das war Weihnachten 1919, kurz vor seiner Verheiratung mit Frau Schade. Dann habe ich ihm 2000 Mk. geliehen, die er wie die früheren Darlehen zurückzahlte. Vier oder fünf Monate nach seiner Verheiratung lieh er sich 4000 Mk. Darauf brachte er mir drei goldne Ringe und einen Platinring. Zwei Ringe waren zerbrochen. Er sagte, ich solle die Ringe reparieren, er wolle sie einer Dame schenken, weil seine Frau nach Amerika verschwunden sei. Nach einiger Zeit kam er wieder und sagte, ich solle die Ringe behalten für die tausend Mark, die er mir von den 4000 Mark noch schuldete.

 

Vors.: Angeklagter, wozu brauchten Sie vor Weihnachten die 4000 Mark? Sie hatten sich doch am 24. Dezember 1920 bei der Perleberger Kreditbank gegen Verpfändung einer Hypothek für 25 000 Mark laufenden Kredit verschafft? - Angekl.: Die 4000 Mark brauchte ich zu geschäftlichen Besorgungen. - Vorsitzender: Was waren dies für geschäftliche Besorgungen? - Angekl.: Das kann ich heute nicht mehr sagen. - Der Zeuge bejaht die Frage des Staatsanwalts, ob die zerbrochenen Ringe nur durch große Gewalt entzwei gegangen sein können.

 

Zeuge Bautechniker   H a d j e   ist von dem Angeklagten angenommen worden, der angab, ein Baubüro zu haben oder errichten zu wollen. In Wirklichkeit hatte er aber kein Baubüro, sondern er hat nur einige Häuser gekauft, ausgebaut und dann weiterverkauft. Da der Zeuge im Baufach fast nichts zu tun hatte, führte er auch haus- und landwirtschaftliche Arbeiten aus. Sein Gehalt als Bautechniker hat er regelmäßig erhalten. - Vors.. Wie kommt das: Sie haben doch ebenso wie der Angeklagte die Baugewerkschule besucht und nennen sich nur Bautechniker, während der Angeklagte sich als Architekt bezeichnet? - Zeuge: Das weiß ich nicht. - Staatsanwalt: Haben Sie sich denn nicht gewundert, wovon der Angeklagte eigentlich lebt? - Zeuge: Ja, das war mir ein Rätsel.

 

Amtsgerichtsrat   L e m m e -   Kellinghusen berichtet als Grundbuchrichter über die Grundstückskäufe und -verkäufe, die die frühere Frau Schade in Rostock vorgenommen hat. Sie hat dort zwei Grundstücke gekauft und mit einigem Gewinn verkauft.

 

Wilhelm Grupen,

der Bruder des Angeklagten, wird als Zeuge aufgerufen. - Verteidiger Dr. Mamroth bittet, daß er sich zunächst einmal gegen die Geschworenen wendet, weil ein Zeuge oder eine Zeugin erklärt habe, Wilhelm Grupen habe ein unheimliches, stechendes Auge. - Der Zeuge berichtet zunächst über die Vermögensverhältnisse seines Bruders. Als dieser vom Militär entlassen wurde, dann die Baugewerksschule besuchte und auf der Vulkanwerft tätig war, hatte er kein Vermögen. Während der Schulzeit wurde er von mir mit Lebensmitteln und kleineren Geldbeträgen unterstützt. Als er die Schule verließ, bezog er Erwerbslosenunterstützung. Dann erzählte mir der Angeklagte, daß er einige gewinnbringende Geschäfte gemacht habe. Auch bei dem Verkauf des elterlichen Grundstücks wird er 17 bis 20 000 Mark verdient haben. Schließlich hat der Zeuge auch mit dem Angeklagten und noch mehreren Teilnehmern verschiedene Grundstücksgeschäfte gemacht, bei denen Gewinne erzielt worden sind. Bei den unsicheren Angaben des Zeugen ist es trotz aller Bemühungen schwer, über die einzelnen Geschäfte Klarheit zu bekommen. Tatsache ist aber, daß der Angeklagte als er im Gefängnis saß, dem Bruder eine Hypothek von 78 000 Mark überschreiben ließ. Früher hatte der Zeuge behauptet, daß er tatsächlich Forderungen in dieser Höhe an seinen Bruder hatte. Heute gibt er an, daß er nach sorgfältiger Ueberlegung doch zu der Erkenntnis gekommen sei, daß seine Forderung bei weitem nicht so hoch war. - Vors.: Warum mag Ihnen wohl Ihr Bruder die Hypothek übertragen haben? - Zeuge: Das weiß ich nicht. - Vors.: Ich weiß es auch nicht! (Heiterkeit.)

 

Vors.: Ihr Bruder hat Ihnen dann auch Generalvollmacht erteilt. Warum wohl? - Zeuge: Das ist mir auch aufgefallen. - Angekl.: Die Generalvollmacht habe ich meinem Bruder erteilt, weil wir gemeinsame Geschäfte machten und ich wegen meines Armes öfters leidend war und ich mich einer Operation unterziehen wollte. Da sollte mich mein Bruder vertreten.

 

Vors.: Als Ihr Bruder nach Kleppelsdorf fuhr, hat er Ihnen einen Brief übergeben. Was war in dem Briefe? - Zeuge: Drei Pfandscheine, die ich dann dem Gericht eingeschickt habe.

 

Der Revolver.

W i l h e l m   G r u p e n   sagt weiter aus: Als ich vor der Abreise meines Bruders nach Kleppelsdorf in Ottenbüttel war, übergab er mir einen Revolver zu meiner Sicherheit, das das Gehöft einsam liegt. - Vors.: Wie hat Ihnen der Angeklagte den  Revolver übergeben? - Zeuge: Er hat mir die Handhabung des Revolvers erklärt. - Vors.: War der Revolver geladen? - Zeuge: Ich kann nicht sagen, daß der Revolver geladen war, ich kann aber auch nicht sagen, daß er nicht geladen war. Bei der Handhabung des Revolvers war ich behilflich. Ich kannte aber die Handhabung des Revolvers nicht.

 

Vors.: Als alter Soldat kannten Sie sich mit dem Revolver nicht aus,   u n d   d i e   k l e i n e   U r s u l a   s o l l t e   e s   v e r s t e h e n ?   - Zeuge: Ich habe den Revolver dann nicht mehr in der Hand gehabt. - Vors.: Was hat der Angeklagte gemacht? - Zeuge zeigt vor, wie der Sicherungsflügel herumgedreht wird. - Vors.: Waren Patronen in dem Revolver? - Zeuge: Das weiß ich nicht. - Vors.: Aber Sie sollten doch den Revolver benutzen. - Zeuge: Ich hatte keine Angst und glaubte, ich würde ihn nicht nötig haben. - Vors.: Haben Sie die Erklärung des Angeklagten verstanden? - Zeuge: Nachdem ich jetzt das Ding wieder sehe, verstehe ich es.

 

Staatsanw.: Hat der Bruder geladen oder nicht? - Zeuge: Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er geladen war oder nicht. - Staatsanw.: Hat der Bruder die Waffe gespannt? - Zeuge: Das weiß ich nicht, da ich mit dem Dinge nicht umzugehen verstehe. - Vors.: Ja, aber hätten Sie dann damit schießen können? - Zeuge: Ja, ich glaube doch.

 

Ein Geschworener: In diesen Angaben des Zeugen liegt doch ein   W i d e r s p r u c h .   - Vert. Dr. Mamroth: Ein Widerspruch ist hier nicht enthalten. - Zeuge: Ich wollte abends den Revolver noch einmal nachsehen. - Staatsanw.: War die Waffe   g e s i c h e r t ? -   Zeuge: Das weiß ich nicht.

 

Vert. Dr. Ablaß: Ist es richtig, daß der Angeklagte zu Ihnen gesagt hat: „Wir sind hier auf einem einsamen Hofe, und deshalb habe ich mir die Waffe zu unserem Schutze angeschafft?“ - Zeuge: Ja. - Vert. Dr. Ablaß: Hätten Sie sich die Waffe später angesehen? - Zeuge: Ja. Vert. Dr. Mamroth: Hätten Sie   d a m a l s   die Waffe gebrauchen können, und kennen nur heute, weil inzwischen lange Zeit vergangen ist, die Handhabung nicht mehr erklären? - Zeuge: Ja. - Vert.: Hätten Sie   d a m a l s   sofort schießen können? - Zeuge: In dem Augenblick, als mir die Waffe erklärt wurde, wußte ich damit umzugehen. - Staatsanw.: Weshalb wollten Sie sich dann die Waffe noch einmal abends ansehen? - Zeuge gibt keine Antwort.

 

Der   S t a a t s a n w a l t   beantragt nun, den Zeugen zu beauftragen,   d e n   R e v o l v e r   m i t   s c h a r f e n   P a t r o n e n   z u   l a d e n   u n d   z u   s i c h e r n .   - Vors.: Daß hier im Saale mit scharfen Patronen geladen wird, gestatte ich nicht. - Vert. Dr. Mamroth: Ich beantrage die Ablehnung, da damit nichts bewiesen wird. - Vors.: An sich wäre die Sache schon wichtig, da doch die kleine   U r s u l a   n u r   d a b e i   g e s t a n d e n   h a t   u n d   s c h o n   d e n   M e c h a n i s m u s   b e g r i f f e n   h a b e n   s o l l ?   - Vert. Dr. Mamroth: Die Ursula soll ja dann den Revolver auch selbst in der Hand gehabt haben. - Vors. (zum Angekl.): Wie war der Revolver? - Angekl.: Er war schußfertig, nur der Sicherungsflügel war herumzulegen.

 

Staatsanw.: Da der Zeuge behauptet, daß er heute noch nicht ohne Schwierigkeiten laden und sichern kann, beantrage ich, daß er dies hier vormacht.

 

Der   G e r i c h t s h o f   zieht sich zur   B e r a t u n g   zurück und verkündet dann den Beschluß, daß dem Antrag des Staatsanwalts stattgegeben wird. Der Zeuge zeigt dann die Handhabung des Ladens, Spannens, Sicherns und Entsicherns, was ihm auch gelingt. Der Staatsanwalt beantragt, morgen dieses Experiment mit Exerzierpatronen zu wiederholen, da das Sichern und Spannen mit Patronen schwieriger sei als ohne Patronen. (Grupen zeigt hierbei eine lächelnde Miene.)

 

Vors.: Was geschah nun mit dem Revolver? - Zeuge: Der Angeklagte legte ihn in das Schubfach des Schreibtisches zurück. - Vors.:   W a r   U r s u l a   d a b e i ?   - Zeuge:   J a .   U r s u l a   s t a n d   r e c h t s   v o n   u n s   u n d   g u c k t e   z u .   - Vors.: Hat sie die Manipulationen gesehen, die mit dem Revolver vorgenommen wurden? - Zeuge: Ja. - Vors.: Wurde das Schubfach, in das der Revolver gelegt wurde, verschlossen? - Zeuge: Das weiß ich nicht, ich glaube nicht. - Vors. (zum Angekl.): Wie war es? - Angekl.: Wahrscheinlich nicht, denn ich habe das Schubfach   f ü r   m e i n e n   B r u d e r   o f f e n   g e l a s s e n .  

 

Vors.: Was geschah weiter? - Zeuge: Ich ging hinaus und kam nochmals in das Zimmer.   D a   s t a n d   U r s u l a   a m   S c h r e i b t i s c h   u  n d   h a t t e   d e n   R e v o l v e r   i n   d e r  H a n d .   I c h   n a h m   i h r   d e n   R e v o l v e r   w e g   u n d   v e r w a r n t e   s i e .   - Vors.: Der Revolver war doch geladen? - Zeuge: Ich weiß nicht, ob er geladen war. - Vors.: Und dann? - Zeuge: Habe ich den Revolver wieder in das Schubfach gelegt. - Vors.: Haben Sie dann wenigstens das Fach verschlossen? - Zeuge: Nein, es ging nicht zu verschließen. - Vors.: War das nicht eine sehr große Unvorsichtigkeit, den Revolver wieder in das unverschlossene Fach zu legen, nachdem Sie gesehen hatten, daß ihn das Kind in der Hand gehabt hat? - Zeuge: Ich habe mir später auch Vorwürfe deshalb gemacht. Ich habe auch das Kind verwarnt.

 

Vors.:   D e r   A n g e k l a g t e   b e h a u p t e t ,   Sie seien zusammen in das Zimmer gekommen, und Ursula habe   n u r   a m   S c h r e i b t i s c h   g e s t a n d e n ,   a b e r   d i e   W a f f e   n i c h t   i n   d e r   H a n d   g e h a b t . - Zeuge: Nein, ich war allein im Zimmer mit der Ursula. - Vors. (zum Angeklagten): Wie war es? - Angekl.: Ich bin auch heute noch der Ansicht, daß wir zusammen in das Zimmer gekommen sind und Ursula die Waffe nicht in der Hand hatte. - Zeuge:   N e i n ,   U r s u l a   h a t t e   d i e   W a f f e   i n   d e r   H a n d .   Es ist aber möglich, daß   d e r   A n g e k l a g t e   h i n t e r   m i r   i n s   Z i m m e r   g e k o m m e n   i s t .   - Staatsanwalt: Haben Sie dann wenigstens nachgesehen, ob die Waffe geladen war oder nicht? - Zeuge: Nein, wir haben uns dann später aber große Vorwürfe deshalb gemacht.

 

Verteidiger Dr. Marmroth: Haben Sie vielleicht deshalb von weitere Vorsichtsmaßnahmen abgesehen, weil Sie annahmen, daß Grupen mit seiner Familie bald abreise? - Zeuge: Ja, der Vorfall war   w e n i g e   S t u n d e n   v o r   d e r   A b r e i s e .   - Vors.: Konnten Sie denn nicht den Revolver in ein anderes Fach legen? - Zeuge: Nein, die anderen Fächer waren verschlossen, weil mein Bruder seine Sachen darin hatte.

 

Verteidiger Dr. Mamroth: Wann haben Sie dann bemerkt, daß der Revolver nicht mehr da war? - Zeuge: Abends, da ich zu Bett ging. - Staatsanwalt: Nachdem Sie am Nachmittag den Revolver in der Hand des Kindes gesehen und abends sein Fehlen feststellten, haben Sie dann nicht wenigstens   s o f o r t   n a c h   K l e p p e l s d o r f   g e s c h r i e b e n ,   damit kein Unheil geschieht? - Zeuge:   N e i n ,   darüber habe ich mir auch Vorwürfe gemacht. Aber mein Bruder wollte in ein paar Tagen zurückkommen. - Vors.:   I n z w i s c h e n   k o n n t e   i n   K l e p p e l s d o r f   a l l e s   t o t g e s c h o s s e n   s e i n . 

 

Verteidiger Dr. Ablaß beantragt nun, durch den Angeklagten vorführen zu lassen, ob er mit einem Arm den Sicherungsflügel herumlegen kann. Grupen tritt aus der Anklagebank und zeigt dem Gerichtshof und den Geschworenen, daß er dies mir Leichtigkeit ausführen kann.

 

Ein Geschworener: Der Zeuge weiß nicht, ob der Revolver geladen war, und der Angeklagte hat behauptet, daß er einen Rahmen mit Patronen in den Revolver gesteckt hat. - Angekl.: Ja. Das habe ich mit Hilfe meines Bruders getan. - Ein Geschworener: Kann der Angeklagte mit einer Hand die Patronen einführen? - Ein anderer Geschworener: Hat der Zeuge die Patronen eingeführt? - Zeuge: Jawohl, ich bin dabei behilflich gewesen. - Vors. (zum Zeugen): Vorhin wußten Sie nicht, was Ihr Bruder mit dem Revolver gemacht hat, und jetzt sagen Sie: Ich habe die Patronen mit hineingetan. - Ein Geschworener: Wenn der Zeuge jetzt weiß, daß Patronen in den Revolver getan wurden, weiß er dann nicht, ob er geladen war? - Zeuge: Jetzt entsinne ich mich, daß wir Patronen hineingetan haben. - Geschworener: Und daß er geladen war? - Zeuge: Dessen erinnere ich mich nicht.

 

Verteidiger Dr. Ablaß: Und daß der Revolver gespannt war? - Dem Zeugen wird das Spannen vorgemacht. - Zeuge: So viel ich mich erinnere, hat dies mein Bruder gemacht.

 

Die weitere Vernehmung des Zeugen wird dann auf Donnerstag früh ½ 10 Uhr vertagt.

 

*

Die Sitzung am Donnerstag.

Im Gerichtssaal ist heute die weiße Leinwand aufgespannt, auf der die bei der Leichenschau aufgenommenen   L i c h t b i l d e r   vorgeführt werden sollen.

 

Wilhelm Grupen,

der Bruder des Angeklagtem wird weiter vernommen. Der Zeuge hat im Ermittelungsverfahren erklärt, sein Bruder habe ihm 5000 Mark aus dem Erlös des väterlichen Hauses versprochen. Heute bestreitet er dies. Ueber das Verschwinden der Frau Grupen hat ihm sein Bruder nähere Umstände nicht mitgeteilt.

 

Geheimrat   M o l l :   Haben Sie einmal in Ottenbüttel in dem Zimmer geschlafen, in dem die Kinder Grupens schliefen? - Zeuge: Ja, auf der Chaiselongue. - Geheimrat   M o l l :   Der Angeklagte hat gestern behauptet, sein Bruder habe nicht im Zimmer der Kinder geschlafen.

 

Vors. (zum Zeugen): War Ursula bei der Erklärung des Revolvers zufällig da, oder hatte sie der Angeklagte gerufen? Zeuge: Ursula war schon vorher am Schreibtisch. -   I r m a   S c h a d e   behauptet, Wilhelm Grupen habe neben den Kindern im Bett geschlafen, auf das Liegesofa ist Ursula gebettet worden. - Zeugin   H a t j e   bestätigt diese Aussage. - Vors. (zum Zeugen): Sie haben gehört, daß Ihre Aussage im Widerspruch steht mit der Bekundung der kleinen Irma und der eidlichen Aussage des Frl. Hatje. - Zeuge: Ich bitte Frl.   M o h r   darüber zu vernehmen, daß ich auf der Chaiselongue geschlafen habe.

 

Vert. Dr. Mamroth: Ich weiß nicht, was diese Feststellung mit dem Prozeß zu tun hat. - Vors.: Zur Feststellung der Glaubwürdigkeit des Zeugen.

 

Heinrich Grupen,

des Angeklagten zweiter Bruder, ist nach dem Verschwinden der Frau Grupen mit seinem Bruder nicht mehr zusammengekommen, er kann daher keine Angaben über Frau Grupens Verschwinden machen. Er gibt zu, im März 1920 dem Angeklagten einen energischen Brief geschrieben zu haben, in dem er ihn an seine der Mutter und den Geschwistern gegenüber übernommenen Verpflichtungen erinnert, nachdem er das väterliche Haus verkauft hatte. Peter solle die Mutter nicht um die saueren Groschen bringen. Der Zeuge bekundet, sein Bruder habe ihm und den Geschwistern je 5000 Mark Abfindung aus dem Verkauf des väterlichen Hauses versprochen, außerdem wollte er der Mutter freie Wohnung gewähren und 60 Mk. monatlich zahlen. - Der Zeuge wird, ebenso wie sein Bruder Wilhelm, nicht vereidigt.

 

Grundstücksgeschäfte.

Der nächste Zeuge, Heinrich   M a a ß   aus Mehlbeck, ist mit dem Angeklagten im Frühjahr 1920 durch einen Makler in Beziehungen gekommen. Grupen hat vom Bruder des Zeugen ein Grundstück in Ottenbüttel gekauft. Der Kaufpreis von 78 900 Mark wurde durch Uebernahme von Hypotheken in Höhe von 37 000 Markt gelegt, für den Rest, soweit er nicht hypothekarisch eingetragen wurde, lieferte Grupen Vieh. Durch Vermittelung Grupens kaufte der Bruder des Zeugen auch eine Brandstelle in Itzehoe, auch wurde ein Grundstückstausch getätigt. Der Zeuge meint, daß Grupen bei den Grundstücksgeschäften nicht viel verdient habe. Bei einer Hypothekenvermittelung in Altona, an der sich auch Wilhelm Grupen beteiligte, habe Grupen etwa 6000 Mark verdient. Auf ein Haus in Altona hat der Zeuge vom Angeklagten eine Hypothek von 5000 Mark bekommen.

 

Vors.: Haben Sie mit dem Angeklagten nicht einmal über den   A n k a u f   v o n   K l e p p e l s d o r f   gesprochen. - Zeuge: Ja, ich habe mit Frau Eckert darüber gesprochen, die sagte, das Gut gehe wirtschaftlich zurück. Bei einer späteren Unterredung mit Grupen habe dieser gesagt, es wäre das beste, wenn Kleppelsdorf verkauft würde. Ich war bereit, mit Kleppelsdorf anzusehen, wollte aber nur als Vermittler auftreten.

 

Angekl.: Ich habe verschiedene Male über diesen Punkt mit dem Zeugen gesprochen und gesagt, daß der Vormund den Verkauf von Kleppelsdorf beabsichtigte; von einem Ankauf ist nicht die Rede gewesen. - Staatsanw.: Wie kommt der Angeklagte dazu, den Verkauf von Kleppelsdorf, der nie in Frage kam, zum Gegenstand von Besprechungen mit dem Zeugen zu machen? - Angekl.: Ich … …, daß der Vormund verschiedentlich mit dem Verkauf von Kleppelsdorf gedroht hat. - Staatsanwalt:   J a ,   g e d r o h t !

 

Als nächste Zeugen sollen zwei von der Staatsanwaltschaft geladene Einwohner von Mehrbeck vernommen werden. - Vert. Dr. Ablaß widerspricht der sofortigen Vernehmung dieser Zeugen unter Berufung auf § 245, Absatz 2 der Strafprozeßordnung, welcher lautet:

 

„Ist ein zu vernehmender Zeuge oder Sachverständiger dem Gegner des Antragstellers so spät namhaft gemacht, oder eine zu beweisende Tatsache so spät vorgebracht worden, daß es dem Gegner an der zur Einziehung von Erkundigungen erforderlichen Zeit gefehlt hat, so kann derselbe bis zum Schlusse der Beweisaufnahme   d i e   A u s s e t z u n g   d e r   H a u p t v e r h a n d l u n g   zum Zwecke der Erkundigung beantragen.“

 

Vors. (zu den Verteidigern): Bis wann wird die Vertagung beantragt? - Vert. Dr. Mamroth: Unsere Erkundigungen über die Zeugen können vierzehn Tage dauern. - Vors.: Die Erkundigungen können ja telegraphisch eingeholt werden. Der Vernehmung der Zeugen kann die Verteidigung übrigens nicht widersprechen, sie kann aber die Aussetzung der Hauptverhandlung beantragen. - Staatsanw.: Ich bitte, den Verteidigern Gelegenheit zu Erkundigungen bis zum Plädoyer zu geben und die Zeugen am Schlusse der Beweisaufnahme zu hören. - Vert. Dr. Ablaß: Wie lange unsere Erkundigungen dauern sollen, kann uns der Staatsanwalt nicht vorschreiben. - Staatsanwalt: Das Gericht hat über den Antrag der Verteidigung nach   f r e i e m   E r m e s s e n   zu entscheiden. Auf die beiden Zeugen   v e r z i c h t e   i c h   u n t e r    k e i n e n   U m s t ä n d e n .

 

Nach etwa einviertelstündiger Beratung des Gerichtshofes verkündet der Vorsitzende folgenden   B e s c h l u ß :

 

Der   A n t r a g   a u f   A u s s e t z u n g   d e r   H a u p t v e r h a n d l u n g   w i r d   a b g e l e h n t ,   weil es nach Lage der Sache irgendwelcher Erkundigungen nicht bedarf. Gegen die beiden Zeugen liegen keine Tatsachen vor, die Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit begründen könnten. Außerdem ist der Zeuge Maaß zugegen, der sich sofort auf die Bekundungen der Zeugen erklären kann.

 

Die Verteidiger verzichten auf das Angebot des Staatsanwalts, die von ihm vorgeschlagenen Zeugen nicht sofort zu vernehmen. Es wird daher Lehrer Johannes   W i t t m a k   aus Mehlbeck als Zeuge aufgerufen. Er gibt Auskunft über ein mit dem Zeugen Maaß geführtes Wirtshausgespräch, bei dem Maaß gesagt hat, er werde bald mal in einem größeren Unternehmen nach der Lausitz fahren. Von dem Kauf eines Gutes, das einem Mädchen gehört, habe Maaß nichts gesagt.

 

Kaufmann Jakob   W i c h :   Als mir der Kleppelsdorfer Mord bekannt wurde, fragte ich Maaß, ob Kleppelsdorf das Gut sei, das er kaufen wollte. Maaß hat dies bejaht.

 

Alsdann werden die zur Beurteilung vor

 

Grupens Charakter

 

geladenen Zeugen vernommen.

 

Gemüsehändler   H a a s e -   Altona kennt den Angeklagten von der Schulzeit her. Er behauptet, Grupen habe ihn bei der Vermittlung des von ihm, dem Zeugen, gekauften Grundstücks um 20 000 Mark betrogen. Der Kaufpreis sei auf 126 000 Mark festgesetzt gewesen, nachher stellte es sich aber heraus, daß Grupen auf das Haus eine Hypothek von 20 000 hatte eintragen lassen.

 

Vert. Dr. Ablaß: Der Kaufpreis betrug in Wirklichkeit 146 000 Mark. 126 000 Mark wurden im notariellen Kaufpreisvertrag nur genannt, um Stempelkosten zu sparen. - Zeuge: Soviel ich weiß, ist davon nicht die Rede gewesen. - Staatsanwalt: Sie glaubten, das Haus für 126 000 Mk. gekauft zu haben, mußten aber 146 000 Mk. zahlen. - Zeuge: Ja.

 

Gerichtssekretär Albert   L a m p e -   Altona: Nach dem Kaufvertrag ist das Grundstück für 126 000 Mk. verkauft worden. Grupen hat sich eine Hypothek über 20 000 Mk. eintragen lassen, von der Haase nichts wußte. Wenn Haase gewußt hätte, daß das Grundstück 146 000 Mk. kostete, hätte er es nicht gekauft. Ich habe den Eindruck, daß Grupen den Haase um 20 000 Mk. betrogen hat.

 

Klempnermeister Johannes   H o m a n n -   Ottenbüttel hat um Hause der Frau Eckert und der Frau Schade, später auch für Grupen gearbeitet. Ueber dessen Vermögensverhältnisse kann er nur angeben, daß Grupen seine Forderungen, bei denen es sich um kleinere Summen im Gesamtbetrage von 1000 bis 1200 Mk. handelte, stets prompt bezahlt hat. Grupen reiste sehr viel, woraus Zeuge schloß, daß er viele Geschäfte mache.

 

Verteidiger Dr. Mamroth: Erinnern Sie sich, daß der Angeklagte kurz vor dem Verschwinden der Frau Grupen eine Badeeinrichtung für sie bestellte, mit dem Bemerken, er wolle seiner Frau eine Freude machen? - Zeuge: Ja, er wollte die Badeeinrichtung haben, hat sie aber, nachdem die Frau verschwunden war, abbestellt.

 

Vors.: Ist der Ausbau des Hauses in Ottenbüttel vor dem Umzug der Familie Grupen nach Ottenbüttel erfolgt oder nachher? - Zeuge: Vorher.

 

Die weiteren Zeugen sagen teils ungünstig für Grupen aus, indem wieder seine „Geschäftstüchtigkeit“ erwiesen wird, teils günstig, indem sie seine Strebsamkeit und seinen Fleiß im Beruf und in der Baugewerkschule anerkennen.

 

Dann tritt die Mittagspause ein.

 

 

 

Sonnabend, den 17. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Der Mord von Kleppelsdorf.

 

Gutachten der Sachverständigen.

 

Hirschberg, 16. Dezember.

 

Die Hoffnung, noch in dieser Woche zum Schluß zu kommen, ist zu Schanden geworden. Man hatte geglaubt, am Donnerstag noch die Sachverständigen hören zu können, dann den Freitag zur Vorbereitung für die Plaidoyers freilassen, den Sonnabend dem Staatsanwalt und den Verteidigern einzuräumen und in der Nacht zur Urteilsfällung kommen zu können. Die Vernehmung der letzten Zeugen zog sich jedoch länger hin, als erwartet worden war, und so wird es wohl Freitag Abend werden, ehe sämtliche Gutachten erstattet worden sind. Der Sonnabend soll dann sitzungsfrei bleiben. Donnerstag in später Abendstunde entspann sich darüber eine längere Aussprache. Justizrat Mamroth und Geheimrat Moll, die nur mit einer zehntägigen Verhandlung gerechnet und andere Verpflichtungen haben, drängten auf Fortführung der Verhandlung, der Staatsanwalt aber beanspruchte für die Sichtung des gewaltigen Materials einen vollen Tag. Das Gericht erkannte diesen Wunsch als berechtigt an, und so wird es wohl Montag Abend werden, ehe die Geschworenen sich zurückziehen können.

 

Die Donnerstag und Freitag zunächst vernommenen Schreibsachverständigen, der bekannte Gerichtschemiker Dr. Jeserich und Professor Schneidemühl lassen keinen Zweifel darüber, daß nach ihrer festesten Ueberzeugung sowohl der Großmutti-Brief Ursels, in dem sich die Ursula als Täterin hinzustellen scheint, als auch die Abschiedsbriefe der Frau Schade echt sind, das heißt von der Hand Ursels und der verschwundenen Frau geschrieben sind.

 

Die Donnerstag-Nachmittagssitzung eröffnete der Vors. mit der Mittelung, daß soeben ein Telegramm der Polizeiverwaltung in Itzehoe eingegangen sei, wonach ein in Itzehoe wohnender Kolporteur gesehen haben will, wie Grupen seine Frau zwei Tage vor ihrem Verschwinden geschlagen und gewürgt habe. Das Gericht hat beschlossen, den Zeugen Sonnabend zu laden. Dann wird in der Vernehmung der

 

Leumundszeugen

 

fortgefahren.

 

Kunstgewerbeschullehrer   S p r e n g e r -   Hamburg hat von Grupen einen guten Eindruck gewonnen, ebenso von Frau Grupen, die ihm zu einem Besuch in Itzehoe eingeladen hatte.

 

Strafanstaltsinspektor   T s c h e n t k e -  Hirschberg: Der Angeklagte hat sich nach seiner Einlieferung in das Untersuchungsgefängnis ruhig und zuversichtlich benommen. Bei Gesprächen über die Tat, der er beschuldigt wird, hat Grupen stets seine Unschuld beteuert. Verbotener Mittel, sich mit der Außenwelt in Verbindung zu setzen, hat er nicht angewendet. Alle Gefängnisbeamten sind mir seinem Verhalten zufrieden gewesen. - Verteidiger Dr. Ablaß: Haben Sie die Ueberzeugung, daß Sie es bei dem Angeklagten mit einem Menschen zu tun haben, dem die Tat zuzutrauen ist? - Zeuge: Mich hierüber zu äußern, fühle ich mich nicht berufen. - Ein Geschworener: Haben Sie gehört, ob der Angeklagte mit seinem Bruder in der Sprechzeit Plattdeutsch gesprochen hat? - Zeuge: Ja, er hat Plattdeutsch gepsrochen, aber in einer Ausdrucksweise, die wir unbedingt verstehen konnten.

 

Strafanstalts-Oberwachtmeister   F u r c h e -   Hirschberg macht über das Verhalten Grupens in der Untersuchungshaft die gleichen Aussagen wie der Vorzeuge. Grupen habe sich den Beamten gegenüber zuvorkommend und bescheiden gezeigt. Zeuge habe mit Grupen in seiner Zelle über seine Jugend und Heimat gesprochen. Das sei Grupen manchmal so nahe gegangen, daß er weinte. - Vorsitzender: Der Angeklagte hat geweint, tun das andere Gefangene nicht auch? - Zeuge: Ja. Wenn ich Grupen sagte, er solle, falls er sich schuldig fühle, so vernünftig sein und seine Schuld zugeben, beteuerte er jedes Mal seine Unschuld. - Ueber die Besuche der Brüder Grupens im Gefängnis befragt, erklärte der Zeuge, daß er aus Menschlichkeit die Brüder über Nacht in seiner Wohnung aufgenommen habe, weil sie schlecht Unterkommen finden konnten. - Vorsitzender (erstaunt): Den Bruder eines unter schweren Verdacht stehenden Untersuchungsgefangenen haben Sie als Justizbeamter über Nacht bei sich behalten? Das ist doch recht eigenartig! Kennen Sie die Stütze Mohr? - Zeuge: Ich kenne sie nur von ihrem Aufenthalt als Zeugin im Gerichtsgebäude. - Ein Geschworener: Hat irgendein Mitglied der Familie Mohr in dem Hause, in dem Sie wohnen, Unterkunft gefunden? - Zeuge: Nein.

 

Steuerpraktikant   L a n g e -   Itzehoe hat den Angeklagten bei der Erledigung von Steuerangelegenheiten kennen gelernt; es waren Steuererklärungen der Frau Eckert und der Frau Schade zu berichtigen. Er hat ihm nach dem Verschwinden seiner Frau den Rat gegeben, die bekannte Geldkassette durch einen Schlag gegen den Boden zu öffnen. Die Mitteilung Grupens, daß seine Frau nach Amerika gegangen sei, hat der Zeuge wegen der strengen Paßkontrolle nicht geglaubt.

 

Staatsanwalt: Ueber Grupens Vermögensstand bitte ich, den Zeugen später als Sachverständigen zu hören. Nach meinen Feststellungen betrug das Vermögen, über das der Angeklagte als Generalbevollmächtigter seiner Schwiegermutter und seiner Frau verfügte und einschließlich seines eigenen Vermögens, am Tage nach seiner Verhaftung etwa 110 000 Mk. - Angeklagter: Ich werde nachweisen, daß ich über eine Viertelmillion verfüge und nichts vom Vermögen meiner Frau und meiner Schwiegermutter verschleudert habe.

 

Landgerichtsrat   D u b i e l   wird nochmals über den vom Angeklagten aus dem Gefängnis an seine Schwiegermutter zu Händen des Bankiers Guldacker in Itzehoe geschriebenen Brief vernommen. Der Zeuge erinnert sich, daß Grupen in diesem Briefe mit Gefängnis gedroht habe, wenn sie über Wäsche, die zu seinem Haushalt gehöre, verfüge. Er, der Zeuge, hatte aber nicht den Eindruck, daß Grupen mit diesem Briefe seine Schwiegermutter bestimmen wollte, zu seinen Gunsten auszusagen. - Angeklagter: Ich habe vom Gefängnis aus meinen Verwandten gegenüber zum Ausdruck gebracht, wenn sie mich nicht richtig anreden wollen, sollten sie das Briefschreiben lieber unterlassen.

 

Frau   E c k e r t   muß nun Angaben über den

 

Entwicklungsgang der kleinen Ursula

 

machen. Das Kind sei einige Wochen zu früh geboren worden. Es sei von Jugend auf lieb und gut und für alles sehr besorgt gewesen. Schon als Schülerin habe Ursula sehr auf Ordnung gehalten. In Itzehoe und Ottenbüttel sei sie öfters traurig gewesen und habe bei Tisch zu weinen angefangen.

 

Marie Mohr

wird darauf eingehend über Zahl und Inhalt der auf die Reise mitgenommenen Koffer vernommen. Ihre Aussagen sind sehr leise, oft gar nicht zu verstehen, und unsicher. Danach waren es ein großer und zwei kleine Koffer. Von den letzteren gehörte einer Herrn Grupen, einer Frau Eckert. In dem einen waren Lebensmittel für die Reise, und dieser Koffer ist auch geöffnet worden, die Zeugin hat hineingesehen, hat aber   w e d e r   R e v o l v e r   n o c h   P a t r o n e n   darin gesehen, was sie, wie sie zugibt, hätte sehen müssen, wenn sie darin gewesen wären. (Anfänglich sagt die Zeugin, auf die Frage des Vorsitzenden, sie   w i s s e   n i c h t ,   ob sie die Waffe hätte sehen müssen, wenn sie darin gewesen wäre.)

 

Verteidiger Dr. Ablaß: Ist es richtig, daß Sie jetzt mit jemand anderem versprochen sind? - Marie Mohr: Ja. - Die Zeugin will insbesondere nicht wissen, wer die Koffer gepackt hat. Auch auf die Frage, wer die Koffer vom Bahnhof nach dem Schlosse getragen und wo sie hingeschafft worden sind, gibt die Zeugin nur unsichere Auskunft.

 

Untersuchungsrichter   D u b i e l   gibt auf Veranlassung des Staatsanwalts Auskunft über das Verhalten der Zeugin bei ihrer Auskunft über das Verhalten der Zeugin bei ihrer Auskunft über gewisse bedenkliche Situationen. Auf seine frage, ob sie denn gar kein Schamgefühl habe, sagt sie: Nein! Später hat sie aber gesagt: Doch, ich habe mich geschämt.

 

Marie   M o h r   wird dann nochmals (im Nacheid) vereidigt, nach wiederholter dringender Ermahnung des Vorsitzenden.

 

Margarete   H a t j e   meldet sich zu einer Ergänzung ihrer Aussage. Grupen hat ihr gesagt, daß Dorothea ihm mehrere Heiratsanträge gemacht habe, er habe sie aber nicht gemocht. Ueber   W i l h e l m   G r u p e n   sagt die Zeugin, daß er früher, als er bei ihrem Vater Maurerpolier war, ein tadelloser Arbeiter war, dann aber einen weniger guten Ruf hatte, weil er immer mit dem Bruder Peter Geschäfte gemacht hatte und weil er viel Geld ausgab und nächtliche Feste feierte.

 

Vorsitzender: Kann diese Zeugin nun entlassen werden. - Staatsanwalt: Ich entlasse keinen Zeugen mehr.

 

Kommissarische Zeugenvernehmungen.

Es werden nun Aussagen von Zeugen verlesen, welche wegen Krankheit oder aus anderen Gründen nicht zur Verhandlung kommen konnten.

 

Frau Studienrat   B r o o k -   Itzehoe bekundete bei ihrer kommissarischen Vernehmung u. a.: Nach der Mitteilung einer Lyzeallehrerin, bei der Ursula Schade in den Unterricht ging, habe Ursula in der Religionsstunde einmal das Wort „Hypnose“ erwähnt. Ruth Reske oder Irma Schade sollen, wie Frau Eckert erzählte, einmal gesehen haben, wie Grupen über dem Bett Ursulas   s t r e i c h e l n d e   B e w e g u n g e n   machte.

 

Professor   D r .   H e i t m a n n -   Hamburg hat vor dem Hamburger Amtsgericht folgendes erklärt: Grupen war auf der Baugewerkschule ein fleißiger, vorwärtsstrebender Schüler, der die Abgangsprüfung mit „gut“ bestanden hat. Ueber seinen Lebenswandel ist mir nicht sbekannt. Was Grupen auf der Baugewerkschule gelernt hat, reicht nicht auf, daß der Angeklagte sich „Architekt“ nennen kann.

 

Aus dem Vernehmungsprotokoll der Frau Bauergutsbesitzer   P o p p -   Ottenbüttel geht hervor, daß die Zeugin sich nicht erinnern kann auf eine Aeußerung ihres Vaters, Grupen solle sich von den Kindern trennen, denn man könne nicht verlangen, daß er die Kinder einer treulosen Frau erziehe. Sie könne sich auch nicht erinnern, daß Grupen darauf ihrem Vater geantwortet habe, er habe die Kinder so lieb und könnte es nicht über das Herz bringen, die Kinder unter der Handlungsweise der Frau leiden zu lassen.

 

Frau Dorothea   B e r g m a n n -   Itzehoe erklärte dem vernehmenden Richter: Das Verhältnis zwischen den Grupenschen Eheleuten war normal, zwischen Grupen und den Kindern harmonisch. Grupen hat nach dem Verschwinden seiner Frau erzählt, daß Ursula rührend für ihn sorge. Wenn er abends nicht zu Hause sei, mache sie ihm etwas zu essen oder naschen zurecht und legen einen Zettel dazu: „Für Dich, lieber Vati!“ Bei einem Besuch im September v. J. war Grupen in heiterer Stimmung. Als ich ihn nach dem Befinden seiner Frau fragte, sagte er, sie wäre verreist; davon, daß sie ihn verlassen habe und nach Amerika gegangen ist, sagte er kein Wort. Auch bei einem einige Wochen später erfolgten Besuch sprach er nicht von seiner Frau, sondern nur davon, daß er die Hatje in sein Haus habe kommen lassen, die Tochter seines Lehrmeisters, zu dem er einmal gesagt habe, daß er sein Schwiegervater werden müsse. Als ihm gesagt wurde, man erzähle, daß seine Frau verschwunden sei, gab er dies zu, erklärte aber auf die Frage, was er für Nachforschungen angestellt habe, er sei nicht geneigt, dafür viel Geld auszugeben, denn die Frau habe ihm 70 000 Mk. mitgenommen. Ueberdies habe ihm der Notar Reinicke gesagt, er solle die Sache ein Jahr ruhen lassen und dann einen Aufruf in den Zeitungen veröffentlichen.

 

Geh. Rechnungsrat   N e u g e b a u e r -   Berlin und seine Ehefrau machten Bekundungen, aus denen hervorgeht, daß Frau Eckert und Frau Schade das Vermögen der Ruth Reske benachteiligt haben sollen.

 

Der Angeklagte erklärt, er habe zu den Vernehmungsprotokollen keine Angaben zu machen.

 

Es folgen die

 

Gutachten der Sachverständigen.

 

Bücherrevisor Walter   S c h ä r f f -   Brieg äußert sich über

 

Grupens Vermögenslage

 

folgendermaßen: Grupen hatte keine Buchführung, so daß ein klares Bild über die Vermögenslage nicht möglich ist. Der Sachverständige teilt sein Gutachten in drei Zeitabschnitte ein: erstens: was besaß Grupen bei seiner Verheiratung mit Frau Schade?, zweitens: was besaß er bis zum Verschwinden der Frau Schade?, drittens: über welche Mittel verfügte er in der Zeit zwischen dem Verschwinden und dem Vorfall in Kleppelsdorf?

 

Bis zu seiner Verheiratung mit Frau Schade besaß der Angeklagte nichts. Das greifbare Kapital, das seine Frau mitbrachte, war niedrig und die festliegenden Kapitalien der Frau konnten ihm in seinem Geschäft nicht nützen. Grupen hatte 9000 Mark aus seiner Beschäftigung beim Vater, eine einmalige Abfindung als Kriegsinvalide von 8000 Mk., außerdem verschiedene kleine Einnahmen, also etwa 17 000 bis 20 000 Mk. Diese Summe hatte er ausgegeben, denn zwei Zeugen haben einwandsfrei ausgesagt, daß er zurzeit der Verheiratung nichts hatte; er mußte sogar im Mantel seines Vaters um die Hand seiner Frau anhalten. Durch die Heirat fiel ihm kein größeres Barvermögen in die Hände. Für das Reichsnotopfer wurden die beiden Vermögen des Ehemannes und der Ehefrau am 31. Dezember 1919 (wenige Tage vorher hatte die Heirat stattgefunden), mit 31 000 Mk. veranlagt. In diesen 31 000 Mark liegen 7300 Mark Barvermögen, eine Summe, die bald aufgebraucht war. Schon im März 1920 sah Grupen sich genötigt, durch die Verpfändung des Brillantenschmucks der Fr. Eckert an Lange-Hamburg sich Geld zu verschaffen. Er erhielt 6000 Mk. Bald versetzte er auch ein oder zwei Pelzjacketts, wofür er nur kleine Beträge erhielt. Für das Silber bekam er 1700 Mark. Ostern 1920 erfolgte der Verkauf des väterlichen Grundstücks in Haseldorf, wodurch er 17 000 Mk. erübrigt haben soll. Das sind kleine Beträge, um Haushalts. und Geschäftsunkosten zu bestreiten. Wir wissen, daß Grupen viel unterwegs gewesen ist und manchmal auch von seiner Frau begleitet wurde, die Geschäftsunkosten müssen also groß gewesen sein. Andererseits haben wir gehört, daß der Haushalt ein sparsamer war. Bei den Grundstücksgeschäften handelte es sich nur um sehr wenige Transaktionen. Bei dem Verkauf des Grundstücks in Itzehoe, den er vornahm, um in Ottenbüttel das weniger wertvolle Gelände zu erhalten, ist der Gedanke nahe liegend, daß er da nach weiterem Kapitel gestrebt hat. Aber bei genauer Betrachtung handelt es sich nicht um einen Kauf, der ihm Barvermögen brachte, sondern um einen Tausch. Badgeld erhielt er bei dieser Transaktion, obwohl es sich im Objekte im Gesamtwert von 125 000 Mk. handelte, nicht.

 

Bis Ende Juli zehrte Grupen von insgesamt 32 000 Mk., die zuflossen dem Haushalt, dem Geschäftsbetriebe und dem Umbau des Ottenbüttler Grundstücks,. der allein 25 000 Mk. erfordert haben soll. Dazu kommt der Betrag, den er aus Wertpapieren erlöst haben soll und den er seiner Frau zur Bestreitung des Haushalts zur Verfügung gestellt haben will. Daß der Angeklagte gezwungen war, sich weitere Mittel zu verschaffen, beweist auch der Verkauf der Saloneinrichtung aus Itzehoe, wobei er 9000 Mark löste. Außerdem machte er verschiedene Geschäfte mit seinem Bruder und mit Maaß. Diese Geschäfte liefen ja in ziemlich hohe Beträge, aber die Einkünfte verteilten sich auf zwei bis drei Makler. Dabei dürfen wir auch nicht vergessen, daß die Vermittlergeschäfte ihre Abwicklung nach der Tragödie von Kleppelsdorf fanden. Aus dem Ottenbüttler Grundstück floß dem Angeklagten kurz vor seiner Abreise nach Kleppelsdorf der Betrag von 60 000 Mk. zu. Das ist das erste Mal gewesen, daß er einen solchen Betrag wirklich in Händen hatte. Es ist gesagt worden, daß Frau Grupen und Frau Eckert ihm zwei Hypotheken im Werte von 72 000 Mark abgetreten hätten, die er in der Kassette verwahrt haben will. Tatsächlich sind ihm aber nicht 72 000 Mk. zugeflossen, denn eine Zahlung hat nicht stattgefunden. Der Sachverständige schließt: Ich will die Frage, ob in der Kassette 60 000 oder 72 000 Mk. oder gar nicht darin war, nicht selbst entscheiden, das überlasse ich den Herren Geschworenen.

 

An das Gutachten knüpfte sich eine sehr   l e b h a f t e   A u s e i n a n d e r s e t z u n g   zwischen den Verteidigern und dem Sachverständigen, in die auch der Staatsanwalt wiederholt eingriff. Die Verteidiger bemängelten, daß das Gutachten von greifbaren Mitteln rede, während es sich über die Vermögenslage hätte äußern sollen. Der   S t a a t s a n w a l t   erklärte, daß er in seinem Plaidoyer die Vermögenslage Grupens auf Grund von dessen eigenen Angaben behandeln werde. Vert.   D r .   A b l a ß   protestierte gegen das Gutachten, das auf völlig verfehlter Grundlage beruhe und als Beweismittel nicht gelten könne.

 

Die Briefe.

D r .   J e s e r i c h -   Berlin hatte die Aufgaben, erstens: den   B r i e f   a n   G r o ß m u t t i   zu vergleichen mit   H a n d s c h r i f t e n   d e r   U r s u l a   S c h a d e ,   um festzustellen, ob dieser Brief von ihr herrühre oder ob er von einem Anderen, besonders dem Angeklagten, geschrieben sei; zweitens: festzustellen, ob das Wort „traurige“ in dem Briefe an Frau Bartel von Ursula selbst nachträglich hinzugefügt worden sei.

 

Der Großmutti-Brief

vom 9. Februar, in dem davon die Rede ist, daß Ursel die Waffe an sich genommen habe und Großmutter sich nicht mehr über Dörte ärgern solle, ist von den Sachverständigen mit einem unzweifelhaft von Ursula stammenden Briefe verglichen worden,   D r .   J e s e r i c h ,   der den Geschworenen bis in alle Einzelheiten seine Vergleiche darlegt, kommt zu dem Schluß,   d a ß   z w i s c h e n   d i e s e m   m i t   B l e i   g e s c h r i e b e n e n   G r o ß m u t t i - B r i e f e   u n d   d e m   m i t   T i n t e   g e s c h r i e b e n e n   e c h t e n   U r s u l a - B r i e f e   A b w e i c h u n g e n   w e s e n t l i c h e r   A r t   n i c h t   z u   f i n d e n   s i n d .   Im Großmutti-Brief sind, wie das bei flüchtiger Schrift sehr oft vorkommt, die Uebergänge mehr abgerundet, als die mit Tinte geschriebenen Briefe. Das sind die einzigen Momente, die als Unterschied gefunden worden sind. Sonst herrscht   U e b e r s t i m m u n g   b i s   i n s   K l e i n s t e .   Die Gesamtschrift gibt zu einer Annahme, daß der Brief   n i c h t   von Ursel geschrieben worden ist, keine Veranlassung. Andererseits sei die Möglichkeit einer Fälschung jedoch nicht ausgeschlossen, aber es sei kaum möglich, einen ganzen Brief in allen Einzelheiten so treu nachzubilden. Es spräche nichts für die Vermutung, daß der Brief nicht von Ursula geschrieben worden sei. Ein mathematischer Beweis, daß er tatsächlich von Ursel geschrieben worden sei, könne natürlich nicht geführt werden.

 

Vors.: Herr Sachverständiger, auf Grund Ihrer Erklärungen in der Voruntersuchung muß ich Sie fragen, ob der Brief nicht gewisse Aehnlichkeiten mit der Grupenschen Schrift aufweist.

 

D r .   J e s e r i c h :   Selbstverständlich, Aehnlichkeiten, wie sie zwischen   a l l e n   Schritten bestehen, man kann ein x nicht wie ein y schreiben. Mit der Grupenschen Schrift besteht eigentlich nur in der Abflachung des Uebergangs vom ersten zum zweiten Element der Buchstaben und im kleinen r eine Uebereinstimmung. Es spricht jedoch keinerlei Wahrscheinlichkeit dafür, daß Grupen den betreffenden Brief geschrieben hat. Wenn der Brief nachgeschrieben worden ist, so muß es ein Künstler im Malen gewesen sein, wie ich ihn in meiner dreiundvierzigjährigen Praxis nicht kennen gelernt habe. Ob auf dem

 

Brief an Frau Barthel,

(der ebenfalls vom 9. Februar datiert ist und in dem Ursula sehr vergnügt über das Leben in Kleppelsdorf berichtet) bei der Unterschrift „Ursel“   d a s   W o r t   „ t r a u r i g e “   v o n   a n d e r e r   H a n d   hinzugefügt worden ist, läßt sich   n i c h t   feststellen. Das Wort „traurige“ weist in allen Einzelheiten die Eigenart der Schrift Ursulas auf, doch kann ein aus so wenig Buchstaben bestehendes Wort nachgebildet worden sein und deshalb kann aus der Uebereinstimmung der Schriftzüge irgend ein Schluß   n i c h t   gezogen werden.   P o s i t i v   i s t   a b e r   f e s t g e s t e l l t   w o r d e n ,   d a ß   d a s   W o r t   „ t r a u r i g e “   n a c h t r ä g l i c h   h i n z u g e f ü g t   w o r d e n   i s t   und zwar mit gleichartiger Tinte und nachdem die ursprüngliche Schrift bereits getrocknet war, also mindestens 3 bis 4 Minuten nach Abschluß des Briefes. Ob Ursel das Wort geschrieben hat, kann ich nicht sagen. Es kann von ihr sein, kann aber auch nachgemacht worden sein.

 

Freitag vormittag ½ 10 Uhr wird die Verhandlung fortgesetzt.

 

*

Die Verhandlung am Freitag.

Zu Beginn der heutigen Sitzung teilt der Vorsitzende mit, daß der Beisitzer, Landgerichtsrat   H e r z o g ,   an Grippe erkrankt und an seine Stelle der Hilfsrichter, Assessor   H u b r i c h ,   getreten ist.

 

Dann setzt der Schriftsachverständige   D r .   J e s e r i c h   sein Gutachten fort, und zwar über die Frage, ob die

 

Abschiedsbriefe der Frau Grupen

 

echt sind. Die Untersuchung hat ergeben, daß die Schrift der Abschiedsbriefe mit älteren Briefen der Frau Grupen   v o l l k o m m e n   ü b e r e i n s t i m m t .   Der Sachverständige ist zu dem Schluß gekommen, daß an eine Nachbildung der Abschiedsbriefe nicht zu denken ist.

 

Vors.: Ist es möglich oder wahrscheinlich, daß der   A n g e k l a g t e   die Briefe nachgeahmt hat? -   D r .   J e s e r i c h :   Ich halte es weder für möglich noch für wahrscheinlich. - Eine psychologische Beurteilung der Briefe lehnt Dr. Jeserich ab.

 

Der zweite Schreibsachverständige.

Darauf erhält Professor Dr.   S c h n e i d e m ü h l -   Berlin das Wort zur Handschriftenbeurteilung: Der Fall, um den es sich handelt, stößt in weitesten Kreisen auf Vorurteil und Mißtrauen. Dieses Vorurteil und Mißtrauen muß zunächst zerstreut werden, sonst würde ich tauben Ohren predigen. Bei der wissenschaftlichen Handschriftenbeurteilung handelt es sich um die Lehre, aus der Handschrift auf den Charakter des Menschen zu schließen. Die   G r a p h o l o g i e   hat damit, wie vielfach angenommen wird, nichts zu tun. Der   G r o ß m u t t i - B r i e f   wies auf den ersten Blick einige Aehnlichkeiten mit der Schrift des Angeklagten auf, aber sehr bald änderte sich das vorläufige Urteil. Obwohl genügend Schriftproben des Angeklagten vorlagen, habe ich Wert darauf gelegt, den Angeklagten beim Abschreiben eines von ihm, dem Sachverständigen, entworfenen Schriftsatzes zu sehen und zu beobachten. Bei dieser Gelegenheit wurde Grupen gefragt, ob er sich mit okkultistischen Dingen befasse. Die Zögerung mit der Antwort erklärte sich der Sachverständige mit Unkenntnis des Angeklagten auf diesem Gebiete. Nach gegebener Definition des Begriffes „Okkultismus“ verneinte Grupen die Frage. Ich habe Grupen weiter gefragt, ob er sich mit Hypnose oder Suggestion beschäftigt, ob er solche Schriften gelesen oder solche Schaustellungen besucht habe. Grupen bejahte: als Baugewerksschüler habe er sich hypnotische und Suggestions-Vorstellungen angesehen. Vom Untersuchungsrichter ist mir die Frage zur Beantwortung vorgelegt worden: Ist anzunehmen, daß der Angeklagte den Brief an Großmutti geschrieben hat, oder ist anzunehmen, daß Ursula Schade ihn geschrieben hat? Auf der ganzen Welt gibt es nicht zwei Menschen, die die   g l e i c h e   Schrift schreiben, höchstens eine   ä h n l i c h e   Schrift. Wie die Gehirne der Menschen durchweg nicht gleichartig sind, so ist auch jede Handschrift verschieden. Bei aller Aehnlichkeit zweier Handschriften werden sich die Buchstabenbilder nicht so decken wie etwa die Typen aus dem Setzkasten. Der Sachverständige ist   z u   d e m   S c h l u ß   g e k o m m e n ,   d a ß   U r s u l a   d e n   B r i e f   a n   G r o ß m u t t i   g e s c h r i e b e n   h a t .   Auch unterliegt es für ihn keinem Zweifel, daß   F r a u   G r u p e n   i h r e   A b s c h i e d s b r i e f e   s e l b e r   g e s c h r i e b e n   hat. Nun die schwierigste Frage:

 

Liegt eine Beeinflussung der Schrift vor?

Dieser Brief der Ursula ist ganz ruhig geschrieben; die Schriftzüge sind dieselben bei den anderen Briefen der Ursula und weisen dieselben Eigentümlichkeiten auf, eine gleichmäßige und ruhige Schrift. Die Schrift eines niedergedrückten Menschen erscheint niedergedrückt, der seelische Zustand drückt sich auch noch in der Schrift aus. Bei einem Kinde wie Ursula, die sehr zart, weich und fremdem Einfluß leicht zugänglich war, hätte sich der seelische Zustand erst recht in der Handschrift ausdrücken müssen. Es kann daher diesem Kinde, als sie den Brief an Großmutti schrieb,   d e r   f u r c h t b a r e   I n h a l t   d i e s e s   B r i e f e s   n i c h t   z u m   B e w u ß t s e i n   g e k o m m e n   s e i n .   Bei einem Kinde, das die Absicht hat jemand Anderes und sich selbst zu erschießen,    m ü ß t e   sich diese damit verbundene seelische Erschütterung auch in der Schrift   a u s d r ü c k e n .

 

Auch in dem Abschiedsbriefe der Frau des Angeklagten findet sich keine Aenderung der Schriftzüge der Schreiberin, während sich die furchtbare Seelenerschütterung, die die Schreiberin bei der Absicht, Heimat, Mann und Kinder zu verlassen, gehabt haben muß, sich darin hätte ausdrücken müssen. Es müssen also auf Frau Grupen seelische Einwirkungen gewisser Art, die ihr ganzes Sinnen und Empfinden beeinflußten, stattgefunden haben, - welcher Art, weiß ich nicht. In anderen Briefen der Frau findet sich, daß sich die niedergedrückte Stimmung der Schreiberin in den Schriftzügen ausdrückte.   E s   m u ß   a l s o   e t w a s   i m   I n n e r n   d e r   F r a u   G r u p e n   d u r c h   f r e m d e n   E i n f l u ß   a u s g e s c h a l t e t   w o r d e n   s e i n .

 

Auf wiederholte Frage des Verteidigers   D r .   M a m r o t h   hält der Sachverständige sein Gutachten aufrecht.

 

Staatsanwalt: Herr Sachverständiger, wenn wir nun von einem späteren Sachverständigen hören sollten, daß tatsächlich ein solcher Einfluß auf die Frau ausgeübt worden ist, würde das noch eine Bestätigung Ihres Gutachtens sein? - Professor   S c h n e i d e m ü h l : Das würde allerdings meine Auffassung vollauf erklären.

 

Auf Fragen eines Geschworenen erklärte Professor Schneidemühl noch, daß sich auch in der einige Tage vor dem Verschwinden der Frau geschriebenen Abtretungsurkunde   k e i n e   M e r k m a l e   d e r   s e e l i s c h e n   E r r e g u n g   z e i g e n ,  so daß also auch damals die Schreiberin unter jenem Einfluß stand.

 

Verteidiger Dr.   M a m r o t h :  Aber der Inhalt der Briefe, in denen der Sachverständige besondere Merkmale einer seelischen Erschütterung erkennen will, ist durchaus harmloser Art, so daß sich aus dem Inhalt die angeblich niedergedrückte Stimmung der Schreiberin nicht ergibt. Die Tatsachen, aus denen der Sachverständige auf die seelische Niedergedrücktheit der Schreiberin schließt, schweben also völlig in der Luft.

 

Prof.   S c h n e i d e m ü h l   widerspricht dieser Auffassung. Wenn Jemand unter seelischer Verstimmung leidet, dann prägt sich dies auch in den Briefen aus, die an sich einen harmlosen Inhalt haben.

 

Verteidiger   D r .   A b l a ß   faßt das Gutachten des Sachverständigen zusammen. Erstens: die sechs Abschiedsbriefe zeige keine Zeichen seelischer Erregung, während die Merkmale da sein müßten, wenn diese Erregung nicht durch fremden Einfluß ausgeschaltet gewesen ist. Zweitens: in den anderen Briefen findet der Sachverständige die Merkmale der seelischen Verstimmungen, wenn er auch keine Tatsachen anführen kann, auf denen die seelische Erregung beruhen soll.

 

Die Auseinandersetzungen nehmen noch längere Zeit in Anspruch. Dabei fragt noch Verteidiger   D r .   M a m r o t h,   ob es nicht richtig sei, daß sich gerade Frauen auch beim Schreiben auf liniiertes Papier nicht an die Linien halten.

 

Professor   S c h n e i d e m ü h l :   Das Gegenteil ist richtig.

 

Verteidiger   D r .   A b l a ß :   Herr Sachverständiger, ist es nicht möglich, daß, wenn Jemand sich nach langen Kämpfen zu einem festen Entschluß durchgerungen hat, so daß eine eisige Ruhe über ihn kommt, er dann auch ohne Merkmale einer seelischen Erregung schreibt?

 

Professor   S c h n e i d e m ü h l :   Der Fall ist wohl denkbar, aber Frau Grupen gehörte wohl nicht zu den Personen, bei denen dies möglich war.

 

Weiter verbreitet sich Prof.   S c h n e i d e m ü h l   über

 

das Schreiben in Hypnose.

 

Er erzählt über interessierte Versuche, die von wissenschaftlicher Seite gemacht worden sind. Ein in Hypnose versetzter dänischer Student habe, als man ihm vorredete, Napoleon zu sein, dessen richtigen Namenszug geschrieben, dann die Schrift einer alten Frau und eines Kindes, als er diese vorstellen sollte. Der Sachverständige zeigt selbst an der Schreibtafel, wie er die Schriftzüge eines zwölfjährigen Kindes nachahmt, weil er sich sehr intensiv in dessen Gedankengang versetzt hat.

 

Dann erstattet Büchsenmachermeister   W a l t e r -   Löwenberg sein Gutachten, indem er zunächst über die Ergebnisse der

 

Schießversuche

 

berichtet. Er hat im Beisein des Kreismedizinalrates Dr. Peters mit der bei der Ursula gefundenen Pistole auf die verschiedensten Entfernungen, von 5 Zentimetern angefangen, auf Stoffe und Holz geschossen. Die durchschossenen Stoffe wurden vorgezeigt. Die Waffe war eine Walterpistole Modell 5, bei der die Hülsen der abgeschossenen Patronen nur nach rechts, bei Schüssen auf größere Entfernungen nach rechts   u n d   etwas nach hinten fallen können. Der Sachverständige zeigte dann auf der Zeichnung, wo bei den, auf Wunsch des Angeklagten im Mordzimmer vorgenommenen vielen Schießversuchen in jedem einzelnen Falle der Schütze stand, wie der die Pistole hielt und wo dann die Hülse der abgeschossenen Patrone lag.

 

Wie ist geschossen worden?

Der Sachverst. Walter hält es für   a u s g e s c h l o s s e n ,   d a ß   U r s u l a   S c h a d e   s i c h   s e l b s t   e r s c h o s s e n   h a t .   Nach seiner Ueberzeugung   h a t   d e r   T ä t e r ,   etwa in der Mitte des Zimmers stehend,   a u f   D o r o t h e a   R o h r b e c k   d e n   e r s t e n   S c h u ß   a b g e g e b e n ,   d e n   z w e i t e n   a u f   d i e   z u r   R o l l s t u b e n t ü r   f l ü c h t e n d e   U r s u l a   S c h a d e   und den   d r i t t e n   (einen sogenannten Fangschuß) wieder auf die noch atmende   D o r o t h e a   R o h r b e c k .   Daß auf Ursula   a u s   w e i t e r e r   E n t f e r n u n g   geschossen worden ist,   a l s   a u f   D ö r t e ,   ist aus der Tatsache zu folgern, daß das in die rechte Stirn eingedrungene Geschoß die   S c h ä d e l d e c k e   n i c h t   d u r c h s c h l a g e n   hat, sondern darunter stecken geblieben ist. Der Kopfschuß auf Dörte ist   a u s   k u r z e r   E n t f e r n u n g   abgefeuert worden.

 

Bei Schluß der Redaktion dauerte die Vernehmung des Sachverständigen noch fort.

 

 

 

Sonntag, den 18. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Beendigung der Beweisaufnahme.

Die Sachverständigen über die Selbstmord-Annahme.

Grupen lehnt alle Erklärungen ab.

 

Hirschberg, 17. Dezember.

 

Die Verhandlung geht ihrem Ende entgegen. In der Nacht zum Dienstag wird das Urteil erwartet. Am Freitag ist die Beweisaufnahme im wesentlichen abgeschlossen worden. Am Montag sollen, - während der Sonnabend für die Plaidoyers sitzungsfrei bleibt, - zunächst noch einige Vernehmungen unter Ausschluß der Oeffentlichkeit erfolgen und alsdann der Staatsanwalt und die Verteidiger zum Wort kommen.

 

Freitag war der Tag der Gutachter. Die Schießsachverständigen, die Aerzte, die die Leichen der beiden unglücklichen Opfer der Tragödie untersucht haben und schließlich die Psychologen erhielten der Reihe nach das Wort, und sie alle kamen, jeder von seinem besonderen eigenen Standpunkt aus, zu dem Ergebnis, daß ein Selbstmord der kleinen Ursula, der aus dem Großmutti-Briefe gelesen werden könnte, ausgeschlossen ist oder doch höchst unwahrscheinlich erscheint. Professor Moll aus Berlin, eine Weltautorität auf dem Gebiete der Seelenforschung, hält irgendwelche hypnotischen Einwirkungen für ausgeschlossen, betont aber um so stärker die suggestiven Beeinflussungen des willenstarken Angeklagten auf seine ganze Umgebung, und ergeht sich dabei in sehr feinen tiefgründigen Auslassungen über das Wesen der Suggestion und der zwingenden Macht von Willensmenschen auf schwache Personen. Der Angeklagte, der sich mit seinen stahlharten Nerven dem Ansturm der nahezu vierzehntägigen Verhandlung voll gewachsen gezeigt hat, verfolgte die Darlegungen mit gespannter Aufmerksamkeit, verweigert aber, seitdem er mittags für einen Augenblick seine Ruhe verloren hatte, jetzt jegliche Erklärung.

 

Im Einzelnen ist noch zu berichten:

 

Büchsenmachermeister   W a l t e r -   Löwenberg gibt weiter der Ansicht Ausdruck, daß der Täter etwa   i n   d e r   M i t t e   d e s   Z i m m e r s   gestanden haben müsse, sonst wären die Patronenhülsen nicht auf die dem Wintereßzimmer zu gelegene Seite gefallen. Alle in dem Mordzimmer vorgenommenen Schießversuche, auch die nach Anweisung des Angeklagten durchgeführten, stützen diese Ansicht. Nach der Art der Waffe und nach der Lage der Patronenhülsen ist der Sachverständige der festen Ueberzeugung, daß Dörte und Ursula von dritter Hand erschossen worden sind. Der Täter muß in der Nähe der Dörte gestanden haben.

 

Staatsanwalt: Wenn die Theorie des Selbstmordes der Ursula richtig wäre, müßten dann nicht die Hülsen in dem Teile des Zimmers gelegen haben, der an die Rollstube angrenzt?

 

Walter: Ja. Dort haben die Hülsen nicht gelegen, und aus diesem Teile des Zimmers hätten sie nicht so leicht verschleppt werden können, weil der Tatort vom Winteresszimmer aus betreten wurde.

 

Der Angeklagte, der vor der Tafel mit der Skizze des Mordzimmers steht, nimmt das Lineal zur Hand und erörtert die Möglichkeit, daß die Hülsen auch bei einem Selbstmord Ursulas an die Stellen gefallen sein können, wo sie gefunden wurden. Die Schußrichtung müsse eine andere gewesen sein, als der Sachverständige annehme. Der Vorsitzende unterbricht den heftig redenden Angeklagten mit der Bemerkung, er handele sich nicht um Schußrichtungen, sondern um den Standort des Täters.   D e r   A n g e k l a g t e   w i r f t   h i e r a u f   m i t   h o c h r o t e m   K o p f   e r r e g t   d a s   L i n e a l   a u f   d e n   T i s c h   u n d   b e g i b t   s i c h   w ü t e n d   i n   d i e   A n k l a g e b a n k ,   d e r e n   T ü r   e r   k r a c h e n d   h i n t e r   s i c h   z u s c h l ä g t .

 

Vorsitzender (zum Sachverständigen): Wäre nach Ihrer Annahme die dreizehnjährige Ursula überhaupt fähig gewesen, den Revolver so zu handhaben, daß sie sich selbst erschießen konnte?

 

Walter: Nach meinen Erfahrungen kann ein Mädchen durch bloßes Zusehen beim Erklären einer Waffe diese nicht gleich mit Sicherheit handhaben. Zudem waren, seit die Ursula den Revolver das letzte Mal gesehen, und dem Tage der Tat, sieben oder acht Tage verflossen. Weibliche Personen haben gegen Schußwaffen so große Antipathie, daß sie sich dieselben überhaupt nicht genau ansehen. Dann sind die drei Schüsse auch mit einer   T r e f f s i c h e r h e i t   abgegeben worden, die ein dreizehnjähriges Kind nicht haben kann. Revolver erfordern eine ganz besondere Schießfertigkeit. Bei den   S c h i e ß v e r s u c h e n   mit der Mordwaffe haben im Schießen geübte Personen auf ein Brett, das die Größe eines Kanzleibogens hatte, im ganzen nur vier- bis fünfmal getroffen, obwohl mit sechs Meter Distanz über 30 Schüsse abgefeuert wurden.

 

Kreismedizinalrat   D r .   P e t e r s :   Es ist auch zu beachten, daß die Waffe einen sehr starken Rückschlag hat.

 

Ein Geschworener: Will der Angeklagte darüber Auskunft geben, ob er im Felde als Maschinengewehrschütze, Gefechtsordonnanz, Bagagefahrer oder Bursche tätig gewesen ist?

 

Angeklagter (mit großer Heftigkeit):   I c h   l e h n e   j e d e   E r k l ä r u n g   i n   Z u k u n f t   a b .

 

Der Geschworene: Meine Frage hat einen besonderen Grund.

 

Vorsitzender: Es ist das Recht des Angeklagten, auf Erklärungen zu verzichten.

 

Verteidiger   D r .   A b l a ß   (zum Sachverständigen): Halten Sie es für möglich, daß ein Kind, wenn die Waffe geladen und gesichert warm den Sicherungsflügel umlegen konnte? -   W a l t e r :   Möglich wäre es schon, im vorliegenden Falle aber nicht wahrscheinlich. - Vorsitzender: Wenn ein Kind weiß, daß die Waffe geladen ist, dann wird es sich doch nicht noch ein Kästchen mit Patronen mitnehmen. - Sachverständiger: Das glaube ich auch nicht.

 

In der Nachmittagssitzung wird zunächst

 

der zweite Schießsachverständige,

 

Gewehrfabrikant   H e n s e l -   Breslau, vernommen. Er erklärt kurz, daß er sich dem Gutachten Walters in allen Punkten   a n s c h l i e ß e .   Auch er ist insbesondere der Ansicht, daß nach der Beschaffenheit der Waffe und der Lage der Patronen ein   S e l b s t m o r d   d e r   U r s u l a   S c h a d e   a u s g e s c h l o s s e n   sei.

 

Der Angeklagte schweigt auf die Frage des Vorsitzenden, ob er zu diesen Gutachten etwas zu bemerken habe.

 

Es folgen die

 

ärztlichen Gutachten.

 

Kreis-Medizinalrat   D r .   P e t e r s -   Löwenberg legt seinem Gutachten den von ihm festgestellten Leichenbefund zu Grunde. Vorher ersucht er den Vorsitzenden, an den Angeklagten die Frage zu richten, ob er wünsche, zu seinen Ausführungen Stellung zu nehmen und zu diesem Zweck aus der Anklagebank zu treten. - Angeklagter: Ich habe bereits gesagt, daß ich keine Erklärungen mehr abgebe.

 

Im Saale steht ein Modell mit dem roten Flanellkleide und der weißen, blutbefleckten Schürze der Dorothea Rohrbeck. Mittels eines Projektorapparates werden bei verdunkeltem Saal

 

Lichtbilder von den Leichen

 

der erschossenen Mädchen vorgeführt.

 

D r .   P e t e r s :   Alle die Schüsse sind aus mehr als 15 Zentimeter Entfernung abgegeben worden, damit ist die   M ö g l i c h k e i t   e i n e s   S e l b s t m o r d e s   der Ursula von vornherein ausgeschlossen. An dem Kleide der   D ö r t e   fand ich mehrere Schußlöcher, eines an der rechten Achselfalte, drei an der Brust. Das erste ist eine Einschußöffnung, die drei anderen Ausschußöffnungen, die sich dadurch erklären, daß das Kleid an der Brust Falten hatte. Am Halse und an der Brust habe ich mehrere Verletzungen festgestellt. Bei der   U r s u l a   fand ich eine Einschußöffnung an der rechten Augenbraue, außerdem ein im Gehirn steckengebliebenes Geschoß. Bei Dörte ist ein Geschoß unter der Stirnhaut gefunden worden. Ich habe schon damals dem Angeklagten gesagt, ob er mit der Waffe, die er aufgehoben haben will, etwas gemacht habe. Er antwortete mir: „Daß ich nicht wüßte.“ Nach dem Befund hat   D ö r t e   z u e r s t   d e n   B r u s t s c h u ß   erhalten, der durch den Hals in den hinteren Nasenrachenraum eindrang. Die Kugel (der Sachverständige zeigt sie den Geschworenen) lag in einem Blutgerinsel und war, weil sie nicht durch Knochen gegangen ist, nicht deformiert. Die Folge der Verletzungen waren starke Blutungen im Nacken. Wir fanden im Magen verschlucktes Blut und in der Lunge eingeatmetes Blut. Die   z w e i t e   Verletzung war erfolgt durch den   S c h u ß   i n   d e n   H i n t e r k o p f :   die Kugel hatte wichtige Teile des Gehirns verletzt. (Das etwas deformierte Geschoß wird den Geschworenen überreicht.) Welche von den Verletzungen zuerst erfolgte, läßt sich mit ziemlicher Sicherheit sagen. Wäre der Schuß in den Hinterkopf der erste gewesen, so wäre sie sofort bewußtlos gewesen, so wäre sie zusammengesunken, und der Brust-Halsschuß hätte eine andere Richtung genommen, als der Schußkanal aufweist. Für die Annahme, daß der Brustschuß der erste Schuß war, spricht die starke Blutatmung und das Blutschlucken, denn der Bewußtlose schluckt nicht mehr. Die   U r s u l a   ist nach dem Schuß sofort handlungsunfähig gewesen; sie ist sofort zusammengesunken und hat keine geordneten Bewegungen mit der Hand mehr ausführen können. Bei der Ursel wurden am Hinterkopf Hautabschüfungen und eine Schwellung gefunden, die beweisen, daß sie bald nach dem Schuß gegen den Schrank gefallen ist. Es ist kein Zweifel, daß   U r s u l a   a n   d e r   S t e l l e ,   w o   s i e   a u f g e f u n d e n   w u r d e ,   d e n   t ö t l i c h e n   S c h u ß   e r h a l t e n   h a t .   Bei beiden Leichen konnten   k e i n e   Merkmale festgestellt werden, welche den Schluß zulassen, daß die Schüsse aus einer   g e r i n g e r e n   Entfernung als 5 Zentimeter abgegeben wurden. Bei den Einschußöffnungen waren weder   F l a m m e n w i r k u n g e n   n o c h   P u l v e r e i n s p r e n g u n g e n   zu sehen. Ursulas Augebrauen und möglicherweise auch die Wimpern am rechten Auge hätten versengt sein müssen, wenn der Schuß etwa aus fünf Zentimeter Entfernung abgefeuert worden wäre. Bei   D ö r t e   bestand von vornherein kein Zweifel, daß sie   v o n   f r e m d e r   H a n d   e r s c h o s s e n   worden ist; sie hätte sich nur   e i n e n   Schuß beibringen können, und außerdem hat die Waffe bei der Ursel gelegen. Selbstmörder haben das Bestreben, wenn sie sich in die Brust schießen, die betreffende Stelle von der Kleidung frei zu machen.

 

Gegen einen Selbstmord der Ursel sprechen

die Begleitumstände, nämlich der   F u n d o r t   d e r   P a t r o n e n h ü l s e n .   Ursula hat, als auf sie gezielt wurde, den   K o p f   e r s c h r e c k t   r ü c k w ä r t s   geneigt, wie der Verlauf des Schußkanals ergibt. Hätte sie   s i c h   s e l b s t   erschossen, müßte der   V e r l a u f   d e s   S c h u ß k a n a l s   e i n   a n d e r e r   sein. Der Täter hat auf sie geschossen, als er in   d e r   N ä h e   d e r   z u s a m m e n g e s u n k e n e n   D ö r t e   stand. - Der Sachverständige zeigte an einem Menschelschädel die Ein- und Ausschußöffnungen.

 

Kreis-Medizinalrat   D r .   S c h o l z -   Hirschberg pflichtet dem vorstehenden Gutachten bei. Auch nach seiner Ansicht handelt es sich   n i c h t   u m   N a c h s c h ü s s e .

 

Geheimrat   D r .   L e s s e r -   Breslau   h ä l t   d i e   M i t w i r k u n g   e i n e r   f r e m d e n   H a n d   f ü r   e r w i e s e n .   Es ist ausgeschlossen, daß Ursula den Revolver gesichert hat. - Vors.: Können Sie die Frage beantworten, ob das dreizehnjährige Mädchen in der Lage gewesen wäre, sich mit dem Revolver zu erschießen? - Geheimrat   L e s s e r :   Da drei Treffer und kein Fehlschuß festgestellt worden sind, müßte es das Mädchen sehr gut verstanden haben, mit der Waffe, die sehr schwierig zu handhaben ist, umzugehen.

 

Hypnose und Suggestion.

Geheimrat Prof. Dr.   M o l l -   Berlin: Ich habe die Aufgabe, mich über Hypnose und Willensbeeinflussung zu äußern. Ueber Hypnose bestehen vielfach ganz konfuse Anschauungen. Bei Hypnose werden Störungen willkürlicher Bewegungen bewirkt, aber ein schlafähnlicher Zustand, eine Störung des Bewußtseins tritt nicht ein. Erst beim   S o m n a m b u l i s m u s   kommt es zu gröberen Störungen des Bewußtseins. In diesem Falle ist es möglich, dem Medium einzureden, daß es eine Kartoffel für einen Apfel isst und Bewegungen eines Tieres macht. Veränderungen des Bewußtseins erfolgen nicht durch Hypnose, sondern durch   r e i n e   S u g g e s t i o n .   W a c h s u g g e s t i o n ,   wie sie in Gesellschaften vorgeführt wird, ist wieder etwas anderes. Da handelt es sich um Vorgänge, für die ein bekanntes Kinderspiel: „Wir wollen sehen, wer zuerst lacht“, ein typisches Beispiel ist. Auch wenn man zu einem jungen Mädchen sagt: „Sie werden ganz rot“ und es errötet, so ist dies ein Vorgang, der mit Hypnose nichts zu tun hat. Es gibt in der Geschichte eine ganze Reihe von Persönlichkeiten, die auf ihre Umgebung einen großen suggestiven Einfluß ausübten: z. B. Napoleon I. Eine Persönlichkeit dieser Art dürfte der Angeklagte sein, der in der Tat auf seine Umgebung einen ganz außerordentlichen suggestiven Einfluß ausübte. Die Frage, ob   H y p n o s e   in diesem Prozeß eine Rolle spielt, ist dahin zu beantworten, daß dies zwar nicht ganz ausgeschlossen ist, daß aber eine größere Wahrscheinlichkeit hierfür   n i c h t   v o r l i e g t .   Verschiedene Zeugen haben ausgesagt, es sei ihnen nichts bekannt, daß der Angeklagte sich mit Hypnose beschäftigt habe. Grupen besaß aber einen   a u f f a l l e n d   g r o ß e n   E i n f l u ß   auf seine Umgebung, wofür bezeichnend ist, wie er seine Frau und Schwiegermutter beherrschte. Für einen normalen Menschen ist es keine Kleinigkeit, Frau und Schwiegermutter zu veranlassen, ihm Generalvollmacht zu erteilen und ihm ohne wahrnehmbare Gegenleistung ihr ganzes Geld abzutreten. Frau Eckert sagte auch, eigentlich sei ihre ganze Korrespondenz von ihm überwacht worden.

 

Aber auch auf anderem Gebiete hatte Grupen großen Einfluß: auf   s e x u e l l e m   Gebiete. Er hat   e i n   M ä d c h e n   n a c h   d e m   a n d e r e n   verführt,   a u ß e r   s e i n e r   F r a u   hatte er einmal   d r e i   G e l i e b t e   z u   g l e i c h e r   Z e i t   i m   H a u s e .   Das ist immerhin ein ziemlich gewagtes und seltenes Stück von Willensbeeinflußung. Allerdings muß man sich hier schon die Frage vorlegen, wie weit das sexuelle Moment bei der Suggestion in Frage kommt, und ob der Einfluß auf Ursula nicht bloß suggestiver, sondern erotischer Art war. Befand sie sich durch die Sexualität in vollständiger Abhängigkeit, im Zustande der

 

sexuellen Hörigkeit,

 

welche ein starkes suggestives Moment enthält, es aber durch die Sexualität hindurchführt? Beides begünstigt einander. Bei dieser sexuellen Hörigkeit ist eine Person der anderen wie ein Höriger ausgeliefert. Beispiele haben wir z. B. bei der Prostitution zu ihrem Zuhälter, aber ich kenne auch Beispiele davon in der besten Gesellschaft. Wie weit haben nun die Beziehungen zwischen Ursula und dem Angeklagten den Charakter der sexuellen Hörigkeit gezeigt? Mein Verdacht nach dieser Richtung war sehr groß, wegen der Verschiedenheit der Geschlechter und weil von mehreren Seiten gesagt worden ist, daß Ursula völlig im Banne des Vaters stand und ihm   s l a v i s c h   ergeben war. Und so kann ich mir seinen außerordentlichen Einfluß, den er nicht allein auf erwachsene Mädchen und die Frau, sondern auch auf die kleine Ursula hatte, durchaus vorstellen: als ein Gemisch von sexueller Hörigkeit und Suggestion. Grupen war aber auch in der Lage, seinen Einfluß auf andere Weise zu zeigen: durch   F u r c h t   infolge von   D r o h u n g .   Die kleine Reske sprach einmal davon, daß sie Prügel erwartete, und sagte:   „ W i r   d u r f t e n   j a   n i c h t s   s a g e n . “   Drohungen sind auch an anderer Stelle vorgekommen, z. B. bei dem Mädchen, dem er den Revolver auf die Brust setzte.

 

Der Angeklagte war von seltener Willensstärke und besaß die Mittel, seinen Willen auf andere wirken zu lassen; Suggestion, sexuelle Einwirkung und Drohung, und wenn wir dies festhalten, ergibt sich manches völlig leicht. Man hat die Frage aufgeworfen, ob der Brief Ursulas an Großmutti unter hypnotischem Einfluß geschrieben sein kann. Irgend ein Beweis hierfür liegt nicht vor. Geheimrat Moll verliest den Brief an Großmutti und fährt fort: Das ist kein Abschiedsbrief, kein Brief, wie ihn ein Kind, wie wir es hier durch die Aussagen kennen gelernt haben, aus freiem Antrieb schreibt. Auf den Charakter und Inhalt des Briefes kommt es an. Nichts von der Absicht eines Selbstmordes findet sich darin. Es liegt die Annahme mehr als nahe, daß der Angeklagte den Brief diktiert hat oder ihn die Ursula hat abschreiben lassen.   D e r   I n h a l t   d e s   B r i e f e s   i s t   e i n f a c h   e i n e   E n t s c h u l d i g u n g   f ü r   d e n   A n g e k l a g t e n   f ü r   d e n   F a l l ,   d a ß   d a s   V e r b r e c h e n   h e r a u s k o m m t .   Geheimrat Moll nennt ein Beispiel aus seiner und Prof. Jeserichs Praxis, wo sich der des Mordes Verdächtige durch eine bestimmte Angabe zu entlasten versuchte, sich aber in Wirklichkeit belastete. So soll auch   d i e s e r   B r i e f   n u r   z e i g e n ,   d a ß   G r u p e n   n i c h t   d e r   T ä t e r   ist. Ueber die Einfügung   „ t r a u r i g e “   braucht man kaum ein Wort zu verlieren. Es ist eine Kleinigkeit, ein Mädchen dahin zu bringen, einen Brief zu schreiben, dessen Inhalt sie gar nicht versteht, bei solchem großen Einfluß, wie ihn der Angeklagte auf Ursula hatte.

 

Die Suggestion zeigte sich auch in den Zeugenaussagen der Personen, die bekundeten, dauernd mit Grupen oben im Zimmer zusammengewesen zu sein. Daß Grupen zu ihnen nachher gesagt hat: „Ihr wißt doch, daß ich bei Euch oben war,“ und „Bleibt nur bei der Wahrheit“,   d a s   i s t   S u g g e s t i o n ,   die jeder kennt, der sich damit beschäftigt hat. Sie wissen selbst genau, was gemeint ist, wenn man sagt: „Bleibt bei der Wahrheit!“ wenn sie wissen, was Grupen als Wahrheit aufgefaßt wissen will.

 

Seit zwanzig Jahren ist ein wissenschaftliches Gebiet neu ausgebaut worden, das der   A u s s a g e n f o r s c h u n g ,   die festzustellen sucht, unter welchen Bedingungen eine Aussage richtig ist, den Wahrheitswillen des Zeugen vorausgesetzt. Diesen Wahrheitswillen nehmen wir hier zunächst an, denn es ist nicht meine Aufgabe, ihn bei den Zeugen irgendwie zu beleuchten. Die Wichtigkeit der Aussage hängt von dreierlei ab: 1. von der   W a h r n e h m u n g ,   2. von der   E r i n n e r u n g ,   und 3. von der Fähigkeit der   W i e d e r g a b e .   Die Wahrnehmung ist viel wichtiger als die Erinnerung, denn wir nehmen viele Dinge wahr, ohne uns dann an sie zu erinnern. Beispiel dafür ist die Aussage der Frau Eckert, die erst sagte, Grupen sei die ganze Zeit nicht heruntergegangen, und dann: wenn sie wisse, daß die Tat in so kurzer Zeit erfolgen konnte, dann könne sie sagen, er sei hinuntergegangen. Sie sagte uns nicht, was sie wahrgenommen hat, sondern was sie   e r s c h l o s s e n   hat. Gegen die Erinnerungsmöglichkeit scheint mir die Wahrnehmungsfähigkeit die Hauptrolle zu spielen. Die meisten Menschen, darunter auch viele Richter, überschätzen die Fähigkeit der Wahrnehmung ganz bedeutend. Daß die Personen oben im Wohnzimmer wissen sollen, ob der Angeklagte zeitweise hinausgegangen ist, stellt Ansprüche, die ein normaler Mensch gar nicht erfüllen kann. Redner gibt hierfür Beweise durch Beispiele, wo man auf das Hereinkommen und Hinauskommen von Personen einfach nicht achtet. Dieses Nichtachten war, so führt er fort, damals etwas ganz selbstverständliches für alle Beteiligten, weil es ihnen ganz gleichgültig war, da sie nicht wußten, daß die Feststellung einmal wichtig werden konnte.

 

Was Grupen der   M a r i e   M o h r   sagte: „Bleib bei der Wahrheit“ und: „Gut, daß ihr wißt, daß wir alle drei oben waren“ ist   e i n e   S u g g e s t i o n   w i e   i m   B r i e f e ,   wie sie charakteristischer gar nicht gegeben werden kann. Aber die Mohr gab noch eine ganze Reihe anderer Beweise, die charakteristisch sind für die Unzuverlässigkeit ihrer Wahrnehmung. Am 9. Dezember, als sie als Zeugin vernommen wurde, sagte sie, sie glaube Grupen alles, was er sage. Sie, die sich genau daran zu erinnern glaubt, daß Grupen keine Sekunde abwesend war, hat eine ganze Reihe von Tatsachen, die erwiesen sind, nicht beachtet: daß Frl. Zahn zweimal durchs Zimmer ging, daß sich Grupen mit Fräulein Zahn durch die Tür unterhielt, daß Dörte gerufen wurde. Sie selbst sagt zwar, sie hätte mit Grupen dauernd Mühle gespielt, hat dann aber zugegeben, daß es nicht dauernd war, daß sie auch gelesen hat und am Fenster gesessen hat. Es sind eine ganze Reihe Dinge, an die sich Frl. Mohr nicht erinnert, und sie kann es auch nicht genau, denn Grupen hat ja selbst zugegeben, daß er bis zur Tür des Schrankzimmers gegangen ist. Das hat sie nicht bemerkt, und das alles beweist die Unzuverlässigkeit der Wahrnehmung.

 

Das Seelenleben der Ursel

haben wir kennen gelernt, so führt Geheimrat   M o l l   fort. Unter der Asche, so neben den Verhandlungen kann man es jetzt raunen hören, daß Ursula doch kein anständiges Kind, daß sie geschlechtlich infiziert war, an einer Krankheit, die der Vater nie hatte, daß sie geistig nicht in Ordnung war. Ich kenne diese Wege, - so wird allmählich ein Kind zur Verrückten gemacht. Ich habe mich bemüht, so viel wie möglich aus Ursulas Leben zu erfahren. Nichts aber habe ich erfahren über erbliche Belastung, nichts über Nervenerkrankung, wenn sie auch drei Wochen zu früh zur Welt kam, so ging es doch ganz normal zu, sie hatte beim Zahnen keine Krämpfe, lernte normal laufen, normal sprechen, sie lernte nicht besonders gut, kam aber regelmäßig mit. Für das Psychopathische bleibt nur das, daß sie betrübt war, und aus der Tragödie, von der wir hören, als die Oeffentlichkeit ausgeschlossen war, werden wir wohl den Schlüssel zu dieser Betrübtheit des Kindes haben. Auch was sonst von ihr gesagt wird, sie sei Männern nachgelaufen, sei nicht ganz intakt, ist durch nichts bestätigt worden. Geheimrat Moll ruft als Stütze dieser Ansicht das Zeugnis von Frl. Kliefoth den Geschworenen ins Gedächtnis zurück und fährt fort: eine psychische Erkrankung Ursulas lag nicht vor, sie war weder geistesschwach noch hysterisch noch etwa melancholisch. Wirkliche Melancholie hätte wohl einen Selbstmord erklären können, wenigstens hätte das aber auch keinen Anhalt ergeben. Weder die geistigen Umstände, noch daß sie ein schwaches Kind war, geben einen Anhalt dafür, daß das Kind hätte diese schwere Bluttat begehen, und sich dann selbst hätte töten können. Man bedenke, was es heißt, mit einem Revolver zu hantieren, wenn man nicht aus einer Offiziers- oder Jägerfamilie ist.   S e l b s t m o r d   d u r c h   E r s c h i e ß e n   ist auch   b e i m   w e i b l i c h e n   G e s c h l e c h t   e x t r e m   s e l t e n . Das beweist die Statistik, die hier höchstens 2 Prozent nennt. Und ganz extrem selten sind die Fälle, wo ein junges Mädchen, ein gutes Kind, zur Mörderin durch Erschießen wird, Vergiften ist da weit häufiger. Das Sichern und Entsichern des Revolvers erfordert schon eine verhältnismäßige Kraft. Natürlich konnte Ursula das lernen, wenn man es ihr methodisch beibrachte, aber davon ist ja hier nicht die Rede.

 

Nichts aus der Seele des Kindes weist auf diese Tat hin.

Wilhelm Grupens Aussagen sind schwer belastend für die Ursula, aber die ihr hierbei vorgeworfenen Handlungen passen zu ihr wie die Faust aufs Auge. Selbst wenn aus den Aussagen der kleinen Reske etwas zu Lasten der Mutter zutage treten sollte, so hat das für die Beurteilung der Ursula durch mich nicht die geringste Bedeutung.

 

Ein wichtiger Punkt sind noch die sechs

 

Abschiedsbriefe der Frau Grupen.

 

Ich habe mich sehr gewundert, daß   G r u p e n   k e i n e n   A b s c h i e d s b r i e f   b e k o m m e n   hat, denn es hätte doch nahe gelegen, daß sie auch an den Mann geschrieben hätte.   D a s   s i n d   n i c h t   A b s c h i e d s b r i e f e ,   d i e   e i n e   F r a u   s c h r e i b t ,   d i e   i h r e m   M a n n e   d u r c h g e h t ,   dazu nach Amerika, und   n i c h t   die Absicht hat, noch einmal zurückzukommen. Gegen die Kinder ist zu immer gut gewesen, und als sie diese für immer verließ, schreibt dann so eine Frau, die so etwas vorhat? Man kommt nicht zum Ziele, wenn man einfach sagt: aber sie hat sie doch geschrieben, also sind sie von ihr! Fast überall hier wird angenommen, daß der   B r i e f   a u f   d e r   T o i l e t t e   dort absichtlich hingelegt worden sei. Ich hatte die entgegengesetzte Empfindung, daß die Briefe auf der Toilette entworfen worden sind. Leider konnten wir über die Handschrift, wer die Briefe entworfen hat, nichts Näheres erfahren. Ich kann mir aber gut vorstellen, daß ein Mann, der großen Einfluß auf seine Frau hat, sehr wohl in der Lage ist, sei es durch Suggestion oder durch Täuschung, etwa einen schlechten Scherz, sie dazu zu bringen, solche Briefe zu schreiben, besonders wenn er eine Person von seltenem Einfluß auf seine Umgebung ist.

 

Ein   G e s c h w o r e n e r   stellt noch die Frage an Geheimrat Moll, ob der   s t e c h e n d e   B l i c k ,   den der Angeklagte nach Aussage von Dr. Moll habe, ein beachtlicher Faktor bei der Beeinflussung schwacher Charaktere oder Kinder sei. -   D r .   M o l l :   Dieser Ansicht bin ich.

 

Wilhelm Grupen.

Auf Veranlassung der Verteidigung erklärt   W i l h e l m   G r u p e n   noch auf die Bekundung des Fräulein Hatje, daß man ihr gesagt habe, Wilhelm Grupen habe in letzter Zeit größere Feste gefeiert: Es wurde nur der Geburtstag meiner Frau und meiner Kinder gefeiert und zwar in einfachster Weise, ohne jeden Alkohol. Auch habe er die Achtung seiner Mitmenschen genossen, wofür ein Beweis sei, daß er wie früher die Gemeindearbeiten erhielt und Kassierer im Kriegerverein war. Ebenfalls auf Veranlassung der Verteidigung kommt dann nochmals der   B r i e f   D ö r t e s   a n   F r ä u l e i n   Z a h n   zur Erörterung, worin Dörte schreibt: Komme bald, sonst hänge ich mich. Fräulein Zahn gibt hierzu noch einige Erklärungen.

 

Der   S t a a t s a n w a l t   bittet dann, Wilhelm Grupen nicht zu vereidigen, da nach seiner Ansicht dieser auch   b e i   d e m   V e r s c h w i n d e n   s e i n e r   S c h w ä g e r i n   d i e   H a n d   i m   S p i e l e   hat. Das Gericht beschließt, den Zeugen   n i c h t   z u   v e r e i d i g e n .

 

Auf Wunsch von Justizrat Dr. Ablaß erfolgt dann die Verlesung eines Artikels aus dem   B o t e n   vom 20. Februar d. J., und auf Wunsch des Staatsanwalts die Verlesung eines Artikels aus den   B r e s l .   N .   N a c h r .   vom 27. November d. J., welche beide auf den Mord Bezug haben.

 

Dann wird der Kolporteur   K l ä t t e   aus Itzehoe vernommen, der aussagt, daß er gesehen habe, wie wenige Tage vor dem Umzug nach Ottenbüttel der Angeklagte seine Frau, die zur Tür herauswollte, zurückgestoßen und die Hand zum Schlage erhoben habe. Dann wurde die Tür zugemacht, und er hörte aus dem Innern des Hauses einen Schrei.

 

Hierauf wurde die weitere Verhandlung   a u f   M o n t a g   ½ 10 Uhr vertagt, wo zunächst noch einige Zeugen, anfangs unter Ausschluß der Oeffentlichkeit, vernommen und dann gleich mit den   P l a i d o y e r s   begonnen werden soll, die ohne Pause, vielleicht aber auch mit teilweisem Ausschluß der Oeffentlichkeit, durchgeführt werden sollen. Das   U r t e i l   ist   i n   d e r   N a c h t   z u m   D i e n s t a g   zu erwarten.

 

 

 

Dienstag, den 20. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Der letzte Verhandlungstag.

Schluß der Beweisaufnahme.

Beginn der Plaidoyers.

Der Staatsanwalt spricht.

 

Hirschberg, 19. Dezember

 

Der Beginn der Sitzung am Montag, dem Tage der Plaidoyers, brachte noch den Rest der Beweisaufnahme. Dabei wurde die Art der Krankheit Grupens und der Ursula festgestellt, und es wurden noch zwei Briefe verlesen, die jeder in seiner Art bezeichnend sind. Frau Eckert wurde vereidigt und die Schuldfragen festgestellt. Dann begann der Staatsanwalt seine Rede, deren Dauer nach Stunden zu bemessen ist. Ueber den Beginn des letzten Verhandlungstages ist zu berichten:

 

Die Krankheiten Grupens und Ursulas.

Die Beweisaufnahme schließt ab mit der Vernehmung des Privatdozenten Dr. Erich   K u s n i t z k y -   Breslau über das Ergebnis der Wassermannschen Blutuntersuchung bei dem Angeklagten und einer seiner Bräute. Die Untersuchung ist in beiden Fällen vollständig negativ ausgefallen; es wurden nirgends Krankheitsstoffe, die auf Syphilis deuten, vorgefunden. Daraus kann man schließen, daß bei dem Angeklagten keine Syphilis vorgelegen hat. Dagegen ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß der Angeklagte und Ursula Schade mit einer anderen, und zwar gleichartigen Geschlechtskrankheit behaftet waren.

 

Auf Antrag des Verteidigers Dr. Mamroth wird nochmals Geheimer Medizinalrat   D r .   L e s s e r -   Breslau über dasselbe Thema gehört. Der Sachverstädnige ist der Meinung, daß die Infektion der Ursula mit großer Wahrscheinlichkeit   d u r c h   d e n   A n g e k l a g t e n   erfolgt ist.

 

D r .   C h a u s s y -   Hirschberg hält die Möglichkeit einer Fehldiagnose des Herrn Dr. Meier, auf die sich das Gutachten des Herrn Dr. Kusnitzky stützt, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit für ausgeschlossen.

 

Briefe.

Es folgt auf Antrag der Verteidigung die Verlesung des   B r i e f e s ,   den Frau   G e r t r u d   S c h a d e   auf das Heiratsinserat Grupens geschrieben hat. In dem Briefe heißt es u. a., daß Frau Schade das Inserat als eine Schicksalswendung betrachte.

 

Auf Antrag des Staatsanwalts wird der Brief verlesen, den der   A n g e k l a g t e   am Tage seiner Verhaftung an seinen Bruder   W i l h e l m   geschrieben hat. Der Brief enthält u. a. den Satz: „Nun ist es mir klar, warum Ursel heimlich an der Schublade war, als wir ins Zimmer kamen.“

 

Das Gericht beschließt nunmehr, die   F r a u   E c k e r t   z u   v e r e i d i g e n .   Die Zeugin erklärt, daß sie alles, was sie gesagt habe, mit gutem Gewissen beschwören könne.

 

Damit ist die Beweisaufnahme beendet. Der Vorsitzende verliest hierauf

 

Die Schuldfragen:

1.   Ist der Angeklagte, Architekt Peter Grupen aus Ottenbüttel schuldig, am 14. Februar 1921 in Kleppelsdorf bei Lähn vorsätzlich einen Menschen, Dorothea Rohrbeck, getötet und die Tötung mit Ueberlegung angeführt zu haben?

 

2.   Ist der Angeklagte schuldig, durch eine fernere selbständige Handlung am 14. Februar 1921 vorsätzlich einen Menschen, Ursula Schade, getötet und die Tötung mit Ueberlegung ausgeführt zu haben?

 

3.   Ist der Angeklagte schuldig, durch eine fernere selbständige Handlung im Herbst 1920 in Ottenbüttel mit einer Person unter 14 Jahren, der Ursula Schade, unzüchtige Handlungen vorgenommen oder dieselbe zur Verübung oder Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet zu haben?

 

4.   Ist der Angeklagte schuldig, durch eine fernere selbständige Handlung als Pflegevater mit seinem Pflegekinde unzüchtige Handlungen verübt zu haben?

 

Eine fünfte Schuldfrage bezieht sich auf unerlaubten Verkehr des Angeklagten mit Ursula.

 

Das Plaidoyer des Staatsanwalts.

Oberstaatsanwalt   D r .   R e i f e n r a t h   nimmt hierauf das Wort zu seinem Plaidoyer.

 

Wer die blutigen Kindergestalten der Dorothea Rohrbeck und Ursula Schade gesehen und wer wenige Tage später Tage später bei der Bestattung Dörte im weißen Kleide, das sie als höchstes begehrte, gesehen, den wird bis ins Innerste bewegt haben der Gedanke vom Werden und Vergehen, aber auch das Gefühl der Empörung und das Verlangen, die furchtbare Tat aufzuklären und zu sühnen.

 

Vieles ist in den Prozeß hineingetragen worden, um den Angeklagten richtig zu bewerten, um aus Nebenumständen zu erkennen, ob er die Persönlichkeit ist, die diese Straftaten begangen hat und der man die Straftaten zutrauen kann.

 

Grupen hatte den Verkauf seines Grundstücks in Ottenbüttel in die Wege geleitet, er stand vor der Möglichkeit, seine Wohnung zu haben. Daher drängte er am 5. Februar zur Reise nach Kleppelsdorf. Seiner Schwiegermutter war diese Reise im Winter nicht sympathisch. Aber Grupen ließ von seinem Plan nicht ab. Er meldete die Kinder ab und traf alle Anstalten für eine längere Reise. Frau Eckert machte ausdrücklich darauf aufmerksam, daß sie nicht ohne Einladung nach Kleppelsdorf gehen und nicht noch die Kinder mitnehmen könnte. Der Angeklagte beschwichtigte sie und sagte, er habe die Kleppelsdorfer auf den großen Besuch vorbereitet. Er hatte aber weiter nichts getan, als in einem Telegramm seinen Besuch mit der Großmutter anzukündigen. In Kleppelsdorf gab es großes Erstaunen darüber, daß statt des erwarteten Grupen und seiner Schwiegermutter auch noch die Kinder und noch eine Stütze kamen. Da man im Schloß Kleppelsdorf die Doppelrolle erkannt hatte, die Grupen in dem Prozeß gegen den Vormund spielte, suchte man Klarheit zu schaffen, und fuhr schon am nächsten Tage zum Rechtsanwalt Dr. Pfeiffer nach Hirschberg, um Grupens Ansprüche zu regeln. Der Angeklagte hat damals selbst erklärt, in einer Zwickmühle zu sein. Dörte Rohrbeck wird es unheimlich zu Mute. In ihrer Herzensangst geht sie zur Oberschwester Kube, die sich darüber gewundert hat, daß Grupen mit seinem saloppen Aussehen der Mann der Frau Schade ist. Ein großes Unheil kündet sich dumpf im Innern des Menschen an: Dorothea sagt zur Oberschwester: „Du liegst hier geborgen, mich aber graut´s, in mein Haus zu gehen.“ Fräulein Zahn und Dörte wunderten sich, daß Grupen keine Vorbereitungen zur Abfahrt traf, nachdem die geschäftlichen Angelegenheiten beim Rechtsanwalt Dr. Pfeiffer erledigt waren. Grupen aber mußte bleiben, weil der Zweck seiner Reise noch nicht erreicht war. Innere Erregung bemächtigte sich seiner, die er unterdrücken und nach außen hin vertuschen mußte. Daher tanzt er, tanzt mit allen, sogar mit der 74 Jahre alten Schwiegermutter. So kam der 14. Februar.

 

Der Staatsanwalt, von dem der Angeklagten nicht einen Blick wendet, schildert die Vorgänge kurz vor der Entdeckung der Bluttat. Grupen hatte das Bestreben, an jenem Vormittag, wo er mit Irma und der Mohr im Beisein der Großmutter Mühle spielte, bei seiner Umgebung, namentlich bei Frl. Zahn, den Glauben zu erwecken, daß er das   Z i m m e r   n i c h t   v e r l a s s e n   hat. Er knüpft mit der im Nebenzimmer rechnenden Erzieherin Zahn eine Unterhaltung über nichtssagende Dinge an, bringt ihr Apfelsinen zum Schälen und geht im Zimmer auf und ab. Es kommt

 

der Moment der Tat.

 

Irma wird vom Vater mit den Apfelschalen fortgeschickt. Der Vater folgt ihr bis zum Schrankzimmer; ob er weitergegangen ist, kann das Kind nicht sagen. Irma wird, als sie zurückkommt, von Frl. Zahn gerufen, um nach Dörte und Ursula zu sehen. Da hält Grupen das Kind noch einige Augenblicke zurück, zweifellos, weil er fürchtete, seine Opfer könnten ihr Leben noch nicht ausgehaucht haben, könnten noch nicht verstummt sein. Dann geht Irma hinunter, kehrt aber bald wieder zurück und meldet, Dörte und Ursula gerufen, jedoch keine Antwort erhalten zu haben. Fräulein Zahn schreitet in diesen Augenblicken durch das Zimmer des Angeklagten. Warum sah er sich bei dieser Gelegenheit Frl. Zahn außerordentlich scharf an? Weil er ihr ins Bewußtsein bringen wollte:   I c h   b i n   d a !

 

D a s   V e r b r e c h e n   w i r d   e n t d e c k t .   Grupen ist einer der ersten im Mordzimmer. Bald läuft er zurück und begegnet auf der Treppe Frl. Zahn. Mit ihr geht er wieder an den Schauplatz des Verbrechens und da bittet ihn Frl. Zahn vergeblich, ihr zu helfen, die Opfer aufs Bett zu legen. Wie bei allen Blutverbrechen, kann auch hier   d e r   T ä t e r   d i e   O p f e r   n i c h t   a n f a s s e n .   Erst nach dreimaliger Aufforderung tut er es mit sichtlicher Ueberwindung. Vorher hat er   d i e   P i s t o l e   aufgehoben, die bezeichnenderweise zur Linken der Ursula lag, während sie auf der rechten Seite hätte liegen müssen. Als der erste Arzt kam, hat Grupen die Dreistigkeit, ihn zu fragen: „Kann man der Ursula nicht etwas geben, daß sie noch etwas sagen kann?“ 

 

Der Staatsanwalt zählt alles auf, was Grupen sonst noch schwer belastet. Wenn Grupen, als der Landjäger erschien, jammerte und sich an die Kinder herandrängte, so mag es möglich sein, daß der Tod Ursulas ihn in einen gewissen Grad von Trauer versetzte. Aber wie kann jemand, der ein reines Gewissen hat, zu dem Landjäger bald nach der Entdeckung der Tat sagen: „Ich werde wohl   s c h o n   bewacht?“ Warum sagte Grupen, als er abgeführt wurde: „Wenn Ihr wißt, daß ich das   Z i m m e r   n i c h t   v e r l a s s e n   habe, bin ich morgen wieder frei.“ Die dicken Mauern des Mordzimmers sind dem Angeklagten zum größten Verhängnis geworden. Wenn Menschen schweigen, werden Steine reden. Und die Steine in dem quadratischen Zimmer sagen uns, daß die   P a t r o n e n h ü l s e n   nicht anders fallen konnten, daß

 

kein Selbstmord, sondern Mord

 

vorliegt.

 

Der Großmutti-Brief ist kein Abschiedsbrief, sondern ein eigener Anklagebrief für den Täter. Auch in den Abschiedsbriefen seiner Frau hat er Wert darauf gelegt, sich zu entlasten.

 

Der Angeklagte war ein Mensch von außerordentlich starkem Willen, der auf seine Umgebung einen sehr großen Einfluß ausübte, einmal durch die Suggestion und dann durch die sexuelle Hörigkeit, wie sie Professor Moll dargelegt hat. Die Ursula stand völlig in seinem Bann, und so veranlaßte er sie zum Schreiben des Briefes an Großmutti. Das Kind hatte, wie Professor Dr. Schneidemühl bekundete, kein Bewußtsein von dem Inhalt des Briefes. Es hat sich nicht feststellen lassen, wer das Wort „traurige“ in den Brief eingefügt hat; aber dieses Wort paßt zu dem sonstigen Inhalt des Briefes wie die Faust auf das Auge. Der Angeklagte hat, das ist unzweifelhaft, die Ursula zum Schreiben dieses Briefes veranlaßt, um Ursula als ein gemütskrankes Kind hinzustellen, dem man die Tat wohl zutrauen könnte.

 

Der Angeklagte hat aber noch andere Enttäuschungen in dieser Verhandlung erlebt: Die Aussagen der Zeugen, die mit ihm im Augenblick der Tat zusammen waren.   F r a u   E c k e r t   hat jetzt die Möglichkeit zugegeben, daß der Angeklagte das Zimmer verlassen hat, während sie früher sagte, sie könne beschwören, daß der Angeklagte nicht einen Augenblick das Zimmer verlassen hat. Aus dem Gutachten von Professor Moll ergibt sich, daß es sehr wohl möglich ist, daß jemand sich zunächst auf Wahrnehmungen nicht erinnert, sie später aber in das Gedächtnis zurückruft. Es ist kein Zweifel, daß die jetzigen   A u s s a g e n   d e r   F r a u   E c k e r t   und auch der   I r m g a r d , die ja jetzt nicht mehr unter dem Einfluß des Angeklagten stehen, richtig sind. Bei dem Zeugnis der   M o h r   ist zu beachten, daß sie damals während ihrer Wahrnehmungen vollständig unter dem Einfluß des Angeklagten stand. Sie hat auch sonst schlecht beobachtet. Sie las in einem Märchenbuche, und man weiß ja, wenn junge Mädchen sich mit Märchen beschäftigen, dann haben sie keinen Sinn für die Außenwelt. Sie hat daher nicht gesehen und gehört, wir Fräulein Zahn zweimal durch das Zimmer ging, um eine Schüssel zu holen, daß der Angeklagte mit der Irma bis zur Türe des Schrankzimmers ging, sie hat nicht beobachtet, daß dauernd Mühle gespielt und gerechnet wurde, daß der Angeklagte zweimal zu Frl. Zahn ins Zimmer ging und mit ihr sprach. Die Zeugin kann daher wohl der Meinung gewesen sein, daß das, was sie sagt, die Wahrheit ist, in Wirklichkeit ist es aber nicht die Wahrheit.

 

Der Staatsanwalt betont, daß nach den übereinstimmenden Gutachten der Sachverständigen ein Selbstmord der Ursula vollständig ausgeschlossen ist. Die Tat hat sich nach Ansicht des Staatsanwalts folgendermaßen abgespielt: Durch Ursula hat der Angeklagte die Dorothea, die sonst stets ein Zusammensein mit ihm vermied, nach dem unteren Zimmer gelockt. Dann ist der Angeklagte hinzugekommen, hat den ersten Schuß auf die Dörte, den zweiten auf die Ursula und den dritten, den Fangschuß, auf Dörte abgegeben. Das beweisen die Gutachten der Sachverständigen und die Lage der Patronen.   D i e s e   T a t s a c h e n   s i n d   K e u l e n s c h l ä g e ,   die den Angeklagten zerschmetterten.

 

(Bei Schluß der Redaktion dauert das Plaidoyer noch fort.)

 

 

 

Dienstag, den 20. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

 

1921-12-20-sb

 

 

 

Mittwoch, den 21. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

 

Die Verteidigung im Mordprozeß.

Ueberzeugt von der Unschuld Grupens.

 

Hirschberg, 20. Dezember

 

Der Prozeß ist in der Nacht zu Dienstag   n i c h t   z u   E n d e   g e g a n g e n ,   wie anfänglich angenommen worden war, denn die Reden der beiden Verteidiger schöpften das gesamte Material so …lich aus, daß die erste Rede etwa 5 ½ Stunden und die zweite 4 Stunden in Anspruch nahm. So mußte in der Nacht um 2 Uhr die Verhandlung noch einmal vertagt werden. Man wird sich der Ansicht nicht verschließen können, daß hier für den Angeklagten geleistet worden ist, was irgend geleistet werden konnte. Ob die Geschworenen sich in ausreichender Zahl den Ansichten der Verteidigung anschließen werden, bleibt natürlich abzuwarten. Heute Dienstag, hat zunächst der Staatsanwalt abermals in längeren Ausführungen gesprochen, denen die beiden Verteidiger antworten werden. Auch dann findet möglicherweise noch mal Rede und Gegenrede statt, und die Beratung der Geschworenen dürfte ebenfalls erheblich Zeit in Anspruch nehmen, so daß das Urteil möglicherweise erst am späten Nachmittag zu erwarten ist.

 

Ueber die Reden der Verteidiger berichten wir folgendes:

 

Fortsetzung der Rede des Staatsanwalts.

Der   S t a a t s a n w a l t   geht in seiner weiteren Rede kurz auf Grupens Persönlichkeit und Vermögensverhältnisse ein. Bezeichnend dafür, wie Grupen hoch hinaus wollte, ist die Tatsache, daß er sich den Titel „Architekt“ beilegte, der ihm nicht zusteht. In seinen Liebesverhältnissen spielte der Revolver einmal eine charakteristische Rolle, - ein Beweis, wie Grupen vor keinem Mittel zurückschreckte, andere unter seinen Willen zu zwingen. Von Hause aus war Grupen fast mittellos. In Hamburg bezog er Erwerbslosenunterstützung, er versetzte seinen Mantel und lieh sich einen von dem Vater seiner damaligen Braut. Sein höchstes Bestreben war, reich zu heiraten, um zu Geld zu kommen. Darum ließ er sich sofort nach der Verheiratung mit Frau Schade von dieser und von seiner Schwiegermutter Generalvollmacht geben; das Vermögen seiner Frau genügte ihm nicht, er wollte auch das der Schwiegermutter haben. Wenige Monate, nachdem sich Grupen auf diese Weise in den Besitz von Vermögen gesetzt hatte, verschwand seine Frau. In diesem Prozeß kommt es nicht darauf an, das Verschwinden der Frau Grupen abschließend zu behandeln, sondern es nur zur Charakterisierung des Angeklagten heranzuziehen.   F r a u   G r u p e n   i s t   s e h r   w a h r s c h e i n l i c h   d u r c h   d i e   H a n d   d e s   A n g e k l a g t e n   z u m   e w i g e n   S c h w e i g e n   g e b r a c h t   w o r d e n .   Wenn es in den sogenannten Abschiedsbriefen der Frau Grupen heißt: „Du darfst nicht denken, daß Peter die Veranlassung war“ und „Nimm dir den Onkel Peter zum Beispiel, der sehr, sehr viel verloren hat“ - so handelt es sich auch hier um von dem Angeklagten selbst diktierte Entschuldigungen, die aber in Wirklichkeit Anschuldigungen gegen ihn sind. Mit den Abschiedsbriefen der Frau hat der Angeklagte die erste Probe darauf gemacht, wie derartige Briefe wirken, ob sie den beabsichtigten Erfolg haben, den Verdacht vom Täter abzulenken. Nach der Verheiratung mit Frau Gertrud Schade spielte sich Grupen als der große Mann auf. Trotzdem sah er sich gezwungen, den Pelzkragen seiner Schwiegermutter und den Regenmantel seiner Frau in Hamburg für 150 Mark zu versetzen. Grupen hat überhaupt immer nur über das Allernotwendigste verfügt. Als ihn im Sommer 1920 Frl. Zahn mit Dörte in Itzehoe besuchte, prahlte er mit seinen überreichen Mitteln, aus denen er für Dörte Zuschüsse gewähren wolle. Nicht lange Zeit darnach versetzte er das Silber, verkaufte er die Ringe seiner Frau. Bemerkenswert ist das Doppelspiel, das der Angeklagte in dem Verhältnis zwischen Frl. Zahn und dem Vormund gespielt hat. Dieses Doppelspiel beleuchtet grell die Unaufrichtigkeit und Unwahrhaftigkeit des Angeklagten, der wegen der vor dem Notar Dr. Pfeiffer abgegebenen falschen eidesstattlichen Versicherung noch zur Verantwortung gezogen werden wird.

 

Unter Ausschluß der Oeffentlichkeit

behandelt der Staatsanwalt den zweiten Teil der Anklage, Grupens Sittlichkeitsverbrechen. Skrupellos hat der Angeklagte Mädchenunschuld und Frauenehre beiseite geworfen. Aber er hätte sich bemühen müssen, zu erfahren, woher die häßliche Krankheit Ursulas gekommen ist; er tat es aber nicht, weil er wußte, daß er die Schuld an der Krankheit hatte. Die Geschworenen werden den Angeklagten des Sittlichkeitsverbrechens, das ihm zur Last gelegt wird, schuldig sprechen müssen.

 

Der Staatsanwalt erinnert am Schluß seiner vierstündigen Rede an die Mordprozesse Ellsel, Süßmuth und …Bei diesen Verbrechen ist Habgier die Triebfeder gewesen, und   H a b g i e r ,   der Wille, frei schalten und walten zu können, ist auch das Motiv der Tat des Angeklagten. Nachdem er sich nicht durch Heirat in den Besitz des schönen Gutes Kleppelsdorf setzen konnte, nachdem es ihm nicht gelungen war, wenigstens die Bewirtschaftung des Gutes zu erlangen, schritt er zur Gewalt. Dorothea Rohrbeck mußte sterben und mit ihr die Zeugin der Tat, die kleine Ursula. In der Verteidigung hat der Angeklagte mit seinen Anwälten, den berühmtesten der Provinz, gewetteifert, jedem Angriff zu begegnen. Aber Punkt für Punkt ist er durch Tatsachen überführt, durch Tatsachen widerlegt worden. Und wenn er einmal etwas kleinlaut wurde und Fragen nicht beantwortete, da hatte man das Gefühl: hier gibt es einen kläglichen Rückzug. Unaufrichtig, wie er sich in seinem Vorleben gezeigt hat, ist er auch in der Verhandlung gewesen. Er hat sich bemüht, alles zu verändern und zu entstellen, was ihn belasten könnte. Er hat es sogar fertig gebracht, als sein Verteidiger sagte: „Hier geht es um den Kopf des Angeklagten!“ zu lächeln. Zu einem solchen Lächeln gehört eine unendliche Dreistigkeit, ganz gleichgültig, ob man schuldig oder unschuldig ist. Chate…, der große Menschenkenner, sagt: „Ich muß mirs niederschreiben, daß einer lächeln kann und wieder lächeln und doch ein Schurke sein.“   N u r   d e r   A n g e k l a g t e   k o n n t e   e i n e n   d e r a r t i g e n   M o r d   b e g e h e n .   Ich bitte den Angeklagten im vollen Umfange der Anklage schuldig zu sprechen.

 

Bald nach kurzer Mittagspause nahm

 

Justizrat Dr. Ablaß,

 

der erste Verteidiger Grupens, das Wort: Die wahre Beredsamkeit besteht darin, nur das zu sagen, war zur Sache gehört. Hatte der Staatsanwalt dieses Lächeln bemerkt, dann mußte er das damals zur Sprache bringen, um dem Angeklagten Gelegenheit zu geben, sich dazu zu äußern. Es gibt dich auch ein Lächeln des Zornes, des … und der Verachtung. Ich kann als Verteidiger nicht dulden, daß hier etwas vorgebracht wird, das nicht Gegenstand der Verhandlung war.

 

Der Staatsanwalt hat ferner gesagt, daß der Angeklagte sich die beiden besten Verteidiger Schlesiens gewählt habe, er wollte damit den Anschein erwecken, daß der Angeklagte eine besonders gerissene Verteidigung nötig habe. Diese Bezeichnung des Staatsanwalts muß ich für meine Person entschieden ablehnen. Ich habe die Verteidigung übernommen, nicht um der Gerechtigkeit in den Arm zu fallen, sondern um mitzuwirken am Finden der Wahrheit. Ich habe niemals eine Anklagte gefunden, die sich so wenig auf Tatsachenmaterial stützte wie in diesem Falle. Aber wir haben hier weniger zu kämpfen gegen die Tatsachen, als   g e g e n   d i e   ö f f e n t l i c h e   M e i n u n g .   Das ist das Furchtbarste und Entsetzlichste in dieser ganzen Sache. Man spricht hier viel von Suggestion, aber das Furchtbarste ist die   M a s s e n s u g g e s t i o n .   Wenige Tage nach dem Morde brachte das hier gelesenste Blatt einen Artikel, der Grupen direkt als überführten Mörder bezeichnete. Sie, meine Herren Geschworenen, sollen erst das Urteil sprechen, aber die öffentliche Meinung hat schon ein Vorurteil gesprochen. Es ist hier, als ob die Verteidigung gegen ein dunkles Phantom kämpfte, als ob wir Hiebe in die Luft führten.

 

Wie weit dieses Vorurteil geht, haben wir gesehen bei der Vernehmung des Untersuchungsrichters   D u b i e l ,   der sagte, daß er den Angeklagten für schuldig erachte, und das er von allen Seiten von Leuten umgeben war, die ihn für schuldig hielten. Da ist seine Art der Vernehmung begreiflich, daß er jedes Wort erwog oder daß er sich die Erklärung für die Hauptverhandlung aufsparte.

 

Dann kritisierte der Verteidiger die Aeußerung des Landgerichtsrats Pietsch, daß der Angeklagte sich wie ein wildes Raubtier auf ihn habe stürzen wollen, und das Verhalten des Rechtsanwalts   R e i n e c k e ,   der die Vertretung von Frau Eckert und die Abwesenheitspflege für Frau Schade übernahm, als er noch das Mandat des Angeklagten hatte.

 

Der Angeklagte kämpfte einen schwere Kampf,   w e i l   m a n   i h m   n i c h t   g l a u b t .   Als die Geschworenenbank gebildet wurde, haben wir dahin gestrebt, daß Männer aus allen Schichten des Volkes und mit scharfer Intelligenz bestimmt wurden, in der Hoffnung, daß sie sich eifrig an der Suche nach der Wahrheit beteiligen würden. Aber man hatte oft in der Verhandlung die Auffassung, als ob man vielfach auf eine   A b a r t   des Scharfsinns, den   S p ü r s i n n ,   stoße, der sich nur nach einer Richtung hin betätigt, - im vorliegenden Falle nur in der Richtung, die Schuld des Angeklagten zu beweisen, und alle anderen Spuren, die ihn nicht belasten, beiseite läßt.

 

Befreien wir uns von der Massensuggestion, die zu dem größten Trauerspiel der Welt geführt hat, als das Volk in Jerusalem schrie:   K r e u z i g e   i h n !   Wir haben im Weltkriege die Massensuggestion der Welt gegen uns gesehen, die hervorgerufen wurde durch die   M a c h t   d e r   P r e s s e .   V o n   d e r   P r e s s e   ging solche   S u g g e s t i o n   d e r   ö f f e n t l i c h e n   M e i n u n g   aus, die wir zu unserem Leidwesen an uns erfahren haben. Jetzt soll aber hier die Stunde der nüchternen Vernunft beginnen, jetzt soll die Schranke fallen, die sich anscheinend zwischen uns und den Geschworenen ausgerichtet hat.

 

Justizrat Dr. Ablaß schildert zunächst den   K l e p p e l s d o r f e r   P e r s o n e n k r e i s   und kommt dabei auf   F r l .   Z a h n   zu sprechen. Ich kann ihren Standpunkt in der Vormundschaftssache verstehen und zweifle nicht an ihrer Wahrheitsliebe, denn ich werde mich später selbst auf ihre Aussagen stützen müssen. Andererseits verstehe ich aber auch den Standpunkt des   V o r m u n d e s ,   der seine Aufgabe als Vermögensverwalter eines altpreußischen Offiziers zu lösen suchte und Einfachheit und Sparsamkeit zum Ziele hatte. Seine Ansicht, daß sich jeder jetzt einschränken müsse, ist mir besonders sympathisch. Der Vormundschaftsrichter, Amtsgerichtsrat   T h o m a s ,   ist ein Richter von anerkannter Pflichttreue, großem Willen und Unabhängigkeit sowie großem Takt, der sicher nach bestem Wissen und Gewissen als der mit den Verhältnissen Vertraute sich der Ansicht des Vormundes angeschlossen hat. Welche von den Parteien Recht hatte, will ich nicht entscheiden, aber es ist Tatsache, daß zwischen Fräulein Zahn und dem Vormund ein erbitterter Rechtsstreit bestand. Zwischen diesen Parteien gab es keine Verständigung.

 

Auf der anderen Seite stand der   P e r s o n e n k r e i s   v o n   I t z e h o e   u n d   O t t e n b ü t t e l .   Da ist zunächst die   F r a u   d e s   A n g e k l a g t e n ,   die verwitwete Schade. Sie war nicht die „edle Frau“, als die sie der Staatsanwalt hingestellt hat. Das Ehepaar Neugebauer hat erklärt, daß Frau Ecker und Frau Schade versucht haben, die kleine Ruth Reske, das Pflegekind der Frau Schade, um ihr Vermögen zu bringen, während der Angeklagte auf jedes Erziehungsgeld verzichtet und versucht hat, dem Kinde wenigstens einen Teil der geringen Habe zu retten. Sogar aus dem Gefängnis hat er der Ruth noch 5000 Mk. angewiesen. Man sagt, der Ruf der Frau Schade sei nicht gut gewesen. Ich will auf diese Gerüchte nichts geben, aber dann, meine Herren Geschworenen, dürfen Sie auch nicht auf die Gerüchte geben, die gegen den Angeklagten vorgebracht werden. Dann schildert der Verteidiger den

 

Charakter des Angeklagten

 

und schildert dessen Lebenslauf, aus dem hervorgeht, daß er doch das sonst immer als löblich anerkannte Streben hatte, durch eisernen Fleiß und fortgesetztes Lernen sich fortzubilden und aus den einfachen Verhältnissen, aus denen er stammte, emporzukommen. Die Ehe mit seiner Frau muß zunächst recht glücklich gewesen sein, später ist es dann zu Differenzen gekommen, an denen aber der Angeklagte nicht allein Schuld trägt. Zu den Kindern, die Frau Grupen mit in die Ehe brachte, ist der Angeklagte gut gewesen. Macht das ein Schurke, als welchen der Staatsanwalt den Angeklagten hinstellt, daß er jeden Abend mit den Kindern betet?

 

In nichtöffentlicher Sitzung

gibt der Verteidiger das   L i e b e s l e b e n   d e s   A n g e k l a g t e n   rücksichtslos preis. Er schildert die verschiedenen Verhältnisse, die der Angeklagte teilweise zu gleicher Zeit unterhielt, oder in einer Weise löste, die sich nicht beschönigen läßt. Er leuchtet in das Eheleben des Angeklagten hinein und führt Tatsachen an, die es ihm glaublich erscheinen lassen, daß die Frau an der Zerrüttung des Ehelebens die Schuld trug. Aber man könne nicht ohne weiteres die Schuld der Frau ablehnen und sie dem Angeklagten zuschieben. Der Angeklagte habe sich gewiß bei seinen vielfachen Beziehungen nicht einwandfrei benommen. Aber pervers sei er nicht. Im übrigen sei ein schwerwiegender Anlaß vorhanden, an der Zuverlässigkeit des als Sachverständiger vernommenen behandelnden Arztes zu zweifeln. Der Sachverständige muß sich, nach Annahme der anderen Sachverständigen und des Staatsanwalts in einem wichtigen Punkt geirrt haben. Hat er sich aber da geirrt, so sind auch andere Irrtümer möglich. Dann ergeben sich Rätsel, und die Geschworenen sind nicht dazu da, Rätsel zu raten. Er habe den Antrag auf mildernde Umstände nicht gestellt, weil die Verteidigung den Angeklagten für unschuldig halte.

 

Nach Wiederherstellung der Oeffentlichkeit setzte Justizrat   D r .   A b l a ß   sein Plaidoyer bei Lampenlicht - die elektrische Beleuchtung versagte plötzlich. - fort.

 

Der Staatsanwalt hat alles zusammengestellt, was ihm zur Ueberführung des Angeklagten dienlich erschien, ohne dabei die Zeitfolge innezuhalten. Ich habe mich in diesem Prozeß der Riesenaufgabe unterzogen, alle Tatsachen zeitlich richtig zusammenzustellen. Und als ich das getan hatte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und das, was von der Staatsanwaltschaft als schwerstes Belastungsmoment angeführt wird, erscheint als völlig untergeordneter Vorgang.

 

Grupens Bereitwilligkeit, dem Frl. Zahn Zuschüsse für Dörte zu zahlen, ist nur eine gewisse Wichtigtuerei. Wenn Frau Eckert ihrem Schwiegersohn Hypotheken abgetreten hat, ohne Gegenwert zu erhalten, so ist dies auf dem Lande ein nicht seltener Vorgang in allen den Fällen, wo alte Eltern von ihren Kindern mit Unterhalt und Wohnung bis zum Lebensende versorgt werden. Die Idee, daß Frau Grupen ein willenloses Werkzeug in der Hand des Angeklagten gewesen sei, ist eine Hypothese, die Geschworenen dürfen aber auf Hypothesen ihr Urteil nicht stützen. Die Staatsanwaltschaft hat es mit Recht unterlassen, gegen Grupen Anklage wegen des   V e r s c h w i n d e n s   s e i n e r   F r a u   zu erheben, denn sie sagft sich, wenn die Frau morgen auftaucht, bricht die Anklage in sich zusammen. Die Staatsanwaltschaft erkennt an, daß sie in diesem Punkte einen Beweis nicht führen kann, aber sie sagt sich, wenn wir Grupen die Schuld an dem Verschwinden seiner Frau auch nicht beweisen können, so wird er doch stark verdächtig erscheinen, und gelingt es uns, ihn stark verdächtig erscheinen zu lassen, so muß dies psychologisch wirken. Das ist aber etwas, wogegen ich kämpfe. Die Staatsanwaltschaft sagt, die Geschworenen brauchten sich mit Beweisen in der Angelegenheit der Frau Grupen nicht zu befassen. Aber ich frage, wenn man zu der Ueberzeugung kommt, daß der   G r o ß m u t t i - B r i e f   unter dem Einfluß des Angeklagten geschrieben ist, so können die Geschworenen auch annehmen, daß Frau Grupen ihre Abschiedsbriefe unter dem Einfluß ihres Mannes geschrieben hat. Der in der Toilette gefundene zerknüllte   E n t w u r f   d e s   A b s c h i e d s b r i e f e s   der Frau Grupen soll vom Angeklagten dorthin gelegt worden sein. Der Entwurf wurde gefunden, noch ehe die Frau fort war. Zu glauben, daß der Angeklagte das Papier wirklich dorthin gelegt hat, ist sinnlos; denn zweifellos hätte er es erst nach der Abreise seiner Frau fortgeworfen, weil durch das vorzeitige Auffinden des Zettels der Plan des Angeklagten vereitelt worden wäre. Es ist lediglich ein Zufall, daß trotz des baldigen Auffinden des Abschiedsbriefes die Auslandsreise der Frau Grupen nicht verhindert worden ist.

 

Alle acht Abschiedsbriefe der Frau Grupen sind streng individuell geschrieben, nicht einer gleicht dem anderen. Die Staatsanwaltschaft beruft sich für die Richtigkeit der Behauptung, daß die Briefe unter Grupens Einfluß zustande gekommen seien, aus das Gutachten der Sachverständigen. Ich habe vor den Sachverständigen den größten Respekt, aber die Wissenschaft, auf die sie ihre Gutachten stützen, ist wandelbar. Wie sieht es mit dem Gutachten der Sachverständigen für Suggestion aus, wenn der Angeklagte mit seiner Frau über das Verschwinden einig gewesen ist, wenn die Frau in Erkenntnis ihrer Schuld, in dem Vorsatz, ein neues Leben zu beginnen, mit dem Einverständnis des Mannes wirklich nach Amerika ausgewandert ist? Wo bleiben die Gutachten, wenn das, was sich an jenem Sonntag nachmittag in Itzehoe ereignete, der adäquate Entschluß eines freien Willens gewesen ist? Gegen den Angeklagten muß auch Dörtes Karte aus Berlin herhalten, die Fräulein Zahn bittet, bald nachzukommen, „sonst hänge ich mich“. Dörte ist damals in vergnügtester Stimmung gewesen; sie hat mit ihrer Freundin in Berlin Dressel und Kranzler besucht, sie hatte nicht die geringste Spur von verzweifelter Stimmung an den Tag gelegt. Warum hat sich der Angeklagte überhaupt in die Kleppelsdorfer Angelegenheit eingemischt? Ist es nicht möglich, daß er sich angesichts der Zwistigkeiten mit dem Vormund, angesichts der schlechten Wirtschaft auf dem Gute und der Geldknappheit der Erzieherin sagte, den mißlichen Verhältnissen macht am besten der Verkauf des Gutes ein Ende. Der Angeklagte war stark in Grundstücksgeschäften, und er hatte einen ungeheuer reichen Mann, den Maas, hinter sich. Er konnte also den Verkauf bewerkstelligen, ohne selber das Gut zu kaufen.

 

D r .   A b l a ß   geht nun ausführlich auf die

 

Ereignisse des 14. Februar

 

ein. Den Großmutti-Brief, der auch eine Grundlage der Anklage bildet, würde der Angeklagte nicht aus der Hand gegeben haben, er würde ihn behalten haben, um ihn im gegebenen Augenblick in die Tasche der Ursula zu praktizieren. Wir haben aber gehört, daß Ursula den Brief wiederholt der Mohr gegeben und wiederholt zurückverlangt hat. Unwahr ist die Behauptung, Ursula habe der Mohr den Brief gegeben mit den Worten: „Das ist eine   f r e u d i g e   Ueberraschung für Großmutter!“ Es ist erwiesen, daß Ursula nur gesagt hat: „Das ist eine   U e b e r r a s c h u n g ! „   Das „freudige“ ist eine Einschaltung der Anklage. Die Sachverständigen meinen, dieser Brief würde anders aussehen, wenn Ursula ihn als Selbstmörderin geschrieben hätte. Ich aber bin der Ansicht; ein Kind ist nicht fähig, wie ein Erwachsener seine Stimmung zu Papier zu bringen.

 

Der Verteidiger wendet sich mit ganz besonderer Entschiedenheit gegen die Behauptung der Staatsanwaltschaft, daß Grupen zurzeit der Tat   d a s   Z i m m e r   v e r l a s s e n   habe. Die Zeugnisse der kleinen Irma und der Frau Eckert erkennt der Verteidiger nicht an. Ihm kommt dabei der Gedanke, daß bei Irma eine Erinnerungstäuschung vorliegt infolge der suggestiven Experimente des Direktor Wrobel.

 

Aus den Einzelheiten beim Auffinden der Leichen wird zu Ungunsten des Angeklagten angeführt, er habe sich erst nach dreimaliger Aufforderung von Fräulein Zahn dazu verstanden, die tote Dörte aufs Bett zu legen. Eine Augen- und Ohrenzeugin hat nur   e i n e   Aufforderung gehört, ganz abgesehen davon, daß feststeht, daß der Angeklagte sich um die mit dem Tode ringende Ursula, sein Kind, bemüht hat.

 

Bezüglich der   P a t r o n e n h ü l s e n   gehört ein starker Glaube dazu, den Sachverständigen zu folgen in dem Urteil, daß die Hülsen nicht verschleppt worden sind. Die Hülsen sind unmöglich an der Stelle gefunden worden, wo sie hingefallen waren, denn die Hausbewohner und dann verschiedene andere Personen haben das kleine Zimmer betreten, ohne an die Hülsen zu denken.

 

Der Verteidiger tritt hierauf den Ausführungen des Staatsanwalts entgegen, daß der Täter aus Habsucht gehandelt habe. Grupen hätte nie der Erbe von Kleppelsdorf werden können, was er tatsächlich nicht geworden ist, obschon Dörte Rohrbeck nicht mehr lebt. Auch als Erbe der Frau Eckert wäre er niemals in Betracht gekommen.

 

Niemand wird glauben, daß es möglich ist, das Verbrechen in 59 Sekunden auszuführen. Gerade der Angeklagte hätte sich zweifellos gesagt: in einem Hause, wo ich bekannt bin, in einem Hause, wo ich jeden Augenblick jemand begegnen kann, wäre es hirnverbrannt, am hellen Tage eine solche Tat zu vollführen.

 

D r .   A b l a ß   schließt seine fünfeinhalbstündigen Ausführungen wie folgt: Glauben Sie mir, meine Herren Geschworenen, daß es mir nicht leicht fällt, eine   S e l b s t m o r d   d e r   k l e i n e n   U r s u l a   n i c h t   v o n   d e r   H a n d   z u   w e i s e n .   Für mich gibt es nur die Erklärung: das unglückliche Kind hat im Augenblick tiefster seelischer Depression - nicht im Irrsinn - den Entschluß gefaßt, aus dem Leben zu scheiden. Es war wohl nach den Umständen eine anormale Tat, die aber aus den anormalen Verhältnissen erklärt werden kann. Mir jedenfalls   f e h l e n   d i e   U n t e r l a g e n   d a f ü r ,   d a ß   d e r   A n g e k l a g t e   d i e   T a t   g e t a n   h a b e n   m u ß .   Wenn ich Ihnen, meine Herren Geschworenen, das Votum empfehle, die Schuldfrage wegen Mordes zu   v e r n e i n e n ,   so seien Sie dessen sicher, daß ich es nicht tue, um einen Triumph vor der Oeffentlichkeit zu erringen. Ich verachte die Oeffentlichkeit - das wissen Sie aus meiner Wirksamkeit. Ich habe hier ausgehalten wie ein Soldat auf treuer Wacht. Mag Ihr Urteil ausfallen, wie es wolle: ich verlasse diesen Saal hocherhobenen Hauptes. Ich weiß, daß mein Gewissen rein ist, daß ich nichts getan habe, dessen ich mich zu schämen brauche. Darum sehe ich Ihrem Urteil mit der Ruhe des gefestigten Mannes entgegen, der ruhig seinen Schlaf aufsuchen kann, denn er hat sich nichts vorzuwerfen. Im Schoße der Gerechtigkeit liegt das Schwert, in der Hand hält sie die Wage. Ich vertraue, daß die schwarzen Kugeln der Belastung im Sinne der Anklage die eine Wagschale emporschnellen lassen werden, daß aber die Schale mit den weißen Kugeln der Entlastung sich zugunsten des Angeklagten senken wird. Wenn aber beide Schalen gleichstehen sollten, dann haben Sie kein Recht, einen Schuldspruch zu fällen, noch weniger haben Sie das Recht, das Zünglein an der Wage zu dirigieren. Befreien Sie sich von allem, was in den letzten zwei Wochen von außen auf Sie eingestürmt ist. Lassen Sie nur Ihr Gewissen Ihren Richter sein, dann habe ich die Ueberzeugung: Sie haben keinen Fehlspruch getan, wenn Ihr Urteil lautet:   d e r   A n g e k l a g t e   i s t   n i c h t   s c h u l d i g !

 

Justizrat Dr. Mamroth

 

als zweiter Verteidiger bekundet seine Uebereinstimmung mit der Auffassung seines Kollegen. Es ist die vox populi, die die Verurteilung des Angeklagten fordert. Es ist menschlich begreiflich, daß man   e i n e n   S c h u l d i g e n   h a b e n   m ö c h t e .   Der Wunsch ist hier der Vater des Gedankens. Und dieser Wunsch verleitet häufig zu dem Gedanken: derjenige, der als schuldig bezeichnet wird, wird es auch sein. Diese vos populi ist aber das Gefährlichste, was es gibt. Es ist ein Gespenst, das zerfließt, wenn man es mit der Hand greifen will. Schon acht Tage nach der Tat konnte man in öffentlichen Blättern lesen: Das Scheusal ist gefaßt, und die öffentliche Meinung vertrat   j e n e r   A m t s g e r i c h t s r a t ,   der uns hier erzählte, daß er von seiner Frau gehört hätten, eine andere Frau hätte erzählt, daß ihr eine Frau gesagt habe, der Angeklagte hätte seine Frau eingemauert. Ich erinnere Sie an die Stimmen, die da erzählten, der Angeklagte habe seine Frau mit dem Schrank erschlagen wollen, daß die Gegend von Lähn voller Gerüchte war, daß in das Zimmer der Dörte ein Schrotschuß abgegeben war. Ich erinnere Sie an die vergiftete Kognakflasche. Sie sehen daraus, welch törichte Meinungen auftauchen, die selbst von sonst vernünftig denkenden Menschen ernst genommen werden. Auch ich bitte Sie deshalb, meine Herren Geschworenen, alles auszuschalten, was Ihnen in dieser Richtung nahegetreten ist und auch vor einem   F r e i s p r u c h   n i c h t   z u r ü c k z u s c h r e c k e n .   Sie haben hier nicht zu urteilen über Gerüchte, sondern nur darüber, was die Verhandlung gebracht hat. Die Gefahr, einen irrtümlichen Spruch zu fällen, erscheint mit hier doppelt und dreifach naheliegend. Erstens, weil Material herbei gebracht worden ist, den Angeklagten unsympathisch zu machen, daß man ihm eine solche Tat zutrauen könnte. Wenn ich sonstige Beweise hätte, dann mag auch ein solches Indizium Geltung haben, aber nicht als Kern der ganzen Anklage. Zweitens, weil der Fall des Verschwindens der Frau Grupen hier mit einbezogen worden ist, und drittens, weil eine Reihe von   S a c h v e r s t ä n d i g e n   aufgetreten ist, die meiner Meinung nach, nicht wie sie sollten, Gehilfen des Richters, sondern   G e h i l f e n   d e s   S t a a t s a n w a l t s   geworden sind. Besonders einer, der gewissermaßen als Nebenstaatsanwalt die Verhandlung beeinflußt hat.

 

Beim   L i e b e s l e b e n   d e s   A n g e k l a g t e n   kommt Dr. Mamroth zu dem Ergebnis, daß der Angeklagte keinerlei unlautere Mittel gebraucht habe, sondern daß in jedem Fall die Hingabe rasch und freiwillig war. Er ist auch kein habgieriger Mensch, kein Mitgiftjäger gewesen. Er hat allerdings eine ganze Menge taktloser Bemerkungen zu verantworten, die man auf keinen Fall gutheißen kann. Aber alles das sind keine Momente, die uns veranlassen könnten, den Charakter des Angeklagten in Grund und Boden zu verdammen. Er war auch kein schlechter Sohn und Bruder, sondern er genoß überall Anhänglichkeit und Liebe. Er hat auch Geschäfte gemacht, nicht immer wählerisch, aber doch solche, die landläufig sind. Auf der anderen Seite haben wir den Angeklagten als einen überaus fleißigen, strebsamen und genügsamen Menschen kennen gelernt, dem alle Leute aus seiner Umgebung das günstigste Zeugnis ausstellten. Die   F r i v o l i t ä t   d e r   E h e s c h l i e ß u n g   dürfte wohl auf seiten der mehr als zehn Jahre älteren   F r a u   liegen. Auch sein tapferes und mustergültiges Verhalten im Gefängnis und in der Verhandlung dürfte für ihn sprechen und nicht ein Zeichen von Frechheit sein. Auch muß der Richter Antipathieempfindungen ausschalten.

 

Der zweite Punkt, der ausgeschaltet werden muß, ist die Affäre mit dem   V e r s c h w i n d e n   d e r   F r a u .   Die Möglichkeit, daß Frau Grupen doch nach Amerika gegangen ist, ist doch vorhanden, denn zu verschiedenen Personen hat sie von einer Reise nach Amerika gesprochen. Sie war eine starksinnliche, wenn nicht perverse Frau. Der Staatsanwalt hält es für ausgeschlossen, daß die Frau nach einem anderen Lande ausgewandert ist, sonst hätte sie zum mindesten jetzt etwas von sich hören lassen, aber die Frau kann doch auch gestorben sein oder in einer Gegend leben, in der sie gar nichts von diesen Vorgängen hören kann.

 

Der Verteidiger geht dann auf das Gutachten des Professors   S c h n e i d e m ü h l   über die   A b s c h i e d s b r i e f e   d e r   F r a u   G r u p e n   ein, dem er sich absolut nicht anschließen kann. Schon mit 10 000 Mark hätte man damals nach Amerika kommen können, und alle ihre Geschäfte bei dem Rechtsanwalt Reinecke und dem Bankier Goldacker beweisen, daß sie sich eben Geld verschaffen wollte. Auch die Paßschwierigkeiten dürften sie an der Ausreise nicht gehindert haben. Dem Angeklagten würde es doch sicher sehr schwer geworden sein, die Frau auf der Fahrt im offenen Wagen umzubringen oder sie an der Abreise zu hindern. Alles das muß man als phantastisch ablehnen und es kann keine Grundlage zur Verurteilung sein. Was sollte auch das Motiv sein? - höchstens die Chance, zu einem Viertel der Erbe seiner Frau zu werden. Wenn kein hinreichender Verdacht zur Erhebung der Anklage in diesem Punkte vorlag, durfte der Staatsanwalt die Sache nicht heranziehen, sonst wirkt es als Stimmungsmache, die eine Verlegenheitssache ist. Deshalb müßten die Geschworenen diese ganze Sache aus ihrem Bewußtsein verschwinden lassen.

 

Nun die   G u t a c h t e n   d e r   S a c h v e r s t ä n d i g e n .   Ich hatte das Gefühl, daß die Herren alle nur nach einer Richtung sehen, daß sie alle belastenden Momente in den Vordergrund, das andere aber in den Hintergrund stellen. Geheimrat Moll hat sein Gutachten über die ihm gestellte Aufgabe erweitert, indem er auch die Psychologie der Zeugenaussage heranzog und unter dieser Frage ein Referat und eine Beweisführung über alle einschlägigen Fragen der ganzen Verhandlung abgab. Er geht wohl zu weit, wenn er eine besonders starke Suggestion annimmt, wenn die Frau ihrem Manne folgt, da dies auch aus Liebe oder Respekt geschehen kann. Auch von einer sexuellen Hörigkeit dürfte kaum die Rede sein. Es bedarf wohl auch keiner besonderen Suggestion, eine Reihe von Landmädchen zu verführen, wenn man ein junger kräftiger Mann ist. Das Gutachten des Sachverständigen Dr. Moll darf bei der Urteilsfällung nicht inbetracht gezogen werden.

 

Das letzte, was ausgeschaltet werden muß, ist der Konflikt zwischen Frl.   Z a h n   und dem Vormund   V i e l h a c k   und die sogenannten   A h n u n g e n   d e r   D ö r t e .   Ich wundere mich, daß der Staatsanwalt nicht auch hierfür einen Sachverständigen geladen hat. Der Angeklagte hat sich nicht in den Konflikt hineingedrängt, es hat ihm aber geschmeichelt, solch feinen Leuten dienstbar sein zu können. Die 16jährige Dörte ist ein exaltiertes Mädchen gewesen, deren Worte man nicht voll werten darf.

 

Die Anklage wegen des Sittlichkeitsverbrechens stützt sich auf das Gutachten der Sachverständigen, die zwar immer von einer Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit, nicht aber von einer Bestimmtheit reden. Die Anklage wegen des Mordes stützt sich auf das Motiv der Tat, die Lage der Leichen, das Verlassen des Zimmers. Das Auffingen der Waffe neben der Leiche spricht entschieden für die Unschuld des Angeklagten, denn es wäre doch sonst, als wenn er seine Visitenkarte neben sein Opfer gelegt hätte. Geheimrat Lesser hat geschlossen: die mechanische Art der Verletzung schließt nicht aus, daß Ursel die Tat vollbracht hat, wenn nicht die begleitenden Umstände dagegen sprächen. Die Sicherung der Pistole und die Lage der Patronenhülsen versagen aber nach der Beweisaufnahme. Dies sucht der Verteidiger eingehend nachzuweisen. Dem Angeklagten standen, wenn er sie verübt hat, zur Ausführung der Tat 59 Sekunden zur Verfügung. Ist es möglich, daß ein Mensch in dieser kurzen Zeit hinuntergelaufen, die drei Schüsse abgegeben und wieder hinaufgeeilt und sich ruhig wieder zum Mühlespiel gesetzt haben soll? Dann muß er doch auch noch die Patronen in die Unterbindetasche der Ursula gesteckt haben. Wußte denn überhaupt der Angeklagte, daß die Kinder gerade in diesem Zimmer waren, in dem sie sich nie aufhielten? Er hätte sie also erst suchen müssen, da wäre es aber mit 59 Sekunden nicht abgetan gewesen. Das Verhalten des Angeklagten im Sterbezimmer hält Dr. Mamroth ebenfalls für ein eminent entlastendes Moment. Der Angeklagte hat sich dabei so benommen, wie es ein normaler Mensch in solcher Lage tut. Auch seine angeblich belastenden Aeußerungen sind gänzlich unverfänglich, wenn man annimmt, daß er unschuldig ist.

 

Z e r f a l l e n   s o   d i e   I n d i z i e n b e w e i s e   i n   s i c h ,   so liegen noch eine ganze Reihe von   U n w a h r s c h e i n l i c h k e i t e n   vor. Hat sich denn der Angeklagte nicht eine bessere, nicht von soviel Zufälligkeiten abhängige Gelegenheit zur Verübung des Verbrechens aussuchen können? Konnte er nicht bei dem Gange von und nach dem Mordzimmer gesehen werden, konnten nicht die beiden Küchenmädchen den Schuß hören oder das eine Opfer nicht bald tödlich getroffen werden, so daß sie noch schreien und das Haus alarmieren konnten? Da die Mittagszeit nahe war, mußte doch auch der Mord spätestens in 15 Minuten herauskommen. Nach menschlichem Ermessen kann es der Angeklagte nicht gewesen sein,   w e r   w a r   e s   a b e r   d a n n ?   Ich könnte mich auf das Recht der Verteidigung zurückziehen und der Staatsanwaltschaft den Beweis überlassen. Ich komme zu dem gleichen Schluß wie der Kollege, daß es sich hier um eine   K i n d e r t r a g ö d i e   handelt. Der   U r s u l a   ist auch wohl die Tat zuzutrauen, denn es war ein   a n o r m a l e s   K i n d ,   das zu abnormen Dingen geeignet war und das das Verhältnis zwischen der Großmutter und Dörte schwerer genommen hat, als es hätte genommen werden müssen. Vielleicht hat Dörte an diesem Tage unfreundliche Bemerkungen über die Großmutter fallen lassen. Ich denke mir, daß Ursula, nachdem sie auf einem Umwege den versteckten Revolver zu sich genommen und Dörte in das abgelegene Zimmer gelockt, ihr dort Vorhaltungen gemacht, ihr vielleicht auch gedroht hat. Die Lage des ersten Schusses läßt die Vermutung nahe, daß Dörte abgewehrt habe, der zweite Schuß kann vielleicht unwillkürlich abgegeben worden sein. In halb besinnungsloser Verzweiflung hat dann Ursula Hand an sich selbst gelegt. Auch bei dieser Annahme bleibt noch manches ungeklärt, aber   i c h   k a n n   m i c h   e h e r   m i t   d e n   R ä t s e l n   i m   S e e l e n l e b e n   d e s   K i n d e s   a b f i n d e n ,   a l s   m i t   t a t s ä c h l i c h e n   U n w a h r s c h e i n l i c h k e i t e n ,   a u f   d i e   s i c h   d i e   A n k l a g e   s t ü t z t .

 

Mit großen Zweifeln kam ich hierher, fand aber in meinem Kollegen einen Mann, der   u n b e d i n g t   v o n   d e r   S c h u l d l o s i g k e i t   d e s   A n g e k l a g t e n   ü b e r z e u g t   w a r   und diese Ueberzeugung hat sich   a u c h   b e i   m i r   im Laufe der Verhandlung   i m m e r   m e h r   g e f e s t i g t .   Mich kennen Sie wenig, aber die Persönlichkeit meines Kollegen ist Ihnen allen bekannt. Werfen Sie auch die   U e b e r z e u g u n g   z w e i e r   e h r l i c h e n   A n w ä l t e   in die Wagschale und wägen Sie sich nicht zu leicht. Dann werden Sie zu einer   V e r n e i n u n g   d e r   S c h u l d f r a g e n   kommen.

 

Hierauf wird nachts 2 Uhr die Weiterverhandlung auf Dienstag vormittag 10 Uhr vertagt.

 

*

Die Sitzung am Dienstag.

In der heutigen Schlussverhandlung erwiderte Oberstaatsanwalt   D r .   R e i f e n r a t h   auf die Plaidoyers der Verteidiger: Es geht nicht an, daß man jeden Zeugen und Sachverständigen nach dem, was er in der Hauptverhandlung bekundet hat, in irgendeine Parteirolle eingliedert. Das heißt der Sache Gewalt antun. Die Verteidigung bringt es fertig, den Geheimrat Moll als den Gehilfen der Staatsanwaltschaft hinzustellen; wir lehnen es ab, den Geheimrat Lesser, auf den die Verteidigung sich beruft, als den Gehilfen der Verteidigung zu bezeichnen. Für mich sind alle Zeugen gleich. Ich kann es verstehen, daß der Verteidigung die Sachverständigen der Staatsanwaltschaft unangenehm sind, aber das kann die Gutchten der Sachverständigen nicht aus der Welt räumen. Ausschlaggebend ist nicht die Sachkenntnis, die die Verteidiger von Schriftvergleichung und Suggestion haben, sondern das Urteil der berufenen Vertreter der Wissenschaft. Wenn ich in meiner Anklagerede manches fortgelassen habe, so wollte ich Ablenkung auf Nebensächlichkeiten vermeiden. Die Verteidigung redet ständig von Massensuggestion und warnt die Geschworenen davor. Hier kommt es nicht darauf an, was die große Masse denkt, sondern, was die   G e s c h w o r e n e n   denken, und ich habe aus dem Verhalten der Geschworenen den Eindruck gewonnen, daß sie natürlich und klar denken und sich nicht beirren lassen durch Einflüsse von außen. Mir war es die größte Beruhigung, daß meine Ueberzeugung in diesem Prozeß, den ich in allen Stadien miterlebt habe, bestätigt worden ist durch die Gutachten der Sachverständigen, denn ich traue mir nicht zu, über jede Sache selbst ein Urteil abzugeben.

 

Auf einzelne Punkte der Verteidigerreden eingehend, verwahrt sich der Staatsanwalt dagegen, daß eine Persönlichkeit (Frau Grupen), die sich nicht selbst verteidigen kann, hier von dem Angeklagten in den Schmutz gezerrt wird. Wer hat den Angeklagten veranlaßt, das Doppelspiel beim Vormund zu treiben? Der Angeklagte selbst. Er ging an Vielhack heran und erzählte ihm die unglaublichsten Dinge aus dem Schloß Kleppelsdorf. Wenn er helfen wollte, dann hätte er ruhig bei der Wahrheit bleiben können.

 

Der Brief an Großmutti und die Briefe der Frau Grupen sind für mich von wesentlicher Bedeutung, weil sie eine Parallele darstellen und die Abschiedsbriefe der Frau die Probe waren für das Manöver mit dem Großmuttibrief. Ich hatte erwartet, daß der Angeklagte unter der Wucht der Anklage, die aus diesen Briefen spricht, zusammenbrechen würde. Um die Tatsache, daß der Großmuttibrief von dem Kinde nicht verstanden ist, kommen wir nicht herum. Erwiesen ist, daß Ursula in fröhlicher Stimmung den Brief der Mohr gebracht hat, es   i s t   erwiesen, daß das Kund gesagt hat: „Das ist eine   f r e u d i g e   Ueberraschung für Großmutti.“ Ich bleibe dabei: Der Großmuttibrief ist kein Abschiedsbrief - vermissen wir doch den Abschiedsgruß an das geliebte Schwesterchen -, er ist ein Entschuldigungsbrief, mit dem der Angeklagte sich schließlich selbst anklagt. Ein Kind, das sich über die Apfelsinen, welche die Schwester aus der Stadt mitbrachte, kindlich freute, kann unmöglich fünf Minuten später eine so grausige Tat vollführen.

 

Die Verteidigung behauptet, ich hätte als Motiv der Tat zerrüttete Vermögensverhältnisse angeführt. Ich habe davon gesprochen, daß dem Angeklagten nicht soviel zur Verfügung stand, als er für seine Ansprüche, für das, was er darstellen wollte, brauchte. Er wollte reicher werden, einen Millionenbesitz bekommen. Die Verteidiger wiesen darauf hin, daß der Angeklagte nie Erbe von Kleppelsdorf hätte werden können. Wenn Kleppelsdorf nicht an Frau Eckert gefallen ist, liegt das daran, daß sie bei der Erbteilung den Besitz von Tempelhof vorgezogen hat. Jedenfalls hat der Angeklagte geglaubt, daß nach dem Tode Dörtes Kleppelsdorf in den Besitz der Frau Eckert übergehen würde, denn er sagte ha zu ihr am Abend der Tat: „Weißt Du auch, daß Du jetzt Erbin von Kleppelsdorf bist?“

 

Darüber kann man doch nicht im Zweifel sein, wenn Frau Eckert Kleppelsdorf übernommen hätte, daß dann der Angeklagte auf dem Gute so geschaltet und gewaltet hätte, als wäre es sein Eigentum. Denn er hatte ja die Generalvollmacht der Frau Eckert, die ihm blindlings vertraute, ihm ihren Schmuck und ihr Silber arglos aushändigte. Und schließlich bietet die Persönlichkeit des Angeklagten wie sie sich in der Hauptverhandlung zeigte, keine Gewähr dafür, daß er nicht versucht haben würde, sich im Testament der Frau Eckert Kleppelsdorf zu sichern - wenn er nicht noch zu anderen Mitteln gegriffen hätte, die ich hier nicht andeuten möchte. Warum reden die Verteidiger nicht von dem   M o t i v   zu dem angeblichen   S e l b s t m o r d   d e r   U r s u l a ?   Würden die Verteidiger hier ein Motiv suchen, so würden sie Schiffbruch leiden.

 

Wehe dem Volke, dessen Richter und Geschworene nicht den Mut der Verurteilung finden, wenn sie sich von der Schuld überzeugt haben. Zu diesem Mut müssen wir uns durchringen, koste es, was es wolle. Es mag sein, daß sich unter uns Gegner der Todesstrafe befinden, aber wir haben heute nicht darüber zu urteilen, ob die Todesstrafe berechtigt ist oder nicht. Wir haben pflichtgemäß nach unserem Gewissen zu erkennen und nur die Frage zu beantworten: Liegt hier ein Mord, liegt hier ein Sittlichkeitsverbrechen vor? Mein Bekenntnis lautet, daß ich nach pflichtgemäßer Prüfung und ernsten inneren Kämpfen, die ich immer kämpfe, wenn ich einen solchen wichtigen Strafantrag stelle, - zu der felsenfesten Ueberzeugung gekommen bin: Hier ist nicht der geringste Zweifel, hier kann und muß das Urteil erfolgen, das Sie sprechen werden, und ich kann nur an das erinnern, was der Herr Vorsitzende am ersten Verhandlungstage sagte: Sie   k ö n n e n   und   w e r d e n   das Recht finden!

 

Nach dem Staatsanwalt nimmt wieder Justizrat   D r .   A b l a ß   das Wort zu einer nochmaligen kritischen Beleuchtung des Anklagematerials. Er betonte u. a., es wäre eine merkwürdige Verteidigung, die sich drängen ließe, den vorgezeichneten Richtlinien der Staatsanwaltschaft zu folgen.

 

Während der Rede des Verteidigers Dr. Ablaß erklärt Oberstaatsanwalt   D r .   R e i f e n r a t h ,   daß er die Verhandlung wegen Ueberanstrengung verlassen müsse. An seine Stelle tritt Oberstaatsanwalt   H e i n r i c h .

 

Vors. (zum Angeklagten): Was haben Sie noch er erklären?

 

Angeklagter mit innerer Erregung: Ich schließe mich den Ausführungen meiner beiden Herren Verteidiger an. Ich will nur noch bemerken: Der Staatsanwalt glaubt, daß ich das Eiserne Kreuz als Zugabe für meinen verlorenen Arm erhalten habe. Der Staatsanwalt hätte doch während der zehnmonatlichen Untersuchung genügend Zeit gehabt, um meine Militärpapiere einzusehen und festzustellen, an welchen Gefechten ich teilgenommen habe. Ich bin als Kriegsfreiwilliger für eine gute Sache in den Krieg gezogen, und nun wird von der Anklage behauptet, ich soll ein unschuldiges Kind getötet haben, ein Kind, das ich lieb hatte!   I c h   b i n   i n   d i e s e r   H i n s i c h t   v o l l   u n d   g a n z   u n s c h u l d i g .   Ich vertraue den Herren Geschworenen und ihren rechtlichen Anschauungen.

 

Kurz nach 1 Uhr beginnt der Vorsitzende mit der   R e c h t s b e l e h r u n g   der Geschworenen.

 

 

 

Donnerstag, den 22. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

 

Peter Grupen zum Tode verurteilt!

Der Schlußakt des Prozesses.

 

Hirschberg, 21. Dezember

 

Am Dienstag nachmittag 3 ½ Uhr wurde der Angeklagte Peter Grupen des Mordes an Dorothea Rohrbeck und Ursula Schade sowie der übrigen im zur Last gelegten Verbrechen für schuldig befunden und daraufhin zum Tode, zu fünf Jahren Zuchthaus und dauerndem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt.

 

*

 

Weder der Montag noch die Nacht zum Dienstag brachten das Urteil. Des langen Wartens müde, verließ ein großer Teil des vor den Pforten des Gerichtsgebäudes Sturm und Regen trotzenden Zuhörerpublikums zu sehr später Stunde seinen Stand. Im Morgengrauen sahen wir nur wenige Unentwegte wieder, die Vormittagstunden brachten einen leidlichen Andrang, aber dann rückte das Gros Jener heran, die vom Nachbar erfahren hatten, daß es noch nicht „alle“ war, daß Grupen noch des Spruches seiner Richter harrte. Mit rücksichtlosem Ungestüm wurde die vorderste Linie überrannt, um Zeuge der Verkündigung eines - Todesurteils zu sein.

 

In der zweiten Nachmittagsstunde neigte sich das düstere forensische Schauspiel rasch zum Schlußakt. Mit der gegen die letzten Ausführungen des Staatsanwalts gerichteten Gegenrede des Verteidigers Dr. Ablaß endete der lange und heiße Redekampf um die schicksalsschwere Frage: Schuldig oder nichtschuldig! Dann gab der Vorsitzende den Geschworenen die vorgeschriebene Rechtsbelehrung mit auf den Weg in ihr Beratungszimmer. Der Angeklagte wurde abgeführt.

 

Das Publikum richtete sich auf langes Warten ein. Man kürzte sich die Zeit durch lebhafteste Unterhaltung. Der Ernst des Ortes, des Augenblicks wurde vergessen. Zeugen und Sachverständige rüsteten sich zur Abreise, die Justizbeamten schafften die Beweisstücke aus dem Saale; nur der Totenschädel, an dem die tödlichen Schüsse demonstriert worden waren, blieb auf dem Gerichtstisch zurück - wie ein in der Zeit der Fehme selbstverständliches Menetekel.

 

Kurz nach 3 Uhr hallte der schrille Klang der Glocke durch die Hallen: die Beratung und Abstimmung der Geschworenen über ihr Votum war beendet. Die Volksrichter wünschten es der Oeffentlichkeit zu verkünden.

 

Der Gerichtshof nimmt seinen Platz ein. Feierliche Stille. Die Geschworenen treten ein, alles hält den Atem zurück - da beginnt der Obmann, Oberstleutnant Dulitz aus Cunnersdorf: „Auf Ehre und Gewissen verkünde ich als den Wahrspruch der Geschworenen: Ist der Angeklagte, Architekt Peter Grupen aus Ottenbüttel, schuldig, am 14. Februar 1921 zu Kleppelsdorf bei Lähn einen Menschen, Dorothea Rohrbeck, vorsätzlich getötet und die Tötung mit Ueberlegung aufgeführt zu haben? -   J a ,   mit mehr als sieben Stimmen.

 

Mit einem Schlage war durch dieses „Ja“ die aufs höchste gestiegene Spannung gelöst. Eine leise Bewegung ging durch den Saal, sonst aber unterblieb jede Kundgebung des Publikums. Der Bejahung der anderen Schuldfragen, namentlich der wegen der Ermordung Ursulas, wurde weniger Beachtung geschenkt.

 

Der Vorsitzende stellt das ordnungsgemäße Zustandekommen des Wahrspruches fest, versieht ihn mit seiner Unterschrift und übergibt ihn dem Protokollführer.

 

Vorsitzender: Der Angeklagte ist in den Saal zu führen.

 

G r u p e n   erscheint in der üblichen Begleitung eines Polizeibeamten. Gemessenen Schrittes begibt er sich zur Anklagebank. Sein volles, gesundes Gesicht bedeckt ungewohnte Blässe. Schwer wird ihm diesmal die während der dreizehn Verhandlungstage streng geübte Artigkeit, Richter und Geschworene mit einer Verbeugung zu begrüßen. Man merkt ihm an, daß er eine riesengroße innere Unruhe niederzuhalten sich bemüht.

 

Der   W a h r s p r u c h   hallt nun nochmals durch den Saal zu führen.

 

G r u p en   erscheint in der üblichen Begleitung eines Polizeibeamten. Gemessenen Schrittes begibt er sich zur Anklagebank. Sein volles, gesundes Gesicht bedeckt ungewohnte Blässe. Schwer wird ihm diesmal die während der dreizehn Verhandlungstage streng geübte Artigkeit, Richter und Geschworene mit einer Verbeugung zu begrüßen. Man merkt ihm an, daß er eine riesengroße innere Unruhe niederzuhalten sich bemüht.

 

Der   W a h r s p r u c h   hallt nun nochmals durch den Saal:   S c h u l d i g   d e s   M o r d e s ?   -   J a !   -   S c h u l d i g   d e s   S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e n s ?   -   J a !

 

Ein leichtes Wimpernzucken beim Angeklagten, und ein leichtes Zusammensinken seiner muskulösen Gestalt waren die Wirkung der furchtbaren Tatsache, daß der Stab über ihn gebrochen ist.

 

Der Verteidiger erklärt, seine Anträge stellen zu wollen.

 

Auf den fragenden Blick des Vorsitzenden rafft der Angeklagte sich auf, bebend und stockend beginnt er:   „ I c h   v e r z i c h t e   v o n   v o r n h e r e i n   a u f   j e d e   R e v i s i o n   u n d   a u f   e i n   G n a d e n g e s u c h . “   (Der Verteidiger unterbricht ihn mit der Bemerkung: „Darüber werden wir später reden“) Mit fester werdender Stimme, seine während der ganzen Verhandlung an den Tag gelegte Ruhe wiedergewinnend, fügt er hinzu:   „ D e r   W a h r s p r u c h   d e r   G e s c h w o r e n e n   i s t   e i n   F e h l s p r u c h ,   für den ich sie aber nicht verantwortlich mache.   I c h   k a n n   v e r s t e h e n ,   wie die Geschworenen zu ihrer Auffassung gekommen sind. Vielleicht wird doch der Tag kommen, wo das eine oder andere sich aufklären wird.“

 

Der Anklagevertreter, Oberstaatsanwalt   D r .   H e i n r i c h ,   beantragt, für jeden Mord auf   T o d e s s t r a f e ,   wegen der Sittlichkeitsverbrechen auf   f ü n f   J a h r e   Z u c h t h a u s ,   außerdem auf dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte zu erkennen.

 

Die vom Gerichtshof festgesetzte Strafe lautet demgemäß. Die Einziehung der bei der Tat benutzten Waffe wird angeordnet. Die Kosten des Verfahrens werden dem Angeklagten auferlegt.

 

Vorsitzender (nach Verkündung des Urteils): Der Angeklagte ist abzuführen. Mit einem warmherzigen Dank an die Geschworenen schließt der Vorsitzende die außerordentliche Tagung des Schwurgerichts.

 

Fast lautlos verläßt das Publikum den schwülen Saal. Der Bote aus dem Riesengebirge verbreitete das Ergebnis des Prozesses sofort durch Extrablatt, sowie durch den Fernsprecher und durch Telegramme in der näheren und ferneren Umgebung.

 

*

 

Der Kleppelsdorfer Mordprozeß hat also mit dem Todesurteil für Peter Grupen seinen Abschluß gefunden. Die   G e s c h w o r e n e n   haben ihn   d e s   M o r d es   i n   z w e i   F ä l l e n   f ü r   s c h u l d i g   befunden, und der   G e r i c h t s h o f   m u ß t e   Grupen   z u m   T o d e   verurteilen, da auf Mord keine andere als die Todesstrafe steht.

 

Wir glauben uns nicht zu täuschen, wenn wir annehmen, daß ein Aufatmen der Genugtuung durch die ganze Bevölkerung unserer Gegend und weit über diese hinaus gegangen ist, als sie das Urteil vernahm. Auf dem Angeklagten ruhte von vornherein, seit er als Verdächtiger verhaftet war, der Haß der öffentlichen Meinung. Wir gehören nun   n i c h t   zu denen, die glauben, daß Volkes Stimme immer Gottes Stimme ist. Gibt es doch Beispiele genug, wo sich diese Volksstimme ganz erheblich geirrt hat. Aber hier lag die Sache von Anfang an so, daß diese Massensuggestion, wenn man davon überhaupt sprechen will, einen sehr starken Anhaltspunkt hatte: - Peter Grupen war der einzige Mensch, der für die Tat in Betracht kommen konnte! Und diese Tat war so ungeheuerlich, zeugte von so brutaler Verleugnung jedes sittlichen Gedankens, war so bestienhaft, daß der Aufschrei der Empörung, der durch die Bevölkerung ging, verständlich war.

 

Es schien zwar, daß noch eine andere Möglichkeit in Betracht kommen konnte, die einer   K i n d e r t r a g ö d i e .   Aber der Umstand, daß man im Verlaufe des Prozesses mit immer größerer Deutlichkeit erkennen mußte, daß man von dieser Möglichkeit immer weniger sprechen konnte, ja, daß sie mit sehr starker Wahrscheinlichkeit vom Täter geschaffen war, um den Verdacht von sich abzulenken, sorgte dafür, daß aus der Entlastung, welche es sein sollte, eine Belastung wurde. Und es ergaben sich auch im Verlaufe der Verhandlungen noch eine ganze Anzahl von anderen Gesichtspunkten, welche nachwiesen, daß viele Momente mit unübertrefflichem Raffinement absichtlich geschaffen waren, um   g e r a d e   f ü r   P e t e r   G r u p e n   d i e   U n s c h u l d   zu erweisen. „Wär´ der Gedank´ nicht so verwünscht gescheit, - Man wär´ versucht, ihn herzlich dumm zu nennen.“ Peter Grupen, das dürfte wohl die allgemeine Ueberzeugung nach dem ganzen Verlauf des Prozesses sein, hatte alles darauf angelegt, den Verdacht von sich abzuwälzen. Da man aber in allen diesen Versuchen der Abwälzung die Absicht merken mußte, so mußte man auch endgültig verstimmt darüber werden. Wenn aus manchen Tatsachen auf Peter Grupen ein freundlicheres Licht zu fallen schien, - er war gut gegen die Kinder, hat mit ihnen gebetet, - so konnte das zu seinen Gunsten nicht verfangen, weil man erkennen mußte, daß diese anscheinende Güte nur das Mittel für den Stiefvater war, um sich den Kindern, wenigstens der Ursula, in unsittlicher Weise zu nähern. Und wenn das auch nicht der Fall gewesen wäre, so müßte man immer in Betracht ziehen, daß, wie allgemein bekannt ist, auch die größten Verbrecher gelegentlich sanftere Züge in ihrem Charakter haben, gerade wie z. B. der Mordbrenner Sternickel ein großer Liebhaber von Tauben war.

 

Aber es gab allerdings verschiedene andere Züge im Charakter des Angeklagten, welche ihn bis zu einem gewissen Grade sympathisch oder doch mindestens interessant machten. Das war seine erstaunliche Fähigkeit, sich zu beherrschen, und seine ebenso erstaunliche Willensstärke, Charakteranlagen, welche einen Menschen, welcher sich auf gutem Wege befindet, zu den höchsten Zielen führen können, die aber, wenn sie bei verbrecherischer Neigung vorhanden sind, zu umso furchtbareren Taten führen müssen. Mit einem solchen Fall haben wir es hier zu tun.

 

Der Grund der Anklagebehörde war von vornherein dadurch erschwert, daß hier ein Verbrechen vorlag, bei dem kein eigentlicher Belastungszeuge in Frage kommen konnte. Die Opfer waren tot, und so kam nur noch ein Beweis in Betracht, der sich aus einer ausreichenden Summe von Indizien zusammensetzte. Der stärkste Beweisgrund, der gegen Peter Grupen von Anfang an sprach, war der: wer hätte denn   s o n s t   der Täter sein sollen? Das ist natürlich kein juristischer Beweisgrund gegen einen Angeklagten. Wenn man sich darauf hätte stützen wollen, so hätte man sich trotz aller Wahrscheinlichkeit auf sehr schwankendem Boden befunden. Aber es kam hinzu, daß der mutmaßliche Täter sich fortgesetzt mit immer stärkerem Verdacht belud. Einmal erschien er so stark interessiert als ein Mensch, der offenbar starke Neigung hatte, sich ein großes Vermögen auf alle mögliche Weise zu verschaffen. Schon seine Heirat mit Gertrud Schade gehört in dieses Kapitel, und alle seine Geschäfte, durch die er möglichst schnell reich werden wollte, gehörten hinein. Er hat ja auch versucht, ohne das Verbrechen, durch die Heirat, zu seinem Ziele zu kommen. Aber als das nicht ging. setzte sein Zielbewußtsein und seine Willensstärke ein, und er suchte das Ziel durch das Verbrechen zu erreichen. Ferner machte er sich während der kurzen Dauer der Verhandlung im höchsten Maße dadurch verdächtig, daß er seine Intelligenz in jedem Augenblick in den Dienst der Abwehr zu stellen wußte. Er machte nicht den Eindruck des unschuldig Angeklagten, der selbst belanglose Vorgänge in harmloser Weise aufzuklären weiß. Der unbefangene Zuhörer war oft in der Lage, auf Fragen, die dem Angeklagten gestellt wurden, eine einfache Antwort zu geben, welche den Angeklagten ohne weiteres entlastet hätten. Der Angeklagte selbst aber war statt dessen selbst immer bestrebt, den Verdacht um jeden Preis von sich abzuwälzen. Gerade dadurch machte er sich in starkem Maße verdächtig. Man hatte stets und ständig den Eindruck, daß er log, - log, um sich zu entlasten, weil er sich auf seinem Innern heraus belastet fühlte.

 

Man könnte vielleicht sagen, daß, wenn ein Mensch in Gefahr ist, geköpft zu werden, er diesem Schicksal wohl auf jede Weise zu entgehen suchen wird, auch wenn er sich unschuldig fühlt. Aber man hätte das doch hin und wieder herausfühlen müssen. Statt dessen erschien Peter Grupen immer wieder als ein raffinierter und darum schwer zu fassender, hartnäckiger und zielbewußt Leugnender, dem lediglich die Kunst, sich herauszureden, in beachtenswerter Höhe zur Verfügung stand. Nur reichte sie offenbar nicht aus, und gerade dann gewahrte man, daß die Intelligenz des Angeklagten nicht ausreichte, um sich aus jeder Lage helfen zu können. Ein Unschuldiger vermag immer eine Antwort zu geben. Peter Grupen aber schwieg allzuoft oder lehnte es ab, auf eine unangenehme Frage sich einzulassen. Es wäre verwunderlich gewesen, wenn die Geschworenen daraus nicht ihre Folgerungen gezogen hätten.

 

Vielleicht hätte aber alles dies noch nicht zu Grupens Unheil ausschlagen können, wenn nicht die Tatsache des Verschwindens der Frau Grupen zu seinen Ungunsten gesprochen hätte. Gewiß ist nach dieser Hinsicht nicht erwiesen, und dieses Verschwinden der Frau ist auch garnicht Gegenstand der Anklage, aber die ganze Art und Weise, wie das Verschwinden der Frau   u n v e r d ä c h t i g   gemacht werden soll, ähnelt so stark den Motiven, mit denen der Mord an den beiden Kindern als   n i c h t   zur Last Peter Grupens hinzustellen versucht wurde, daß ein ganz erhebliches Maß von Argwohn nach dieser Hinsicht berechtigt erscheint. Es gibt einen einzigen Gesichtspunkt, unter dem auf Peter Grupens Tat ein Schein milder Beurteilung fallen könnte, nämlich der der Annahme von Kriegspsychose. Es ist eine in weitem Umfange bekannte traurige Tatsache, daß sich eine ganze Anzahl von Kriegern nach ihrer Rückkehr aus dem Weltkriege als jeden sittlichen Haltes bar erweisen und eine, man möchte sagen: selbstverständliche Neigung zum Verbrechen zeigen. Infolge dieses auf den Krieg zurückzuführenden Seelenzustandes sind unzählige Verbrechen wie Diebstahl, Raubmord, Einbruch usw. verübt worden, welche sicherlich nicht begangen worden wären, wenn nicht die Kriegsanschauung sie ermöglicht hätte, daß dem Soldaten einfach alles gestattet sei. Demgegenüber mag man eine gewisse theoretische Duldsamkeit walten lassen, aber es darf nicht dazu führen, daß man sich dabei irgendwie von sentimentalen Gesichtspunkten leiten läßt, denn auch die lediglich durch den Krieg zu Verbrechern gewordenen Personen sind Schädlinge, welche als Gegner der menschlichen Gesellschaft auf jede Weise bekämpft werden müssen. Man konnte, je weiter der Prozeß fortschritt, umso öfter die Aeußerung hören: „Wenn sie ihn nun freisprechen, was wird er dann erst alles für Unheil anrichten!“

 

Dieser Standpunkt ist gewiß begreiflich, er hätte aber doch nicht für die Geschworenen maßgebend sein dürfen, wenn sie nicht sonst der Ueberzeugung gewesen wären, daß   P e t e r   G r u p e n   w i r k l i c h   d e r   M ö r d e r   von Kleppelsdorf sei. Während des Prozesses tauchte auf einmal ein Gerücht auf, Frau Grupen lebe noch, und zwar als Priesterin der freien Liebe in einer Stadt in der Westschweiz. Hätte sich das als wahr herausgestellt, so wäre es zweifellos eine nicht unerhebliche Entlastung für Peter Grupen gewesen. Und auch, wenn sich in Zukunft herausstellen sollte, daß Frau Grupen   n i c h t   ermordet worden ist, würde das nach dieser Richtung hin wirken müssen. Nachdem sich aber herausgestellt hat, daß das Vorhandensein der Frau Grupen lediglich in der Phantasie spiritistischer Medien spukte, breitete sich wieder das vorherige nächtliche Dunkel über das Schicksal jener Frau, und vorläufig besteht noch keine neue Tatsache, welche diese geheimnisvolle und furchtbare Dämmerung auszuhellen geeignet wäre.

 

In immer stärkerem Maße machte sich, wie gesagt, die Ueberzeugung geltend, daß von einer Kindertragödie aus vielen und gewichtigen Gründen hier nicht die Rede sein konnte. Diese Ueberzeugung kam besonders am Schluß in den Gutachten der Sachverständigen zum Ausdruck. Die Annahme, daß möglicherweise auch Ursula, wie es der Mörder wollte, als Täter in Betracht kommen könne, hatte ja von Anfang an nirgends rechten Boden gefunden, sondern man konnte sich nur dazu führen lassen, vom rein objektiven Standpunkt aus diese reine Möglichkeit zuzugeben. Im übrigen aber sprach nichts dafür, sondern alles dagegen.

 

Was sich am 14. Februar in Kleppelsdorf abgespielt hat, ist das Ende einer furchtbaren Tragödie gewesen, welche in ihrem ersten Entwicklungsstadium zweifellos sehr oft vorkommt, aber … genügend … …, nämlich die   T r a g ö d i e   d e r   e l t e r n l o s e n   K i n d e s .   Ja, warum hat man sich eigentlich um Dorothea Rohrbeck nicht mehr gekümmert, als es tatsächlich der Fall war. Nach ihrem eigenen Geständnis hatte sie nur   e i n e n   Menschen, der es gut mit ihr gemeint hat, das war die Erzieherin. Außer dieser kommt wohl nur noch die Oberschwester in Betracht. Fast alle übrigen aber, zu denen sie sonst Beziehungen hatte, standen ihr mehr oder minder kühl und teilnahmslos gegenüber, oder konnten sich ihr nicht widmen, wie ein großer Teil der Bevölkerung von Lähn, die sie bloß lieb hatte. Man hätte sich aber denken können, daß diese oder jene Persönlichkeit ihr eine Stütze hätte sein können. Besonders ergeben sich starke Bedenken, wenn man das Walter der Vormundschaft und des Vormundschaftsgerichts in Betracht zieht. Denn wenn der Vormundschaftsrichter ein warm empfindender Mensch gewesen, wenn er fähig gewesen wäre, gerade nach dieser Richtung hin einen Gegensatz zum Vormund zu bieten, so hätte vielleicht manches anders kommen können. Wenn beispielsweise ein Mensch wie der Verhandlungsleiter im Prozeß Vormundschaftsrichter gewesen wären, so hätten sich die Lebensverhältnisse der Dorothea Rohrbeck wohl anders gestaltet.

 

Diese Betrachtung führt uns zu den sonstigen Gesichtspunkten, die sich während der Dauer des Prozesses ergeben haben. Wir glauben im Sinne des allgemeinen Eindrucks zu sprechen, wenn wir sagen, daß sich in wenig Fällen eine derartige, nicht nur juristisch, sondern auch menschlich anzuerkennende Handhabung des ganzen Prozesses finden dürfte. Das ist sicherlich dem Verlauf zugute gekommen und hat das Vertrauen zur Rechtspflege in der Bevölkerung verstärkt. Daß die Staatsanwaltschaft alles herausholen würde, was zur Belastung und zur Verurteilung führen konnte, und daß die Verteidigung pflichtgemäß alles auf bieten   m u ß t e ,   um den Angeklagten zu entlasten, ist so selbstverständlich, daß man dazu nichts Näheres zu sagen braucht. Besonders interessant erschienen die Gutachten der psychologischen Sachverständigen. Wenn auch die Verteidigung wenig damit zufrieden sein konnte, so lenkten sie den Blick darauf, wie ungemein wichtig die Betrachtung psychologischer Gesichtspunkte in solchen Fällen sind. Und insofern greift der Prozeß Grupen weit über das Durchschnitts-Interesse an einem Verbrechen hinaus. Der Prozeß gibt uns neuen Aufschluß über Nachtseiten der menschlichen Natur, welche von der Gesellschaft beachtet werden müssen, wenn sie nicht dauernd Schaden erleiden will. Daß es hier gelungen ist, einen Schädling der Gesellschaft unschädlich zu machen, wird mit allgemeiner Befriedigung erfüllen, womit wir aber nicht denjenigen, sehr umfangreichen Teil des Publikums meinen, welcher lediglich den Mörder sah und ihn um jeden Preis verurteilt wissen wollte. Wer insbesondere die Geschichte des weiblichen Teiles der Zuhörerschaft während des Prozesses oder beim Andrang in den Saal zu beobachten verstand, wird sich einen besonderen Vers zu machen wissen. Ob mit dem Urteil der ganze Fall Grupen erledigt ist, mag dahingestellt bleiben. Die Verteidigung dürfte nichts unversucht lassen, um eine Revision herbeizuführen. Die Möglichkeit einer Begnadigung zu lebenslänglichem Zuchthaus im Hinblick auf den Indizienbeweis liegt sehr nahe, und völlig ausgeschlossen ist ja auch das Auftauchen neuer Tatsachen nicht. Das Schönste wäre, wenn wir in alle Zukunft von solchen Prozessen verschont bleiben würden.

 

 

 

Donnerstag, den 22. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

 

Einiges über Hypnose.

Von Professor M.   K a u f f m a n n ,   Universität Halle.

 

Durch die Presse gehen in letzter Zeit öfters Mitteilungen von Verbrechen, die an Hypnotisierten begangen worden seien. Diese armen Opfer wurden gewöhnlich durch den scharfen stechenden Blick einer Person - mit Vorliebe in einem Eisenbahnabteil oder auf Bahnhöfen - eingeschläfert. Dann sollen sich diese Personen tage-, ja wochenlang unter dem fremden Willen des Hypnotiseurs befinden.

 

Vor einiger Zeit kam eine Mutter mit ihrem fünfzehnjährigen Jungen zu mir, der behauptete, daß hier auf dem Bahnhof ein Mann ihn scharf angesehen habe. Er sei dann wir im Traume nach Geldern gefahren, dort für die französische Fremdenlegion angeworben, späterhin von einem Deutschen „aufgeweckt“ und nach dem Anhaltischen Bahnhof zurückgebracht worden, in Leipzig dann von der Polizei aufgegriffen und schließlich in völlig abgerissenem Zustande von seiner Mutter nach Hause geholt worden. Ich sollte nun den Jungen hypnotisieren und von ihm herausbekommen, ob die Sache wahr sei. Als ich dazu Anstalten machte, zeigte der Junge alle Anzeichen von Unruhe, er meinte, ob das nicht gefährlich sei? Darauf sagte ich ihm auf den Kopf zu, daß seine ganze Erzählung eine von ihm selbst erfundene Räubergeschichte sei, was er auch nach einigem Leugnen zugab. Aehnliches habe ich öfters erlebt.

 

Es ist bekannt, daß in früheren Zeiten häufig junge Mädchen, die einen Fehltritt begangen hatten, behauptet haben, sie seien von einem Geist überschattet oder durch Betäubungsmittel, die ihnen heimlich ins Bier usw. geschüttet worden seien, in einen willenlosen Zustand versetzt worden. Jetzt wird einem nicht zu selten die Angabe aufgetischt, daß die Mädchen von einem fremden Menschen scharf angesehen und dann in einem willenlosen Zustand mißbraucht worden seien.

 

So erschien vor einigen Monaten eine streng aussehende Frau mit ihrer in gesegneten Umständen befindlichen Tochter und bat mich, ich sollte feststellen, ob die Tochter von ihrem Verführer mit einem Blick hypnotisiert worden sei, wie diese behauptet hatte.

 

Als ich die Tochter allein ins Gebet nahm, machte mir diese die überraschende Mitteilung, daß sie bereits von mehreren Männern hypnotisiert worden sei; sie wisse nicht, wer als Vater des zu erwartenden Kindes in Betracht komme. Nun war guter Rat teuer! Hier die strenge Mutter, dort die weinende Unschuld. Ich zog mich aus der Affäre, indem ich behauptete, die Tochter habe mir anvertraut, daß sie leicht zu hypnotisieren sei. Merkwürdigerweise genügte der Mutter diese Auskunft. Sie verließ mich mit einem Seufzer der Erleichterung: „Ich wußte doch, daß meine Tochter anständig geblieben ist.“

 

Der Hypnotiseur, welcher über große Erfahrungen verfügt, kann solche abenteuerliche Erzählungen, wie daß jemand durch einen fremden Blick willenlos gemacht worden sei, nicht bestätigen. Es gelingt wohl, Personen, die man einige Male hypnotisiert hat, später blitzschnell in tiefen hypnotischen Schlaf zu versetzen, aber die Angaben über Massenhypnosen von Fakiren und ähnlichen Schwarzkünstlern sind unbedenklich in das Reich der Fabel zu verweisen.

 

Wer in der hypnotischen Tätigkeit einige Erfolge aufzuweisen hat, wird leicht mit einem Heiligenschein umgeben, es bilden sich oft Mythen über ihn. So erfährt man durch Zufall von Heilung Gelähmter, Auferweckung Scheintoter, die man nie gekannt hat. Der Glaube kann eben Berge versetzen! Neuerdings pflegen viele unheilbare Kranke zu Herrn Müller-Czerny in Homburg v. d. H. zu pilgern, der in seinem Prospekt zu heilen verspricht.

 

Nun muß man bedenken, daß der chronisch Kranke sich in einer ganz eigentümlichen Gemütsverfassung befindet; sein ganzer Interessenkreis konzentriert sich auf seine Krankheit, die Außenwelt interessiert ihn nicht so wie den Gesunden. Er wird Egoist und hegt vor allen Dingen meist den Wahn, daß er geheilt werden kann und   m u ß .   Wenn dann ein unzweifelhaft geistesgestörter Mann, wie dieser Müller, in einer halben Stunde angeblich Hunderte durch einige Gebete heilt, so klingt das wohl unwahrscheinlich, es ist aber doch zu verstehen weil bei solchen Kranken die Auffassung der Krankheit beeinflußt werden kann. Habe ich es doch schon selbst erlebt, daß an Rückenmarksschwingsucht Erkrankte, die ich auf ihren ausdrücklichen Wunsch hypnotisieren mußte, nachher besser gehen konnten und weniger Beschwerden hatten. Vielleicht wirkt hier eine gesteigerte geistige Energie, eine Art Selbstnarkose, mit, welche die Orientierung des Kranken über sein Leben trübt.

 

Aus dieser eigentümlichen geistigen Narkose (auf deutsch Glaube), deren Wirkung leider nur vorübergehend ist, sind wohl manche, auch durch Dankschreiben berichtete Erfolge, selbst der Unheilbaren, zu erklären.

 

Daß in der Hypnose keine Verbrechen vorkommen sollten, ist nicht richtig. Ich könnte über eine ganze Reihe von strafbaren, durch Hypnose befohlenen Verbrechen, berichte, die mir bekannt geworden sind. Auffallenderweise stellen ein ziemlich großes Kontingent hier die Frauen, in Gemeinschaft mit ihrem Liebhaber verstehen sie es, ihren Mann hypnotisch derartig unter ihren Einfluß zu bringen, daß dieser - gewöhnlich handelt es sich im einen „Troddel“ - sich geduldig aufplündern läßt. Ein solches Opfer seiner hinterlistigen Ehefrau habe ich in einer Sitzung aus deren gleichsam dämonischer Gewalt befreit.

 

Die neuerdings Hellseher und hypnotisierte Medien für die Aufdeckung von Verbrechen geleistete Mithilfe ist sehr skeptisch zu beurteilen. In den Fällen, wo ich als Sachverständiger solche Versuche beobachten konnte, haben die Medien vollkommen versagt. Es wird viel zu wenig mit einer unbewußten Beeinflussung, also einer Art von Suggestion, bei diesen Aufdeckungen von Verbrechen gerechnet.

 

Dann ist weiterhin nicht zu vergessen, daß wir alle viele Dinge beobachten, die wir nicht in Erinnerung haben, weil die Aufmerksamkeit durch andere Interessen gefesselt ist. Gelingt es, die Aufmerksamkeit zu beseitigen, wie dies in der Hypnose geschieht, dann erinnert sich der Betreffende oft an Beobachtungen, von denen er im wachen Zustand nichts wußte. Ich habe solche Beispiele in Vorlesungen öfters vorgestellt. So lassen sich manche oft frappante Beobachtungen von Medien einfach durch eine Veränderung ihres Bewußtseinzustandes erklären.

 

 

 

Freitag, den 23. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

 

Zum Mordprozesse Peter Grupen

ersucht uns der Verteidiger des Angeklagten um Ausnahme folgender   E r k l ä r u n g :

„In dem Artikel Ihrer Zeitung vom 22. Dezember 1921 über den Schlußakt des Prozesses findet sich der Satz, „daß die Verteidigung pflichtgemäß alles aufbieten   m u ß t e ,   um den Angeklagten zu entlasten, ist so selbstverständlich, daß man dazu nichts Näheres zu sagen braucht.“ Mit dieser Bemerkung, die Mißdeutungen hervorrufen wird und muß, wird man meiner Tätigkeit nicht gerecht. Ich habe im Verfahren mit aller Deutlichkeit zu erkennen gegeben, daß ich von der Schuldlosigkeit des Angeklagten überzeugt war, und diese Ueberzeugung vertrete ich noch heute und werde sie solange vertreten, bis mir bessere Beweise als die des nunmehr abgeschlossenen Verfahrens erbracht werden. Diese Ueberzeugung eines ehrlichen Mannes sollte auch die Oeffentlichkeit achten und ihm nicht unterstellen, daß er seine Tätigkeit nur ausgeübt habe im Zwange einer übernommenen Pflicht. Ich hätte die Verteidigung nicht zu übernehmen brauchen, wenn ich es nicht gewollt hätte. Daß ich es getan habe, darüber rechte ich mit der Presse nicht, weil ich mich vor ihr nicht zu verantworten brauche. Aber ich glaube durch die Art meiner Verteidigung den Anspruch darauf erworben zu haben, daß man meine Absichten und Ansichten als vom reinsten Wahrheitsdrange eingegeben achtet. Darauf glaube ich durch meine öffentliche Tätigkeit einen Anspruch erworben zu haben.

Justizrat Dr. Ablaß.“

 

Es versteht sich ganz von selbst, daß in dem oben angeführten Satz nur von einem   i d e e l l e n   Pflichtgefühl, von einem Pflichtgefühl   a u s   Ueberzeugung die Rede ist. Wir glauben Herrn Justizrat Dr. Ablaß doch genau genug zu kennen, als daß wir eine andere Meinung von seiner Berufsauffassung hegen könnten.

 

*

Das Urteil eines Berliner Anwalts.

Von Rechtsanwalt   R ü b e l l -   Berlin wird dem Lokalanzeiger zu dem Hirschberger Urteil geschrieben: „Dürfte man auf Grund des vorliegenden Sachverhalts jemand zum Tode verurteilen? Nie und nimmer möchte man meinen - und wenn im übrigen noch so vieles gegen den Angeklagten sprach. Die Aussage eines 12jährigen Kindes, das sogar noch zugeben mußte, „die Tante Lux“ habe ihr gesagt, sie „solle das ja nicht vergessen“, kann und darf nie und in keinem Falle zu einer derartigen Verurteilung ausreichen, selbst wenn man annimmt, daß die Wirtschafterin Mohr aus gewissen Gründen den Angeklagten zu entlasten suchte und daß eine 78jährige Großmutter die Möglichkeit, daß Grupen sich entfernt habe, zugab. Dem wird jeder zustimmen, der nur die geringste Erfahrung in der Bewertung von Zeugenaussagen über zurzeit der Beobachtung jedenfalls völlig belanglose Wahrnehmungen besitzt und der von der Psychologie der Kinderaussagen auch nur die geringste Kenntnis hat. Dazu kommt aber, daß es vom Standpunkt eines raffinierten und verschlagenen Mannes, wie es Grupen sein soll, völlig widersinnig wäre, sich auf eine Viertelstunde aus der Gesellschaft von vier Personen zu entfernen, den Mord auszuführen, seine eigene Waffe am Tatort niederzulegen und dann zurückzukommen, weil er doch unbedingt damit rechnen mußte, daß sein Verschwinden bemerkt und nach Entdeckung der Tat sofort mit dieser in Zusammenhang gebracht werden mußte. Wie also klärt sich das Rätsel von Kleppelsdorf? Mir will nach den vorliegenden Preßberichten scheinen, als sei man der Erforschung der körperlichen, geistigen und seelischen Veranlagung der Mutter Ursulas, Frau Grupen, deren erster Mann Schade „auf der Jagd“ verunglückt, die selbst spurlos „nach Amerika verschwunden“ war, nicht genügend nachgegangen. Vielleicht hätte sich ergeben, daß Ursula, die von Frl. Zahn als „dürftiges, hochaufgeschossenes, außerordentlich melancholisches und gedrücktes“ Kind geschildert wird, von ihrer Mutter schwer erblich belastet und somit trotz ihres zarten Alters zu einer solchen Verzweiflungstat fähig gewesen sei.

 

Was die Mahnung von Frau   L u x   betrifft, so möchten wir dazu bemerken, daß das Kind Irma zu dieser, ihrer jetzigen Pflegemutter, nach seiner Zeugenvernehmung Aeußerungen über Dinge getan hat, die es in dieser Vernehmung nicht erwähnt hatte und die Frau Lux für wichtig hielt, um Aufklärung für den Gerichtshof zu schaffen. Deshalb hat sie dem Kinde gesagt, es müsse seine Aussage noch ergänzen. Frl.   Z a h n   hat unserem Bericht über Ursula nur gesagt: „Dörte hatte beobachtet, daß Ursula ein auffallend scheues und gedrücktes Wesen hatte. Dörte meinte, Ursel müsse eine Sorge haben.“ Und ferner: „Ursel war zart und schwächlich, langaufgeschossen und hager, so daß man Mitleid mit ihr haben mußte.“ Die Geschworenen dürften ihr gedrücktes Wesen nicht auf die Erbschaft von ihrer Mutter, sondern auf ihren Verkehr mit dem Angeklagten zurückgeführt haben. Auch handelt es sich nicht um eine Viertelstunde, sondern um eine Minute, die zur Ausführung der Tat erforderlich war.

 

Presseäußerungen.

Der Berliner   L o k a l a n z e i g e r   schreibt zu dem Prozeß: „Die Indizien bestanden im vorliegenden Falle im wesentlichen in dem gefühlsmäßigen Ermessen, daß ein 13 Jahre altes Kind eine so furchtbare Tragödie an sich und der Base nicht vollziehen konnte, daß gegen den Angeschuldigten der   V e r d a c h t   der Beseitigung seiner Frau sprach und daß die Lage der Patronenhülsen jede Schuld von Ursula zu nehmen schien. Die Hülsen sind aber teilweise erst zwei Tage   n a c h   der Tat aufgefunden worden, können also verrutscht sein. Es ist ferner angenommen worden, daß Grupen auf das Vermögen von Kleppelsdorf machtgierig lossteuerte. Er war aber gar nicht Erbe, sondern zu einem Teile Frau Eckert (nach deren Ableben die kleine Irmgard) und andererseits die Rohrbecks. Also nur auf Umwegen durch die Generalvollmacht, durch diese aber auch nur schwer, oder Beseitigung der Frau Eckert und der Irmgard konnte Grupen zu dem vermeintlichen Ziele gelangen. Anderes, wie sein ausschweifendes Liebesleben, wobei nicht vergessen werden darf, daß es ihm die Schönen von Ottenbüttel offenbar nicht sehr schwer gemacht haben, sie zu erobern, lief nur nebenher. Also Indizien, und als ihr Fundament gefühlsmäßige Erwägungen, daß ein   a n d e r e r   als der Täter nicht in Frage komme.“

 

Weiter lesen wir im   B e r l i n e r   T a g e b l a t t :   „Das Prozeßrecht des Mittelalters ließ Verurteilung nur auf Grund der Aussage   z w e i e r   T a t z e u g e n   zu. Die heutige Kriminalität schätzt den Beweiswert zuverlässiger Indizien höher ein als den von Zeugen. Aber im Volksbewußtsein wurzelt gerade bei Kapitalverbrechen noch tief jener alte Zweifel, ob es denn recht sei, „nur“ auf Grund von Indizien einen Menschen zum Tode zu verurteilen. Die Geschworenen haben die ihnen vorgelegten Fragen trotzdem bejaht. Eine klare Alternative war gestellt: entweder hat die dreizehnjährige schwächliche Ursula Schade, der das niemand zutraute, ihrer Freundin Dorothea Rohrbeck den tödlichen Schuß beigebracht und sich dann selbst getötet, oder Grupen, trotz des Verlustes seines linken Armes ein ausgezeichneter Schütze, hat in der allerdings sehr knapp bemessenen Zeit den zweifachen Mord verübt. Die Geschworenen entschieden sich, offenbar unter dem Eindruck der übereinstimmenden Gutachten der Sachverständigen und all der übrigen von der Anklage zusammengetragenen Schuldmomente, für die zweite Alternative. In der Rechtsbelehrung des Vorsitzenden wurden sie darauf hingewiesen, daß ein   Z w e i f e l   an der Schuld des Angeklagten diesem zugute kommen und zur Freisprechung führen müsse. Sie hatten keinen Zweifel. Soweit der Prozeßbericht eine Beurteilung ermöglicht, haben die Geschworenen richtig entschieden. Ueberrascht hat die Tatsache, daß Grupen, der bis zum Schluß seine Verteidigung so zielsicher geführt hatte, unmittelbar nach dem Schuldspruch der Geschworenen, aber vor der Verkündung des Urteils durch das Gericht auf   R e c h t s m i t t e l   und   G n a d e n e r w e i s   verzichtet hat. Beide Erklärungen sind   r e c h t l i c h   o h n e   B e d e u t u n g .   Der Verzicht auf Revision kann nicht vor der Urteilsverkündung ausgesprochen werden. Ebenso wird das preußische Staatsministerium, in dessen Hand das   B e g n a d i g u n g s r e c h t   liegt, nach der Rechtskraft des Urteils von Amts wegen zu prüfen haben, ob eine Begnadigung angezeigt erscheint. Erst wenn das Ministerium die Begnadigung ablehnt, darf das Todesurteil vollstreckt werden.“

 

In der   V o s s i s c h e n   Z e i t u n g   lesen wir: „Man hat von den Opfern wie von den Ueberlebenden dieser Tragödie seelische Porträts entworfen, die um so mühevollere Kunstübungen darstellen, als die verschiedensten Hände an jedem einzelnen mitgearbeitet haben. Daß daran freilich durchweg Meisterhände beteiligt gewesen seien, kann man nicht behaupten. Aber hätte selbst die Linienführung des Staatsanwalts die große Sicherheit wie die der beiden weisen und klugen, das Menschliche von innen her begreifenden Wisser und Kenner Ablaß und Mamroth gehabt - die Bilder müßten verwirrt und verwirrend ausfallen, weil die Kunstübung nicht rein und zwecklos war, sondern nach beiden Seiten höchst entgegengesetzten Zielen zustrebte. Am schlechtesten kamen dabei der Angeklagte und seine verschwundene Frau weg. Der Staatsanwalt malte dieses Doppelporträt so, daß er einen Schurken neben eine Madonna setzte, und die Verteidiger verwandelten die Madonna zu einem Frauenzimmer, den Schurken zu einem reinen Toren. In einem waren freilich Staatsanwalt und Verteidiger auf der rechten Spur oder auf den rechten Spuren. Peter Grupen ist nicht, wie die meisten Menschen, eine Mischung von Gutem und Bösem, ein Einheitswesen, in dem die widersprechendsten Eigenschaften gewissermaßen eine chemische Verbindung eingegangen sind. Er hat nicht die Fehler oder Tugenden des Durchschnittsmenschen. Bei ihm besteht vielmehr eine reinliche Scheidung. Er ist primitiv bis zum 24. Lebensjahr, jedenfalls war er es. Es bestand nun die Frage, welche von den beiden in ihm ruhenden Möglichkeiten er entwickelte. Er entwickelte   b e i d e .   Deshalb sehen wir auf der Anklagebank nicht den Mörder und den Unhold, sondern den braven, den tüchtigen, begabten und hoffnungsvollen Absolventen der Baugewerkschule, dessen Betragen als Angeklagter genau so untadelig ist, wie seine einstigen Lehrer es schilderten. . . . . Es ist nicht ganz mit Unrecht von der Verteidigung gesagt worden; Soll Kleppelsdorf wirklich sein Ziel gewesen sein? - Dörte ist tot -   h a t   Grupen Kleppelsdorf? Sehr sicher war ihm die Beute der Tat nicht. Selbst auf dem Umwege über die Großmutter wäre es ihm schwer geworden, in den Genuß seines Raubes zu kommen. Wenn man behauptet, er hätte nachher gewiß die Großmutter und die kleine Irma beiseite geschafft - man könnte mit demselben Recht sagen, er hätte eine von beiden oder beide hintereinander geheiratet!“

 

Und in der   M o r g e n p o s t   heißt es: „Es liegt im Wesen eines Indizienprozesses, daß trotz zahlloser Beweismomente, die für die Schuld des Angeklagten sprechen, immer auch noch die Möglichkeit offen bleibt, daß eine andere Deutung der Geschehnisse, der Zusammenhänge und Folgerungen auch zu einem anderen Ergebnis führen kann. Jedenfalls waren aber in diesem Falle die an sich oft kleinen und in jedem Falle bedeutungslosen Tatsachen zu einer solchen Kette von Beweisen angehäuft, daß die Wahrscheinlichkeit der Schuld Peter Grupens sich in den Geschworenen zur Gewißheit verdichten konnte. Um ein Todesurteil zu fällen, müssen Geschworene aufs tiefste von der Schuld des Angeklagten durchdrungen sein. Nur ein leiser Zweifel mußte sie vor einem solchen Urteil zurückschrecken lassen. Die Geschworenen von Hirschberg haben diesen Zweifel offenbar nicht gehabt. . . . . Die schweren Verdachtsmomente, die gegen Grupen in der Mordsache im Schlosse Kleppelsdorf selbst vorlagen, hätten vielleicht nicht zu einem Schuldspruch führen müssen, wenn nicht durch das Verschwinden der Frau und das Verbrechen an der kleinen Ursula die Voraussetzungen für weitere Verbrechen geschaffen gewesen wären. Denn mit der Ehe, die er eingegangen war, die aber ein so schnelles Ende genommen hatte, hatte er sein Ziel, in den Kreis der reichen Familie als gleichberechtigtes Mitglied aufgenommen zu werden, noch nicht erreicht. Dazu bedurfte es neuer Schritte, die ihn nach Kleppelsdorf führten. Er hatte sich zweifellos mit dem Gedanken getragen, die Millionenerbin Dörte Rohrbeck zu heiraten, sah aber dieses Vorhaben bald an der erklärten Abneigung des jungen Mädchens und vor allem auch ihrer einflußreichen Erzieherin scheitern. Wäre er nun von Kleppelsdorf weggegangen, so wäre er bei der gegen ihn dort herrschenden Stimmung wahrscheinlich niemals dahin zurückgekehrt, zumal wenn eines Tages das Verbrechen, das er an seiner Stieftochter begangen hatte, zum Vorschein gekommen wäre. Wenn er die Tat begangen hat, woran seine Richter nicht zweifeln, so dürfte die Entfernung der kleinen Ursula wahrscheinlich das Hauptmotiv gewesen sein, denn mit dieser Zeugin, wenn sie am Leben blieb, war seine Zukunft immer bedroht. Sein Streben ging nach Reichtum und Ehre. Der Tod Dörte Rohrbecks konnte ihm, der damals sich seines Einflusses auf die Großmutter für sicher hielt, zum Reichtum verhelfen, der Tod Ursula Schades seine verlorene Ehre retten. Mit diesen, wenn man sie so nennen kann, positiven Indizien, trifft eine Reihe negativer Indizien zusammen, die es als höchst unwahrscheinlich erscheinen lassen, daß die dreizehnjährige Ursula Schade, ein gutgeartetes, kränkliches und schwaches Kind, das nie mit einer Waffe etwas zu tun hatte, ihre Kusine, mit der sie in bestem Einvernehmen lebte, mit der tödlichen Sicherheit eines ausgezeichneten Schützen getötet und dann mit derselben Sicherheit ihrem eigenen Leben ein Ende gemacht haben soll. . . . . Das Urteil wäre niemals gesprochen worden, wenn nicht die Handlungen und Unterlassungen Grupens in den Geschworenen von vornherein die Ueberzeugung gefestigt hätten, daß er einer solchen   T a t   auch fähig sei.“

 

Wir teilen diese Aeußerungen der Berliner Blätter lediglich deshalb mit, weil wir annehmen, daß unsere Leser sich dafür interessieren werden, nicht etwa deshalb, weil wir all die vorgebrachten Meinungen teilen.

 

Ein falsches Gerücht.

Entgegen hartnäckig sich haltenden Gerüchten, daß eine am 31. Januar d. J. in der Wedeler Au bei Blankenese aufgefundene weibliche Leiche mit der der verschwundenen Frau Grupen identisch sei, hat nunmehr, wie uns aus Hamburg gemeldet wird, eine gerichtliche Untersuchung der Leiche die Unhaltbarkeit dieser Vermutung erwiesen.

 

 

 

Sonnabend, 24. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Frau Grupen?

Gestern war uns von Hamburg berichtet worden, daß festgestellt sei, daß die am 31. Januar bei Wedel gefundene Leiche nicht mit der verschwundenen Frau Grupen identisch sei. Heute wird uns telegraphisch gemeldet, daß die Norddeutschen Nachrichten in Blankenese berichten, die   A u s g r a b u n g   der betreffenden Leiche sei jetzt   a n g e o r d n e t   worden. Grupen soll in Wedel sehr bekannt gewesen sein und sich kurz nach dem Verschwinden seiner Frau um die Hand einer dortigen Landwirtstochter beworben haben. - Inwieweit die Meldung der Norddeutschen Nachrichten richtig ist, ließ sich noch nicht feststellen.

 

 

 

Sonntag, 25. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Das Verschwinden der Frau Grupen

scheint jetzt sehr stark die zuständige Staatsanwaltschaft in Altona zu beschäftigen, die offenbar auf Grund der Zeitungsberichte über den Kleppelsdorfer Prozeß selbständig die   U n t e r s u c h u n g   a u f g e n o m m e n   hat. Von der Hirschberger Staatsanwaltschaft ist dieser Antrag nicht ausgegangen, noch hat die Altonaer Staatsanwaltschaft bisher Akten von hier eingefordert.

 

Die uns heute aus   I t z e h o e   vorliegende Meldung besagt. Die Staatsanwaltschaft Altona hat ein neues Ermittlungsverfahren in Sachen der verschwundenen Frau Grupen eingeleitet. Bereits am Mittwoch ist der   B e a m t e n s t a b   d e s   B a h n h o f e s   O t t e n b ü t t e l   von Polizeibeamten vernommen worden. Die Beamten haben übereinstimmend bekundet, daß   n i e m a n d   von ihnen die   A b r e i s e   d e r   F r a u   G r u p e n ,   die ihnen allen persönlich bekannt war,   g e s e h e n   hat. auch ist an dem fraglichen Nachmittag kein Fahrbillett nach Schlesien oder Hamburg gelöst worden. Im ehemaligen Grupenschen Besitztum fand eine   e r n e u t e   B e s i c h t i g u n g   a l l e r   R ä u m e   u n d   K e l l e r a n l a g e n   statt.

 

 

 

Mittwoch, 28. Dezember 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Revision im Grupen-Prozeß.

Durch den Verteidiger Grupens, Justizrat Dr.   A b l a ß ,   ist gegen das Urteil des Schwurgerichts   R e v i s i o n   e i n g e l e g t   worden. Das   R e i c h s g e r i c h t   wird sich demnach mit dem Prozeß beschäftigen müssen. Es hat aber nicht darüber zu entscheiden, ob Grupen zu Recht oder Unrecht verurteilt worden ist, sondern nur darüber, ob in der Hauptverhandlung Verstöße gegen die Strafprozessordnung vorgekommen sind, wobei dem Reichsgericht als einzige Unterlage das Protokoll der Verhandlungen dient. Das Reichsgericht kann die Revision verwerfen oder ihr stattgeben. Bei einer Verwerfung wird das Urteil rechtskräftig. Zur Vollstreckung bedarf es aber, da es sich um ein Todesurteil handelt, noch der Willenserklärung der beim preußischen Justizministerium bestehenden   B e g n a d i g u n g s k o m m i s s i o n ,   daß sie von ihrem Begnadigungsrecht keinen Gebrauch machen will. Reichspräsident Ebert hat, wie zur Widerlegung der vielfach auftretenden Gerüchte mitgeteilt sei, mit der Begnadigung nicht das geringste zu tun. Hebt das Reichsgericht aber das urteil auf, dann verweist es die ganze Sache zur nochmaligen Verhandlung an das Hirschberger oder auch an ein anderes Schwurgericht   z u r ü c k .   die ganze Verhandlung müßte dann also noch einmal wiederholt werden. 

 

 

 

Mittwoch, 4. Januar 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Ueber den Grupen-Prozeß

lassen sich auswärtige Blätter aus Leipzig melden, daß über die von Grupen eingelegte   R e v i s i o n   schon in vierzehn Tagen von dem   R e i c h s g e r i c h t   entschieden werden soll. Dies ist jedoch ganz unzutreffend, weil zu dieser zeit vielleicht erst die   B e g r ü n d u n g   der Revision beim Reichsgericht eingegangen sein wird. Dann muß erst die Gegenäußerung der   S t a a t s a n w a l t s c h a f t   eingeholt werden, so daß über die Revision erst etwa drei Monate nach der Fällung des angefochtenen Urteils entschieden werden dürfte, wie es die Regel ist.

 

In verschiedenen Zeitungen war auch zu lesen, daß die Schwurgerichtsverhandlung gegen Grupen rund 200 000 Mk. Kosten verursacht habe. Auch dies ist nicht zutreffend, denn die Kosten des Verfahrens stehen noch nicht fest. Sie dürften aber erheblich höher sein als 200 000 Mk. 

 

 

 

Freitag, 27. Januar 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

(Peter Grupen)

hat im Hirschberger Gerichtsgefängnis den Versuch gemacht, sich zu erhängen. Ein Gefängnisbeamter, der gerade hinzukam, konnte noch zur rechten Zeit den Selbstmord verhindern. Berliner Zeitungen bringen wieder als etwas neues, daß gegen Grupen die Untersuchung wegen   E r m o r d e r u n g   s e i n e r   F r a u   von der Staatsanwaltschaft Altona eingeleitet worden sei. Diese Nachricht ist nicht neu, denn dies wurde, auch von uns, schon bald nach dem Hirschberger Prozeß gemeldet.

 

 

 

Sonnabend, 28. Januar 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

(Zum Selbstmordversuch Grupens)

erfahren wir noch, daß der Vorfall sich bereits vor etwa zwei Wochen zugetragen hat. Grupen war nach dem Todesurteil sehr niedergeschlagen, spielte aber dann bald wieder den zuversichtlichen, lebensfrohen Mann. Vor zwei Wochen fiel einmal den Gefängnis-Beamten eine merkwürdige Stille in Grupens Zelle auf. Durch das Beobachtungsfenster sahen sie, daß   G r u p e n   V o r b e r e i t u n g e n   t r a f ,   s i c h   z u   e r h ä n g e n .   Die Beamten wollten jetzt rasch die Zellentür öffnen, diese leistete aber Widerstand, denn Grupen hatte sie durch einen Kunstgriff verriegelt. Die Tür mußte gewaltsam eingedrückt werden. Grupen, der bisher in Einzelhaft saß, wurde darauf in eine Gemeinschaftszelle gebracht. Nach diesem Vorfall verweigerte er kurze Zeit die Annahme von Verpflegung. Die Gefängnisbeamten, von denen einige ihm in der Schwurgerichtsverhandlung ein gutes Zeugnis über sein Verhalten ausstellten, bereitet Grupen jetzt allerhand Schwierigkeiten. Er hat besonders einen Beamten gewisser Pflichtwidrigkeiten beschuldigt, ob mit Recht oder Unrecht, wird die eingeleitete Untersuchung ergeben.

 

 

 

Freitag, den 24. Februar 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

                                                     

Der Grupen-Prozeß vor dem Reichsgericht.

Leipzig, 21. Februar.

 

Nach dem vor dem vierten Strafsenat des Reichsgerichts heute erstatteten schriftlichen Bericht über die gegen das Todesurteil des Hirschberger Schwurgerichts eingelegte Revision wird zunächst der dem Sachverständigen Büchsenmacher Hensel vom Gericht erteilte Auftrag beanstandet,   S c h i e ß v e r s u c h e   i m   M o r d z i m m e r   anstellen zu lassen und sich darüber gutachterlich zu äußern. Aus dem Protokoll der Hauptverhandlung wird mitgeteilt, in welcher Weise die Schießversuche vorgenommen sind und wie sich der Sachverständige darüber geäußert hat. Es ist dabei alles ordnungsgemäß zugegangen und irgend eine Gesetzesverletzung war nicht ersichtlich. Insbesondere lag kein Grund zu der Annahme vor, daß die Vorschriften über die Beweisaufnahme verletzt worden sind. Eine zweite Rüge betraf die   V e r n e h m u n g   d e r   n e u n j ä h r i g e n   I r m g a r d   S c h a d e .   Die Zeugin hatte ihre Aussage in Abwesenheit des Angeklagten gemacht. Als dieser wieder in den Saal geführt worden war, beantragte der Verteidiger Justizrat Ablaß, die Zeugin zu veranlassen, ihre Aussage dem Angeklagten ins Gesicht zu sagen. Diesen Antrag hat das Gericht abgelehnt und über diese Ablehnung beschwerte sich der Angeklagte. Auch hier lag ein Grund zur Beschwerde nicht vor, denn der Angeklagte ist durch den Beschluß nicht in seiner Verteidigung beschränkt worden und ein Recht, zu verlangen, daß ein Zeuge seine Aussage zweimal erstattet, steht dem Angeklagten nicht zu. Die dritte Rüge bezog sich auf die   A u e ß e r u n g   e i n e s   G e s c h w o r e n e n .   Dieser hatte während der Verhandlung angeblich im Namen der übrigen Geschworenen inbezug auf die Aussage des   Z e u g e n   T h o m a s   über die Zeugin Zahn, die Gesellschafterin der ermordeten Dorothea Rohrbeck, eine Aeußerung getan, welche diese in einem ungünstigen Lichte erscheinen ließ. Der Zeuge Thomas ist daraufhin nochmals vernommen worden und hat seine wahrscheinlich mißverstandene Aussage derart präzisiert, daß er nichts Nachteiliges über den Charakter und das Verhalten des Fräulein Zahn habe zum Ausdruck bringen wollen. Aus dem Protokoll ergibt sich, daß er sich durchaus anerkennend über die Zeugin ausgesprochen hat. In der Revision wurde die Ansicht vertreten, daß durch das Auftreten des fraglichen Geschworenen der Angeklagte benachteiligt worden sei. Wenn auch die Aeußerung jenes Geschworenen vielleicht hätte unterbleiben können, so war es ihm doch gestattet, in die Verhandlung einzugreifen und überdies ist damit, daß der Zeuge Thomas veranlaßt worden ist, sich nochmals zu äußern, alles geschehen, was den Interessen des Angeklagten dienen konnte. Die vierte Rüge bezog sich auf die als Zeugin während der Verhandlung vierzehn mal vernommene und am Schlusse vereidigte Schwiegermutter des Angeklagten, die Witwe Eckert. Diese ist bei 13 Vernehmungen darauf hingewiesen worden, daß sie ihre Aussage verweigern könne und hat jedes Mal erklärt, daß sie aussagen wolle. Nur bei der sechsten Vernehmung ist der Hinweis unterblieben. Darin erblickte nun die Revision einen wesentlichen Mangel des Verfahrens. Da die Zeugin durchaus über das ihr zustehende Recht im Klaren war, so muß angenommen werden, daß der unterlassene Hinweis ohne jede Bedeutung gewesen ist, außerdem hätte es vollkommen genügt, wenn der Vorsitzende die Zeugin bei der ersten Vernehmung auf ihr Recht, die Aussage zu verweigern, hingewiesen hätte. Ein Verstoß gegen das Verfahren, der zur Aufhebung des Urteils hätte führen müssen, lag also nicht vor. Während der Verhandlung hatte der Staatsanwalt noch die   V e r n e h m u n g   z w e i e r   Z e u g e n   beantragt. Der Verteidiger hatte dann Aussetzung der Verhandlung beantragt, um erst über die Zeugen Erkundigungen einziehen zu können. Darüber, daß dieser Antrag abgelehnt worden ist, führte die Revision an fünfter Stelle Beschwerde. Da nun aber die vielleicht bestehenden Zweifel über die Eignung der Zeugen durch die sofort erfolgte Vernehmung am besten beseitigt werden konnten und beseitigt worden sind, so lag für den Angeklagten kein Grund zur Beschwerde vor. Eine sechste Beschwerde ging dahin, daß an einem Verhandlungstage nach Mitternacht der   E r s t e   S t a a t s a n w a l t   d e n   S a a l   v e r l a s s e n   habe und durch den Assessor R. vertreten worden sei, obgleich nicht ersichtlich sei, daß dieser Herr zur Vertretung des Staatsanwalts befugt sei. Eine vom Reichsgericht eingeholte amtliche Erklärung des Oberstaatsanwalts löste diesen Zweifel der Revision durch die Erklärung, daß der Assessor tatsächlich zur Vertretung befugt war. Der Reichsanwalt, der nach dem Vortrage des schriftlichen Materials das Wort erhielt, erklärte sämtliche Rügen für unbegründet und zwar aus den Gründen, die oben bereits bei jeder einzelnen Beschwerde angegeben sind. Gemäß dem Antrage des Reichsanwalts   v e r w a r f   das Reichsgericht in später Nachmittagsstunde die Revision des Angeklagten Grupen als unbegründet. Damit sind die Würfel gefallen über einen Mann, der in außergewöhnlicher Weise das Interesse nicht nur des Publikums, sondern auch der Juristen und Psychologen in besonders lebhafter Weise erregt hat.

 

 

 

Hirschberg, 24. Februar 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

 

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Sonnabend, den 25. Februar 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Hirschberg, 25. Februar 1922

 

Peter Grupen entflohen!

 

Der Doppelmörder von Kleppelsdorf, Peter Grupen, ist, nachdem am Dienstag das zweifache Todesurteil gegen ihn rechtskräftig geworden, in der Nacht zum Freitag aus dem Gerichtsgefängnis an der Bergstraße entsprungen und leider auch entkommen.

 

Die Ausführung der Flucht macht der Erfindungsgabe, Verwegenheit und willensstarken Tatkraft des Verbrechers alle Ehre. Grupen war, nachdem er vor einigen Wochen einen Selbstmordversuch unternommen und in der letzten Zeit nochmals wiederholt Selbstmordgedanken geäußert hatte, in dem der Bergstraße zugewandten Flügel des Gerichtsgefängnisses in einer sogenannten Gemeinschaftszelle des zweiten Stockwerkes untergebracht worden. Diese teilte er mit drei anderen Strafgefangenen namens Bohn, Voigtländer und Bulleck, die alle drei nur noch geringe Strafen zu verbüßen hatten. Als am Freitag morgen die Gefängnisbeamten zum Dienst erschienen, standen Bohn und Voigtländer vor dem Gefängnistor und erklärten, daß sie gemeinsam mit Grupen ausgebrochen seien, selbst aber, da sie nur noch kurze Zeit zu verbüßen hatten, ab der Freiheit kein Interesse haben. Ein Blick auf die Gefängnismauer überzeugte die Beamten sofort von der vollen Wahrheit dieser Erklärungen: aus dem Fenster der Zelle Grupens ragte wagerecht in die Luft hinein ein fast zwei Meter langes Brett, daran hing ein Strick herunter, und von dem Vorbau des Gefängnisses in den Vorgarten hing ebenfalls ein Strick.

 

Nach der Erklärung Bohns und Vogtländers haben die beiden, obwohl sie selbst, wie gesagt, an ihrer Befreiung nicht interessiert sind, unter dem Willenszwang Grupens gehandelt. Sie erklärten, vor Grupen Angst gehabt zu haben, daß er sich an ihnen vergreifen könne, - eine Erklärung, die wenig glaubwürdig erscheint, weil die drei anderen Insassen der Zelle dem einarmigen Grupen doch zweifellos überlegen waren. Bulleck, der dritte Gefangene, war nicht geflohen, sondern lag früh, als die Gefängnisbeamten erschienen, im Bett und neben ihm ein Zettel Grupen folgenden Inhalts:

 

Geehrter Herr Bulleck!

   Nehmen Sie es uns nicht übel, aber wir mußten Ihnen ein Schlafpulver geben, damit Sie unser Vorhaben nicht stören konnten. Das angewandte Mittel ist absolut gefahrlos. Ich selbst habe probiert.

                                                                                  Hochachtungsvoll.     Peter Grupen.

 

Bulleck, dem das Schlafpulver in den Abendkaffee geschüttet worden sein soll, erklärte, fest geschlafen und von der ganzen Sache nichts gehört zu haben. Die Kleider Bullecks fehlten. Dem Grupen wurden allabendlich die Kleider fortgenommen. Den drei anderen Insassen der Zelle aber wurden die Kleider, übrigens Zivilanzüge, keine Sträflingskleider, belassen. In dem Anzuge des durch das Schlafpulver betäubten Bulleck hat Grupen dann die Flucht unternommen.

 

Nach weiterer Angabe Bohns und Vogtländers haben sie in Gemeinschaft mit Grupen mit einem Brotmesser, das zu einer feinen Metallsäge umgewandelt worden war, die Vergitterung des Fensters geöffnet. Dies ist um so leichter, als die Traillenvorrichtung bereits defekt war.   B e r e i t s   v o r   J a h r e n   h a t t e   e i n   G e f a n g e n e r   d i e s e r   Z e l l e   d e n   Q u e r s t a b   d e s   G i t t e r w e r k e s   d u r c h s ä g t   u n d   w a r   g l ü c k l i c h   e n t k o m m e n .   Dieser durchsägte Gitterstab war nicht, wie man hätte vermuten sollen, damals durch einen neuen ersetzt, sondern durch zwei Laschen, von denen die eine außen und die andere innen angebracht worden war, wieder zusammengeflickt worden. Die Köpfe der Nieten, mit denen der Querstab und die Laschen miteinander verbunden worden waren, haben Bohn, Voigtländer und Grupen mit dem Brotmesser abzusägen verstanden. Damit hatte das ganze Gitterwerk seinen Halt verloren. Mit einem aus einer Bettstelle losgelösten ungefähr zwei Meter langen, starken Brette haben sie das Gitterwerk nach außen durchgestoßen, dieses Brett dann durch das Fenster geschoben, im Innern befestigt und am freien, in der Lust schwebenden Kopfende des Brettes ein aus Bettlaken und Bettdecken zusammengedrehten Strick befestigt. Bohn und Vogtländer sind dann als erste und Grupen, der Einarmige, als letzter an dem Brett mittels „Hangelns“ herausgekommen und haben sich an dem Strick auf das etwa drei Meter tiefer liegende Dach des Nebengebäudes des Gefängnisses, in dem Büroräume und eine Beamtenwohnung liegen, heruntergelassen. Von hier aus hatten sie es nicht schwer, auf das Dach des unmittelbar an den Vorgarten grenzenden Vorgebäudes zu gelangen. An dem Schornstein dieses Hauses befestigten sie eine doppelte Leine, die ziemlich kunstvoll zusammengesetzt war und in ihrem oberen Teile aus zerschnittenen und zusammengedrehten Teilen von bunten Bettbezügen und weißen Bettüchern und am unteren Teile aus dicken Schilfrohrstücken bestanden. Grupen ließ sich an diesem strick zuerst herunter und eilte nach Aussage von Bohn und Vogtländer sofort nach der Bergstraße und überkletterte den niedrigen Eisenzaun. Als die beiden Helfer Grupens unten ankamen, war nach ihrer Aussage der Mörder bereits spurlos verschwunden. Sie selbst gingen in die Stadt, genossen noch ein paar Stunden die Freiheit, bis sie am Morgen in das Gefängnis zurückkehrten.

 

Ueber die   Z e i t   d e r   F l u c h t   wissen die beiden Gefangenen keine genauen Angaben zu machen. Nach ihrer Ansicht haben sie wohl gegen 12 Uhr angefangen zu arbeiten, sodaß die Flucht in der Zeit von 2 bis 3 Uhr vollendet gewesen sein könnte.

 

Am Freitag früh sah man von dem Zellenfenster die angebundenen Bettbretter und vom Dache des Nebengebäudes den zusammengesetzten Strick herabhängen. Eine große Menschenmenge fand sich im Laufe des Vormittags vor dem Gefängnis ein.

 

Natürlich wurden sofort nach Bekanntwerden der Flucht die eingehendsten Ermittelungen angestellt, vor allem, wie die Flucht möglich gewesen ist. Die Verfolgung Grupens wurde natürlich sofort aufgenommen. Die angesetzten Polizeihunde konnten aber keine bestimmte Spur aufnehmen, weil im Gefängnishofe nur Pflaster ist, und ja drei durcheinandergehende Spuren zu verfolgen waren. Es kann aber schon gesagt werden, daß die Polizei eine ganz bestimmte Spur verfolgt. Alle Behörden, Polizeiverwaltungen und Landjäger sind benachrichtigt worden.

 

Mancherlei Einzelheiten dieser mit zweifellosem Scharfsinn und Wagemut ausgeführten Flucht bedürfen noch der Aufklärung. Wie war, muß man sich fragen, es möglich, einen Mann wie Grupen, über dessen Kühnheit und Verwegenheit doch niemand im Zweifel sein konnte, in einer Zelle unterzubringen, dessen Vergitterung nicht völlig sicher war? Wie war Grupen, muß man sich weiter fragen, in den Besitz des Messers gelangt? Wo hat Grupen das Schlafpulver her, mit dem er Bulleck eingeschläfert hat, und wie ist Grupen in den Besitz des Schilfrohrstrickes gekommen? Es wurden zwar früher in dem Gefängnis auf Rechnung einer Firma Schilfrohrstricke angefertigt, doch ist diese Fabrikation schon seit einigen Wochen eingestellt worden und Grupen ist niemals mit der Schilfarbeit beschäftigt worden. Wie kam Grupen in den Besitz aller dieser Mittel, die ihm die Flucht ermöglicht haben? Man mußte bei einem Manne, wie Grupen, jetzt, nachdem die Revision gegen das Todesurteil vom Reichsgericht verworfen worden war, auch auf die äußersten Anstrengungen gefaßt sein, sich der Vollstreckung des Urteils zu entziehen. Die Bevölkerung hat unseres Erachtens einen Anspruch darauf, zu erfahren, wie es möglich war, daß Grupen sich in den Besitz dieser Hilfsmittel, ohne die ihm die Flucht niemals möglich gewesen wäre, zu setzen gewußt hat.

 

Grupen auf der Flucht.

Peter Grupen ist 1,74 Meter groß, von untersetzter kräftiger Gestalt, mit gestutztem mittelblonden Schnurrbart; er hat ein volles, rundes Gesicht und gesunde Gesichtsfarbe, etwas aufgeworfene Lippen, vollständige und gutgepflegte Zähne. Grupen hat eine hohe Stirm und spricht die schleswig-holsteinische Mundart. Der linke Arm ist eine Handbreit über dem Ellbogen amputiert. Bekleidet war Grupen bei der Flucht mit einem dunkelgrünen Filzhut, einem feldgrauen Militärjackett ohne aufgesetzte Taschen, schwarzer Weste, hell- und dunkelgrau gesprenkelten Hosen mit grünen Tupfen und schwarzen Schnürschuhen.

 

Ein Besuch bei Grupen.

Der Redakteur im Hause Scherl in Berlin, Herr Emil   S i m s o n ,   der seinerzeit der Schwurgerichtsverhandlung beiwohnte und seit zwei Tagen aus privaten Gründen in Hirschberg weilte, hatte Donnerstag mittag die Erlaubnis bekommen, Grupen zu sprechen. Die Unterredung fand im Amtszimmer und in Gegenwart des Majors a. D.   D e e t j e n   statt, der seit kurzem die Leitung des Gefängnisses hat. In dieser Aussprache zeigte sich Grupen   r u h i g   und   f e s t ,   wie immer. Er   b e t e u e r t e   s e i n e   U n s c h u l d   und erklärte, im Wege der   W i e d e r a u f n a h m e ,   nach Erledigung der Strafsache in Altona, gegen das Todesurteil ankämpfen zu wollen. Mit der   A u ß e n w e l t   habe er jeden Verkehr, auch mit seiner Familie,   a b g e b r o c h e n .   Auf eine bestimmte Frage des Berliner Besuchers, ob er ein   G n a d e n g e s u c h   einreichen wolle, erklärte Grupen, daß er dies   a b l e h n e .   Er habe auch seinen Verteidiger, Justizrat   D r .   A b l a ß ,   ausdrücklich in diesem Sinne verständigt. Sollten alle Rechtsmittel versagen, so möge das Urteil vollstreckt werden, die Verantwortung trügen ja die zuständigen Stellen. Grupen, der sehr frisch aussah, lobte das Essen im Gefängnis und erklärte, er habe gegen keine Beamten einen Groll; nach dem Verlauf der Beweisaufnahme konnten die Geschworenen nicht anders urteilen. Trotzdem sei er unschuldig.   D i e   T ä t e r i n   s e i   U r s u l a .   Wie er sich die Tat denke, zeigte er beiden Herren an Hand einer sehr sicher hingeworfenen Zeichnung. Weder Major Deetjen, noch der erwähnte Besucher merkten Grupen auch nur das Geringste an, daß er sich mit irgendwelchen Fluchtabsichten trage.

 

 

 

Extrablatt Sonnabend, 25. Februar 1922

 

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Dienstag, den 28. Februar 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

 

Grupens Flucht und Rückkehr.

Der Kampf mit dunklen Mächten.

 

Seit Mitte Januar führen Staatsanwaltschaft und die neue Gefängnisleitung einen sehr schwierigen Kampf gegen gewisse Mächte, die „draußen und drinnen“ tätig sind, die man aber vorläufig nicht recht nennen und fassen kann. Diese Mächte haben sich zum Zieke gesetzt, Grupen zu befreien. Die Vermutung ist berechtigt, daß „man“ diesmal den richtigen Zeitpunkt, wo alles zur Erreichung dieses Zieles klappen sollte, für gekommen hielt. Daß aber dem „man“ ein Strich durch die Rechnung gemacht wurde, dürfte das erste Ergebnis des Kampfes dieser Behörden sein. Die Hilfe, die Grupen erwartete, konnte nicht durchgreifen. Die von den Behörden sofort eingerichtete Ueberwachung lähmte die Tätigkeit der Helfershelfer, sodaß Grupen Hirschberg nicht verlassen konnte und sich mangels jeglicher Unterstützung genötigt sah, sich wieder im Gefängnis zu stellen. Das Ringen der Behörden steht heute vor einem teilweisen Abschluß, aber der Kampf im ganzen ist noch nicht abgeschlossen. Noch manches Rätsel harrt seiner Lösung. Da sich Grupen wieder selbst gestellt hat, brauchen die Sicherheitsmaßnahmen, die von Polizeiinspektion, Kriminalpolizei und Grenzpolizei getroffen sind, kaum mehr in Tätigkeit zu treten. Indessen muß an der Aufdeckung aller noch dunklen Punkte unermüdlich weiter gearbeitet werden.

 

In dem Verhör, dem   G r u p e n   am Sonnabend Mittag unterworfen wurde, hat dieser die Einzelheiten der Flucht so bestätigt, wie wir sie bisher geschildert haben. Viele haben gemeint, daß er sich mit einem Arme nicht habe am Tau herunterlassen können, doch bekundet er selbst, daß diese Sache ganz gut gegangen sei, indem er das Tau zwischen den Beinen festklemmte und mit der einen Hand nachhalf. Als die Drei unten angekommen waren, will Grupen zu den beiden anderen Gefangenen wörtlich gesagt haben: „So, nun laßt uns alle wieder hineingehen, dann sieht man wenigstens, daß mir an der Freiheit dann nichts liegt, wenn ich meinen reinen Namen nicht so wieder haben kann, wie ich ihn hierher gebracht habe.“ Grupen hat dann in demselben Verhör weiter bekundet, er habe ganz genau gewußt, wohin er zu gehen hatte, bestritt aber entschieden, sich in der Wohnung eines Gefängnisbeamten auf der Wilhelmstraße aufgehalten zu haben. In einer Hirschberger Behausung sei er allerdings gewesen, und hätte dort ohne Gefahr noch längere Zeit verweilen können, jedoch will Grupen den Namen des Wohnungsinhabers nicht nennen. Er bestreitet, daß er sich den ganzen Tag auf dem israelitischen Friedhof oder in den Schießständen am Schützenhause aufgehalten habe; diese Gegend kenne er garnicht.

 

Am Nachmittag desselben Tages sagte Grupen aber ganz anders aus. Er behauptet nämlich neuerdings, daß er nach dem Ausbruch aus seiner Zelle das   G e f ä n g n i s g r u n d s t ü c k   g a r   n i c h t   v e r l a s s e n ,   d a ß   e r   s i c h   v i e l m e h r   i m   B l i t z a b l e i t e r s c h a c h t   i m   H o l z h o f   a u f g e h a l t e n   h a b e .   Man kann natürlich nicht sagen, ob er nun hiermit die Wahrheit sagt, aber möglich ist, daß seine neuere Aussage zutrifft, denn Grupen ist ohne Schuhe oder Pantoffeln an den Füßen geflüchtet, und seine Strümpfe sahen bei seiner Rückkehr nicht so aus, als hätte er einen längeren Weg auf zum Teil doch sehr schmutzigen Pfaden hinter sich.

 

Zweifellos ist die Flucht aber von längerer Hand vorbereitet worden, und diesen sehr sorgfältigen Bemühungen gegenüber kann man sich der Vermutung nicht entziehen, daß das Ziel die wirkliche Befreiung war, statt einer leeren Kundgebung, gegen welche allein schon die äußerlich starke Erregung spricht, in der sich Grupen bei seiner Rückkehr befand. Das Tischmesser, mit dem Grupen die Nieten des Gitterwerkes durchsägt hat, stammt sehr wahrscheinlich aus der Gastwirtschaft, aus der er seine Selbstverpflegung bezogen hat. Diese Wirtschaft lieferte anfangs das Essen ohne Messer und Gabel, aber Grupen bestand darauf, ein Besteck zu erhalten, und hat es auch bekommen, wobei er anscheinend eines Tages das Messer unauffällig zurückhielt. Die Zurichtung des Messers als Säge war sehr kunstgerecht, so daß man sich wundern kann, wie Grupen diese mühevolle Arbeit bei seinem einen Arme gelingen konnte. Daß er sich die Schlafpulver unter Vorspiegelung von Schlaflosigkeit erschlichen hat, haben wir bereits erwähnt. Auch das deutet auf einen wohlüberlegten Plan hin.

 

Auch heute treffen die Nachrichten auswärtiger Blätter, daß zwei Gefängnisbeamte als Helfershelfer Grupens aus dem Dienst entlassen wurden seien, nicht zu. Anfang Januar ist allerdings der Strafanstaltsinspektor Schenke beurlaubt und seit Anfang Februar vom Dienst suspendiert worden. Am Sonnabend hat auch ein anderer Gefängnisbeamter unfreiwillig Urlaub nehmen müssen. Ob und inwieweit beide Tatsachen mit Grupens Flucht in Verbindung stehen, entzieht sich vor der Hand unserer Kenntnis.

 

Die „Damenwelt“ gewisser Kreise ist übrigens für Grupen immer noch begeistert. Welche Genugtuung würde es dem Frauenjäger bereiten, wenn er davon Kenntnis erlangen könnte! Aus verschiedenen Orten Deutschlands, - vom Kurfürstendamm in Berlin zum Beispiel, - werden an Grupen Briefe gerichtet, in denen zuweilen Liebesgaben wie Blumen und Schokolade enthalten sind, die aber Peter Grupen nicht bekommt. - „Briefe, die ihn nicht erreichten …!“

 

*

Grupens Gattenmordprozeß.

Wegen des drohenden Verfahrens, das die Staatsanwaltschaft in Altona gegen Grupen wegen des Mordes an seiner Frau eingeleitet hat und das in Kürze zu einer Verhandlung vor den Altonaer Geschworenen führen wird, hat sich Grupen vor kurzem an den Berliner Anwalt Dr. Puppe gewandt und ihn gebeten, seine Verteidigung in dem Prozeß zu übernehmen. Rechtsanwalt Dr. Puppe hat sich bereit erklärt, das Mandat zu übernehmen. Er hat auch gleichzeitig damals Grupen mitgeteilt, daß er nach etwaiger Verwerfung der Revision des Hirschberger Urteils einen Antrag auf Aufschiebung des Strafvollzugs, also der Hirnichtung, stellen wird.

 

Nach unseren Erkundigungen ist aber die Untersuchung wegen des Verschwindens der Frau noch nicht soweit fortgeschritten, daß die Verhandlung vor dem Altonaer Schwurgericht schon in Aussicht stände.

 

 

 

Sonder-Blatt Hirschberg, den 2. März 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

 

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Sonnabend, den 4. März 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

 

Peter Grupens Ende.

Grupen wurde Donnerstag nachm. in seiner Zelle tot aufgefunden. Er hatte sich mittels seines Hosenträgers erhängt. Die Leiche hing in schräger Stellung an dem Heizkörper der Zentralheizung, der sich etwa in Brusthöhe befindet. Der herbeigerufene Gefängnisinspektor Dertjen schnitt die Leiche ab. Der im Gefängnis untergebrachte Arzt Dr. Friedrich aus Giersdorf stellte sofort Widerbelebungsversuche an, die durch den Gefängnisarzt, Sanitätsrat Dr. Galle, fortgesetzt wurden, aber trotz anderhalbstündiger angestrengtester Bemühungen erfolglos blieben. Die Leiche wurde eingesargt und alsbald nach der Leichenhalle des Kommunalfriedhofs geschafft. Die Nachricht von dem Selbstmord wurde durch den Boten unmittelbar nach der Tat sofort durch Extrablatt verbreitet.

 

Grupen war nach dem Ausbruch wieder in einer Einzelzelle untergebracht worden, um ihm die Möglichkeit zu nehmen, bei einem etwaigen neuen Ausbruch Helfershelfer zu haben. Man hatte ihm zunächst auch Fesseln angelegt, die ihm aber abgenommen wurden mit Rücksicht auf seine Einarmigkeit und mit Rücksicht darauf, daß er versprochen hatte, keinerlei Ausschreitungen zu begehen. Um ihn zu zerstreuen, wurde Grupen mit Schreibarbeiten beschäftigt. Am Donnerstag Morgen hatte der Gefängnisinspektor mit ihm einen Unterhaltung, bei der er durch nichts irgendwelche Selbstmordgedanken verriet. Er ließ sich sämtliche Mahlzeiten gut munden und legte auch sonst kein auffälliges Verhalten an den Tag. Seine Zelle wurde mindestens alle halbe Stunden vom Korridor aus durch das in jeder Zellentür befindliche Guckloch der üblichen Beobachtung unterzogen. Als der Beamte gegen 4 Uhr wieder an Grupens Zelle vorbeikam, sah er, daß die Scheibe des Gucklochs mit Papier verklebt war. Daraufhin wurde natürlich die Zelle sofort geöffnet und Grupen am Heizkörper hängend aufgefunden.

 

Daß Grupen zum Selbstmord Hosenträger benutzt hat, gibt dem Publikum Anlaß zu Vorwürfen gegen die Gefängnisverwaltung. Es sei aber darauf hingewiesen, daß man Gefangenen am Tage doch ihre Kleider belassen muß, zu der doch unbedingt Hosenträger oder ein Gürtel gehören, und daß sich Gefangene ebenso gut am Hemd oder an Streifen aus anderen Kleidungsstücken erhängen können, wie es tatsächlich schon vorgekommen ist. Hat ein Gefangener den festen Willen, aus dem Leben zu scheiden, so kann man ihn, auch wenn man ihn splitternackt läßt, nicht verhindern, sich die Pulsadern durchzubeißen. An scharfer Bewachung Grupens hat es jedenfalls nicht gefehlt, doch kann nicht bei jedem Gefangenen dauernd ein Gefängnisbeamter stehen. Ob Grupen letztwillige Aufzeichnungen oder Auslassungen über die ihm zur Last gelegten Mordtaten hinterlassen hat, konnte noch nicht ermittelt werden.

 

In den letzten Tagen war Grupen fast ununterbrochen wegen seines   A u s b r u c h s v e r s u c h e s   vom Polizeiinspektor Ripke und Kriminal-Oberwachtmeister Häußler vernommen worden. Die Vernehmungen haben ergeben, daß Grupen nicht in die Freiheit gelangt, sondern sich lediglich auf dem inneren Gefängnishof aufgehalten hat. Die Einzelheiten der Vernehmung sind die folgenden:

 

Bereits am Donnerstag Abend gegen 6 Uhr begannen Grupen und seine Helfershelfer mit dem Zusammenknoten der Leinen. Am Tage vorher waren die Nieten am Gitter durchgesägt worden. Grupen sah sehr scharf darauf, daß die Knoten auch recht genau geknüpft wurden, damit das Seil dann auch hielte. Als früherer Baugewerksschüler hatte er auch statische Berechnungen über die Tragfähigkeit der beiden Bettbretter angestellt, die beim Aussteigen aus dem Fenster benutzt wurden. Die Vorbereitungen wurden wiederholt unterbrochen, sobald das Knarren des Fußbodens das Herannahen des kontrollierenden Beamten verriet.

 

Einmal blieb der Beamte sogar dreiviertel Stunden in der Nähe von Grupens Zelle, sodaß während dieser Zeit nicht gearbeitet werden konnte. Gegen 3 Uhr morgens waren die Vorarbeiten beendet, und der Ausbruch konnte beginnen. Zunächst kletterte Bohn durch das Gitter und ließ sich am Tau auf das Dach des Beamtenhauses herab. Dann folgte Grupen, nachdem er die Gitterstäbe erweitert hatte, da die Oeffnung für seine gedrungene Gestalt zu klein war. Einen der Stäbe hat er weitergebogen und mit einem Taschentuch festgebunden. Als letzter folgte Vogtländer. Auf dem Dache des Beamtenhauses angelangt, befestigte Grupen das Schilfseil am Schornstein, an dem sich dann die Drei in den Vorgarten herabließen. Hier will dann Grupen an seine beiden Mitflüchtlinge die bereits mitgeteilte Aufforderung zur Rückkehr in das Gefängnis gerichtet haben. Bohn fragte Grupen, ob er ihm und dem Vogtländer ein Unterkommen verschaffen könnte, worauf Grupen erwiderte: „Wo ich hingehe, dahin kann keiner mitkommen.“ Die beiden halfen dann Grupen auf die Gefängnismauer, die den inneren Hof einschließt, und auf der Grupen bis zum Holzhof lief. Ueber den Holzschuppen herab kam Grupen in den Holzhof, also in den   i n n e r e n   Gefängnishof, und   v e r s t e c k t e   s i c h   d o r t   i n   d e m   B l i t z a b l e i t e r s c h a c h t ,   in dem er sich   d e n   g a n z e n   T a g   ü b e r   a u f h i e l t .   Am Abend meldete er sich dann am Küchenfenster.

 

Bei den Vernehmungen hat Grupen, wenn auch oft erst nach stundenlangem Ausfragen, Auskunft gegeben, woher er die Hilfsmittel zur Flucht bekommen hat. So erklärte er zur Beschaffung des Schiffstaues, daß es von einem Zellengenossen in einem Kübel in die Zelle gebracht worden ist. Dagegen hat Grupen keine Aufklärung gegeben über die Herkunft eines Sägeblattes, mit dem er die Gitterstäbe durchsägte, nachdem er mit dem auch zu einer Säge hergerichteten Tischmesser die Nieten der Gitterbefestigung gelöst hatte. Bei seiner letzten Vernehmung am Mittwoch abend erklärte er aber dem Polizeiinspektor: „Wenn Sie nicht weiterkommen, verrate ich Ihnen auch das noch.“ Grupen hat offenbar Mitleid empfunden mit den Gefängnisbeamten, die durch seinen Ausbruch in eine schwierige Lage gekommen sind. Es sprach sein Bedauern aus, den Behörden so viel Arbeit gemacht zu haben.

 

Die Ermittelungen, inwieweit   G e f ä n g n i s b e a m t e   Grupen gegenüber ihre Dienstpflicht verletzt und insbesondere ihm seine Flucht erleichtert haben, sind zu einem gewissen Abschluß gelangt. Ueber die Ergebnisse dieser Untersuchung kann aber, da es sich um noch schwebende Disziplinarverfahren handelt, natürlich keine Mitteilung gemacht werden. Wie wir aber bereits mitteilten, ist ein Beamter bereits vom Dienste suspendiert, ein zweiter ist unfreiwillig in Urlaub gegangen, und jetzt wird wahrscheinlich auch noch gegen einen dritten Beamten das Disziplinarverfahren eröffnet werden.

 

Solange nicht etwa hinterlassene Aufzeichnungen von Grupen bekannt werden, ist man über den Beweggrund für Grupens Flucht aus dem Leben nur auf Vermutungen angewiesen. Ob es nicht in erster Linie die Furcht vor der drohenden lebenslänglichen Zuchthausstrafe war, die ihn veranlaßte, Hand an sich selbst zu legen? Für ihn, den Genußmenschen, mußte der Gedanke furchtbar sein, den Rest seines Lebens hinter Zuchthausmauern zu verbringen. Deshalb hat er auch wiederholt erklärt, Furcht vor dem Tode habe er nicht, und deshalb hat er auch die Stellung eines Gnadengesuches entschieden abgelehnt. Vielleicht war auch das in Altona schwebende Verfahren wegen Ermordung seiner Frau der Beweggrund zum Selbstmord. Hier war für Grupen besonders belastend, daß die von ihm verkauften Ringe der verschwundenen Frau deutliche Beweise dafür zeigten, daß sie mit Gewalt von den Fingern der Trägerin entfernt worden waren. Jedenfalls geht mit Grupen noch manches ungelöste Rätsel ins Grab. Die Leiche ist bereits von der Staatsanwaltschaft zur Beerdigung freigegeben worden. Ob seine Verwandten die Bestattung übernehmen werden. ist den zuständigen Behörden zurzeit noch unbekannt.

 

 

 

Sonntag, den 5. März 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

 

Grupens Selbstmord.

Die in Kiel lebende   M u t t e r   Peter Grupens ist von dem Tode ihres Sohnes benachrichtigt worden. Von den Angehörigen Grupens hat sich bisher noch niemand zur Uebernahme der Beerdigung geäußert, die deshalb von den hiesigen Behörden bewerkstelligt werden muß.

 

Rechtsanwalt   D r .   P u p p e ,   der Grtupen in dem Altonaer Prozeß verteidigen sollte, macht dem B. T. zu Grupens Tod die folgenden Mitteilungen:

 

„Die Nachricht, daß Grupen seinem Leben ein Ende gemacht hat, muß umso überraschender wirken, als die Wärter, die Grupen zu beaufsichtigen hatten, weder in den vergangenen Tagen noch in den letzten Stunden vor der Tat irgendeine Spur von Erregung in dem Wesen Grupens entdeckt hatten. Die Vermutung liegt sehr nahe, daß Grupen infolge eines   g a n z   p l ö t z l i c h e n   s e e l i s c h e n   Z u s a m m e n b r u c h s   Hand an sich gelegt hat. Er war ein Mann, der wußte, wohin er hinaus wollte und worum es sich für ihn handelte. Grupen war auch mit ganz ungewöhnlich hohen geistigen Gaben ausgestattet: er war aber vor allen Dingen ein Mann, der zielbewußt zu handeln pflegte. Dies geht auch schon aus den   r e g e l m ä ß i g e n   Z ü g e n   s e i n e r   H a n d s c h r i f t   hervor. Noch nach seiner Flucht hatte Grupen noch einmal an mich geschrieben, und ein Vergleich dieser letzten Schrift mit früheren Schreiben an mich weisen keinerlei Veränderungen in den Schriftzügen auf. Er hatte mich in seinem   l e t z t e n   B r i e f   gebeten, ihn wegen wichtiger Besprechungen zu dem bevorstehenden Prozeß in Altona im Gefängnis in Hirschberg zu besuchen, und in der kommenden Woche wollte ich dieser Aufforderung Folge leisten. Nun nach dem plötzlichen Selbstmord Grupens wird ja der ganze Prozeß in Altona nicht stattfinden. Interessant ist wohl auch die Tatsache, daß in der kommenden Woche eine   S p i r i t i s t e n s i t z u n g   wegen der angeblich nicht aufzufindenden   F r a u   G r u p e n   stattfinden wird, zu der ich bereits eine Einladung erhalten habe.“

 

Hoffentlich teilt Rechtsanwalt Dr. Puppe, der den spiritistischen Weg, der Sache auf den Grund zu kommen, für gangbar zu halten scheint, der Oeffentlichkeit mit, was sich bei dieser Sitzung alles ereignet hat. Denn wenn sich der Blödsinn dieses Kapitels bemächtigt, so muß das auch in der Oeffentlichkeit besprochen werden. In Hirschberg ist der Blödsinn schon in vollem Gange. Ueberall kann man hören, Grupen sei gar nicht tot, er mache nur den Behörden etwas vor und werde schon bei gelegener Zeit aus dem Sarge oder aus dem Grabe oder sonstwie ausrücken. Ein Beweis, wie stark das Zutrauen zu den Fähigkeiten des Verbrechers und wie gering das Zutrauen zu den Behörden ist. Zunächst wird Grupen wohl in der Phantasie gewisser Kreise am Leben bleiben, jedenfalls aber auf dem Tallsackmarkt auferstehen und dann auf diese oder andere Weise weiter „schrechen“. Und die „Damen“ werden sich mit seinem Astralleib in Verbindung zu setzen suchen.

 

 

 

Sonntag, den 5. März 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

 

Landru und Grupen.

Man pflegt gewöhnlich die Charaktereigenschaften und Eigentümlichkeiten einzelner Nationen in ihren großen Vertretern, in Persönlichkeiten, zu symbolisieren. Der nationlae Held ist gleichzeitig auch das nationale Ideal. Aber auch in der Untat, im Verbrechen liegt etwas unbewußt Imponierendes, etwas Kennzeichnendes, das zu seltsamen Vergleichen Anlaß gibt. Ist es Zufall oder merkwürdige Fügung, daß zu gleicher Zeit in Frankreich ein Landru und in Deutschland ein Peter Grupen auftrat? Man hat schon öfters die Gleichzeitigkeit gewisser Erscheinungen beobachten können und zweifellos stehen auch diese beiden Mörder, denen man beiden nichts absolut Sicheres nachweisen konnte, in einem inneren, aber nicht erklärbaren Zusammenhang. Beide haben das Geheimnis, das sich um ihr Leben und um ihre Tat rankt, mit ins Grab genommen und die Nachwelt wird ebenso wenig wie die Gegenwart ein endgültiges Urteil sprechen können.

 

Nur das Ende der Beiden war verschieden, und, so möchte man sagen, für jeden einzelnen kennzeichnend. Landru, bis zu seinem Tode der unverwüstliche, französische Charmeur, der alles gewissermaßen auf die leichte Achsel nahm, Eindruck erwecken wollte und bis zum letzten Augenblick nicht die Hoffnung verlor, ja sozusagen mit einem halben Scherzwort in die Ewigkeit flüchtete - Grupen, ein Mann von unbeugsamem Willen, von Ueberlegung und Selbstbeherrschung, Unerschrockenheit und gebändigten Nerven, gewissermaßen verstockt, von einer rauhen Lebensenergie beherrscht, die ihn einen Fluchtversuch unternehmen und wieder in das Gefängnis zurückkehren ließ, als er einsah, daß die Flucht ihn nicht retten konnte. Nun hat er selbst - in einem Anfalle von Verzweiflung, so heißt es - Hand an sich gelegt, ohne das Ende des noch in Altona schwebenden Verfahrens abzuwarten, eines Verfahrens, das dem Verurteilten, wenn er unschuldig war, immerhin einige Ausblicke eröffnete. Vielleicht wird die Untersuchung, nicht die nunmehr abgeschlossene in Altona, sondern die in Hirschberg noch mancherlei ergeben. Psychologisch erscheint es zunächst zweifelhaft, daß ein Mann wie Grupen, der sich noch um halb vier Uhr absolut unverdächtig, ruhig und gelassen benahm, eine halbe Stunde später „in einem Anfalle von Verzweiflung“ sich das Leben nahm. Oder sollte sich vielleicht gar in diesem plötzlichen Aufgeben aller Pläne eine deutsche Charaktereigenschaft widerspiegeln - ein jähes Zusammenbrechen, ein Versagen aller bisher, wenigstens zur Schau getragenen Willenskräfte?

 

Eines ist aber wieder für beide Mörder und für gewisse Frauen beider Länder, Frankreichs wie Deutschlands, charakteristisch. Beide haben Frauen gemordet. Und für beide Männer zeigte sich im Laufe der Prozesse von seiten der „Damen“ ein Interesse - ein Interesse, das ins pervers Krankhafte geht. Man weiß, daß Landru nach seiner Verurteilung allerlei fürstliche Geschenke, Blumen, Bonbons und Liebesbriefe in Hülle und Fülle ins Gefängnis bekam. Und es ist nicht weniger beachtenswert, daß noch in den letzten Tagen an Grupen viele Zuschriften von Damen kamen, darunter besonders solche vom Kurfürstendamm in Berlin. Man hat viele Blumen und andere Geschenke, Pralinés und Bäckereien versandt, die aber an Grupen nicht ausgeliefert wurden. Es ist dies eine der Rätselhaftigkeiten, daß viele Frauen immer wieder wie mit magischer Gewalt von der Gemeinheit angezogen werden, daß sie sich an seltsamen Vorstellungen zu berauschen scheinen. Denn anders könnte man sich diese offenkundige „Huldigung“ für diese beiden verwegenen Verbrecher, die die Frauen, jeder auf seine Weise, nur als Schlachtopfer betrachteten, nicht erklären. In diesem unbewußten Drang zum Gemeinen, zum Schaurigen und Blutrünstigen ist bei den Damen vom Berliner Kurfürstendamm und denen der Pariser Boulevards kein Unterschied zu merken. Sie versinnbildlichen beide etwas, das nicht allein beiden Völkern gemeinsam ist, sondern in der Zeit liegt, aber in dem am Boden liegenden Deutschland besonders kraß in Erscheinung tritt, - sie versinnbildlichen etwas, das in der schrankenlosen Entfesselung aller Begierden liegt, in der wüsten Entwürdigung der eigenen Menschlichkeit …

 

 

 

Sonntag, den 5. März 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Lähn, 3. März (Verschiedenes)

Die kirchlichen Körperschaften der evangelischen Gemeinde haben beschlossen, für die im Kriege abgegebenen drei Bronzeglocken Klangstahlglocken aus Apolda als Ersatz zu beschaffen. Die Gesamtkosten werden etwa 35 000 Mark betragen. Die Beschaffung wird der Gemeinde dadurch sehr erleichtert, daß Rittergutsbesitzer Pingel in Kleppelsdorf zum Andenken an seine Nichte, Dörte Rohrbeck, eine Glocke für Lähn stiftet, und daß die Glocke für Mauer Major Grimm daselbst zum Andenken an seine beiden im Kriege gefallenen Söhne schenkt. Der noch übrige Betrag soll hauptsächlich durch freiwillige Gaben gedeckt werden.

 

 

 

Dienstag, den 7. März 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

 

Immer wieder Grupen.

Nicht etwa, daß er wieder lebendig geworden wäre. Nein, nein, er ist ganz tot. Aber für den Berliner Rechtsanwalt, der ihn gern in Altona verteidigt hätte, ist das sicherlich nicht angenehm, denn er bombardiert das B. T. mit Veröffentlichungen, die anscheinend Ersatz bieten sollen für das fortgefallene Altonaer Verfahren. Er hat neuerdings dem bekannten Graphologen Langenbruch einen Originalbrief Grupens zur Beurteilung übergeben, und Langenbruch bezeichnet dessen Schrift als ein Kunstprodukt, als eine zeichnerische Schrift, aus der sich graphologische Folgerungen nur in ganz geringem Maße ziehen ließen. Er nimmt nur Selbstbeherrschtheit, Selbstbewußtheit, Selbstgefälligkeit und Eitelkeit an, also Eigenschaften, die wir an Grupen wirklich schon aus dem Prozeß zur Genüge kennen gelernt haben. Für diejenigen „Damen“, die gern mit der Handschrift Grupens auf dem Herzen schlafen gehen möchten, sei noch mitgeteilt, daß die Schlusszeilen des Grupenschen Briefes im B. T. …similiert abgedruckt sind. Um aber selbst in dieser traurigen Angelegenheit dem Humor doch noch etwas Feld zu gestatten, sei den spiritistischen Hoffnungen des Rechtsanwalts Dr. Puppe noch einmal das Wort gegeben. Er schreibt dem B. T.:

 

„Für denjenigen, der spiritistischen Experimenten nicht fern steht, ist es eine durchaus ernste Sache, wenn erste spiritistische Kreise Berlins versuchen wollen, mit Hilfe einer Séance diesem Rätsel näherzukommen. Die   g e p l a n t e   S i t z u n g   wird   u n t e r   a l l e n   U m s t ä n d e n   stattfinden. Der Tod Grupens hat auf sie keinen Einfluß, denn die Sitzung hätte sowieso in Abwesenheit Grupens stattfinden müssen. Inwiefern das   E r g e b n i s   d i e s e r   S i t z u n g ,   wenn sie von einem gewissen Erfolge begleitet werden sollte, in einem   P r o z e ß v e r f a h r e n   a l s   B e w e i s m i t t e l   verwendet werden könnte, ist eine der interessantesten und zugleich schwierigsten Fragen, denn im allgemeinen sind die Richter derartigen Dingen abgeneigt. Vielleicht aber hätten die Geschworenen doch auf eine entsprechende Anregung der Verteidigung gewünscht, daß das Ergebnis ihnen vorgetragen werde; das hätte natürlich nur in der Form geschehen können, daß man Personen, die an der Sitzung teilgenommen haben, insbesondere das   M e d i u m ,   a l s   Z e u g e   v e r n o m m e n   hätte. Es wäre dies der erste Fall in der deutschen Strafpraxis gewesen, in dem ein derartiger Beweis überhaupt nur angeboten worden wäre.“

 

Wir freuen uns darüber, daß „die Richter im allgemeinen derartigen Dingen abgeneigt sind.“ Auch was die Geschworenen betrifft, so glauben wir nicht, daß diese gewünscht hätten, das Medium als Zeuge zu vernehmen. Daß Dr. Puppe der erste in der deutschen Strafpraxis ist, der einen derartigen Beweis „überhaupt nur angeboten“ hätte, das möge   e r   sich unseretwegen ruhig zum Ruhme anrechnen.

 

 

 

Dienstag, den 7. März 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

U e b e r   G r u p e n   können wir jetzt die Akten schließen. Nicht aber über den Unfug, der durch unser Rechtssystem mit dem Aufwand an Zeit und Geld der Steuerzahler getrieben wird. Man summiere einmal, was im Falle Grupen an Ausgaben mittelbar und unmittelbar entstanden ist. Eine Million Papiermark wird nicht ausreichen. Meinethalben mag man noch zugeben, daß gegen Grupen verhandelt werden mußte, um dessen Verbrechen aufzudecken. Es war oder schien gelungen. das Todesurteil war rechtskräftig, dennoch zögerte man mit der Vollstreckung, nicht aus Menschlichkeit, sondern lediglich, um denselben Mörder noch einmal des Mordes zu überführen und ihn zum zweiten Male zum Tode verurteilen zu können. Das Verfahren mit allen Instanzen würde wieder ein Jahr gedauert haben. Hätte er noch ein paar Morde begangen oder sich ihrer auch nur verdächtig gemacht, so hätte er die schönste Versorgung für sein Alter gehabt. Bei einigem Geschick wären die Prozesse bis an sein natürliches Ende fortgesponnen worden, und wenn dann der Henker schließlich der Gerechtigkeit freien Lauf hätte geben wollen, lag der Delinquent längst im Grabe, friedlich an Zuchthausschwindsucht entschlafen. Aber er war klug genug, sich selbst dieser Lebensverlängerung zu entziehen und die Mittel, die man hierfür hätte aufbringen müssen, dem deutschen Volke zu ersparen. Grupen ist nur einer gewesen, der so liebenswürdig handelte. Schicksalsgenossen dieses Mannes sitzen zu Tausenden in deutschen Gefängnissen und nähren sich von unserem sauer verdienten Gelde, nehmen uns die Nahrungsmittel fort, helfen unser Dasein zu verteuern, werden aber weiter mitgeschleppt, wenn sie krank sind, gepäppelt: sie haben ein Dach über dem Kopf und Wärme im Winter, während anständige, ehrliche Bürger ohne Wohnung verkommen, dank der Kohlenpreise erfrieren und wenn sie nicht in einer Krankenkasse sind, an ihrem Leiden zugrunde gehen dürfen, wenn sie nicht vorher verhungerten, ohne daß da viel Aufsehen gemacht wird. Ich kann hier in diesem Zusammenhang nicht sagen, wie es gemacht werden sollte. Einmal weiß ich es selbst nicht genau - denn auch ich bin noch zu sehr in den alten Rechtsanschauungen befangen - dann würde jeder Versuch eines Vorschlages zur Besserung gleich Bände füllen. Aber nötig ist, daß immer wieder gezeigt wird, wie etwas bei uns falsch ist, wie es gerade in unserer Rechtspflege die schlimmsten Fehler gibt und wie da eine Aenderung eintreten muß. Mit diesem Gedanken müssen sich die Jungen anfreunden. Wer einen Stiefel, dessen Oberleder zerrissen ist, neu besohlen läßt, ist ein Narr. In unserer Rechtspflege „gehen wir in der Narrheit so weit, daß wir ein Messer ohne Klinge, dem das Heft fehlt,“ noch zum Schleifen geben, und wenn wir das nicht in gleichem Zustande zurückerhalten, unbedenklich für die geleistete Scheinarbeit bezahlen.

J. v. B.

 

 

 

Mittwoch, 8. März 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

(Peter Grupens Begräbnis)

Am Dienstag früh ist Peter Grupen auf dem hiesigen Kommunalfriedhof begraben worden. Vorher wurde noch durch zwei Zeugen festgestellt, daß die Leiche tatsächlich diejenige Peter Grupens war. Die Stunde der Beisetzung war streng geheim gehalten worden, sodaß keine Neugierigen, die sonst sicher in Scharen herbeigeströmt wären, anwesend waren. Bereits am Montag hatten sich viele Neugierige auf dem Friedhof eingefunden, die aber nicht auf ihre Rechnung kamen, denn die Beerdigung Grupens fand nicht statt. Da die Verwandten sich nicht bereit erklärt hatten, die Beerdigung zu übernehmen, erfolgte diese durch die städtische Armenverwaltung. Von den Verwandten war auch niemand erschienen, sodaß also zur Beerdigung nur die dabei dienstlich beschäftigten Personen anwesend waren. Still und klanglos wurde der Sarg in das Grab gesenkt.

 

 

 

Samstag, den 11. März 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

 

Selbstmord eines Helfershelfers Grupens.

Der Gefängnisinspektor a. D.   S c h e n t k e   hat sich am Donnerstag Abend in seiner Wohnung in der Wilhelmstraße   e r s c h o s s e n .

 

Es kann kaum noch einem Zweifel unterliegen, daß Schentke an der   F l u c h t   G r u p e n s   wesentlich beteiligt gewesen ist, indem er ihm Hilfsmittel verschiedener Art und Erleichterungen seiner Haft hat zukommen lassen. Grupen hat ja auch zu seinen Haftgenossen verschiedentlich geäußert, daß er einen Rückhalt an einer Wohnung in der Wilhelmstraße habe. Aber auch schon vor dem Prozeß hat Schentke offenbar seine Hand im Spiele gehabt bei Vorgängen, durch die der Angeklagte Grupen Verbindung mit der Außenwelt erlangte. Wie weit der Einfluß Grupens auf Schentke gegangen ist, unterliegt gegenwärtig näherer Feststellung. Außer Schentke sind aber auch noch andere Gefängnisbeamte an diesen Durchsteckerei beteiligt gewesen, und gegen sie schwebt, nachdem sie vom Amte suspendiert sind, gegenwärtig ein Verfahren. Bereits im Januar ist Schentke aus seinem Amte entlassen worden, weil er mit einer Strafgefangenen ein zärtliches Verhältnis angeknüpft hatte. Bekanntlich hatte er sie dann als Dienstmädchen zu sich genommen, wurde aber, als er einmal mit seiner Frau verreist war, gröblich von dem Mädchen bestohlen. An Schentkes Stelle ist ein neuer Gefängnisinspektor gesetzt worden mit der Aufgabe, die ganzen schädlichen Zustände im Gefängnis aufzudecken und zu normalen Zuständen zurückzuführen, doch konnte ihm dies in der verhältnismäßig kurzen Zeit, die ihm bisher zur Verfügung stand, noch nicht vollständig gelingen.

 

 

 

Samstag, den 11. März 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

( E i n e   S p u r   v o n   F r a u   G r u p e n ? )   Wie Berliner Blätter melden, soll sich ein Mann aus Schlesien mit Bekundungen über das Verschwinden der Frau Grupen gemeldet haben. Der Mann bekundet, er sei im September 1920 in Nordenham bei einer Schiffsrederei beschäftigt gewesen. Am 29. September habe er als diensttuender Wächter dort auf dem Peer gestanden. An jenem Tage sei ihm eine Frau aufgefallen, die mit einem Amerikadampfer von Nordenham nach Südamerika abgereist sei. Nunmehr habe er den ausführlichen Botenbericht über die Verhandlung gelesen und dabei gefunden, daß die Beschreibung, die Frau Eckert von ihrer verschwundenen Tochter vor Gericht gegeben habe, durchaus auf jene Frau passe. Der Mann hat sich nun zum Zwecke der weiteren Aufklärung nach Hamburg und Nordenham begeben, um festzustellen, welchen Hafen der Dampfer in Südamerika zuerst angelaufen ist und um sich ein Bild der Frau Grupen zu verschaffen.

 

 

 

Freitag, 17. März 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

(Grupen und immer wieder Grupen)

Seitdem Herr Rechtsanwalt Dr. Puppe in Berlin die Verteidigung in dem mit dem Selbstmorde Grupens nunmehr erledigten Altonaer Prozeß übernommen hat, weiß die Berliner Presse fast täglich Neues zu melden, nicht über Grupen, sondern über Herrn Puppe. Einmal hat Herr Dr. Puppe den Besuch eines neuen Zeugen erhalten, dann betreibt er das Wiederaufnahmeverfahren, dann will er einen Hellseher nach der Spur der Frau Grupen befragen, dann wieder läßt er durch Spiritisten das Geisterreich durchforsten - kurzum, alle paar tage wird den Berlinern zum Bewußtsein gebracht, welchen außergewöhnlich tüchtigen und geschmackvollen Rechtsanwalt sie in Herrn Dr. Puppe besitzen.

 

 

 

Sonntag, 26. März 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

 

Die „Hellseherin“ auf Grupens Spuren.

In Berlin ist, wie schon kurz gemeldet, der Versuch gemacht worden, mit Hilfe einer Hellseherin Spuren der verschwundenen Frau Grupen ausfindig zu machen.

 

Draußen im Westen der Reichshauptstadt - so schildert der Lokalanzeiger die Sitzung - fanden in einer Privatwohnung die Experimente statt. Ein kleiner geladener Kreis hatt sich zusammengefunden. Als alle versammelt waren, erschien das Medium, eine kräftige junge Frau, mit seinem Magnetiseur. Nachdem das Licht mit roten Schleiern abgedämpft ist, beginnt die Séance. Der Magnetiseur hält zunächst einen kurzen, einleitenden Vortrag über die Art der zu erwartenden Mitteilungen, dann beginnt er seine Striche über dem Medium. Die Dame fällt in magnetischen Schlaf und beginnt schon nach kurzer Zeit zu sprechen.

 

Sie erhebt sich aus dem Sessel, sie wandert im Zimmer umher. Sie erzählt von den Wegen, die sie durchwandert, sie schildert: „Jetzt kommen Wiesen, jetzt vieles Wasser. Sie sieht Bäume und Häuser. Sie öffnet die Tür des einen und tritt in einen langen dunklen Gang, „einen Tunnel“, sie sieht einen Mann, der eine Frau an sich zieht, dann bricht das Gesicht ab. Aber andere tauchen auf. Wir hören von einer Grube, in der sich etwas befinden soll, das Medium kann nicht erkennen was, aber ihr Gesicht drückt unverkennbares Entsetzen aus. Sie kniet nieder, um genauer hineinsehen zu können. Aber auch dieses Gesicht zerrinnt. Andere werden geschildert. Es erscheint ein Brunnen, in dem irgend etwas verborgen sein soll, ein Schiff will abfahren, eine Frau steht an Bord, er werden Zimmer und Situationen geschildert, aber irgend etwas Präzises, Genaues erfahren wir nicht.

 

„Wir bekommen hier nur lose Szenen geschildert, die scheinbar keinen Zusammenhang haben,“ erklärt der Magnetiseur nach Schluß der Sitzung. „Sache der prüfenden Forschung ist es nun, diese Szenen zusammenzureihen und zu deuten.“ Eigentümlich ist, wie Herr Rechtsanwalt Dr. Puppe erklärte, der   H i n w e i s   a u f   d e n   B r u n n e n ,   denn in den Hirschberger Akten, die ihm am Vormittag zugegangen waren, befindet sich der Brief eines Rutengängers, der erklärt, daß er seinerzeit im Felde Versuche gemacht, ob die Wünschelrute auch auf Leichen in der Erde reagiere und der damit Erfolge gehabt haben will. Angeblich hat der Mann auf dem Grupenschen Gehöft in Holstein diese Versuche wiederholt, und die Rute habe bei einem   a l t e n ,   v e r s c h ü t t e t e n   B r u n n e n   Zeichen gegeben. Grupen soll bei der Mitteilung dieser Versuche gesagt haben, man möge doch in dem Brunnen nachsehen,   a b e r   a m   a n d e r e n   T a g e   h a t   e r   s i c h   e r h ä n g t .

 

Die Versuche mit der Somnambule sollen fortgesetzt werden. Auch dabei wird natürlich nichts anderes herauskommen als bei der ersten Sitzung: dunkle, vieldeutige Worte, mit denen nichts anzufangen ist.

 

 

 

Dienstag, 2. Mai 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

 

Hirschberg, 2. Mai 1922

Peter Grupens Flucht aus dem Gefängnis

fand eine interessante Schilderung in einer Verhandlung vor der   H i r s c h b e r g e r   S t r a f k a m m e r   gegen die des   m e u t e r i s c h e n   A u s b r u c h s   angeklagten   Z e l l e n g e n o s s e n   d e s   K l e p p e l s d o r f e r   D o p p e l m ö r d e r s ,   des landwirtschaftlichen Arbeiters Adolf   V o i g t l ä n d e r   aus Ebersbach in Sa. und des Schlossers Georg   B o h n   aus Domb bei Kattowitz.

 

V o i g t l ä n d e r ,   ebenso wie Bohn, ein Bursche von etwa 20 Jahren, behauptete, daß Grupen die Flucht kurz nach seiner Verurteilung zum Tode gefaßt habe. Grupen habe damals die im ersten Stockwerk liegende Zelle Nr. 30 mit einem Strafgefangenen Seifert geteilt. Seifert habe dem Grupen versprechen müssen, ihm nach seiner Entlassung   e i n e   S ä g e   i n   d a s   G e f ä n g n i s   zu senden. Grupen sei tatsächlich in den Besitz dieser Säge gelangt und habe alsbald damit begonnen, nachts einen Gitterstab am Fenster zu durchsägen. Ehe Grupen diese Arbeit beendet hatte, sei er in die Zelle 58 im zweiten Stockwerk gebracht worden und den habe dort ihn (den Voigtländer) sowie den Bohn und den Strafgefangenen Bullik als Zellengenossen gehabt. In der Zelle Nr. 58 habe sich herausgestellt, daß die   S ä g e   durch die Arbeit am Fenstergitter der Zelle 30 völlig   u n b r a u c h b a r   geworden war. Grupen habe daher ein   T i s c h m e s s e r ,   in dessen Besitz er sich gelegentlich seiner Selbstverköstigung gesetzt hatte,   g e z ä h n t   und, nachdem er die drei Mitgefangenen in seinen Fluchtplan eingeweiht hatte, sich bald wieder an die Arbeit am Fenstergitter gemacht. Als eines Abends der die Nacht als Wachthabender bestellte diensthabende Gefängnis-Beamte   M u n g o   sich bei ihnen Bücher zum Lesen geholt hatte, sagte   G r u p e n :   „Das können wir fein ausnützen.“ Es wurde festgestellt, daß ein Eisenstab, anscheinend von einem Fluchtversuch eines anderen Gefangenen her, beschädigt war und dann durch eine eiserne Klammer neue Festigkeit erhalten hatte. Mit dem gewähnten Messer löste Grupen die Nieten der Klammer, worauf es ein Leichtes war, den schadhaften Stab zur Seite zu biegen.

 

Nun wurde in der Nacht zum 24. Februar der   A u s b r u c h   b e w e r k s t e l l i g t .   Voigtländer und Bohn hatten nur noch wenige Wochen abzusitzen, waren aber trotzdem mit der Flucht einverstanden. Grupen hatte dem Voigtländer   G e l d   v e r s p r o c h e n   und eine   g u t e   S t e l l u n g   auf seiner heimatlichen Besitzung.   B u l l i k   machte nicht mit, gab jedoch dem Grupen seine   Z i v i l h o s e ,   während Voigtländer ihm sein   J a c k e t t   zur Verfügung stellte, weil dem Grupen die Zivilkleider abgenommen worden waren. Wenige Tage vorher hatte Grupen den Voigtländer auch veranlaßt, ein   B a s t s e i l ,   das er im Gefängnisgebäude in einem Spinde ausbaldowert hatte, in einem Kübel heimlich in die Zelle zu bringen und im Bett zu verstecken. Bohn knotete auf Grupens Geheiß zwei Bettücher und einen alten Vorhang zusammen; er hatte darin, was Grupen wußte, als Seemann besondere Sachkenntnis. Mit der Ausführung der Flucht machte Grupen den Anfang, indem er mit Bohns und Voigtländers Hilfe die Blende vor dem Fenster emporschob und   z w e i   B e t t b r e t t e r   sowie das Bettuchseil am Gitter befestigte. Zuerst zwängte sich   V o i g t l ä n d e r   durch die durch den verbogenen Stab geschaffene Oeffnung über die Bettbretter hinweg und ließ sich am Seil auf das unter ihm liegende Dach des Beamtenhauses hinab. An einem Schornstein dieses Daches befestigte er das ihm nachgeworfene Bastseil und gelangte an diesem zur Erde.   G r u p e n   f o l g t e .   Seine gedungene gestalt konnte sich aber nur mit großer Mühe durch das Gitter zwängen. Bullik schob ihn dabei so kräftig, daß   G r u p e n   l a u t   s t ö h n t e   und der unten harrende Voigtländer befürchtete, die diensttuenden Beamten würden dadurch auf den Ausbruch aufmerksam werden.   S c h l i e ß l i c h   g e l a n g   e s   a u c h   G r u p e n ,   a n   d e n   S e i l e n   t r o t z   s e i n e r   E i n a r m i g k e i t   d a s   D a c h   u n d   d e n   ä u ß e r e n   H o f   g l a t t   z u   e r r e i c h e n .

 

Nachdem auch   B o h n   nachgekommen war, fragte Gupen den Voigtländer, ob er ihm das   H a u s   W i l h e l m s t r a ß e   1 5 ,   in dem der vom Dienst suspendierte und später durch Selbstmord aus dem Leben geschiedene Strafanstalts-Inspektor   S c h e n t k e   wohnte, zeigen könne. Da Voigtländer dies verneinen mußte, erklärte Grupen, er könne keinen mitnehmen, lief nach der Straße und   l i e ß   d i e   b e i d e n   F l u c h t g e n o s s e n   e n t t ä u s c h t   s t e h e n .   Voigtländer und Bohn irrten dann in der Stadt umher, meldeten sich aber bei Anbruch des Morgens wieder im Gefängnis. Vor Gericht erklärten sie, derart   u n t e r   G r u p e n s   E i n f l u ß   gestanden zu haben, daß sie sich über die Folgen ihrer Handlungsweise garnicht klar gewesen seien.

 

Das   U r t e i l   lautete auf die gesetzlich zulässige Mindeststraße von je   s e c h s   M o n a t e n   G e f ä n g n i s .   Der erbetene Strafaufschub wurde nicht bewilligt, mit Rücksicht auf die Vorstrafen der Angeklagten und daraus, saß sie sich trotz Grupens Einfluß darüber hätten klar sein müssen, daß sie einem verurteilten Mörder zur Flucht verhalfen. - Eine volle Aufklärung der Flucht ist auch durch diese Verhandlung nicht erfolgt.

 

 

 

Donnerstag, 25. Mai 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Löwenberg, 24. Mai (Zum Falle Grupen)

äußerte sich im Kriegerverein Kreismedizinalrat Dr. Peters in einem Vortrage über gerichtsärztliche Erfahrungen. Nachdem er an dem Reibnitzer Mord und dem Kindesmord in Gebhardsdorf nachgewiesen hatte, von welch großer Bedeutung es ist, nachzuweisen, ob eine Verletzung an einer Leiche bei Lebzeiten der Person, oder nach deren Tode erfolgt ist, behandelte er ausführlich den Kleppelsdorfer Mord und zog den Schluß, daß nach dem Befund der Leiche und den Begleitumständen ein Selbstmord der Ursula Schade ausgeschlossen sei und als Täter nur Grupen in Betracht komme. Er zerstörte das in weiten Kreisen immer noch geglaubte Märchen, daß Grupen nicht tot sei; die gerichtsärztliche Untersuchung habe seinen Tod zweifelsfrei festgestellt.

 

 

 

 

 

 

 

Schlesische Zeitung

 

Dienstag, 15. Februar 1921, „Schlesische Zeitung“

Lähn, 14. Februar.

Heute mittag zwischen 12 und 1 Uhr ist die Besitzerin des Rittergutes Kleppelsdorf, Dorothea Rohrbeck, angeblich von einer zwölfjährigen Anverwandten durch drei Schüsse getötet worden. Die angebliche Täterin hat sich dann selbst erschossen.

 

 

 

Donnerstag, 17. Februar 1921, „Schlesische Zeitung“

 

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Anzeige:

Es hat dem Allmächtigen gefallen, heute mittag 12 1/3 Uhr mein über alles geliebtes Pflegekind, unsere geliebte Enkelin, Nichte und Cousine

                                               Dorothea Rohrbeck

plötzlich, unerwartet in sein himmlisches Reich abzurufen. Sie ging heim im Alter von 16 Jahren, 2 Monaten und 24 Tagen.

Kleppelsdorf bei Lähn, Kr. Löwenberg (Schles.), den 14. Februar 1921.

In tiefstem Herzeleid, namens aller Verwandten

Berty Zahn.

 

 

 

Sonnabend, 19. Februar 1921, „Schlesische Zeitung“

 

Traueranzeige%201921-02-19

 

Anzeige:

Am 14. Februar verstarb unser liebes Mündel

                        Dorothea Rohrbeck,

Besitzerin des Rittergutes Kleppelsdorf, durch Mörderhand.

In tiefer Trauer über das Hinscheiden dieses blühenden Kindes

Vielhaack, Vormund,

Bauer, Gegenvormund.

 

 

 

Sonnabend, 19. Februar 1921, „Schlesische Zeitung“

 

Traueranzeige%201921-02-19%20Beisetzung

Anzeige:

Die Beisetzung der sehr früh heimgerufenen

                        Dorothea Rohrbeck

findet am 21. d. Mts., nachmittags 3 ¼ Uhr von Schloß Kleppelsdorf aus nach Friedhof Lähn statt.

 

 

 

Sonnabend, 19. Februar 1921, „Schlesische Zeitung“

 (Zum Kleppelsdorfer Doppelmord.)

Im Doppelmord auf Kleppelsdorf bei Lähn fand am Donnerstag nachmittag die Sezierung der Leichen der beiden jungen Mädchen durch zwei Kreisärzte im Beisein einer Gerichtskommission statt. Sie ergab, daß die Rohrbeck durch einen Schuß von der Seite durch den Hals in den Kopf getötet worden ist. Ein zweiter Schuß saß in der Hüfte. Bei der kleinen Schade war der Schuß über dem rechten Auge in den Kopf gedrungen. Die Leiche der Rohrbeck ist freigegeben, die der Schade noch nicht. Eine Überraschung ergab die Sezierung noch, und war die, daß sich herausstellte, daß die bekanntlich erst zwölf Jahre alte Ursula Schade   schon einmal einer Quecksilberkur unterworfen gewesen ist. Wie stark die Erregung unter der Bevölkerung über die Tat ist, zeigt die Tatsache, daß, als am Donnerstag abend ein Wagen mit den Ärzten nach dem Bahnhofe fuhr, er von einer erregten Menschenmenge angehalten wurde, da man glaubte, daß sich in dem Wagen die Großmutter der beiden jungen Mädchen befände, gegen die sich auch eine starke Mißstimmung richtet. Über die Tat selbst ist bis jetzt bekannt, daß die Schüsse, durch die die beiden Mädchen getötet wurden, aus dem Revolver des verhafteten Onkels der Rohrbeck, dem 26 Jahre alten Peter Grupen aus Oldenbüttel bei Itzehoe abgegeben worden sind. Die Behauptung, die zwölf Jahre alte Ursula Schade habe unter hypnotischem Zwange des Peter Grupen erst die Rohrbeck und dann sich selbst erschossen, scheint sich nicht zu bestätigen. Man nimmt vielmehr jetzt an, daß das junge Mädchen wohl den Brief an ihre Großmutter unter hypnotischem Zwange geschrieben hat, daß aber die Tat von Grupen selbst ausgeführt worden ist. Grupen hat auch die Dienstboten, die sich in der Nähe des Mordzimmers befanden, kurz vorher weggeschickt, so daß niemand die drei Schüsse hören konnte. Grupen soll auch auf Frau Eckhardt, die Großmutter der Kinder, die mit ihren Enkeln in Oldenbüttel wohnte, einen …vollen Einfluß ausgeübt haben. Ob die Flasche Kognak, die Grupen der Rohrbeck geschenkt hat, vergiftet ist, steht noch nicht fest, da die Untersuchung des Inhalts der Flasche noch nicht beendet ist. Fest steht auch, daß Grupen der Dora Rohrbeck wiederholt Heiratsanträge gemacht hat, die von ihr aber immer abgewiesen wurden. Eine Haussuchung in seiner Wohnung in Oldenbüttel hat weiter belastendes Material gegen ihn zutage befördert. Schwer belastet wird auch der Vormund der beiden jungen Mädchen, der verschwunden ist. Dagegen ist das Gerücht, daß der Gegenvormund, Gutsdirektor Bauer, irgendwie in die Angelegenheit verwickelt sein soll, unrichtig. Bauer ist an der ganzen Sache unbeteiligt. Ein Geheimnis schwebt auch über dem Schicksal der zweiten Frau des Grupen, der Witwe des Berliner Apothekersohnes Schade. Es besteht die dringende Vermutung, daß die Frau sich gar nicht, wie zuerst berichtet, in Amerika befindet, sondern in irgend einem Sanatorium; nach ihr, wie nach dem Aufenthalt des Vormundes der Rohrbeck, werden die Nachforschungen fortgesetzt.

 

 

 

Montag, 21. Februar 1921, „Schlesische Zeitung“

(Zum Doppelmord in Kleppelsdorf.)

Am Sonnabend nachmittag fand die Beerdigung der von der Staatsanwaltschaft freigegebenen Leiche der kleinen Schade statt. An derselben nahmen u. a. die Großmutter der Ermordeten, Frau Apotheker Schade (Berlin), der Bruder des verstorbenen Gutsbesitzers Rohrbeck und der Vormund der ermordeten Rohrbeck, der Hauptmann Vielhack (Charlottenburg) teil. Entgegen einer früheren Nachricht Berliner Blätter muß festgestellt werden, daß Vielhack mit der Tat in gar keiner Beziehung steht. Die Untersuchung gegen Grupen wird fortgesetzt. Es wird angenommen, daß er sich an der ermordeten zwölfjährigen Schade auch in sittlicher Weise vergangen und das Kind angesteckt hat. Der Behörde wäre es von größtem Werte, etwas über den Verbleib der Frau Grupen, verwitweten Schade, zu erfahren. Die Angabe Grupens, seine Frau habe ihn und ihre aus erster Ehe stammenden Kinder verlassen und sei nach Amerika gegangen, erscheint sehr zweifelhaft.

 

 

 

Mittwoch, 23. Februar 1921, „Schlesische Zeitung“

(der Artikel ist aufgrund des Einbandes an der linken Seite nicht vollständig zu lesen)

(Zum Doppelmord in Kleppelsdorf.)

Am Montag nachmittag ist die ermordete 16 Jahre alte Gutsherrin Dorothea Rohrbeck zur letzten Ruhe gebettet worden. Im Schlosse fand eine kurze Trauerfeier statt. In einem endlosen Trauerzuge, an dem wohl … Menschen teilnahmen, wurde die Leiche nach dem Friedhofe ge…, wo die Beisetzung neben der am Sonnabend beerdigten Cousine Ursula Schade erfolgte. In der Familie Rohrbeck hat sich ein weiterer trauriger Fall ereignet. Während ein Schwager des verstorbenen Vaters der Rohrbeck an der Beerdigung teilnahm, hat sich sein Sohn auf dem väterlichen Gute in Hannover erschossen. Dieser war ein 29 Jahre alter junger Mann, der sich infolge einer Ver… im Kriege ein schweres Leiden zugezogen hatte, und litt zudem an Schwermut.

 

 

 

Freitag, 25. Februar 1921, „Schlesische Zeitung“

 

Danksagung%201921-02-25

Anzeige:

Für die überaus herzliche Teilnahme und zahlreichen herrlichen Kranzspenden beim Heimgang unserer lieben, guten Dörte sagen wir allen Beteiligten unseren tiefstgefühlten Dank, ganz besonders dem Herrn Superintendent Buschbeck für seine trostreichen Worte. Leider ist es uns nicht möglich, jedem Einzelnen danken zu können, und bitten wir daher, diesen Weg der Veröffentlichung entschuldigen zu wollen.

Kleppelsdorf, den 23. Februar 1921.

Im Namen der Verwandten:

Alfred Rohrbeck.

 

 

 

Freitag, 25. Februar 1921, „Schlesische Zeitung“

Zum Kleppelsdorfer Mord - Grabschändung. 

Ein unerhörtes Verbrechen ist in der Nacht zum Freitag in der Ruhestätte der ermordeten Schloßherrin von Kleppelsdorf Dorothea Rohrbeck auf dem Lähner Friedhofe verübt worden. Wie der „Schlesischen Gebirgszeitung“ in Hirschberg berichtet wird, hat eine bisher unermittelte Person das Grab am Kopfende aufgeschaufelt, den Sargdeckel zertrümmert und den Sarg durchwühlt. Das Kissen, auf dem der Kopf der Toten ruhte, sowie Reste eines silbernen Kreuzes vom Sargdeckel lagen auf dem zerstörten Grabhügel. Der Täter hatte es anscheinend auf eine Beraubung der Leiche abgesehen. Was geraubt wurde, konnte bisher nicht festgestellt werden. Das Verbrechen, das neue Aufregung in Lähn und Umgebung hervorgerufen hat, wurde Freitag früh entdeckt. Der Friedhof wurde sofort gesperrt und ein Polizeihund herangeführt, der die Spur des Verbrechers auffinden soll. Der Täter hat anscheinend die Leichenhalle erbrochen und daraus Hacke und Schaufel entnommen, mit denen das Verbrechen ausgeführt wurde.

 

 

 

Sonnabend, 3. Dezember 1921, „Schlesische Zeitung“

Der Schauplatz des Kleppelsdorfer Doppelmordes. 

Man wird in Schlesien außerhalb des Hochgebirges kaum eine anmutigere Berglandschaft finden, als diejenige zwischen Hirschberg und Lähn. Nachdem der Bober den großen Talkessel des Riesengebirges verlassen hat, durchbricht er in enger romantischer Felsenschlucht die Ausläufer des Isergebirges bis Boberröhrsdorf und dann noch einmal bis Mauer, wo sein vielfach gewunder Lauf in der großen Talsperre aufgefangen wird. Dann hat er den schwersten Kampf überstanden; breite Wiesenflächen dehnen sich an seinen Ufern, die von schöngeformten, waldbedeckten Bergen begrenzt werden, und erst bei Lähn stellt sich ihm im Norden seine steile Wand entgegen, die ihn zwingt, weit nach Westen umzubiegen. In diesem Bogen, dessen Sehne die Anhöhe mit Dominium, Schloß und Burg Lehnhaus bildet, liegt das Städtchen Lähn. Es hat etwa 1200 Einwohner. Die Berge, die es rings umgeben, sind aus Schiefer, Basalten, Kalk und Sandstein aufgebaut. Dort, wo der Bogen des Bobers am weitesten nach Osten ausgreift, münden in ihn zwei Bäche, die das breite Tal bilden halten. Der südliche kommt von der Kolonie Gießhübel her, der nördliche von dem ansehnlichen Dorfe Wiesenthal. Dort, wo sie sich einander und dem Bober nähern, liegt, zwischen all diesen drei Wasserläufen eingeschlossen, noch auf ziemlich ebenem Gelände das kleine Dorf   K l e p p e l s d o r f ,   mit der Stadt Lähn durch eine Brücke verbunden, auf die hier drei Landstraßen, eine von Hirschberg bezw. Mauer, eine von Langenau und eine von Wiesenthal bezw. Schönau einmünden. Wenn man also in Lähn auf dem im Westen unterhalb Lehnhaus gelegenen Bahnhof ankommt, durchwandert man das freundliche Städtchen, wirft einen Blick auf die vom Friedhof umgebene, steinerne, im gotischen Stil erbaute, mit Glasmalereien geschmückte katholische Kirche, geht am Pädagogium vorüber, überquert den weiträumigen Markt mit dem Rathaus in seiner Mitte, freut sich der Weinreben, die die Südwände vieler Häuser umspinnen, und betritt, über die massive Brücke hinweg, sofort Kleppelsdorfer Gebiet. An einem mit schönen, hohen Laubbäumen und seltenen Nadelhölzern bestandenem Park vorbei gelangt man schon nach zwei Minuten in den Gutshof. Zur Linken, hinter einem Obstgarten, dehnen sich die landwirtschaftlichen massiven Gebäude, zur Rechten erhebt sich das „Schloß“, ein ziemlich einfaches, breit hingelagertes Gebäude mit Erdgeschoß, oberem Stockwerk und hohem Schieferdach, der Schauplatz des Verbrechens, das jetzt seine Sühne finden soll. Es mag vor etwa 30 oder 40 Jahren erbaut sein. Auf den Seiten und hinten wird es vom Park umgeben.                                                                Dr. Baer

 

*

Der Doppelmord kommt in der am 5. Dezember vor der Hirschberger Strafkammer beginnenden Schwurgerichtsperiode zur Verhandlung, über seine Vorgeschichte sei noch folgendes erwähnt:

 

Vor mehr als 30 Jahren ging das Rittergut Kleppelsdorf, das mit dem Vorwerk Gießhübel und einem später dazu gekauften Bauerngut in Kuttenberg etwa 1600 Morgen umfaßt, in den Besitz des 1914 verstorbenen Wilhelm Rohrbeck aus Tempelhof über. Rohrbeck besaß noch einen Bruder namens Alfred und eine Schwester namens Jenny, welche beide noch am Leben sind. Alfred ist verheiratet mit einer Dame vom Theater, Jenny an den Gutsbesitzer Pingel, der im Herbst d. J. die Besitzung Kleppelsdorf übernahm. Die getötete Dorothea Rohrbeck war das einzige Kind, welches aus der Ehe von Wilhelm Rohrbeck und seiner Frau geb. Krappe hervorging. Sie wurde am 21. November 1904 geboren. Ihre Mutter starb wenige Monate nach der Geburt. Frau Rohrbeck hatte eine Stiefmutter, Frau Bankdirektor Eckhardt. Die zweite Tochter der Frau Direktor Eckhardt Gertrud heiratete einen Apotheker Schade aus Perleberg, aus deren Ehe die beiden Mädchen Irma und Ursula hervorgingen. Schade selbst verunglückte angeblich auf eigenartige Weise bei einer Jagd. Bald nach dem Tode verlobte sich Frau Schade mit einem Tierarzt Raske aus Holstein. Dieser starb aber noch vor der Hochzeit und Frau Schade lernte jetzt in Hamburg den Architekten Peter Grupen kennen, der dort eine Villa besaß. Auch hier kam das Verlöbnis schnell zustande, und nach der Eheschließung siedelte das Paar nach Itzehoe über. Um die Weihnachtszeit 1920 begab sich Frau Grupen mit ihren Kindern nach Kleppelsdorf zu ihren Verwandten, der jetzt ermordeten Dorothea Rohrbeck. Hier ist sie auch eingetroffen, bevor ihr Ehemann nachfolgte, aber verschwunden (Anmerkung: die Angaben der anderen Zeitungen lauten anders!). Grupen behauptet nun, seine Frau sei bereits aus Itzehoe verschwunden; dort ist zwar ein Brief von ihr gefunden worden, der besagt, daß sie die Schmach Deutschlands nicht länger ertragen könne und nach Amerika auswanderte. Man nimmt aber an, daß sie sich gar nicht in Amerika befindet.

 

Peter   G r u p e n   soll im Sommer 1920 in Kleppelsdorf gewesen sein und dort der Dorothea Rohrbeck Heiratsanträge gemacht haben, obwohl sie ihm stets ihre Antipathie zu erkennen gab. Trotzdessen folgten einige Zeit darauf die Hausdame und Dorothea einer Einladung Grupens und besuchten ihn in Oldenbüttel bei Itzehoe. Grupen hat verschiedene Berufe ausgeübt, bezeichnete sich teils als Grundstücksspekulant, teils als Architekt, teils als Kunstschütze. Grupen, dem es in letzter Zeit sehr schlecht ergangen war, hoffte durch eine spätere Heirat mit der jungen, reichen Dorothea Rohrbeck seine finanziellen Verhältnisse zu verbessern. Aus Briefen, die man bei ihm vorgefunden hat, ergab sich, daß er sie mit Heiratsanträgen verfolgt hat, aber stets abgewiesen wurde. Kurz vor dem Morde fuhren Grupen, Dorothea Rohrbeck und Frl. Zahn, die Hausdame, nach Hirschberg. Dort machte er den Vorschlag, zu Fuß nach Kleppelsdorf zurückzukehren. Es wurde aber abgelehnt, wahrscheinlich aus Furcht, daß den Damen etwas passieren könnte.

 

Etwa acht Tage vor dem Morde waren Grupen und seine Stieftöchter, die 12jährige Ursula und die 9jährige Irma Schade nach Kleppelsdorf gekommen. In ihrer Begleitung befand sich auch die Großmutter Frau Eckhardt und die Stütze der beiden Mädchen, die zugleich die Geliebte des Peter Grupen war. Am Tage des Mordes war Dorothea Rohrbeck, wie öfters, gegen 11 Uhr vormittags zur Post gegangen, um dort Briefe abzuholen. In ihrer Begleitung befand sich die Ursula Schade (Anmerkung: andere Zeitungen schreiben, es sei Irma Schade gewesen).  Nach ihrer Rückkehr teilte Dorothea der Hausdame mit, daß ein Paket auf der Post lagere. Frl. Zahn beauftragte sie, das Dienstmädchen Louise Mende zu veranlassen, das Paket abzuholen. Hierauf begaben sich Dorothea Rohrbeck und Ursula Schade in das zweite Zimmer im Parterre der rechten Seite des Schlosses neben dem Eßzimmer, während sich die Großmutter, Grupen und Irma Schade im ersten Zimmer des ersten Stockes aufhielten und Frl. Zahn im zweiten anstoßenden Zimmer schrieb. Als das Dienstmädchen mit dem Paket zurück war, machte sie den Eßtisch vollends zurecht. Dann meldete sie sich bei Frl. Zahn und diese sagte ihr, sie solle Dorothea und Ursula suchen. Mende klopfte an die Tür neben dem Eßzimmer; da niemand antwortete, öffnete sie und sah die beiden   M ä d c h e n   a m   B o d e n   l i e g e n .  Auf Benachrichtigung erschien alsbald Sanitätsrat Dr. Scholz und eine Gerichtskommission aus Lähn. Dorothea war tot, während bei Ursula Schade noch Lebenszeichen vorhanden waren. Erst einige Stunden später erlag auch sie ihrer Verletzung, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Aus verschiedenen Umständen schloß man, daß ein Mord und Selbstmord der kleinen Schade unwahrscheinlich sei. Gegen Peter Grupen verdichteten sich die Verdachtsmomente derartig, daß er noch in derselben Nacht verhaftet wurde. Schwer belastet wird Grupen durch den Umstand, daß es sein Revolver war, mit dem die Tat begangen wurde.

 

 

 

Dienstag, 6. Dezember 1921, „Schlesische Zeitung“ Abendblatt

(hierbei handelt es sich um eine Verfilmung, bei der der rechte Rand nicht ganz erkennbar ist!)

Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf. 

Hirschberg, 5. Dezember

Mit einem bitterkalten Wintertag begannen heute die Verhandlungen gegen Peter   G r u -    p e n ,   den Angeklagten im Kleppelsdorfer Mordprozeß. Die Kälte hat den Andrang des Publikums stark eingedämmt. Langsam füllte sich der Schwurgerichtssaal. Auf einem Tische vor der Anklagebank lagen der Revolver, der am Tatort gefunden worden war, Revolverge…, die Leibwäsche der Dorothea Rohrbeck und der Ursula Schade und einige andere Beweisstücke. Am Richtertisch nahmen Platz der Vorsitzende, Oberlandesgerichtsrat   K r i n k e   aus Breslau, Landgerichtsrat   W i e t e r ,   Landgerichtsrat   H e r z o g ,   Assessor     H u b …   (als Ersatzrichter), Oberstaatsanwalt Dr.   R e i f e n r a t h.

 

Pünktlich um 10 Uhr eröffnete der   V o r s i t z e n d e   die Verhandlung mit der Begrüßung der Geschworenen. Die Tagung, sagte er in seiner Ansprache, werde an die Arbeitskraft und Pflichttreue, Aufmerksamkeit und geistige Tätigkeit der Geschworenen erhebliche Anforderungen stellen. Die Geschworenen hätten das Amt eines Richters auszuüben und seien wie der Richter an das Gesetz gebunden. Der Vorsitzende ordnete sodann an, daß der Angeklagte   P e t e r   G r u p e n   in den Saal zu führen ist. In Begleitung eines Gefängnisbeamten erscheint der Angeklagte. Ruhig, ohne daß ihm irgendwelche innere Erregung anzumerken wäre, antwortete er auf die Frage des Vorsitzenden, ob er der Architekt Peter Grupen aus Ottenbüttel sei, mit „Jawohl“. Als seine Verteidiger melden sich die Justizräte Dr.   A b l a ß   (Hirschberg) und Dr.   M a m r o t h   (Breslau). Nach Bildung der Geschworenenbank beginnt der   A u f r u f   d e r   Z e u g e n   u n d   S a c h v e r s t ä n d i g e n ,   die den Schwurgerichtssaal bis auf den letzten Platz füllen, so daß eine … Dame in Ohnmacht fällt. Unter den Zeugen befinden sich auch die Erzieherin Frl.   Z a h n ,   Irma   S c h a d e   (die jüngere Schwester der ermordeten Ursula), Frau Bankdirektor Agnes   E c k e r t ,   Frau Apothekenbesitzer Margarete   S c h a d e ,   Apothekenbesitzer        S c h a d e ,   Alfred   R o h r b e c k,   Wilhelm und Heinrich   G r u p e n ,   Frl.   M o h r   und Frl.   M e n d e .   Die mit dem Angeklagten und mit dem ermordeten Mädchen verwandten Zeugen erklären, von ihrem Recht auf Zeugnisverweigerung keinen Gebrauch machen zu wollen.

 

Die Verteidigung stellt den Antrag, den von der Anklagebe… als Sachverständigen für Suggestion geladenen Gaswerksdirektor Wrobel-Hirschberg abzulehnen, weil Herrn Wrobels Vernehmung im Vorverfahren gegen das Gesetz zustandegekommen sei und weil er auf dem Gebiet der Suggestion ein Amateur sei. Wrobel erklärt, sich seit zwanzig Jahren theoretisch und praktisch mit Hypnose und Suggestion beschäftigt zu haben. Oberstaatsanwalt Dr. Reifenrath widersprach dem Ablehnungsantrage. Das Gericht beschloß zunächst, den Kreisarzt Dr. Scholz (Hirschberg) und den Geh. Medizinalrat Dr. Moll (Charlottenburg) über die Eignung Wrobels als Sachverständigen zu vernehmen. Beide verneinen die Eignung. Das Gericht gibt nach …ger Beratung dem Ablehnungsantrage statt. Oberstaatsanwalt Dr. Reifenrath behält sich vor, Wrobel, der nunmehr den Saal verläßt, als Zeugen vernehmen zu lassen.

 

Der Vorsitzende beginnt mit der

Vernehmung des Angeklagten.

Mit leiser, aber sicherer Stimme und spitzen Akzent schildert Grupen seinen Lebenslauf. Am 20. September 1894 in Haseldorf bei Pinneberg geboren, habe er dort die dreiklassige Volksschule besucht. Nach vollendeter Schulzeit sei er zunächst in einem landwirtschaftlichen Betriebe tätig gewesen und dann zu einem Maurermeister in die Lehre gegangen. Während seiner Ausbildungszeit habe er sich an Vergnügungen nicht beteiligt. Er habe die besten Zeugnisse aufzuweisen. 1914 sei er als Kriegsfreiwilliger bei den Königsulanen in Hannover eingetreten. Im Felde sei er an Typhus erkrankt und bei Verdun habe er den linken Unterarm verloren. Nach seiner Entlassung aus dem Lazarett habe er die staatliche Baugewerksschule in Hamburg besucht und im Sommer …isch gearbeitet. Auch im Maschinenbaufach habe er sich Kenntnisse angeeignet; einige Monate sei er auf der Vulkanwerft beschäftigt gewesen. Dort habe er freiwillig seine Entlassung bekommen, um sich dann als Bauführer in Hamburg zu betätigen.

 

Vors.: Es wird behauptet, daß Sie mehrmals verlobt gewesen seien.

Angeklagt.: Das ist richtig.

Vors.: Die erste Verlobung ist aufgehoben worden, von wem?

Angekl.: Von meiner Seite, weil mich die Äußerung meiner Braut: „Was soll ich mit einem Kriegskrüppel?“ verletzt hatte.

Vors.: Auch Ihre zweite Verlobung ist auseinander gegangen und Sie sollen dem Mädchen gedroht, ihm sogar einmal einen Drohbrief geschrieben haben?

Angekl.: Ich habe niemals gedroht.

Vors.: Sie sollen das Mädchen, nachdem es sich mit einem anderen verlobt hatte, mit   E r s c h i e ß e n   b e d r o h t   haben?

Angekl.: Das ist frei erfunden.

Oberstaatsanwalt Reifenrath: Als das Mädchen geheiratet hatte, ist der Angeklagte nicht dann zu dem Ehemann gegangen und hat ihm in die Hand versprochen, die Frau in Ruhe zu lassen?

Angekl.: Davon ist mir nichts bekannt.

Vors.: Warum ist nun die zweite Verlobung aufgelöst worden? In der Voruntersuchung haben Sie gesagt, das junge Mädchen sei viel gereist und nicht wirtschaftlich gewesen.

Angekl.: Nein, ich habe selbst Schuld daran.

Vors.: Sind Sie damals nicht schon mit Frau Gertrud Schade in Beziehungen getreten?

Angekl.: Ich lernte Frau Schade im August 1919 kennen. Veranlassung dafür hat eine Zeitungsannonce gegeben, die ich aus Scherz hatte veröffentlichen lassen.

Vors. zu den Geschworenen: Frau Gertrud Schade war die Tochter der Frau Bankdirektor Eckert aus zweiter Ehe, Frau Rohrbeck die Tochter aus erster Ehe. Frau Rohrbecks Tochter ist die verstorbene Dorothea Rohrbeck, diese also eine Enkelin der Frau Eckert und eine Nichte der Frau Schade. Frau Schade soll ihren Ehemann, der Apothekenbesitzer in Perleberg war, durch einen Jagdunfall verloren haben, stand aber nicht allein, hatte vielmehr ihre beiden Kinder Ursula und Irma, sowie die Pflegetochter Ruth bei sich.

Angekl.: Frau Schade lebte in Itzehoe. Während des Krieges hatte sie ein Verhältnis mit einem Staatsveterinär.

Vors.: Frau Schade war 13 Jahre älter.

Angekl.: Ich hatte die Überzeugung, daß es eine wirklich gute Frau sei; später bin ich anderer Ansicht geworden.

Vors.: Sie sind also zur Heirat geschritten aus Liebe, nicht aus Berechnung in Hinblick auf das Vermögen der Frau Schade oder um Ihr gesellschaftliches Ansehen zu heben?

Angekl. verneint das letztere.

Der Vorsitzende stellt fest, daß Grupen schon als Bräutigam Generalvollmacht sowohl von Frau Schade, wie auch von Frau Eckert erhalten habe. Auf Grund dieser Generalvollmacht hat er sich 17 000 Mark aus einer Hypothek abtreten lassen; das Geld aber, das den Kindern der Frau Schade gehörte, an sich genommen.

Angekl.: Ich habe auf der Quittung ausdrücklich bemerkt, daß ich diese Summe den Kindern zur Verfügung stellen will.

Hierauf trat die Mittagspause ein.

 

Nach Wiederaufnahme der Verhandlungen, richtet der Vorsitzende an den Angeklagten die Frage, wie sich sein Eheleben gestaltet habe.

Angeklagter: Wir haben anfangs glücklich miteinander gelebt. Das Verhältnis trübte sich, als meine Frau mit Forderungen auf ehelichem Gebiete kam, die ich nicht erfüllen konnte.

Vorsitzender: Sie haben in der Voruntersuchung gesagt, daß noch ein anderer Grund mitgewirkt hätte, das Verhältnis nicht zum Besten zu gestalten.

Angeklagter: Meine Frau hatte mir gestanden, ein Verhältnis mit einem Fabrikbesitzer gehabt zu haben. Ich habe ihr dieses Verhältnis nicht besonders übel genommen. (Da der Angeklagte schwer verständlich wird, soll er auf Anordnung des Vorsitzenden in der Mitte des Saales Platz nehmen.)

Vorsitzender: Was waren das für Forderungen, die Ihre Frau an Sie stellte?

Angeklagter: Meine Frau hatte stets Bier, Wein und Liköre im Hause gehabt. Einmal hatte sie zuviel getrunken, da sagte sie zu mir, was der Fabrikbesitzer konnte, mußt Du auch tun können. Weiter hat sie auch Angaben gemacht über das   J a g d u n g l ü c k   i h r e s   M a n n e s ,   das gar kein Jagdunglück gewesen sei.

Vorsitzender: Es wird behauptet, daß auf der Jagd auch jener Fabrikbesitzer zugegen gewesen sei. Darauf beziehen sich wohl die Andeutungen, daß es sich   n i c h t   u m   e i n e n   U n -      g l ü c k s f a l l ,   sondern um einen   a b s i c h t l i c h e n   Mord handelte.

Angeklagter: Meine Frau hat, wie ich schon sagte, die Andeutungen im Rauschzustande gemacht.

Vorsitzender: Sie sind später mit Ihrer Frau von Itzehoe nach Oldenbüttel gezogen. Während Sie im Umzuge begriffen waren, traf der

erste Besuch von Fräulein Dorothea Rohrbeck

und Fräulein Zahn ein.

Angeklagter: Wir hatten nach Kleppelsdorf unsere Verheiratung mitgeteilt, die Mitteilung ist aber kühl aufgenommen worden. Ich wollte daher anfangs den Besuch ablehnen.

Vorsitzender: Der Besuch galt ja nicht Ihnen, sondern der Großmutter der Dorothea Rohrbeck, der Frau Eckert.

Angeklagter: Fräulein Zahn sagte: sie mache eine Reise zu sämtlichen Verwandten, weil es deren Pflicht sei, ihr im Prozeß gegen den Vormund Vielhack beizustehen.

Der Vorsitzende bemerkt hierzu aufklärend: Der Vater der Dorothea Rohrbeck hatte im Testament eine gewisse Summe zum Unterhalt seiner Tochter ausgesetzt, aber mit dieser Summe konnte Fräulein Zahn wegen der Teuerungsverhältnisse, die inzwischen eingetreten waren, nicht auskommen.

Angeklagter: Fräulein Zahn hat mir gesagt, daß sie sich einschränken und Schulden machen müsse. Ich habe ihr erwidert, sie möchte sich an die Herren Pinge und Alfred Rohrbeck wenden, dann werde ich ihr ebenfalls aushelfen.

 

Der Angeklagte antwortet auf die Frage, welchen Eindruck Fräulein Dorothea Rohrbeck und Fräulein Zahn auf ihn bei dem ersten Besuch gemacht hätten: Dörtes Eindruck (der Vorsitzender: Sagen Sie ruhig Fräulein Dorothea Rohrbeck!) war gut, gegen Fräulein Zahn hatte ich nichts einzuwenden.

Vorsitzender: Wie lange haben sich die Damen in Itzehoe aufgehalten?

Angeklagter: Vier bis fünf Tage. Wir haben dann einen Ausflug nach Oldenbüttel gemacht.

Vorsitzender: Fräulein Zahn behauptet, Sie hätten ihr auf dem Wege nach Oldenbüttel gesagt, Sie wollten sich von Ihrer Frau scheiden lassen und wollten sie heiraten.

Angeklagter: Es ist möglich, daß ich über das Verhältnis zu meiner Frau gesprochen habe, bestreite aber, Fräulein Zahn einen Heiratsantrag gemacht zu haben.

 

Grupen erzählt nun, daß er den Damen einen Gegenbesuch mit seiner Frau in Kleppelsdorf in Aussicht gestellt habe. Er sei aber allein dorthin gefahren, weil es sich um Geldangelegenheiten handelte. Am 17. September sei er nach seiner Rückkehr mit seiner Frau und der Schwiegermutter zum Notar nach Itzehoe gefahren. Dort habe seine Frau Hypotheken auf seinen Namen abgetreten. Am 18. September seien sie wieder beim Notar gewesen, wo die Gütertrennung erklärt wurde. Am 19. September, einem Sonntage, trat die Frau die Reise nach Kleppelsdorf an. Grupen habe sie zum Bahnhof Itzehoe gebracht, aber nicht bis zum Bahnsteig begleitet, weil er bei den Pferden hätte bleiben müssen. Er selbst sei erstaunt gewesen, als er die telegraphische Nachricht erhielt, daß seine Frau in Kleppelsdorf nicht eingetroffen sei. Einige Tage später hätten die Hausangestellten auf dem Abort einen zerrissenen Zettel gefunden, der das Konzept eines von Frau Grupen an ihre Mutter gerichteten Abschiedsbriefes darstellte. In dem Brief heißt es, Frau Grupen reise nach Amerika, um sich der Bühne zu widmen. Der Vorsitzende stellt fest, daß alle Nachforschungen nach dem Verbleiben der Frau des Angeklagten vergeblich gewesen seien. Wenn sie noch lebe, müßte sie durch die Zeitungen Kenntnis erhalten haben von dem furchtbaren Tode ihrer Tochter Ursula.

 

Damit endet der erste Verhandlungstag.

 

 

 

Mittwoch, 7. Dezember 1921, „Schlesische Zeitung“ Abendblatt

Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.

Hirschberg, 6. Dezember

Zu Beginn der heutigen Sitzung wird die kommissarische Vernehmung einer in Ottenbüttel wohnenden Entlastungszeugin beschlossen. Auf Anregung des Sachverständigen, Geheimrat   L e s s e r ,   wird beschlossen, bei der morgen in Kleppelsdorf stattfindenden Verhandlung   S c h i e ß v e r s u c h e   an einem lebenden Tier vorzunehmen, um festzustellen, ob eine Geschwulst bei Schußwunden nur dann entsteht, wenn der Schuß aus nächster Nähe abgegeben worden ist. Grupen wird hierauf aufgefordert, nochmals eine Erklärung abzugeben über seine nach der Entdeckung des Doppelmordes angeblich getane Äußerung zu Frau Eckert: „Weißt Du auch, daß Du jetzt Erbin von Kleppelsdorf bist?“ Angekl.: Ich habe diese Äußerung nicht getan. Wir saßen abends gegen 8 Uhr im unteren Eßzimmer. - Vors. (unterbrechend): Sie sollen die Äußerung bereits nachmittags 3 Uhr getan haben. - Angekl.: Das ist ausgeschlossen. Als wir abends zusammensaßen, hat Frau Eckert davon gesprochen, daß Herr Alfred Rohrbeck jetzt nicht mehr so große Sorge zu haben brauche, da er Erbe geworden sei. - Vors.: Es wird behauptet, daß Sie kurz nach 3 Uhr, als Amtsgerichtsrat Thomas aus Lähn am Tatort eingetroffen war, gesagt haben: „Die ganze Schuld an dem Verhängnis liegt daran, daß ich die Pistole nicht eingeschlossen habe.“ - Angekl.: Ja, und Frau Eckert beruhigte mich, indem sie sagte, ich könne doch nichts dafür, daß die Ursula die Pistole an sich genommen habe.

 

Dem Angekl. wird dann vorgehalten, daß er, als der Landjäger Klopsch im Flur des Schlosses Telefonierte, hinzugetreten sei, und als ihn der Landjäger aufgefordert habe, wieder in sein Zimmer zurückzukehren, geantwortet habe, „ich werde wohl bewacht?“ In der Nacht zum 15. wurde dem Angeklagten seine Verhaftung mitgeteilt. Der Landjäger Klopsch verbot dem Angeklagten, sich mit Frau Eckert und dem Fräulein Mohr zu unterhalten. - Vors.: Haben Sie bei Ihrer Abführung nicht gesagt: „Wenn Ihr aussagt, daß Ihr wißt, daß ich oben im Zimmer war.“ - Angekl.: ich habe nur gesagt, daß sich meine Unschuld sicherlich in einigen Tagen herausstellen wird. - Vors.: Sie sollen beim Abschied gesagt haben: Bleibt bei Euerer Aussage!  - Angekl.: Das ist möglich. - Vors.: Landjäger Klopsch soll Ihnen verboten haben, von der Sache mit Ihren Angehörigen zu sprechen. Dieses Verbot sollen Sie aber nicht beachtet, Sie sollen trotzdem weiter gesprochen haben, und zwar in Plattdeutsch. - Angekl.: Es ist möglich, daß ich mit Fräulein Mohr plattdeutsch gesprochen habe: sie solle sich vollkommen an die Wahrheit halten und auch sagen, daß wir uns näher gestanden haben.

 

Vors.: Sie sollen vor Ihrem Transport nach Hirschberg den Amtsgerichtsrat Thomas gefragt haben, ob Frau Eckert, Frl. Mohr und die kleine Irma bei ihrer Angabe bleiben, daß Sie die ganze Zeit nicht von Ihrem Tische weggegangen seien? - Angekl.: Eine solche Frage hätte ich nur stellen können, wenn mir bekannt geworden wäre, daß eine neue Vernehmung der drei stattgefunden hat, ich habe aber davon nichts gehört. - Vors.: Nun will ich Ihnen die bestimmte Frage vorlegen: Haben Sie jemals Fräulein Dorothea Rohrbeck   e i n e n   H e i -       r a t s a n t r a g   gemacht? - Angekl. (mit Entschiedenheit): Nein. - Vors.: Es werden aber Zeugen auftreten, die bekunden werden, daß Frl. Rohrbeck Ihnen mitgeteilt und auch geschrieben habe, daß Sie ihr einen Heiratsantrag gemacht haben.

 

Sachverständiger Geh.-Rat Dr.   L e s s e r   wünscht Aufklärung über das Temperament der Ursula Schade und ihr Verhältnis zu dem Angeklagten. Der Angeklagte erklärt, Ursula sei häufigem Stimmungswechsel unterworfen gewesen. Er habe schon 1919 von ihr den Eindruck gewonnen, daß sie zu Schwermut neige. Zeitweise sei sie auch lustig gewesen. Verteidiger Dr. Ablaß: Hat der Angeklagte sich jemals mit   H y p n o s e   beschäftigt? - Angekl.: Nein, niemals!

 

Die Verhandlung wendet sich nunmehr dem zweiten Teil der Anklage, dem von Grupen an seiner Stieftochter verübten   S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e n   zu. Die   Ö f f e n t l i c h k e i t   wird während dieses Teiles der Verhandlung   a u s g e s c h l o s s e n .

 

 

 

Donnerstag, 8. Dezember 1921, „Schlesische Zeitung“ Morgenblatt

Der Doppelmord in Kleppelsdorf.

Hirschberg, 6. Dezember

Nach Wiederherstellung der Öffentlichkeit wird

der Angeklagte über seine Vermögensverhältnisse

befragt. Er gibt dazu an, daß er sehr sparsam gelebt und sich dadurch eine kleine Summe erworben habe. Er sei ins Feld gegangen und habe dadurch diese Ersparnisse nicht angreifen müssen. Auch habe er kleinere Geschäfte gemacht und im gleichen Jahre von seinem Vater ein Grundstück in Oldenbüttel zum Geschenk erhalten. Er habe es jedoch nur unter der Bedingung übernommen, daß er seinen Eltern eine Rente von 1000 Mark zahle. Als Rentenentschädigung für seine Kriegsverletzung habe er 9000 Mark erhalten. Als er heiratete, betrug sein gesamtes Vermögen etwa 20 000 Mark. Über die   V e r m ö g e n s v e r -       h ä l t n i s s e   s e i n e r   F r a u   befragt, gibt der Angeklagte u. a. an: Ich wußte, daß meine Frau die Apotheke in Perleberg, die ein Nachlaß ihres Mannes war, besaß. Die Kinder waren zur Zeit meiner Bekanntschaft mit meiner Frau schon abgefunden worden. Meine Frau hat im Jahre …… ein Grundstück in Itzehoe im Wert von 38 000 Mark gekauft, davon waren 20 000 Mark Hypotheken und 18 000 Mark Barzahlung. Das war das gesamte Vermögen meiner Frau, als sie heiratete. Mir war auch bekannt, daß in einem Vertrage meine Schwiegermutter ihr gesamtes Vermögen meiner Frau vermacht hat, da sie nicht wollte, daß Dorothea Rohrbeck etwas von ihr erbte. Der Vorsitzende ist der Ansicht, daß dies nur ein Scheinvertrag gewesen sei, den die beiden Frauen dem Steueramte gegenüber abschlossen. Der Angeklagte gibt dazu an, daß Frau Eckert auch ihre Wertpapiere auf den Namen und das Konto der Tochter bei der Deutschen Bank in Hamburg überschrieben habe, und daß seine Frau seit dieser Zeit für die Mutter gesorgt habe. Er gibt an, daß das Vermögen seiner Frau infolge dieses Vertrages 109 000 Mark betrug. Der Angeklagte erzählt dann weiter, daß er im August das Grundstück seines Vaters verkauft habe, da er keine Vorteile habe ziehen können. Später wurde auch das Grundstück seiner Frau in Perleberg verkauft. und zwar ist dort eine Hypothek von 37 000 Mark für seine Frau eingetragen und noch eine von 12 000 Mark und 4000 Mark für seine Schwiegermutter. Den Grundstückskauf in Itzehoe habe seine Frau sehr bereut, und nachdem er es mit seinem Bruder ausgebaut habe, für   125 000 Mark verkauft.

 

Bei der weiteren Vernehmung des Angeklagten über seine Vermögensverhältnisse, Steuererklärungen usw. bemerkte der Vorsitzende, daß er sich aus der Verhandlung darüber nicht informieren könne, daß der Angeklagte aber auch seine Aussagen hierüber verweigern könne. Justizrat Dr. Ablaß erklärte: Ich werde das sogar dem Angeklagten raten. Der Angeklagte bemerkte unter anderem, daß er seine Rechtsbeistände aus eigenen Mitteln bezahle und damit beweisen wolle, daß er sich nicht in Not befinde.

 

Es wird nun in

die Beweisaufnahme

eingetreten. Als erste Zeugin wird   F r l .   Be r t h a   Z a h n   vernommen. Sie sagt aus: noch zu Lebzeiten des Vaters der Ermordeten bin ich nach Kleppelsdorf gekommen. Dorothea war damals 1 ½ Jahre alt. Ich übernahm die Stelle der Frau Eckert, doch war unser Verhältnis von vornherein nicht sehr günstig, da Frau Eckert annahm, daß ich mich mit Herrn Rohrbeck verheiraten könnte, während sie eine Ehe des Herrn Rohrbeck mit Fr. Schade, der späteren Frau Grupen, wünschte. In der Hauptsache übernahm ich die Wirtschaft und die Erziehung der Dorothea. Nach dem Testament war   D o r o t h e a   A l l e i n e r b i n .   Das gesamte Erbe bestand aus dem Schlosse Kleppelsdorf, einem Besitztum in Tempelhof bei Berlin und einem   B a r v e r m ö g e n   v o n   m e h r e r e n   M i l l i o n e n .   Nach dem Testament war mit die Haushaltsführung und die Erziehung der Dorothea Rohrbeck übertragen worden. Frau Eckert war erbittert, daß ich im Testamente nicht bedacht worden war (Anmerkung: sollte es nicht heißen: daß SIE im Testamente nicht bedacht worden war?). In späteren Jahren entstanden zwischen mir und dem Vormund der Dorothea Rohrbeck Differenzen, da die Wirtschaftsausgaben dem Vormunde zu hoch waren. Anfangs waren 1000 Mark monatlich als Wirtschaftsgeld ausgemacht, das später zunächst in 120 Mark wöchentlich, dann 100 Mark wöchentlich festgesetzt wurde. (Bewegung.) Mit diesem Gelde war es mir unmöglich, die Wirtschaft zu führen. Der Vormund warf mir Verschwendung vor, ohne mir auf meine Frage Antwort zu geben, womit er meine angebliche Verschwendung begründe. Aus Anlaß dieser Differenzen hat mir der Vormund gekündigt. Ich hatte dagegen den Vormund verklagt, da mir nach dem Testamente nicht gekündigt werden durfte. Das Landgericht in Hirschberg hat auch meiner Klage stattgegeben und die Kündigung wieder aufgehoben. Auch hat mir der Vormund mein Gehalt vorenthalten, das ich durch gerichtliche Maßnahmen vom Vormund ausgezahlt erhielt. Kurz vor Weihnachten hat der Angeklagte nach Kleppelsdorf geschrieben, daß er die verwitwete Frau Schade geheiratet habe. Einer daraufhin ergehenden Einladung nach Kleppelsdorf wurde nicht Folge geleistet. Späterhin besuchte die Zeugin, Dorothea Rohrbeck und Frau Eckert auf eine Einladung des Angeklagten hin diesen und seine Frau in Hamburg, wo sie sehr nette Aufnahme fanden. Man sprach auch von den wirtschaftlichen Nöten und der Angeklagte bot ihnen dann seine Unterstützung aus eigenen Mitteln an. Bei diesem Besuche teilte der Angeklagte der Zeugin mit, daß seine Frau krebsleidend sei. Wenn er dies vorher gewußt hätte, würde er sie nicht geheiratet haben. Bei einer anderen Gelegenheit hat der Angeklagte zu der Zeugin gesagt, daß er bedaure, die Zeugin nicht schon früher kennen gelernt zu haben.

 

Es werden dann die

Abschiedsbriefe der Frau des Angeklagten

zur Vorlesung gebracht, darunter auch einer an Frl. Dorothea Rohrbeck folgendes Inhalts: „Liebe Dörte! Ich sende Dir hiermit vor meiner Abreise nach Amerika noch einen Abschiedsbrief und wünsche Dir, daß sich Dein Leben in Zukunft recht glücklich gestalten möge. Es wäre wohl am besten, Du fändest einen guten Mann. Nimm Dir den guten Onkel Peter zum Berater, der, nachdem er sehr viel verloren hat, auch jetzt wieder viel verlieren wird und alle Lebensstürme überwinden möchte. Herzliche Grüße von Deiner Tante.“ (Mit Peter ist der Angeklagte Peter Grupen gemeint. D. Schriftl.)

 

Ein Geschworener fragte den Vorsitzenden: „Ist festgestellt, daß Frau Grupen auch Schreiberin dieses Briefes ist?“ Vorsitzender: Das ist nicht festgestellt. Wir haben diese Briefe niemals einem Sachverständigen vorgelegt, da die Verwandten der Meinung waren, daß es die Schrift der Frau Grupen sei. Justizrat Dr. Mamroth stellt den Antrag, die Briefe einem Sachverständigen vorzulegen. Der Vorsitzende erklärt, daß er sämtliche Abschiedsbriefe dem zurzeit noch nicht anwesenden Sachverständigen Prof. Jeserich vorlegen werde.

 

Morgen findet eine   B e s i c h t i g u n g   d e s   G u t e s   K l e p p e l s d o r f   statt, und dann wird in Kleppelsdorf weiter verhandelt werden.

 

 

 

Donnerstag, 8. Dezember 1921, „Schlesische Zeitung“ Abendblatt

Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.

Hirschberg, 7. Dezember

In der gestrigen nichtöffentlichen Sitzung hat der Angeklagte das ihm zur Last gelegte Sittlichkeitsverbrechen an der Ursula Schade bestritten. Heute fand

Lokaltermin auf Schloß Kleppelsdorf

statt. In mehreren Automobilomnibussen begaben sich die Teilnehmer nach Lähn. Im ersten Wagen befanden sich der Angeklagte und mehrere Polizeibeamte. Vor dem Schlosse in Kleppelsdorf hatte sich eine Anzahl Zuschauer eingefunden, die Grupen mit Verwünschungen empfingen. Bei dem Eintreten in das   S c h l o ß   v e r ä n d e r t e   s i c h   d i e   G e s i c h t s f a r b e   d e s   A n g e k l a g t e n   in ganz merklicher Weise. Die Verhandlung begann im Billardzimmer im oberen Stockwerk. Der Gerichtshof begab sich aber bald nach den Zimmern im Parterre, zunächst nach dem sog. Wintereßzimmer, von dem eine Tür nach der Veranda geht. Die Tür soll nach Angabe der Zeugin Zahn stets verschlossen gewesen sein. Die Fenster des Zimmers sind vergittert. Anschließend an dieses Zimmer liegt das   M o r d z i m m e r ,   das in dem Zustand belassen worden war, in dem es sich am Mordtage befand. Der Angeklagte ersucht bei Eintritt in dasselbe den Vorsitzenden, ihn vor Beleidigungen zu schützen, da eine Dame von den Zuhörern ihn eben einen Mörder genannt habe. Der Vorsitzende rügt das.

 

Der   S a c h v e r s t ä n d i g e   D r .   P e t e r s   gibt Aufschluß über die Schüsse. Dorothea Rohrbeck hatte einen Schuß in die Brust erhalten, der ihr in den Hals gedrungen war. Ein zweiter Schuß ging vom Genick aus. Der auf Ursula Schade abgefeuerte Schuß war ein Steckschuß. Der Schußkanal befindet sich über der rechten Augenbraue. Die   D i e n s t m ä d c h e n   M e n d e   u n d   H i r s c h   geben an, in welcher Lage sie die Leichen gefunden haben. Dorothea Rohrbeck habe mit dem Kopf in einer Blutlache, quer über dem durch das Zimmer gehenden Läufer gelegen, Ursula Schade am Kleiderschrank. Links von ihr am Knie lag der Revolver. Die Mende hat als erste das Mordzimmer betreten. Sie hat die am Boden liegende Rohrbeck am Arm gefaßt und beim Namen gerufen. Die bald herbeigekommene Erzieherin Frl. Zahn behauptet, Dörthe habe noch geatmet.   K r e i s m e d i z i n a l r a t   D r .   P e t e r s   weist darauf hin, daß bei Dorothea Rohrbeck der   T o d   d u r c h   E r s t i c k e n   eingetreten ist.

 

Frl.   Z a h n   bekundet auch, daß die vom Mordzimmer zur anstoßenden Rollstube führende Tür verschlossen gehalten worden sei. Sie schildert das Auffinden des   R e v o l v e r s   folgendermaßen: Grupen nahm den neben der Ursula liegenden Revolver an sich, legte ihn auf den am Ofen stehenden Rohrplattenkoffer. Inzwischen sei bemerkt worden, daß sich unter dem Kleide der Ursula Schade ein Päckchen mit Patronen und der Brief an „Großmutti“ befand. Der Brief ist damals bald verlesen worden, worauf Grupen ausrief: „Da ist es doch meine Waffe und ich bin Schuld an dem Verhängnis.“ - Postverwalter   G r i m m i g   (Lähn) bekundet, er habe die Waffe nicht auf dem Rohrplattenkoffer, sondern auf dem vor dem Liegesofa stehenden Tische gefunden. Als alter Jäger habe er die Waffe sofort sichern wollen, dabei aber, da ihm die Konstruktion nicht bekannt war, die Waffe nicht gesichert, sondern entsichert.   Die   W a f f e   h a t   a l s o   i n   g e s i c h e r t e m   Z u s t a n d   a u f   d e m   T i s c h e   g e l e g e n .   Bei der Untersuchung des Revolvers in seiner Wohnung habe Grimmig festgestellt, daß sich noch zwei Patronen in dem Magazin befanden. Auf die Frage des Staatsanwalts, ob die Tür der Veranda, die in das an das Mordzimmer angrenzende Eßzimmer führt, immer geschlossen gewesen sei, erklärt Frl. Zahn, daß dies gewöhnlich der Fall war und daß die Fenster der Veranda nur von innen zu öffnen sind, während die Fenster im Erdgeschoß des Schlosses vergittert seien.

 

In die im Mordzimmer geführten Verhandlungen griff Grupen lebhaft ein, sah sich die eingetrockneten Blutlachen genau an und beantragte u. a., die Entfernung zwischen der Lage der Leichen und den aufgefundenen Patronenhülsen zu messen. Das Gericht begab sich alsdann nach der Küche und stellte fest, daß es unmöglich ist, dort Schüsse, die im Mordzimmer gefallen seien, zu hören. Dann wurden die Räume im Obergeschoß besichtigt und festgestellt, wo und an welchen Stellen sich zur Zeit der Bluttat Grupen, Frl. Zahn, Frau Eckert, Frl. Mohr und die kleine Irma Schade aufgehalten haben. Nach der Besichtigung wurden die Verhandlungen im Saale des Schlosses fortgesetzt. Vorher fanden noch   S c h i e ß v e r s u c h e   i m   M o r d z i m m e r   statt, die von einem Schießsachverständigen im Beisein des Angeklagten und zweier Zeugen vorgenommen wurden. Grupen hatte sich energisch dagegen ausgesprochen, daß die Schießversuche in seiner Abwesenheit vorgenommen wurden.

 

Es folgte dann eine kleine Mittagspause.

 

 

 

Freitag, 9. Dezember 1921 „Schlesische Zeitung“ Abendblatt

Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.

Hirschberg, 8. Dezember

Der Lokaltermin auf Schloß Kleppelsdorf am Mittwoch zog sich bis in die späten Abendstunden hin und brachte noch manche interessante Momente. - Zeugin   M e n d e   wird eingehend über ihre Wahrnehmungen gefragt, die sie vom Eintreffen Grupens vom 8. Februar an bis zum Mordtage hatte. Die Zeugin bekundet, daß der Empfang kühl und daß Grupen seit seiner Anwesenheit fast immer im Zimmer war und gelesen oder Mühle gespielt habe. Von einer Verstimmung der Ursula gegen Dorothea Rohrbeck hat die Zeugin nichts bemerkt, auch nichts von einem Revolver oder Patronen. - Vors.: War der Angeklagte nach dem Auffinden der Leiche sehr aufgeregt? - Zeugin: Ja. Er sagte gleich zur Großmutter:

„Da werde ich wohl die Schuld kriegen.“

Vert. Dr. Ablaß: Diese Äußerung ist neu. Ich bitte, die Zeugin zu fragen, warum sie früher davon nie etwas gesagt hat. - Zeugin: Ich wurde ja früher nie darum gefragt. Auf eingehende Ermahnung, sich die Sache richtig zu überlegen, gibt die Zeugin dann an, nicht mehr genau zu wissen, ob diese Worte vor oder nach Verlesung des Briefes an die Großmutter gefallen seien. Der Zeugin ist aufgefallen, daß, als sie Grupen nach der Tat gegen 3 Uhr zu der Vernehmung durch den Amtsrichter rufen sollte, die Tür zum Eßzimmer, wo sich   G r u p e n   und   F r a u    E c k e r t   befanden, verschlossen war und auch auf Klopfen nicht gleich geöffnet wurde. Sie will   h i n t e r   d e r   T ü r   P a p i e r g e r ä u s c h e   gehört haben. Die Zeugin   H i r s c h   bekundet im wesentlichen dasselbe wie am Vormittage. Sie hat gehört, daß Grupen sagte: das ist doch der Revolver, den ich gekauft habe. Hierbei kam es bei einer kurzen Bemerkung des Verteidigers Dr. Ablaß: „Sehr richtig.“ zu einem Zusammenstoß zwischen dem Staatsanwalt und den Verteidigern. Der Staatsanwalt wollte einen Gerichtsbeschluß herbeigeführt haben, daß solche Bemerkungen unzulässig seien. Die Verteidiger stellten einen gleichen Antrag, da der Oberstaatsanwalt mit einem Geschworenen während der Verhandlung gesprochen habe. Der Vorsitzende bat, davon abzusehen, da doch alle lediglich das Bestreben haben, die Wahrheit zu finden. Schließlich wurden denn auch von beiden Seiten die Anträge zurückgezogen.

 

Zeuge Sanitätsrat Dr.   S c h o l z   machte Angaben über seine Wahrnehmungen bei seinem Erscheinen im Schlosse. Der Zeuge bestätigt, daß Grupen ihn gebeten, doch Ursel etwas zu geben, damit sie sagen könne, wer es gewesen sei. - Vors.: Ist Ihnen das aufgefallen? - Zeuge: Ja. - Wie Dr. Scholz weiter bekundet, hat er, der Zeuge, sofort gesagt: Hier liegt Mord vor, kann hier niemand Aufschluß geben? Er hat dann Frl. Zahn gefragt, was sie darüber denke. Diese sagte ihm: Ach Gott, es gibt so böse Menschen im Hause. Von diesem Augenblick an, so sagt der Zeuge, hatte ich den Angeklagten in Verdacht. Zeuge Postverwalter   G r i m m i g :   Ich bin mit der vorgefaßten Meinung am Mordtage hierher gekommen, daß der Angeklagte Grupen der Mörder ist. Wäre ich nicht mit der vorgefaßten Meinung hierher gekommen, dann hätte ich Grupen nicht für den Täter gehalten, denn er war ruhig. Dagegen konnte ich mir das Verhalten der Frau Eckert nicht erklären, die beim Anblick der beiden niedergeschossenen Enkel so ruhig war. - Vors.: War Ihnen bekannt, daß der Angeklagte dem Fräulein Zahn und dem Frl. Rohrbeck unsympathisch war? - Der Zeuge bejaht dies, ebenso die andere Frage, ob davon gesprochen worden sei, daß Grupen der Dörte nach dem Leben getrachtet hat, und daß sich die Damen vor ihm fürchteten.

 

Amtsgerichtsrat   T h o m a s   gibt als Zeuge an, daß ihn der Angeklagte vor seinem Transport nach Hirschberg gefragt hat, ob die Untersuchung etwas Neues ergeben habe. Der Zeuge hat erwidert: Eigentlich nichts. Die weitere Frage des Angeklagten, ob Frl. Mohr und seine Schwiegermutter bei ihren Aussagen geblieben sind, hat der Zeuge bejaht. Darauf sagte der Angeklagte: „Dann ist es gut, dann bin ich beruhigt.“ Zeuge Kriminalbeamter   L a c h n i ???   (Hirschberg) hat keine Spuren gefunden, die darauf hindeuten konnten, daß jemand von außen in das Mordzimmer gekommen sei. Dem Zeugen Justizobersekretär   K l a p p e r   (Lähn) fiel auch das merkwürdige Benehmen der Großmutter auf. Zeuge Oberlandjäger   K l o p s c h   hat bald, nachdem er ins Schloß gerufen worden war, den Eindruck gehabt, daß hier ein   M o r d   vorliege. Es fiel ihm das gleichgültige Benehmen Grupens und der Frau Eckert auf. Auf eine Frage, wer wird den schönen Besitz nun erben, sagte Frau Eckert: „Die Hälfte Rohrbeck, die Hälfte ich.“ Zeuge Klopsch bestätigt, daß Grupen, als er weggebracht werden sollte, zu Fräulein Mohr und seiner Schwiegermutter gesagt hat:

„Ihr bleibt bei Euerer Aussage.“

Trotz seines Verbotes an Grupen, so bekundet der Zeuge weiter, das Sprechen zu unterlassen, hat Grupen der Mohr dann noch etwas in plattdeutscher Sprache gesagt, was ich aber nicht verstand.

 

Zeugin   Z a h n   sagt aus: Ich konnte nicht begreifen, daß ich erst dreimal habe Grupen bitten müssen, er möge mir helfen, Dörte aufs Bett zu legen. Ich hatte das Gefühl, daß der Täter wohl sein Opfer nicht anfassen wollte. - Sanitätsrat Dr.   S c h o l z   gibt dann noch an, wenn an der Wunde bei Ursula Schade Pulverschleim gewesen wäre, hätte er ihn sehen müssen.

 

Damit war die Verhandlung in Kleppelsdorf beendet. Bei der Abfahrt des Angeklagten aus dem Gutshofe kurz nach 8 Uhr Abends nahm eine große Menschenmenge, die sich dort angesammelt hatte, eine drohende Haltung gegen Grupen ein.

 

*

Am Donnerstag wurden die Verhandlungen in Hirschberg fortgesetzt. Mit der Begutachtung der   E c h t h e i t   d e r   A b s c h i e d s b r i e f e   d e r   v e r s c h w u n d e n e n   F r a u   G r u p e n   sind Geheimrat Moll und Prof. Schneidemühl beauftragt worden. Sodann wird die Erzieherin Frl.   Z a h n   über

die Stunde der Tragödie

vernommen. - Fräulein Zahn: Montag in der 12. Stunde saß ich mit Dörte im Kinderzimmer. Grupen kam zweimal aus dem Nebenzimmer zu uns, sah sich um und ging zurück. - J.-R. Dr. Ablaß (unterbrechend): Sie hatten sich mit dem Angeklagten über religiöse Fragen unterhalten. Der Angeklagte soll dabei erklärt haben, er glaube nicht an einen persönlichen Gott; er glaube an ein höheres Wesen in dem Sinne, daß er es die Liebe nenne. - Frl. Zahn: Ja, das hat der Angeklagte gesagt. - Vert. Dr. Mamroth: Ist es richtig, daß der Angeklagte abends Nachtgebete mit den Kindern verrichtet hat? - Frl. Zahn: Das ist in Itzehoe geschehen; ob auch in Kleppelsdorf, das weiß ich nicht. Frl. Zahn (fortfahrend): Gegen 12 Uhr sandte ich das Dienstmädchen mit der Einschreibquittung, die mir Dörte von der Post gebracht hatte, weg, um das Paket zu holen. Um diese Zeit kam Ursula an die Tür meines Zimmers, machte die Tür auf und sagte: „Dörte, komm doch mal!“, worauf Dörte ging. Ursula sprach etwas hastig, aber freundlich. Ich hatte ein ganz merkwürdiges Empfinden dabei; denn erstens haben sich die Kinder nie unten aufgehalten, und zweitens hörte ich im Nebenzimmer, wo Grupen, Irma, die Großmutter und die Mohr saßen, die Tür auf- und zumachen. Schritte hörte ich von meinem Zimmer aus nicht, da überall Teppiche liegen. Nach einer Minute ging ich ins Nebenzimmer und veranlaßte Irma, nach Dörte zu sehen. Grupen sagte: „Irma wird gleich gehen.“ Irma ging. Sie kam auch gleich wieder und sagte: „Ich kann Dörte nicht finden.“ Ich hatte das Gefühl, daß Irma nicht weit gegangen war. Kurze Zeit darauf mußte ich eine Gemüseschüssel besorgen und zu diesem Zweck durch das Zimmer gehen, wo Grupen, Irma und die Mohr in Anwesenheit der Großmutter Mühle spielten. Ob Ursula bei den Spielenden saß, weiß ich nicht. Als Dörte noch mit mir im Zimmer saß, hat Grupen versucht, durch die offene Tür eine Unterhaltung mit uns anzuknüpfen. Ich war darüber ärgerlich. Es waren ganz unnötige Sachen, von denen er sprach. Als ich durch das Zimmer nach der Gemüseschüssel ging, hat mich der Angeklagte sehr genau angesehen. Als ich der Mende aufgetragen hatte, die Kinder zum Essen zu rufen, kam diese bald eiligst zurück, riß die Tür aufsagte:   „ D i e   K i n d e r   l i e g e n   i m   F r e m d e n z i m m e r ! “   Frl. Zahn gibt nun die bekannte Schilderung von dem Auffinden der Mädchen. Als sie Grupen und seine Schwiegermutter veranlaßt hatte, das Zimmer zu verlassen, habe ihr Grupen beim Hinausgehen die Hand entgegengestreckt, die sie aber nicht angenommen hat. Die Zeugin bestätigt, daß Grupen den Revolver mitten auf den Tisch gelegt habe.

 

Das Verhältnis zwischen

Frau Eckert und Grupen

sei besonders herzlich. Ich habe ein solch inniges Verhältnis zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn nie kennen gelernt. - Sachverständiger Geheimrat Dr. Lesser: Bestanden Differenzen zwischen Großmutter und Frl. Rohrbeck? - Frl. Zahn: Bei dem Besuch in Itzehoe war das Verhältnis zwischen beiden sehr herzlich. Im November 1919 war der Geburtstagsbrief von Großmutter an Dörte auffallend kühl und das Verhältnis wurde ungünstiger.

 

Auf Befragen des Geheimrats Dr. Lesser sagt Frl. Zahn dann   ü b e r   d i e   U r s u l a :   Das Mädchen war nach meiner Ansicht nicht von übermäßiger Intelligenz. Als sie im November mitkam, war sie gegen früher merkwürdig verändert. Während sie früher fröhlich war, erschien sie jetzt sehr gedrückt und scheu. Das Verhältnis zwischen Dörte und Ursel war sehr gut. Ich kann mir nicht erklären, wie Ursel in dem Abschiedsbriefe an die Großmutter schreiben konnte, sie solle sich nicht mehr über Dörte ärgern. J.-R. Dr. Ablaß: Wie war Ursel körperlich entwickelt? - Frl. Zahn: Sie war zart und schwächlich. Auf Befragen des Staatsanwaltes sagt die Zeugin noch, daß Ursel, aber auch die kleine Irma, anscheinend mit schwärmerischer Liebe an ihrem Stiefvater, an dem Angeklagten, hingen.

 

Schreibsachverständiger Prof. Schneidemühl verlangt von der Zeugin Auskunft über den Eindruck, den sie von den Briefen der verschwundenen Frau Grupen hatte. Die Verteidiger beantragen, diese Frage erst dann zuzulassen, wenn auch Prof. Dr. Jeserich anwesend sei. Der Gerichtshof beschließt, die weiteren Zeugen zuzulassen. Aus den Antworten der Zeugin geht hervor, daß sie eine wesentliche   A b w e i c h u n g   in den Zügen   S c h r i f t z ü g e n   d e r   B r i e f e   d e r   F r a u   G r u p e n   der früheren und letzten Briefe bemerkt haben will. Die Schriftzüge in den letzten Briefen waren gegen früher zu regelmäßig und immer kehrten dieselben Redewendungen wieder. Es schien der Zeugin, als ob Frau Grupen auch geistig eine andere geworden, nicht mehr so selbständig als früher war. Auch in ihrem Äußeren war sie nicht mehr so gepflegt als früher. Zwischen ihr (Zahn) und Frau Grupen habe kein gespanntes Verhältnis bestanden.

 

Damit ist die Vernehmung der Zeugin beendet. Es tritt eine Mittagspause bis 3 Uhr ein.

 

 

 

Sonnabend, 10. Dezember 1921 „Schlesische Zeitung“ Morgenblatt

Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.

Aus Hirschberg wird gemeldet: Im Kleppelsdorfer Mord-Prozeß ist es am Freitag bei der Vernehmung des Vormundschaftsrichters der getöteten Dorothea Rohrbekck zwischen dem   Z e u g e n   u n d   d e r   E r z i e h e r i n   F r l .   Z a h n   z u   e i n e r   e r r e g t e n        S z e n e   gekommen, die durch das Eingreifen eines Geschworenen ein ungewöhnliches prozessuales Nachspiel hatte. Der Vormundschaftsrichter hatte ausgesagt, daß er bei Eintreffen auf dem Schlosse nach der Mordtat der Erzieherin keine Erregung anmerken konnte. Sie habe sogar gelacht, als er die Befürchtung ausgesprochen habe, daß Dorothea Rohrbeck sich die etwa kurz vor ihrem Tode ergangene Verfügung des Vormundschaftsgerichtes, alte Bäume fällen zu lassen, zu Herzen genommen habe. Gegen die Aussage des Zeugen über ihr Verhalten protestierte Fräulein Zahn und verließ den Gerichtssaal. Ein Geschworener gab im Namen der Geschworenen die Erklärung ab, daß auch sie in der Aussage des Zeugen eine üble Kritik an die Zeugin Zahn erblicken. Erst auf nochmaliges Befragen durch den Vorsitzenden erklärte der Zeuge, daß eine solche Kritik nicht in seiner Absicht gelegen habe. Der Vorfall wurde zu Protokoll genommen.

 

 

 

Sonnabend, 10. Dezember 1921 „Schlesische Zeitung“ Abendblatt

Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.

Hirschberg, 9. Dezember

In der Donnerstagssitzung wurde noch

der Vormundschaftsrichter

Amtsgerichtsrat   T h o m a s   (Lähn) vernommen. Es entwickelte sich eine von sehr verschiedener Weltauffassung zeugende Wechselrede zwischen dem Vorsitzenden und dem Zeugen, deren Inhalt im Wesentlichen die Ernährungs- und Kleidungsverhältnisse der Millionenerbin Dorothea Rohrbeck ist. Der Zeuge war in Übereinstimmung mit dem Vormund Vielhack der Ansicht, daß in Kleppelsdorf unter Frl. Zahn zu große Ausgaben gemacht würden. Zum Erstaunen des Vorsitzenden bekennt der Zeuge, daß er tatsächlich der Meinung war, daß sich aus den Sachen des verstorbenen Rohrbeck hätten Kleidungsstücke für Dorothea machen lassen. Wie der Zeuge weiter bekundet, kamen die neuen Steuern und rund 621.000 Mark Reichsnotopfer, so daß sich das Kapital verringerte. Der Vormund bekam jährlich 2000 Mark und Ersatz der Reisekosten, sowie 15 Mark Tagegelder bei Reisen. - Vors.: Und wie oft kam da der Vormund nach Kleppelsdorf? - Zeuge: Jährlich höchstens zweimal. Später stellte der Vormund den Antrag, seine Entschädigung auf 4000 Mark zu erhöhen, was aber zu hoch erschien, so daß ich die Festsetzung auf nur 3000 Mark durchsetzte. - Vors.: Ist es denn nicht bedenklich, daß der Gegenvormund Bauer, der doch die Rechte des Mündels gegen den Vormund vertreten soll als Gutsverwalter gewissermaßen der Untergebene des Vormundes war? - Zeuge: Diese Bedenken habe ich auch gehabt; da aber keine Beschwerden kamen, habe ich mich damit abgefunden. - Vors.: Von dem Mündel und der Erzieherin lagen jedenfalls viele Beschwerden vor.

 

Der Zeuge macht dann nähere Angaben über die Gelder , die Frl. Zahn für den Haushalt und die Erziehung erhielt. Im Jahre 1915-16 wurden an Frl. Zahn 26.000 Mark gezahlt, wofür sie Gärtner, Köchin und die beiden Dienstmädchen bezahlen mußte. Frl. Zahn selbst erhielt monatlich 200 Mark. 1916-17 waren es rund 24.000 Mark, dann wieder 24.000 Mark, dann 21.000, dann 29.900 Mark. Im ersten und im letzten Falle sind die Naturalien eingerechnet, in den anderen Fällen nicht. - Vors.: Es ist dann merkwürdig: je größer die Teuerung wurde, desto niedriger wurde die dem Mündel zugebilligten Unterhaltungsgelder. Und mit 100 Mark wöchentlich sollten die beiden Damen auskommen? - Zeuge: Sie erhielten ja auch noch Naturalien. Herr Rohrbeck hatte 10.000 Mark für die Erziehung seiner Tochter ausgesetzt. - Vors.: Damit hatte er doch sicherlich nur die Ausgaben für die Erziehung gemeint, aber nicht die Kosten für den gesamten Unterhalt. - Zeuge: Der Vormund und ich waren jedenfalls der Meinung, daß damit der ganze Unterhalt gemeint sei. - Vors.: Der Vormund hat dann Frl. Zahn wiederholt gekündigt, obwohl in dem Testament stand, daß sie die Erziehung des Fräuleins zu deren Mündigkeit leiten sollte. Glaubten der Vormund und Sie, daß sie hierzu ein Recht hatten? - Zeuge: Das war jedenfalls die Ansicht des Vormundes und meine auch. - Vors.: Ihre Ansicht, aber die oberen Gerichte waren jedenfalls anderer Ansicht. Weshalb wollte der Vormund Frl. Zahn entlassen? - Zeuge: Er war der Ansicht, daß ihm Frl. Zahn das Mündel entfremde. - Vors.: Aber der Vormund hatte doch gar keine persönlichen Beziehungen zu Fräulein Rohrbeck? Nach den bei den Akten befindlichen Attesten des Dr. Kreisel in Breslau war Dorothea Rohrbeck leidend und sollte gute Verpflegung und Aufenthalt auf dem Lande haben. Trotzdem wollte der Vormund, daß sie in ein Pensionat nach der Stadt gehen sollte, was ihr gewiß gesundheitlich nicht zuträglich gewesen wäre. - Zeuge: Ich hatte auch dagegen Bedenken, deshalb war ich gegen diesen Plan.

 

Im weiteren Verlauf der Vernehmung spricht der Zeuge die Vermutung aus, Frl. Rohrbeck könnte Selbstmord begangen haben, weil einige alte Kastanienbäume im Park gefällt werden sollten.

 

Es ereignet sich dann der im Morgenblatt bereits erwähnte Zwischenfall, worauf die Verhandlung auf Freitag verlegt wird.

 

*

In der Freitagstunde wird die   S t ü t z e   F r l .   M o h r   vernommen. Mit Rücksicht auf ihr Verhältnis zu dem Angeklagten wird sie dringend ermahnt, die reine Wahrheit zu sagen. Sie bekundet: Im Dezember 1920, also nach dem Verschwinden der Frau Grupen, bin ich in Grupens Haus als Stütze gegangen, und zwar auf Wunsch meiner Mutter, während mein Vater dagegen gewesen ist. Die Ursel ist ein liebenswürdiges Kind gewesen. In der Hand des Kindes habe ich   n i e   e i n e   S c h u ß w a f f e   gesehen, auch nie ein ähnliches Spielzeug. Auf der Reise nach Kleppelsdorf habe ich keinerlei Wahrnehmungen gemacht, daß Ursel   e i n e n   R e v o l v e r   o d e r   e i n   P a t r o n e n k ä s t c h e n   u n t e r   d e n   K l e i d e r n   trage. Auch beim Spielen und Schaukeln der Kinder im Park habe ich nie wahrgenommen, daß Ursula einen harten Gegenstand bei sich trage. Wenige Tage nach der Ankunft in Kleppelsdorf schrieb Ursel an eine Frau Bartel einen Brief. Da er nicht richtig war, habe ihn Ursel zerrissen und noch zweimal geschrieben und sich dann gefreut, als er ihr gelungen war. Am 9. oder 10. Februar hat mir Ursel einen   B r i e f   a n   G r o ß m u t t e r   gegeben und gesagt, daß wird eine   g r o ß e   Ü b e r r a s c h u n g   für Großmutti sein. Ursula forderte aber den Brief zurück und die Großmutter solle ihn erst übermorgen erhalten. Am nächsten Tage wollte Ursula, daß ich den Brief noch nicht abgebe, weshalb ich ihr wieder zurückgab. - Staatsanw.: Was hatten Sie für einen Eindruck, als die Ursel sagte: das soll eine Überraschung für Großmutti sein? - Zeugin: Ursula war   s e h r   v e r g n ü g t   dabei. - Vors.: Hat damals der Angeklagte von dem Briefe etwas gehört? - Zeugin: Nein. - Die Zeugin bestreitet, die Rollstube jemals be…eitet, die Rollstube jemals verschlossen zu haben. - Vors. (mit erhobener Stimme):   I s t   d e r   A n g e k l a g t e   d e r    k l e i n e n   I r m a ,   als sie den Apfel nach dem Abort trug,   n a c h g e g a n g e n ?   - Zeugin: N e i n .   - Vors.: Ist Grupen aber nicht aufgestanden und hat er der Irma nicht die Tür zum Schrankzimmer aufgemacht? - Zeugin: Nein. - Vors.: Der Angeklagte hat es gestern selbst gesagt. Ist Grupen im Zimmer hin und her gegangen? - Zeugin: Nein. Wir haben Mühle gespielt. - Verteidiger Dr. Mamroth: Sie haben schon in der Voruntersuchung erklärt, Sie seien bereit, jederzeit zu beschwören, daß Grupen das Zimmer nicht verlassen habe. Ein Beisitzer macht die Zeugin darauf aufmerksam, daß sie in ihrem heutigen Verhör verschiedene Fragen nicht mit derselben Genauigkeit beantwortet hat, wie die, ob Grupen das Zimmer verlassen habe. - Die Zeugin erwidert, sie habe andere Sachen vergessen, weil sie unwichtig seien. - Vors.: Hat der Angeklagte später nicht gesagt: es ist gut, daß wir alle gesagt haben, daß ich in meinem Zimmer war? - Zeugin: Ich kann mich darauf nicht erinnern. - Verteidiger Dr. Ablaß weist darauf hin, daß die Zeugin schon in früheren Vernehmungen erklärt habe: „Ich weiß, daß Grupen nicht hinausgegangen ist, weil wir Mühle gespielt haben.“ Sachverständiger Dr. Moll (zur Zeugin): Haben Sie die Unterhaltung gehört, die der Angeklagte mit Frl. Zahn im Nebenzimmer geführt hat? Der Angeklagte soll Frl. Zahn dabei gefragt haben, was Küsschen auf plattdeutsch heißt. Die Zeugin kann sich nicht hierauf erinnern.

 

Frl. Mohr bekundet weiter, daß sie sich gegen Abend im … Amtszimmer mit Frau Eckert, der kleinen Irma und Grupen eingeschlossen habe. - Vors.: Warum ist zugeschlossen worden? - Zeugin: das weiß ich nicht. - Vors.: Hat der Angeklagte nicht gesagt: Es ist doch gut, daß wir zusammen waren, da wird meine Unschuld bald an den Tag kommen. - Zeugin: Kann sein, daß er es gesagt hat. - Auf wiederholtes Befragen erklärt die Zeugin: Ich weiß es nicht. - Vors.: Was hat Grupen zu Ihnen gesagt, als er abgeführt wurde? - Zeugin: Ich sollte die Wahrheit sagen, dann wird sich seine Unschuld bald herausstellen. - Vors.: Hat er nicht gesagt, daß er, wenn Sie bekunden, daß er oben war, bald wieder frei sein werde? - Zeugin: Das weiß ich nicht.

 

Auf Befragen des Schießsachverständigen gibt die Zeugin an, daß der Angeklagte in Ottenbüttel   S c h i e ß ü b u n g e n   mit einem   R e v o l v e r   angestellt hat. - Vors.: Also überlegen Sie es sich genau. Ein anderer Zeuge bekundet diese Äußerung. - Zeugin: Ich weiß es nicht. - Vors.: Was sagte Grupen zu Ihnen, als er am nächsten Tage nach einer nochmaligen Vernehmung im Schloß nach Hirschberg abgeführt wurde? - Zeugin: Das weiß ich nicht. - Auf wiederholtes Befragen erklärte die Zeugin, daß der Angeklagte gesagt habe, ich solle die Wahrheit sagen, daß wir oben im Zimmer zusammen waren. - Vors.: Als der Landjägermeister Klopsch dem Angeklagten das weitere Sprechen verbot, hat der Angeklagte nicht   p l a t t d e u t s c h   gesprochen. Und was? - Zeugin: Ich weiß es nicht. - Auf wiederholtes Befragen des Vorsitzenden sagt die Zeugin schließlich: Der Angeklagte wird seine Ermahnung, die Wahrheit zu sprechen, wiederholt haben. - Vors.: Da brauchte doch der Angeklagte nicht plattdeutsch zu sprechen. Hat er wirklich das gesagt? - Zeugin: Das kann sein.

 

Die Zeugin muß dann die Worte: Sag die Wahrheit, dann komme ich bald heraus! in plattdeutsch sprechen. Sie spricht dies aber so aus, daß alle Anwesenden die Worte verstehen, während der Landjägermeister Klopsch die Worte des Angeklagten damals nicht verstanden hat. - Der Angeklagte spricht die Worte plattdeutsch aus, die er damals gesprochen haben will: „Seg de Wohrheet un gif an tau, dat wi tausamen verköhrt hebben.“ Diese Worte kann, besonders bei dem Tonfall des Dialektes niemand im Gerichtssaal verstehen. - Sachverständiger Dr. Peters: Ich verstehe auch plattdeutsch. Diese Worte lauten: Sag die Wahrheit, und gib nur zu, daß wir zusammen verkehrt haben. - Zeugin: Ja, das hat er gesagt. - Vors.: Es ist doch werkwürdig, vorhin habe ich Sie so eingehend gefragt, was der Angeklagte gesagt hat, und Sie haben immer und immer wieder versichert, daß Sie es nicht mehr wüßten, und jetzt wissen Sie es auf einmal.

 

Der Angeklagte beantragt selbst kurz vor 1 Uhr den   A u s s c h l u ß   d e r   Ö f f e n t l i c h k e i t ,   der auch erfolgt.

 

 


Montag, 12. Dezember 1921 „Schlesische Zeitung“ Abendblatt

Der Doppelmord in Kleppelsdorf.

Hirschberg, 10. Dezember

In der Freitag-Nachmittagsitzung gab weiterhin Rechtsanwalt Dr.   P f e i f f e r   Auskunft über den Prozeß, den Frl. Zahn gegen den Vormund Vielhack führte und gewann. In diesem Prozeß war Zeuge als Gegenzeuge gegen die Damen Zahn und Dorothea Rohrbeck ins Feld geführt worden. Die Damen wollten, nachdem sie Grupen als falsch erkannt, nichts mehr mit ihm zu tun haben. Grupen schrieb nun, die Damen sollten nach Hamburg kommen, er werde ihnen das Reisegeld schicken, und dann werde er alles klarstellen. Der Zeuge hatte den Eindruck, als wenn Grupen in der ganzen Sache nicht ehrlich gehandelt hätte. Die Damen wollten nicht reisen, wollten auch Grupen nicht empfangen, sondern wollten, daß dieser nach Hirschberg zu Dr. Pfeiffer komme, und das geschah auch am 9. Februar, wo Grupen dann die   e i d e s s t a t t l i c h e   V e r s i c h e r u n g   abgab, daß er zu Vielhack keine Äußerung getan habe, die diesen berechtigte, ihn als Gegenzeugen gegen Frl. Zahn zu nennen.

 

Hauptmann   T s c h u n k e   vom Reichswehrministerium in Berlin hat bei seiner Schwester gehört, wie die anwesende Dorothea Rohrbeck ihre

Furcht vor dem Angeklagten

äußerte, und zwar nach der Fahrt von Kleppelsdorf nach Berlin. Dorothea erzählte auch, daß Grupen der Großmutter eine Flasche mit Kognak gegeben habe, die verdächtig war. Der Verteidiger Dr. Mamroth bittet um die Feststellung, daß es sich um ein ganz harmloses Getränk handelte. Vors.: Nach der Untersuchung handelt es sich um ein Getränk, das etwas Bittermandelöl enthält, aber zur Vergiftung keineswegs geeignet ist. Staatsanwalt: Die Angeklagebehörde ist nie der Ansicht gewesen, daß es sich hier um einen Selbstmordversuch handelt, sie erwähnt die Sache nur, um zu zeigen, welche Furcht die Damen in Kleppelsdorf vor dem Angeklagten hatten, daß sie ihm einen Giftmordversuch zutrauten. Rittergutsbesitzer   P i n g e l ,   der jetzige Besitzer von Kleppelsdorf, ein Anverwandter der ermordeten Schloßherrin, bekundet, daß ihm der Angeklagte erzählt habe, er werde sich von seiner Frau scheiden lassen, um Fräulein Zahn zu heiraten. Fräulein Rohrbeck habe ihm erzählt, daß ihr Grupen sehr unsympathisch sei. Bald nach der Tat hat der Zeuge den Garten und Park des Schlosses von Kleppelsdorf untersucht, aber keine Spuren gefunden, die darauf hindeuten, daß von außen jemand in das Schloß eingedrungen sei. Gemeindevorsteher   D ö r i n g -   Kuttenberg kann nur aussagen, daß Dorothea vor dem Besuch Grupens große Angst gehabt hat. Bei Frau   R o h d e -   Erdmannsdorf hat sich Frau Eckert beklagt, daß ihr Dorothea durch Frl. Zahn entfremdet werde. Werkführer   B r ü c k n e r -   Lähn kann bekunden, daß Dorothea die Großmutter nicht leiden konnte.

 

Die Lyzeallehrerin Fräulein   K i e f e r t   aus Itzehoe, in deren Klasse die   U r s u l a   S c h a d e   von Michaelis 1920 bis Februar 1921 gegangen ist, sagt aus: In einer Stunde, aber nicht bei ihr, ist von der Hypnose gesprochen worden. Dabei sagte Ursula Schade:   i h r e   M u t t e r   k e n n e   e i n e n   M a n n ,   w e n n   d e r   j e m a n d   f e s t    a n s e h e ,   s o    m ü ß t e   d i e s e r   m a c h e n ,   w a s   d e r   M a n n   w o l l e . Wenn er aber die Augen wegwende, dann sei es vorbei. Ursula war ein körperlich zartes Wesen, sehr gut, aber auch sehr empfindlich. Sie war immer fröhlich und beteiligte sich auch an den Spielen der anderen Kinder. Ich halte es für

unmöglich, daß dieses Kind jemand niedergeschossen hat

oder daß sie die Handhabung eines Revolvers auch nur kannte.

 

In der Sonnabend-Sitzung wurde

Frau Eckert als Zeugin

vernommen. Frau Eckert erklärt, Ihr Verhältnis zu dem verstorbenen Herrn Rohrbeck sei ein gutes gewesen, aber die Liebe der Dörte habe sie nicht gewonnen. Die Dörte habe mehr zu den Verwandten des Fräulein Zahn gehalten, als zu ihren eigenen Verwandten. Zwischen Frau Gertrud Schade, der Tochter der Zeugin aus zweiter Ehe, und Herrn Rohrbeck habe ein gutes Verhältnis bestanden. Als Frau Schade Witwe geworden war, habe Herr Rohrbeck sich mit ihr verlobt und eine Reise mir ihr nach Berlin unternommen, bald darauf aber das Verlobungsverhältnis gelöst. Die Bekanntschaft mit Grupen ist, wie mir meine Tochter erklärte, durch eine Heiratsanzeige zustande gekommen. - Vors.: Was halten Sie von Grupen? - Zeugin: Er hatte einen sehr netten Eindruck gemacht und wir haben es ihm hoch angerechnet, daß er meine Tochter mit ihren drei Kindern heiraten wollte. Die Hochzeit fand im September 1919 in Itzehoe statt. Ich wohnte in demselben Hause. Grupen war furchtbar wenig zu Hause; er befand sich viel auf Reisen. Das Verhältnis zwischen ihm und meiner Tochter war in der ersten Zeit gut. Später verschlechterte es sich, es gab allerlei Differenzen. Einmal rief mich sogar meine Tochter in der Nacht zu Hilfe; ich weiß aber nicht mehr, was vorgefallen war. Grupen wollte immer allein reisen. Zu den Kindern war er stets gut. - Vors.: War Ihre Tochter Gertrud krebsleidend? - Zeugin: Nein. - Vors.: Der Angeklagte behauptet, er hätte Ihre Tochter nicht geheiratet, wenn er etwas von dem Leiden gewußt hätte. - Zeugin: Ich habe von dem Leiden keine Ahnung. - Vors.: Was ereignete sich in den Tagen des 17., 18. und 19. September. Wir kommen jetzt zu dem

Verschwinden Ihrer Tochter.

Frau Eckert: Am 17. sollte ich eine Hypothek von 37.000 Mk. an Grupen übertragen. - Vors.: Warum denn? - Zeugin: Das ist es eben, warum war ich denn so dumm? - Vors.: Sie hatten dem Angeklagten doch auch schon Generalvollmacht gegeben, ebenso wie Ihre Tochter. - Zeugin: Ja. Weil ich mit den Steuerpflichten usw. nicht Bescheid wußte. - Vors.: Was ereignete sich nun am 19. September? - Zeugin: Meine Tochter schrieb an diesem Tage und sagte am Nachmittag, sie fährt nach Kleppelsdorf. - Vors.: Hat Ihre Tochter einmal davon gesprochen, daß sie eine größere Reise unternehmen wollte? - Zeugin: Ja, sie sagte öfter, Deutschland gefällt mir nicht mehr, ich gehe nach Amerika, dann hole ich Euch nach. Die Zeugin hat das für Scherz gehalten. Die Reise nach Kleppelsdorf war ihr ganz unklar. Frau Grupen verabschiedete sich sehr flüchtig, so, als wenn sie nur wenige Tage weg wollte. Als der Angeklagte am Abend zurückkam, hat sie Grupen nicht mehr gesprochen, erst am nächsten Tage. Im Schlafzimmer stand ein Koffer mit Wäsche, der bahnlagernd nach Hamburg geschickt werden sollte. Zwei Tage darauf fuhr Grupen nach Kleppelsdorf, um, wie er angab, Dörte zu holen. Der Zeugin hat der Angeklagte nichts davon gesagt, daß seine Frau Abschiedsbriefe geschrieben, in denen sie sagt, daß sie nach Amerika geht.

 

Vors.: Angeklagter, konnten Sie denn Ihre Schwiegermutter nicht besser trösten, als Frl. Rohrbeck? - Angekl.: Ich wollte erst Nachforschungen einstellen, ehe ich der Frau Eckert etwas von dem Verschwinden ihrer Tochter sagte, während dieser Zeit sollte Dörte die Großmutter trösten.

 

Frau Eckert bekundet weiter: Grupen sagte mir, ein in seinem Auftrage tätiger Detektiv in Hamburg habe erforscht, daß Frau Grupen mit einem reichen Manne durchgegangen sei und es ihr gut ginge. Außerdem erzählte er mir soviel Schlechtigkeiten von meiner Tochter, daß ich selbst nicht mehr nachforschen wollte. Einmal schrieb sie an Schade, wo ihre Tochter wohl sein könnte. Die Absendung dieses Briefes verbot ihr der Angeklagte mit der Äußerung: „Wenn Du diesen Brief abschickst, sind wir beide fertig!“ Angekl. (auf die Frage eines Geschworenen): „Ich habe keinen Detektiv beauftragt, sondern das der Frau Eckert nur erzählt, weil ich die Schwiegermutter beruhigen wollte.“ Über

die Vorgänge am Mordtage

bekundet Frau Eckert: Am 14. Februar saß ich häkelnd in dem sogenannten Winterwohnzimmer. Grupen spielte mit der Mohr Mühle. Ursula saß auf dem Sopha und las. Dann ging Ursula aus dem Zimmer. Hernach spielte Frl. Mohr mit der Irma, während Grupen im Zimmer auf und ab ging und auch mit dem im Nebenzimmer befindlichen Fräulein Zahn sprach. Irma stand dann auf, um einen Apfelrest fortzuwerfen, und auch Grupen war aufgestanden. Dann habe ich   e i n i g e   Z e i t   d e n   A n g e k l a g t e n   n i c h t   i m   Z i m m e r   g e s e h e n ,   vielleicht bin ich auch etwas eingeschlafen. Die Zeit, in der ich den Angeklagten nicht beobachtet habe, war nach meiner Ansicht genügend, die Tat unten zu verüben. Der   U r s u l a   traue ich sie auf   k e i n e n   F a l l   zu, das war bei dem körperlich sehr schwachen Mädchen überhaupt unmöglich.

 

Auf Antrag des Verteidigers Dr. Ablaß wird ein von der Zeugin an Wilhelm Grupen gerichteter Brief vom 15. Februar verlesen, in dem es u. a. heißt: „Ein furchtbares Unglück kam über uns. Ursel hat aus Peters Schreibtisch den Revolver mitgenommen und gestern nachmittag die Dörte und sich selbst erschossen. Ist das nicht entsetzlich? Damit nicht genug, hat man Peter verhaftet, da man der Ursel das nicht zutraut. In der Zeit des Unglücks waren wir mit Irma oben im Wohnzimmer, was wir beide beschwören können. Also muß sich ja seine Unschuld herausstellen.“

 

Die Zeugin verneint die Frage des Dr. Ablaß, ob sie sich in den kritischen Momenten in einem   h y p n o t i s i e r t e n   Zustande befunden hätte und fügte hinzu, sie sei überhaupt nicht zu hypnotisieren.

 

 

 

Dienstag, 13. Dezember „Schlesische Zeitung“ Abendblatt

Der Doppelmord in Kleppelsdorf.

Hirschberg, 12. Dezember

Die Montagssitzung eröffnet der Vorsitzende mit einigen geschäftlichen Mitteilungen, worauf die Zeugenvernehmung wieder aufgenommen wird.

 

Frau Oberst   S e m e r a k   gibt Auskunft über eine Unterredung, die sie im Januar d. J. mit Dorothea Rohrbeck gehabt hatte. Fräulein Rohrbeck hat ihr erzählt, daß sie den Inhalt einer Kognakflasche untersuchen lassen wollte. Als die Zeugin nach dem Grunde fragte, antwortete Dörte: „Ich fürchte, daß Grupen mir nach dem Leben trachtet.“ Nach der Ursache zu dieser Befürchtung befragt, erzählte Dörte die Alsterpartie. Grupen habe damals durchaus keinen Spaß gemacht, als er sein Ruder fortwarf.

 

Rittergutsbesitzer   L u x :   Es fiel mir auf, daß Frau Eckert, als wir nach dem Morde im Winterzimmer saßen, wo am 14. Februar Mühle gespielt wurde, am Ofen saß, einnickte und wieder aufwachte. Ich kam auf die Idee, festzustellen, ob es der Frau Eckert auffalle, wenn jemand die Tür öffne und das Zimmer verlasse. Ich ging durch das Billardzimmer hinab bis zum Fremdenzimmer. Nach etwa 50 Sekunden kam ich zurück und hatte nicht den Eindruck, daß Frau Eckert meine Abwesenheit bemerkt hatte.

 

Frau Hotelbesitzer   M e i s t e r e r n s t   aus Altona: Im September 1920 wünschte Frau Grupen bei ihr ein Zimmer. Da das Hotel aber besetzt war, ging Frau Grupen weg und ließ eine Pelzjacke zurück; die Pelzjacke ist nach einigen Wochen von Grupen abgeholt worden. Grupen selbst bestellte auch im September, nachdem seine Frau dagewesen war, ein Zimmer mit zwei Betten. Beim Oberkellner meldete er sich als „Architekt Peter Grupen mit Nichte“ an. Zeugin beauftragte den Oberkellner, dem Grupen, wenn er komme, zu sagen, daß die Nichte ein besonderes Zimmer haben müsse, weil es sich um ein noch nicht 16jähriges Mädchen handelte.

 

Sowohl die Irma wie Frau Eckert haben im Zustande suggestiver Beeinflussung   n i c h t   b e m e r k t ,   d a ß   d e r   d e n   V e r s u c h e n   b e i w o h n e n d e   O b e r s t a a t s a n w a l t   d a s   Z i m m e r   v e r l i e ß .   Die Stütze Mohr ist zwar, wie die übrigen Beteiligten, mit den Experimenten des Zeugen wohl einverstanden gewesen, hat aber den … chen Widerstand entgegengesetzt; sie war nicht dazu bereit, die Brillantnadel auf der Krawatte des Zeugen fest anzusehen, sie sah vielmehr immer vorbei. Es mußte daher bei ihr von den Beeinflussungsversuchen Abstand genommen werden. Zum Schluß schildert der Zeuge ein an Dorothea Rohrbeck bei einer gesellschaftlichen Veranstaltung vorgenommenes Experiment auf dem Gebiete der Wachsuggestion.

 

Gutsverwalter   S c h ö p k e   aus Buckow bei Berlin hatte mit Grupen eine Unterredung, als er mit Dörte der Großmutter Eckert einen Besuch abstattete. Grupen rühmte sich, ein guter Schütze zu sein, der wiederholt Schießpreise bekommen habe. Als ihn der Zeuge darauf hinwies, daß er nur einen Arm habe, bemerkte Grupen:

„Desto besser kann ich schießen.“

 

Dörte habe sich auf den Besuch der Großmutter gefreut, es sei ihr aber unangenehm gewesen, daß Grupen mitgekommen war. Ich weiß auch, daß Frl. Zahn gesagt hat: „Es ist furchtbar, daß der Mann (Grupen) in unserem Hause ist!“

 

Eine Schülerin, die auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft mehrere Tage Ursulas Unterbindetasche mit dem Revolver und den Patronen getragen hat, sagt aus, daß sie dabei beim Gehen und bei häuslichen Verrichtungen sehr behindert worden sei.

 

Gaswerksdirektor   W r o b e l   hat im Auftrage des Staatsanwalts festzustellen versucht, ob die Stütze Mohr, Frau Eckert und die kleine Irma leicht oder schwer zu beeinflussen sind, ob sie unter dem Einfluß des Angeklagten stehen und wie ihre Aussagen bezüglich des Verlassens des Zimmers durch Grupen zu bewerten sind. Die Versuche wurden im Winterwohnzimmer an dem besagten Tische, an dem Mühle gespielt worden war, vorgenommen.

 

Nach einer kurzen Pause wird Landgerichtsrat   P i e t s c h   vernommen, der eine kurze Zeit die Vernehmungen vorgenommen hat. Der Zeuge bekundet, daß Grupen gesagt habe, er hätte bei dem Finden der Leichen die Schusswaffe aufgehoben, gesichert und auf den Tisch gelegt. - Der Angeklagte bemerkt hierzu, daß er sich zunächst infolge der Aufregung nicht mehr genau auf das Auffinden der Waffe erinnern konnte. Erst später, nach gründlicher …ung und wiederholtes Befragen habe er erklärt, wenn er den Revolver aufgehoben habe, dann habe er auch möglicherweise den Sicherungsflügel umgelegt. Eine bestimmte Erklärung hierüber habe er aber nicht abgegeben und auch nicht abgeben können. An den Zeugen richtet der Vorsitzende die Frage, ob er bei der Vernehmung des Angeklagten den Eindruck hatte, daß dieser die Absicht hegte, den Gang der Untersuchung zu erschweren, oder ob er bestrebt war, die Sache aufzuklären. Der Zeuge erklärt hierzu, daß der Angeklagte damals auf die Frage, wo seine Frau sei, keine Antwort gegeben und den Zeugen vielmehr dabei sehr scharf angesehen und erklärt habe: Ich kann darüber nur in der Hauptverhandlung Auskunft geben. Ich fürchte, mit meiner Aussage meiner Frau und anderen Personen Ungelegenheiten zu bereiten. Ich hatte den Eindruck, daß der Angeklagte etwas verheimlichen wollte. Es schien, als ob sich

der Angeklagte auf mich stürzen

wollte. Ferner hat der Angeklagte bestritten, mit den beiden Dienstmädchen intim verkehrt zu haben. - Der Angeklagte bestreitet, die Absicht gehabt zu haben, sich auf den Zeugen zu stürzen.

 

Der nächste Zeuge ist der Geheimrat   D u b i e l ,   der die Untersuchung in der Hauptsache geführt hatte. Auch er ist auf Grund des vorliegenden Materials zu der Überzeugung von der Schuld des Angeklagten sowohl hinsichtlich des   M o r d e s   als auch des   S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e n s   gekommen. Der Angeklagte war bei seinen Vernehmungen sehr gesprächig, aber sehr vorsichtig und er hütete sich, sich festzulegen. Der Zeuge bekundet dann, daß er nach der Tat eine Zusammenkunft der Stütze Mohr und dem Bruder des Angeklagten, Wilhelm Grupen, verhindern wollte, beide hätten sich aber trotzdem getroffen. Ob und was sie dabei für ihre Aussagen vereinbart habe, kann der Zeuge nicht … eben. Weiter sagte der Zeuge Dubiel aus: Auf Veranlassung des Angeklagten habe ich die Stütze Mohr darüber vernommen, was sie von Ursulas Brief an Großmutti wisse. Mir war es aufgefallen, daß die Mohr bei ihrer ersten Vernehmung nichts gesagt hatte von dem Briefe, der bei Ursula, als sie im Sterben lag, gefunden worden ist. Auf meine Frage, was sie von dem Briefe wisse, antwortete die Mohr ganz gleichgültig: „Ach so, der Brief.“

 

Verteidiger Dr. Mamroth: Meinen Sie, daß die Mohr, die geneigt sein soll, für den Angeklagten Günstiges zu sagen, den Brief absichtlich verschwiegen hat? - Zeuge: Das weiß ich nicht, ich wunderte mich aber darüber, daß die Mohr einen so wichtigen Umstand nicht von selbst erwähnt hat. - Angeklagter (erregt): Obwohl mir der Staatsanwalt gesagt hat, er sei fest davon überzeugt, daß ich den Brief an Großmutti geschrieben habe, habe ich den Untersuchungsrichter auf den Brief aufmerksam gemacht und ihn ersucht, die Mohr darüber zu vernehmen. Der Herr Staatsanwalt bringt den Brief mit meiner Schuldfrage in Verbindung. Meine Schuldfrage steht nicht fest und (der Angeklagte schlägt heftig mit der Faust auf den Tisch)

ich behaupte: ich bin unschuldig.

 

Staatsanwalt: Ich bitte festzustellen, daß ein Widerspruch besteht zwischen den Erklärungen, die der Angeklagte am Sonnabend bezüglich der Briefe an Frau Barthel tat, und seinen Aussagen über diesen Punkt bei der Vernehmung durch den Untersuchungsrichter. Am Sonnabend sagte der Angeklagte, er habe die Ursula nicht veranlaßt, an Frau Barthel zu schreiben. In der Voruntersuchung behauptete er das Gegenteil. - Der Vorsitzende stellt aus den Untersuchungsakten fest, daß der Angeklagte tatsächlich erklärt hat, er habe Ursula beauftragt, den Brief an Frau Barthel zu schreiben.

 

Der Angeklagte bemerkt hierauf, er gebe zu, die Ursula zu dem Briefe an Frau Barthel   v e r a n l a ß t ,   aber   n i c h t   b e a u f t r a g t   zu haben.

 

Ein Geschworener: Ist festgestellt, daß die Haustüren dauernd verschlossen waren, besonders am Mordtage? - Frl. Zahn: Wir hielten beide Haustüren unter Verschluß. Die Tür in das sogenannte Eßzimmer war offen, die Verandatür war verschlossen. - Angeklagter: War die Tür nach dem kleinen (Hof?) verschlossen? - Frl. Hirsch: Die Eingangstür vom kleinen (Hof?) zum Küchenflur war stets verschlossen, ebenso die Tür vom Küchenflur zur Rollstube.

 

Aus Antrag des Staatsanwalts wird nunmehr die   Ö f f e n t l i c h k e i t  a u s g e s c h l o s s e n.   Im Einverständnis mit den Prozessbeteiligten bleiben die Pressevertreter im Gerichtssaal.

 

Die Beweisaufnahme wendet sich hierauf dem angeblichen   S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e n   an Grupens Stieftochter Ursula zu. Hierüber wird zunächst Frau   E c k e r t   vernommen. Die Ursula klagte eines Tages über Schmerzen, der Angeklagte erzählte ihr davon und fuhr mit dem Kinde zu einem Arzt. Grupen gab ihr als Ursache des Leidens eine harmlose Angelegenheit an. Ein Gehilfe des Angeklagten behandelte dann das Kind unter Grupens Leitung. Frau Eckert hat das damals als lobenswert empfunden, zumal niemand anders da war.

 

Es erscheint dann ein damals 16 Jahre altes   D i e n s t m ä d c h e n   des Angeklagten. Ihr hat Grupen die Ehe versprochen, schon wie seine Frau noch bei ihm war. Die Zeugin hatte den Angeklagten gern und trat in engere Beziehung zu ihm. Von einem Vergehen Grupens an seiner Stieftochter oder einer anormalen Handlung der Mutter der Ursula gegenüber weiß die Zeugin nichts.

 

 

 

Mittwoch, 14. Dezember „Schlesische Zeitung“ Abendblatt

Der Doppelmord in Kleppelsdorf.

Hirschberg, 13. Dezember

In der nichtöffentlichen Sitzung wurden am Montag abend noch einige Mädchen vernommen, die sich durch Eheversprechungen des Angeklagten verleiten ließen, mit ihm in nähere Beziehungen zu treten. Eins dieser Mädchen war in ähnlicher Art wie der Angeklagte und die kleine Ursula erkrankt.

 

Am Dienstag wurde zunächst in nichtöffentlicher Sitzung weiter verhandelt. Eine intime Freundin der verschwundenen Frau Grupen bekundet, daß der Angeklagte einmal zu seiner Frau gesagt habe: Durch Scheidung gehen wir nicht auseinander,

nur die Waffe kann uns trennen!

 

Der Angeklagte habe damit einen Selbstmord durch Erschießen gemeint; die Zeugin sei aber fest überzeugt, daß er Komödie spielte. Das Verhältnis zwischen den Eheleuten sei überhaupt nicht gut gewesen, wie es nach außen schien, und wie es hätte sein sollen. Hinter verschlossenen Thüren wird auch dann Wilhelm Grupen, der Bruder des Angeklagten, vernommen, der einen anormalen Vorgang zwischen der   F r a u   des Angeklagten und der     U r s u l a   beobachtet haben will.

 

Die   m e d i z i n i s c h e n   S a c h v e r s t ä n d i g e n   sprachen sich in dem Gutachten sehr zurückhaltend über die Wahrscheinlichkeit des dem Angeklagten zur Last gelegten Sittlichkeitsverbrechens aus. Die Möglichkeit eines intimen Verkehrs mit dem Angeklagten wurde zugegeben.

 

Im weiteren Verlauf der Sitzung gab der Vorsitzende Aufklärung über den Ursprung der seit Sonnabend in der Stadt um laufenden Gerüchte, daß die verschwundene Frau Grupen sich in der Westschweiz aufhalte. Nach der Mitteilung des Vorsitzenden befand sich unter den vielen Zuschriften, die bei ihm täglich eingehen, auch ein Schreiben der Breslauer Staatsanwaltschaft, wonach sich bei ihr ein Herr   E i c h l e r   gemeldet habe, der Auskunft über den Aufenthalt der vermißten Frau Grupen geben könne. Frau Grupen soll sich in Turni (Westschweiz) aufhalten. Auf Veranlassung der Hirschberger Staatsanwaltschaft ist Eichler in Breslau polizeilich vernommen worden, wobei sich herausstellte, daß das Gerücht über den Aufenthalt der Frau Grupen

das Ergebnis einer spiritistischen Sitzung

 sei. Der Gerichtshof hat unter diesen Umständen davon abgesehen, Herrn Eichler als Zeugen nach Hirschberg zu laden.

 

Nachmittags wird, nach Wiederherstellung der Öffentlichkeit, in der Zeugenvernehmung fortgefahren.

 

Apothekenbesitzer Otto   S c h a d e   (Berlin) sagt aus: Ostern 1920 stellte mir meine Schwiegermutter Gertrud den Angeklagten als ihren Ehemann vor. Grupen machte einen günstigen Eindruck auf mich und nannte mich „Vater“. Auch erklärte er mir, daß er eine bessere Frau als Trude nicht hätte finden können. Wenige Tage nach dem 19. September fragte der Angeklagte bei mir telegraphisch an, ob er mich im Wartesaal des Potsdamer Bahnhofes sprechen könne. Ich war einverstanden. Als Grupen kam, richtete er an mich die Frage: „Hast Du Nachricht von Trude?“ Auf meine verneinende Antwort sagte er: „Denke Dir, sie ist fort nach Amerika!“ Ich ersuchte ihn, weiter zu erzählen, sobald meine Frau gekommen sei. Da wehrte er ab, und als meine Frau früher als erwartet kam, war er sehr bestürzt. Grupen äußerte, er habe seiner Frau ein angenehmes Leben bereiten, ihr ein Reitpferd kaufen wollen und für den Haushalt 50.000 Mark hergegeben. ..000 Mark habe er auf der Bank, in kurzer Zeit würde er Millionär sein. Meine Schwiegertochter hat zu mir niemals davon gesprochen, daß sie nach Amerika gehen wolle. Zur Bühne hatte sie ein gewisses Talent, aber es praktisch zu betätigen, war nie ihre Absicht gewesen.

 

Vorsitzender: Hat der Angeklagte Nachforschungen nach seiner Frau angestellt? - Zeuge: Der Angeklagte sagte mir, er hätte einen Detektiv mit Ermittlungen beauftragt, über den Erfolg hat er mir nichts mitgeteilt. Die Abschiedsbriefe seiner Frau hat er mir gezeigt. Ich erklärte ihm sofort, daß

Trude unmöglich diese Briefe geschrieben

haben könne. Eine solche Gemütsroheit kann ich Trude nicht zutrauen. Das Verhältnis meiner Schwiegertochter mit dem Fabrikbesitzer Schulz ist uns bekannt geworden; wir haben ihr, als sie uns um Verzeihung bat, um des Familienfriedens willen, verzeihen. Das Verhältnis mit Schulz hatte sie erst nach dem Tode meines Sohnes.

 

Frau   M a r g a r e t e   S c h a d e ,   die Gattin des Vorzeugen, hat den Angeklagten bei seinem ersten Besuch als sehr zurückhaltend kennen gelernt. Vor der Zusammenkunft auf dem Potsdamer Bahnhof hatte Grupen telegraphisch bei uns angefragt, ob seine Frau bei uns wäre. Die Abschiedsbriefe, die er uns zeigte, kamen mir merkwürdig kühl vor. Wenn meine Schwiegertochter wirklich nach Amerika gegangen sein sollte, so kann sie es nur in geistiger Umnachtung getan haben, denn sie hing sehr an ihren Kindern. Über die Glaubwürdigkeit der kleinen Irma kann die Zeugin ebenso wie ihr Ehemann aus eigener Erfahrung nichts Nachteiliges sagen. Die Ruth   R e s k e   habe ihr gegenüber darüber gesagt, daß der Vater (Grupen) sie geschlagen habe, wenn sie mal was nicht nach seinem Willen ausgeführt hatte. Die Reise, die Ruth mit dem Vater nach Berlin gemacht habe, sei ihr (Ruth) schrecklich gewesen, weil der Vater sich mit viel Damen eingelassen habe.

 

Rechtsanwalt und Notar   R e i n e c k e -   Itzehoe: Ich habe die notariellen Akten über die Übertragung von Hypotheken der Frau Eckert und der Frau Grupen an den Angeklagten aufgenommen, desgleichen über die Gütertrennung. Die Akte erfolgten am 17. und 18. September. An dem Wesen der Frau Grupen ist mir nichts aufgefallen. Als mir mein Bürovorsteher das Kuvert mit den Abschiedsbriefen der Frau Grupen übergab, fiel mir auf, daß kein Abschiedsbrief an den Angeklagten dabei war. Als ich Grupen von dem Inhalt der Briefe Kenntnis gegeben hatte, machte er aus mich den Eindruck eines „geknickten Ehemannes“. Da ich es für unmöglich hielt, daß Frau Grupen mit 72.000 Mark, die sie nach Angabe des Angeklagten mitgenommen haben soll, bei dem schlechten Valutastande nach Amerika kommen kann, gab ich dem Angeklagten den Rat, sofort Nachforschungen anzustellen, damit die Frau nicht etwa im Sumpf untergehe. „Sie müssen“, sagte ich zu Grupen, „alle Hebel in Bewegung setzen, um auf die Spur Ihrer Frau zu kommen. Erkundigen Sie sich bei den Schiffsgesellschaften, fragen Sie auch bei dem Fabrikbesitzer Schulz an, ob er etwas von dem Aufenthalt Ihrer Frau wisse.“ Nach vierzehn Tagen beauftragte mich Grupen mit der Einleitung der Ehescheidungsklage. Als ich im Februar von dem Morde in Kleppelsdorf las, da machte ich mir meine eigenen Gedanken und

legte mein Mandat für Grupen nieder.

 

Ich habe dann als Abwesenheitspfleger der verschwundenen Frau Grupen u. a. das von dem Angeklagten verpfändete Silber ausgelöst. - Vorsitzender (zum Angeklagten): Haben Sie den Rat Ihres Rechtsanwalts, sich bei Herrn Schulz über den Aufenthalt Ihrer Frau zu erkundigen, befolgt? - Angeklagter: Jawohl, ich bin nach Berlin zu den Verwandten meiner Frau gefahren. - Frau Schade: Grupen hat mich nur gefragt, ob ich wüßte, ob Herr Schulz mit meinem verunglückten Sohne allein auf der Jagd gewesen sei.

 

Vorsitzender: Angeklagter, sind Sie bei den Dampfergesellschaften gewesen? - Angeklagter: Nein, weil ich erfahren hatte, daß meine Frau sich nach Lübeck abgemeldet hatte. - Zeuge Rechtsanwalt Reinecke: Ich habe trotzdem dem Angeklagten geraten, zu den Schiffsgesellschaften zu gehen. - Vorsitzender: Angeklagter, warum haben Sie das nicht getan, das war ja das Beste?   W o l l t e n   S i e   d e n n   v o n   I h r e r   F r a u   n i c h t s   m e h r         w i s s e n ?   - Angeklagter: Nein. - Vorsitzender: Also das war der Grund. Diese Erklärung steht aber im Widerspruch zu Ihren früheren Angaben. - Angeklagter (heftig): Wenn diese Frage wiederholt an mich gerichtet wird, so beantworte ich sie wiederholt: ich wollte von meiner Frau nichts mehr wissen. Wer meine Frau in der letzten Zeit gekannt hat, wird das verstehen.

 

 

 

Donnerstag, 15. Dezember „Schlesische Zeitung“ Abendblatt

Der Doppelmord in Kleppelsdorf.

Hirschberg, 14. Dezember

Bei der weiteren Vernehmung des Rechtsanwalts   R e i n e c k e -   Itzehoe stellt der Staatsanwalt noch folgende Frage: Ist Ihnen bekannt, daß der Angeklagte vom Gefängnis aus noch immer mit der Generalvollmacht über das Vermögen der Frau Eckert verfügt? Angekl.: Dann muß man x = 0 geben, sonst stimmt´s nicht. Staatsanwalt: Das Vermögen der Frau Eckert soll doch 109.000 Mark betragen haben. Wo ist das Geld? Vors.: Weg! (Heiterkeit) Angekl.: Frau Eckert hat nichts gehabt. Die 109.000 Mark in Wertpapieren gehörten meiner Frau und nicht Frau Eckert. Über dieses Geld hat meine Frau zum größten Teil verfügt oder es ausgegeben.

 

Der Vorsitzende teilt mit, daß ein bei ihm soeben eingegangenes Schreiben ihn veranlasse, an Frl.   Z a h n   einige Fragen zu richten. In dem Schreiben wird behauptet, daß einmal

durchs Fenster auf Dorothea Rohrbeck geschossen

worden sei.

 

Frl. Zahn: Im Oktober 1919 - der Angeklagte war damals in Kleppelsdorf - wurde abends im 9 ½ Uhr durch das offene Fenster des Herrenzimmers geschossen. Es war ein Schrotschuß. Wir haben es uns damals nicht erklären können und nahmen an, daß der Schuß mehr dem Herrn Bauer gelten sollte. Vors.: Ist es richtig, daß Frl. Dörte durch den Schuß verletzt worden ist? Zeugin: Dörte saß ja gar nicht in dem Zimmer, sie saß zwei Zimmer weiter und spielte Klavier. Vors.: In dem Schreiben wird unterstellt, daß der Angeklagte den Schuß abgegeben habe. Dörte soll dem Frl. Semerak erzählt haben, sie sei an der Nase verletzt worden. Staatsanwalt: Der Fall ist schon in der Voruntersuchung bekannt geworden.

 

Dienstmädchen   G n i w a k o w s k i   macht Bekundungen über das Auffinden des in der Toilette gefundenen Abschiedsbriefes der Frau Grupen an Frau Eckert. Auf dem zerknüllten Briefentwurf haben auch die Worte gestanden: „Liebe Dörte, sei stets gut zu Deiner Großmutter.“ Die Zeugin hat auch bei dem Öffnen der Geldkassette durch Grupen mitgeholfen. Als die Kassette aufsprang, sei Grupen blaß gewesen, aber erst am nächsten Tage habe er davon gesprochen, daß in der Kassette 60.000 Mark fehlten.

 

Dienstmädchen   K l ä s c h e n :   Bei der Abfahrt nach Itzehoe am 19. September, dem tage, an dem Frau Grupen verschwunden ist, sind die Eheleute fröhlich und vergnügt gewesen. Ich fuhr mit, um in Itzehoe ins Vereinshaus zu gehen. Dort sollte ich um 8 Uhr sein, und ich hätte noch Zeit gehabt, mit zum Bahnhof zu fahren. Frau Grupen hatte einen Zeltbahnmantel mit. Nachdem ich Grupen den in der Toilette gefundenen Zettel gegeben habe, fuhr er mit dem aus der Kassette genommenen Zettel zum Notar und bei seiner Rückkehr sagte er:

„Meine Frau ist weg, ich bin frei!“

 

Vors.: Hatten die Eheleute manchmal Streit gehabt? Zeugin: Ja, in der letzten Zeit. Einmal hat Grupen seine Frau „Frauenzimmer“ geschimpft. Vors.: Hat Frau Eckert nicht zu Frau Grupen gesagt: Mir ist so Angst, daß Du reisest! Zeugin: Ja, Frau Grupen sagte aber: Habe keine Bange, ich komme bald wieder. Du weißt ja, daß ich nicht lange ohne meinen Mann leben kann.

 

Zwischen den beiden Mädchen und dem Staatsanwalt entspinnt sich eine längere Aussprache darüber, ob sie nicht, wie sie früher bekundet haben, den Eindruck hatten, daß der Briefentwurf absichtlich auf die Toilette gelegt worden ist, damit er dort gefunden werden sollte, und ob die Mädchen nicht absichtlich zur Öffnung der Kassette hinzugezogen worden sind, damit sie als Zeugen über den Inhalt der Kassette dienen könnten. Die Mädchen vermögen über ihre Eindrücke keine klare Auskunft zu geben. Die Kläschen bekundet, daß sie den Zettel am Sonntag, den 19. September, vor der Abfahrt der Frau Grupen, gefunden hat, während sie früher erklärt hat, ihn erst am nächsten Tage, also am Montag, gefunden zu haben.

 

Dr.   B ü n z   aus Itzehoe: Zwischen Frau Grupen und ihren Kindern hat ein herzliches Verhältnis geherrscht. Frau Schade ist eine gebildete, liebenswürdige Frau gewesen, die ihren Hausstand sehr in Ordnung gehalten hat und selbst schwere Arbeit nicht scheute. Ich halte es für ganz ausgeschlossen, daß Frau Schade ihre Kinder länger als höchstens 14 Tage hätte verlassen können.

 

Vors.: Halten Sie es für möglich, daß Frau Schade das mit der Ursel gemacht hat, was hier behauptet worden ist. - Zeuge: Das möchte ich stark bezweifeln. Sie war eine lebhafte, aber edle Frau.

 

Die nächste Zeugin, Frau Luzie   H a f f n e r ,   macht Bekundungen über das Eheleben des Angeklagten. Vorsitzender: Hat Frau Grupen Ihnen erzählt, daß sie mit ihrem Manne eine nachträgliche Hochzeitsreise nach Amerika machen wolle, und zwar zu einem reichen Onkel des Angeklagten?

 

Zeugin: Ja. - Frl. Zahn: Der Angeklagte hat mir beim Besuch in Itzehoe erzählt, er habe in Amerika einen sehr reichen Onkel, der ihn besonders im Erbe bevorzugt hätte. Der Angeklagte sollte spätestens im Juni 1921 abreisen. Seine Frau wollte er mitnehmen, und er fragte mich und Frl. Dörte, ob wir ihn begleiten wollten. Daß er mit seiner Frau nach Amerika fahren wolle, hielt ich für Ernst, die Aufforderung an Dörte und mich, ihn zu begleiten, für Spaß.

 

Zeugin   H a f f n e r :   Grupen hat in Ottenbüttel viel auf Vögel geschossen. Die Ottenbüttler behaupten, Grupen habe

seine Frau in einen Keller eingemauert.

 

Zeuge   B o o s -   Tempelhof, Bruder der Frau Eckert, sagt aus, er habe geglaubt, daß zwischen den Grupenschen Eheleuten ein gutes Einvernehmen herrsche. Frau Grupen habe ihren Mann sehr geliebt, der Angeklagte war ruhiger. Der Bruder des Angeklagten habe in Ottenbüttel auf ihn, den Zeugen, einen unheimlichen Eindruck gemacht, so daß der Zeuge annahm, Wilhelm Grupen wisse von der Tat in Kleppelsdorf mehr als sein Bruder Peter.

 

Die Zeugin   G n i w a k o w s k i   wird auf ihren Wunsch nochmals vernommen, weil sie in ihrer gestrigen Aussage etwas vergessen habe. Das Verhältnis mit der Kläschen hatte der Angeklagte schon vor dem Verschwinden seiner Frau. Als Kläschen aber erfuhr, daß Grupen auch seinem Kindermädchen Charlotte   M ü l l e r   die Ehe versprochen habe, habe sie ihn zur Rede gestellt. Darauf sei es zu einer Auseinandersetzung zwischen Grupen und der Müller gekommen, wobei diese ihm um den Hals gefallen sei. Auch dies ist passiert, als Frau Grupen noch nicht weg war.

 

Vors. (zum Angekl.): Nun, was sagen Sie zu diesen Dingen? Von der Charlotte Müller haben wir bisher überhaupt noch nichts gehört.

 

Angekl.: Von diesen Vorgängen habe ich nichts bemerkt. (Heiterkeit bei den Zuhöhrern)

 

Der nächste Zeuge ist Herr   v .   T o b o l t ,   Direktor der landwirtschaftlichen Schule in Perleberg. Er gehörte mit zu einem Freundeskreis, zu dem auch der Apothekenbesitzer Schade und dessen Frau, die spätere Frau Grupen, gehörte. Als 1911 Herr Schade auf der Jagd tödlich verunglückt war, nahm sich der Fabrikbesitzer   S c h u l t z,   der auch mit zu diesem Freundeskreis gehörte, der Frau Schade an. Er führte ihr die Bücher und stand ihr bei, doch gewann er ihr Vertrauen offenbar mehr, als erlaubt war. Die andern Herrschaften brachen infolgedessen den Verkehr mit Frau Schade und Herrn Schultz ab, dem auch nahegelegt war, aus der Loge auszutreten. Bald darauf zog Frau Schade nach Berlin und Herr Schultz mit seiner Frau nach Frankfurt a. M. Ob Frau Schade mit Herrn Schultz eine Reise unternommen hat, weiß der Zeuge nicht. Nach seiner Kenntnis ist das Verhältnis zwischen Schade und Herrn Schultz erst nach dem Tode des Herrn Schade entstanden.

 

Frau Margarete   D i s s e l   aus Rostock bei Kellinghusen war eine gute Freundin der Frau Grupen, die sie als tüchtige Hausfrau und gute Mutter schilderte. Sie hatte die Empfindung, daß die beiden Eheleute nicht zueinander paßten. Die Zeugin hält es für unmöglich, daß Frau Grupen ihren Kindern etwas Unanständiges zugemutet hätte. Frau Grupen soll eine edle Frau gewesen sein.

 

Frau   W o l g a r i -   Hamburg, eine frühere Verlobte des Angeklagten: Grupen hatte ein unruhiges Leben. Heute wollte er dies, morgen das. Einmal wollte er ein Luftschaukelgeschäft errichten. Zu diesem Zweck hatte er sich mit der Uhr in der Hand vor eine Luftschaukel gestellt, um festzustellen, wieviel der Besitzer in zwei Minuten einnehme. Auch einen Mittagstisch wollte er anfangen. Er kaufte alte Räder durch Zeitungsinserate und verkaufte sie wieder. Von der Kleiderverwertungsstelle bezog er Kleider und veräußerte sie ebenfalls. Er sagte, er wolle den Doktor machen und eine Villa kaufen.

 

Vors.: Hatte er denn Mittel dazu? - Zeugin: Er sagte, er bekäme Erwerbslosenunterstützung und habe bei den Eltern ein Sparkassenbuch über 2.000 Mark. Auch ein Pferdegeschäft hat er einmal gemacht. Einen Revolver hatte er stets in der Schublade verwahrt.  Staatsanwalt: Wie kam denn der Angeklagte zu den Kleidern aus der Kleiderverwertungsstelle, das muß doch ein unlauteres Geschäft gewesen sein?

 

Zeugin: Unter falschen Angaben und mit Schokolade hat er in der Kleiderverwertungsstelle von der Verkäuferin bekommen, was man sonst nur gegen Bezugsschein erhält. Eines Tages überraschte er mich durch die Mitteilung, daß er sich mit Frau Schade verlobt hätte. Da habe ich ihm den Ring zurückgegeben, und da er ihn nicht annehmen wollte, den Ring in die Tasche von seines Vaters Mantel gesteckt.

 

Vors.: Hatte er nicht einen eigenen Mantel? - Zeugin: Nein, er kam im Mantel seines Vaters. Seinen eigenen Mantel hatte er im Pfandhaus versetzt. - Vors.: Also, als Sie noch seine Verlobte waren, teilte Ihnen Grupen mit, daß er sich mit Frau Schade verlobt habe? - Zeugin: Ja, er sagte mir, das Verhältnis mit Frau Schade sei nicht ohne Folgen geblieben. Er müsse die Damen heiraten. Und ich solle zurückstehen. Er wollte monatlich eine Entschädigung für die Anschaffungen zahlen, die ich in Erwartung der Heirat gemacht hatte, ich erhielt aber nur einmal 100 Mk. Nach einigen Monaten telephonierte er mich an, und sagte, ich solle noch zu ihm halten, denn seine Frau sei krank und

würde nicht lange leben.

 

Vors. (zum Angeklagten): Bestätigt es sich, daß Sie mit Frau Schade sich verlobten, während Sie mit der Zeugin noch verlobt waren? - Angekl.: Darüber will ich keine Angaben machen. - Vors.: Wollen Sie nicht der Wahrheit die Ehre geben und den Grund sagen, warum Sie sich mit Frau Schade verlobten? - Angekl.: Im Interesse der Zeugin und im Interesse meiner Frau gebe ich darüber keine Erklärung ab.

 

In der Nachmittagssitzung am Mittwoch wurde die Beweisaufnahme mit der Vernehmung des Kriminal-Oberwachtmeisters   J a r c h o w -   Hamburg fortgesetzt. Der Zeuge hat sich an den Nachforschungen nach Frau Grupen beteiligt und festgestellt, daß für Frau Grupen   P ä s s e   o d e r   s o n s t i g e   A u s w a n d e r e r p a p i e r e   n i r g e n d s   a u s g e f e r t i g t   worden sind. Die Auswanderung nach Nordamerika ist noch heute sehr schwierig, und auch Auswanderer nach Südamerika unterliegen einer sehr strengen Kontrolle. Der Zeuge hält es für ausgeschlossen, daß Frau Grupen auf normale Weise nach Amerika gekommen ist.

 

Den Verkauf der Ringe von Frau Grupen hat dem Zeugen der Angeklagte anfangs verschwiegen, dann aber zugegeben, daß er sie einem Goldarbeiter, von dem er 5.000 Mk. geliehen hatte, für 1.000 Mark Restschuld verkauft habe.   Z w e i   R i n g e   w a r e n   z e r b r o c h e n ,   so daß der Verdacht bestand, die Ringe wären   g e w a l t s a m   v o m   F i n g e r   g e z o g e n   worden. Nach dieser Richtung konnten Feststellungen nicht getroffen werden.

 

Kriminal-Oberwachtmeister   G i e s e -   Itzehoe: Frau Grupen hat sich laut Meldeamtsregister am 18. September 1920 nach Lübeck abgemeldet, es konnte aber nicht ermittelt werden, ob sie die Abmeldung selbst vollzogen hat. In Lübeck ist Frau Grupen nicht angemeldet worden. Die Möglichkeit, daß Frau Grupen mit einem gefälschten Paß nach Amerika gelangt ist, kann nicht von der Hand gewiesen werden, liegt aber nicht vor.

 

Verteidiger Dr. Ablaß: Ist irgend etwas hierüber festgestellt worden, ob sich der Angeklagte jemals mit Hypnose beschäftigt hat? - Zeuge: Darüber wurde nichts ermittelt, es hat niemand etwas davon bemerkt.

 

Frau   S u d e n -   Hamburg, eine 76jährige Frau: Grupen hat mit meinem Neffen in einem Hamburger Lazarett gelegen und hat um die Hand meiner Nichte Bertha angehalten, der Vater war aber nicht damit einverstanden. Nach vier Jahren, im November 1920, kam Grupen wieder zu uns. Wir hatten in der Zwischenzeit, und auch aus der Zeitung, gehört, daß Grupen mehrere Male verlobt war. Als er zu uns kam, sagte er zu mir: Meine Frau ist tot, die beiden Kinder gingen wieder zurück zur Familie und er sei jetzt ein freier Mann, hätte auch so viel verdient, daß er nicht mehr zu arbeiten brauche. Grupen fragte nach meiner Nichte Bertha und verlangte wiederholt, das Mädchen zu sprechen, was ich aber nicht zugab, er solle wiederkommen oder schreiben.

 

Frau Wilhelmine   K r u s e -   Haseldorf: Ich war mit Grupen verlobt und habe ihn mit Lebensmitteln unterstützt. Da Grupen mit einem anderen Mädchen ein Verhältnis anknüpfte, hob ich die Verlobung auf. Als ich mit meinem jetzigen Mann verlobt war, kam Grupen nach Haseldorf geradelt und traf mich auf der Straße. Er fragte mich, ob ich Verkehr habe. Ich sagte, daß ich mit Kruse, meinem jetzigen Mann, verkehre. Da erwiderte er: „Den bekommst Du nicht. Du machst mich unglücklich, ohne Dich kann ich nicht leben,“ und

setzte mir einen Revolver auf die Brust.

Ich dachte, er wolle mich erschießen, fiel ihm um den Hals und sagte aus Angst, daß ich wieder mit ihm verkehren wolle. Grupen verlangte, daß wir alle Wochen zusammenkämen, er werde für mich sorgen. Ich verkehrte aber nicht mit ihm, denn ich hatte Angst vor ihm und wollte auch Kruse treu bleiben. Grupen hat auch gewollte, daß ich meine Aussteuer nach seiner Wohnung schaffe, auch fragte er nach meinem Sparkassenbuch. Da ich nicht mit ihm zusammenkam, schrieb er mir einen Brief, der meinen Mann veranlaßte, der Sache ein Ende zu machen.

 

Der Staatsanwalt stellt fest, daß der Angeklagte bisher das Vorkommnis mit dem Revolver bestritten hat, es jetzt aber zugibt.

 

Dr.   B e i e r -   Lähn: Am Tage nach dem Morde hat mir Frau Eckert die Mitteilung von dem Verschwinden der Frau Grupen gemacht. Sie haben erst geglaubt, ihre Tochter sei nach Kleppelsdorf gefahren, dann habe ihr Grupen gesagt: nach Amerika, auf Grund eines Briefes, den sie aber nicht gesehen habe. Ich sagte zur Frau Eckert: „Wie konnte Sie sich, als Sie von dem Verschwinden Ihrer Tochter erfuhren, so ohne weiteres mit der Nachricht Ihres Schwiegersohnes zufrieden geben? Sie hätten doch selbst Nachforschungen anstellen sollen.“ Frau Eckert erklärte mir darauf, ihr Schwiegersohn hätte durch einen Hamburger Detektiv festgestellt, daß seine Frau auf ein Schiff gegangen und nach Amerika gefahren sei, und daß es ihr gut gehe. Frau Eckert erzählte, ihr Schwiegersohn hätte ihr   h ä ß l i c h e   B r i e f e   u n d   P h o t o g r a p h i e n   von seiner Frau gezeigt, worauf sie ausgerufen habe: „Wenn das alles wahr ist, dann habe ich keine Tochter mehr!“

 

Sachverständiger Dr.   M o l l :   Sind es die Bilder, von denen behauptet wird, sie wären   d u r c h s   S c h l ü s s e l l o c h   aufgenommen worden? - Angeklagter: Es sind Bilder, die ich im kleinen Schreibtisch meiner Frau vorgefunden habe.

 

Zeuge (fortfahrend): Grupen hat sich nach Frau Eckerts Aussage   s c h l e c h t   ü b e r   D o r o t h e a   R o h r b e c k   geäußert und gesagt, es sei ein ganz verdorbenes Mädchen, die Liebschaften mit Offizieren habe. Ich hatte das Gefühl, daß Grupen Frau Eckert   v o n   i h r e r   T o c h t e r   u n d   d e r   E n k e l i n   a b b r i n g e n   wollte. Die Offiziere, die mit Kleppelsdorf verkehrten, haben Dorothea immer als Kind behandelt. Von Grupen ist Dörte im Anfang sehr eingenommen gewesen, weil er in Hamburg sehr liebenswürdig gewesen sei, dann aber ist er ihr   s e h r   u n s y m p a t h i s c h   geworden, besonders nachdem sie gehört hatte, daß er sich dem Vormund als Kronzeuge gestellt hatte.

 

 

 

Freitag, 16. Dezember „Schlesische Zeitung“ Abendblatt

Der Doppelmord in Kleppelsdorf.

Hirschberg, 15. Dezember

In der weiteren Verhandlung wird Frau Fr.   B e i e r   vernommen über das Verhalten von Frau Eckert.

 

Sie bekundet: Frau Eckert hat gesagt: „Wenn ich wüßte, daß meine Tochter tot ist, würde ich   G r u p e n   f a l l e n   l a s s e n . „   Sie bedauerte Grupen sehr. Als mein Mann sagte: „Aber die Dörte ist doch tot und die Ursel“, sagte Frau Eckert: „Ach, die Dörte hat mich nie gemocht!“ Ich hatte den Eindruck, als meinte Frau Eckert, sie könne, wenn sie erst wisse, daß ihre Tochter tot sei, dann   k e i n   M i t l e i d   m e h r   m i t   G r u p e n   haben. Mir ist ferner aufgefallen, als ich ins Zimmer trat, hatte Frl. Mohr die   I r m g a r d   auf dem Schoß, und als ich diese fragte, ob sie nicht doch wüßte, daß Grupen das Zimmer verlassen habe, sagte die Mohr: „Grupen hat das Zimmer nicht verlassen, nicht wahr, Irma?“ Und immer wieder bei meinen Fragen nahm die Mohr das Wort vor Irma, und einmal schüttelte sie sogar das Kind, um es zu einer Antwort zu bringen.

 

Die 24 Jahre alte   H a r t i e ,   die bei dem Angeklagten in Stellung war, hat von ihm

eine goldene Armbanduhr geschenkt erhalten,

 die sie noch besitzt. - Der Angeklagte gibt zu, daß es die   U h r   s e i n e r   F r a u   sei.

 

Auf die Frage eines Geschworenen nach den Uhren der Frau Grupen sagt der Angeklagte: Meine Frau hatte zwei goldene Armbanduhren und eine Nickeluhr.

 

Frau Eckert, die wieder in den Saal gerufen wird: Meine Tochter hatte meines Wissens   n u r   e i n e   goldene Armbanduhr, die sie auf Reisen wohl immer trug. Ob auch beim Tage der Abreise kann ich nicht sagen.

 

Pfandleiher   L a n g e -   Hamburg: Im März 1920 kam der Angeklagte, den ich vorher nicht kannte, das erste Mal zu mir. Er brachte Schmucksachen mit Brillanten zur Beleihung. Ich taxierte die Sachen auf 6.000 Mark. Der Angeklagte war dann einverstanden und nahm Pfandschein und Geld. Später versetzte er bei mir einen Regenmantel und einen Pelzkragen, am 6. Dezember eine Menge Silber für 2.300 Mark.

 

Rechtsanwalt und Notar   R e i n e c k e -   Itzehoe äußert sich über das von Frau Grupen hinterlassene Vermögen. Die Pfandscheine für die Brillanten und das Silber habe er eingelöst, der Pelzkragen und der Regenmantel waren verfallen. Aus dem in Ottenbüttel verkauften Mobiliar und der Wäsche der Frau Grupen wurden 20.000 Mark gelöst. Die Hypotheken gehörten nicht mehr der Frau Grupen, denn die hatte sie an den Angeklagten abgetreten. Über das Vermögen der Frau Eckert kann Zeuge näheres nicht angeben. - Staatsanwalt: Die von Frau Grupen gemieteten   S t a h l f ä c h e r   waren   l e e r !   - Vors. (zum Angeklagten): Was haben Sie in die Ehe eingebracht? - Angekl.: Nur meine persönlichen Sachen und die Sachen meines Vater.

 

Uhrmacher August   H e i n e   (Hamburg): Ich habe den Angeklagten kennen gelernt, als er in Hamburg die Baugewerkschule besuchte. Er war auf das angewiesen, was er von seinem Vater bekam. Ich habe ihm damals öfters ausgeholfen, einmal mit … Mk., die er zur ersten Zahlung auf eine Lebensversicherung brauchte. Dann habe ich ihm 2.000 Mk. und vier oder fünf Monate nach seiner Verheiratung 4.000 Mk. geliehen. Darauf brachte er mir drei goldene Ringe und einen Platinring. Zwei Ringe waren zerbrochen. Er sagte, ich solle die Ringe reparieren, er wolle sie einer Dame schenken, weil seine Frau nach Amerika verschwunden sei. Nach einiger Zeit kam er wieder und sagte, ich solle die Ringe behalten für die 1.000 Mk., die er mir von den 4.000 Mk. noch schuldete. Der Zeuge bejaht die Frage des Staatsanwalts, ob

die zerbrochenen Ringe nur durch große Gewalt entzwei gegangen sein können.

 

Wilhelm Grupen, der Bruder des Angeklagten, wird als Zeuge aufgerufen; er berichtet zunächst über die Vermögensverhältnisse seines Bruders. Als dieser vom Militär entlassen wurde, dann die Baugewerkschule besuchte und auf der Vulkanwerft tätig war, hatte er kein Vermögen. Als er die Schule verließ, bezog er Erwerbslosen-Unterstützung. Bei dem Verkauf des väterlichen Grundstücks wird er 17.000 bis 20.000 Mk. verdient haben. Schließlich hat der Zeuge auch mit dem Angeklagten und noch mehreren Teilnehmern verschiedene Grundstücksgeschäfte gemacht, bei denen Gewinne erzielt worden sind.

 

Es stellt sich heraus, daß der Angeklagte, als er im Gefängnis saß, dem Bruder eine Hypothek von 78.000 Mk. überschreiben ließ. Früher hatte der Zeuge behauptet, daß er tatsächlich Forderungen in dieser Höhe an seinen Bruder hatte. Heute gibt er zu, daß er nach sorgfältiger Überlegung doch zu der Erkenntnis gekommen sei, daß seine Forderung bei weitem nicht so hoch war.

 

Wilhelm Grupen sagt weiter aus: Als ich vor der Abreise meines Bruders nach Kleppelsdorf in Ottenbüttel war, übergab er mir einen Revolver zu meiner Sicherheit, da das Gehöft einsam liegt. - Vors.: Wie hat Ihnen der Angeklagte den Revolver übergeben? - Zeuge: Er hat mir die Handhabung des Revolvers erklärt. - Vors.: War der Revolver geladen? - Zeuge: Ich kann nicht sagen, daß er nicht geladen war. Ich kannte die Handhabung des Revolvers nicht.

 

Vors.: Als alter Soldat kannten Sie sich mit dem Revolver nicht aus,

und die kleine Ursula sollte es verstehen?

Zeuge: Ich habe den Revolver dann nicht mehr in der Hand gehabt.

 

Der Staatsanwalt beantragt nun, den Zeugen zu beauftragen, den Revolver mit scharfen Patronen zu laden und zu sichern. - Vors.: Daß hier im Saale mit scharfen Patronen geladen wird, gestatte ich nicht. - Vert. Dr. Mamroth: Ich beantrage die Ablehnung, da damit nichts bewiesen wird. - Vors.: An sich wäre die Sache schon wichtig, da doch die kleine Ursula nur dabei gestanden hat und schon den Mechanismus begriffen haben soll?

 

Staatsanw.: Da der Zeuge behauptet, daß er heute noch nicht ohne Schwierigkeiten laden und sichern kann, beantrage ich, daß er dies hier vormacht.

 

Der Gerichtshof zieht sich zur Beratung zurück und verkündet dann den Beschluß, daß dem Antrag des Staatsanwalts stattgegeben wird. Der Zeuge zeigt dann die Handhabung des …ens, Spannens, Sicherns und Entsicherns, was ihm auch gelingt. Der Staatsanwalt beantragt, morgen dieses Experiment mit Exerzierpatronen zu wiederholen, da das Sichern und Spannen mit Patronen schwieriger sei als ohne Patronen. (Grupen zeigt dabei eine lächelnde Miene.)

 

Vors.: Was geschah mit dem Revolver? - Zeuge: Der Angeklagte legte ihn in das Schubfach des Schreibtisches zurück. - Vors.: War Ursula dabei? - Zeuge: Ja, Ursula stand rechts von uns und guckte zu. - Vors.: Hat sie die Manipulationen gesehen, die mit dem Revolver vorgenommen wurden? - Zeuge: Ja. - Vors.: Wurde das Schubfach, in das der Revolver gelegt wurde, verschlossen? - Zeuge: Das weiß ich nicht, ich glaube nicht. Vors. (zum Angeklagten): Wie war es? - Angekl.: Wahrscheinlich nicht, denn ich habe das Schubfach für meinen Bruder offen gelassen.

 

Vors.: Was geschah weiter? - Zeuge: Ich ging hinaus und kam nochmals in das Zimmer. Da stand

Ursula am Schreibtisch mit dem Revolver in der Hand.

Ich nahm ihr den Revolver weg und verwarnte sie. - Vors.: Der Revolver war doch geladen? - Zeuge: Ich weiß nicht, ob er geladen war. - Vors.: Und dann? - Zeuge: Habe ich den Revolver wieder in das Schubfach gelegt. - Vors.: Haben Sie dann wenigstens das Fach verschlossen? - Zeuge: Nein, es ging nicht zu verschließen. - Vors.: War das nicht eine sehr große Unvorsichtigkeit, den Revolver wieder in das unverschlossene Fach zu legen, nachdem Sie gesehen hatten, daß ihn das Kind in der Hand gehabt hat? - Zeuge: Ich habe mir später auch Vorwürfe deshalb gemacht. Ich habe auch das Kind verwarnt.

 

Vors.: Der Angeklagte behauptet, Sie seien zusammen in das Zimmer gekommen, und Ursula habe nur am Schreibtisch gestanden, aber die Waffe nicht in der Hand gehabt. - Zeuge: Nein, ich war allein im Zimmer mit der Ursula. - Vors. (zum Angeklagten): Wie war es? - Angekl.: Ich bin auch heute noch der Ansicht, daß wir zusammen in das Zimmer gekommen sind und Ursula die Waffe nicht in der Hand hatte. - Zeuge: Nein, Ursula hatte die Waffe in der Hand. Es ist aber möglich, daß der Angeklagte hinter mir in das Zimmer gekommen ist.

 

Verteidiger Dr. Mamroth: Wann haben Sie dann bemerkt, daß der Revolver nicht mehr da war? - Zeuge: Abends, da ich zu Bett ging. - Staatsanw.: Nachdem Sie am Nachmittag den Revolver in der Hand des Kindes sahen und abends sein Fehlen feststellten, haben Sie dann nicht wenigstens sofort nach Kleppelsdorf geschrieben, damit kein Unheil geschieht? - Zeuge: Nein. Darüber habe ich mir auch Vorwürfe gemacht. Aber mein Bruder wollte in ein paar Tagen zurückkommen. - Vors.: Inzwischen konnte in Kleppelsdorf alles totgeschossen sein.

 

Heinrich Grupen, des Angeklagten zweiter Bruder, ist nach dem Verschwinden der Frau Grupen mit seinem Bruder nicht mehr zusammengekommen, er kann daher keine Angaben über Frau Grupens Verschwinden machen. Der Zeuge wird, ebenso wie sein Bruder Wilhelm, nicht vereidigt. Alsdann werden die zur Beurteilung von

Grupens Charakter

geladenen Zeugen vernommen.

 

Gemüsehändler   H a a s e -   Altona kennt den Angeklagten von der Schulzeit her. Er behauptet, Grupen habe ihn bei der Vermittlung des von ihm, dem Zeugen, gekauften Grundstücks um 20.000 Mark betrogen. Der Kaufpreis sei auf 126.000 Mark festgesetzt gewesen, nachher stellte es sich aber heraus, daß Grupen auf das Haus eine Hypothek von 20.000 Mark habe eintragen lassen.

 

Postbeamter Dietrich   V o ß   (Ottenbüttel): Der Angeklagte hat sehr viel Telegramme bekommen und aufgegeben, er schien also starke Geschäftsverbindungen zu haben. In unserer Ortswehr sollte er als Ehrenmitglied aufgenommen werden, weil er Invalide ist. Beim Preisschießen mit der Bolzenbüchse hat er sich erste und zweite Preise geholt, er war stolz darauf, ein guter Schütze zu sein.

 

Die weiteren Zeugen sagen teils ungünstig für Grupen aus, zudem wieder seine „Geschäftstüchtigkeit“ erwiesen wird, teils günstig, indem sie seine Strebsamkeit und seinen Fleiß im Beruf und in der Baugewerkschule anerkennen.

 

Die Nachmittagsitzung eröffnet der Vorsitzende mit der Mitteilung, daß soeben ein Telegramm der Polizeiverwaltung in Itzehoe eingegangen ist, wonach ein in Itzehoe wohnender Kolporteur gesehen haben will, wie zwei Tage vor ihrem Verschwinden

Grupen seine Frau geschlagen und gewürgt habe.

 

Das Gericht hat beschlossen, den Zeugen Sonnabend zu laden. Dann wird in der Vernehmung der Leumundszeugen fortgefahren.

 

Strafanstaltsinspektor   T s c h e n t k e   (Hirschberg): Der Angeklagte hat sich nach seiner Einlieferung in das Untersuchungsgefängnis ruhig und zuversichtlich benommen. Bei Gesprächen über die Tat, der er beschuldigt wird, hat Grupen stets seine Unschuld beteuert. Verbotene Mittel, sich mit der Außenwelt in Verbindung zu setzen, hat er nicht angewendet. alle Gefängnisbeamten sind mit seinem Verhalten zufrieden gewesen.

 

Gefängnis-Oberwachtmeister   F u r c h e -   Hirschberg macht über das Verhalten Grupens in der Untersuchungshaft die gleichen Aussagen wie der Vorzeuge. Über die Besuche der Brüder Grupens im Gefängnis befragt, erklärt der Zeuge, daß er aus Menschlichkeit den Bruder über Nacht in seiner Wohnung aufgenommen habe, weil er schlecht Unterkommen finden konnte. - Vorsitzender (erstaunt): Den Bruder eines unter schweren Verdacht stehenden Untersuchungsgefangenen haben Sie als Justizbeamter über Nacht bei sich behalten? Das ist doch recht eigenartig!

 

Steuerpraktikant   L a n g e -   Itzehoe hat den Angeklagten bei der Erledigung von Steuerangelegenheiten kennen gelernt. Er hat ihm nach dem Verschwinden seiner Frau den Rat gegeben, die bekannte Geldkassette durch einen Schlag gegen den Boden zu öffnen. Die Mitteilung Grupens, daß seine Frau nach Amerika gegangen sei, hat der Zeuge wegen der strengen Paßkontrolle nicht geglaubt.

 

Staatsanwalt: Über Grupens Vermögensstand bitte ich, den Zeugen später als Sachverständigen zu hören. Nach meinen Feststellungen betrug das Vermögen, über das der Angeklagte als Generalbevollmächtigter seiner Schwiegermutter und seiner Frau verfügte und einschließlich seines eigenen Vermögens, am Tage nach seiner Verhaftung etwa 110.000 Mark. - Angeklagter: Ich werde nachweisen, daß ich   ü b e r   e i n e   V i e r t e l m i l l i o n   verfügte und

nichts vom Vermögen meiner Frau und meiner Schwiegermutter verschleudert

habe.

 

Frau   E c k e r t   muß nun Angaben über den Entwicklungsgang der kleinen Ursula machen. Das Kind sei einige Wochen zu früh geboren worden. Es sei von Jugend auf lieb und gut und für alles sehr besorgt gewesen. Schon als Schülerin habe Ursula sehr auf Ordnung gehalten. In Itzehoe und Ottenbüttel sei sie öfters traurig gewesen und habe bei Tisch zu weinen angefangen.

 

M a r i e   M o h r   wird darauf eingehend über Zahl und Inhalt der auf die Reise mitgenommenen Koffer vernommen. Ihre Aussagen sind sehr unsicher. Danach waren es ein großer und zwei kleine Koffer. In dem einen waren Lebensmittel für die Reise, und dieser Koffer ist auch geöffnet worden, die Zeugin hat hineingesehen, hat aber weder Revolver noch Patronen darin gesehen, was sie, wie sie zugibt, hätte sehen müssen, wenn sie darin gewesen wären. (Anfänglich sagt die Zeugin, auf die Frage des Vorsitzenden, sie wisse nicht, ob sie die Waffe hätte sehen müssen, wenn sie darin gewesen wäre.)

 

Verteidiger Dr. Ablaß: Ist es richtig, daß sie jetzt mit jemand anderem versprochen sind? - Marie Morh: Ja. - Die Zeugin will insbesondere nicht wissen, wer die Koffer gepackt hat. Auch auf die Frage, wer die Koffer vom Bahnhof nach dem Schlosse getragen und wo sie hingeschafft worden sind, gibt die Zeugin nur unsichere Auskunft.

 

 

 

Sonnabend, 17. Dezember „Schlesische Zeitung“ Abendblatt

Der Doppelmord in Kleppelsdorf.

Hirschberg, 16. Dezember

Es werden nun Aussagen von Zeugen verlesen, welche wegen Krankheit oder aus anderen Gründen nicht zur Verhandlung kommen konnten.

 

Frau Studienrat   B r o o k -   Itzehoe bekundete bei ihrer kommissarischen Vernehmung u. a.: Nach der Mitteilung einer Lyzeallehrerin, bei der Ursula Schade in den Unterricht ging, habe Ursula in der Religionsstunde einmal das Wort „Hypnose“ erwähnt. Ruth Reske oder Irma Schade sollen, wie Frau Eckert erzählte, einmal gesehen haben, wie Grupen über dem Bett Ursulas streichelnde Bewegungen machte.

 

Frau Dorothea   B e r g m a n n -   Itzehoe erklärte dem vernehmenden Richter: Das Verhältnis zwischen den Grupenschen Eheleuten war normal, zwischen Grupen und den Kindern harmonisch. Grupen hat nach dem Verschwinden seiner Frau erzählt, ypnose“

 

 

 

 

daß Ursula rührend für ihn sorge. Bei einem Besuch im September v. J. war Grupen in heiterer Stimmung. Als ich ihn nach dem Befinden seiner Frau fragte, sagte er,  sie wäre verreist; davon, daß sie ihn verlassen habe und nach Amerika gegangen ist, sagte er kein Wort. Als sie ihm sagte, man erzähle, daß seine Frau verschwunden sei, gab er dies zu, erklärte aber auf die Frage, was er für Nachforschungen angestellt habe, er sei nicht geneigt, dafür viel Geld auszugeben, denn die Frau habe ihm 70.000 Mark mitgenommen. Überdies habe ihm der Notar Reinecke gesagt, er solle die Sache ein Jahr ruhen lassen und dann einen Aufruf in den Zeitungen veröffentlichen.

 

Es folgen die Gutachten der   S a c h v e r s t ä n d i g e n .   Bücherrevisor Walter                  S c h a r f f -   Brieg äußert sich über

Grupens Vermögenslage

folgendermaßen: Grupen hatte keine Buchführung, so daß ein klares Bild über die Vermögenslage nicht möglich ist. Der Sachverständige teilt sein Gutachten in drei Zeitabschnitte ein; erstens: was besaß Grupen bei seiner Verheiratung mit Frau Schade? zweitens: was besaß er bis zum Verschwinden der Frau Schade? drittens: über welche Mittel verfügte er in der Zeit zwischen dem Verschwinden und dem Vorfall in Kleppelsdorf.

 

Bis zu seiner Verheiratung mit Frau Schade besaß der Angeklagte nichts. Das greifbare Kapital, das seine Frau mitbrachte, war niedrig, und die festliegenden Kapitalien der Frau konnten ihm in seinem Geschäft nichts nützen. Grupen hatte 9.000 Mark aus seiner Beschäftigung beim Vater, eine einmalige Abfindung als Kriegsinvalide von 8.000 Mark, außerdem verschiedene kleine Einnahmen, also etwa 17.000 bis 20.000 Mark. Diese Summe hatte er ausgegeben, denn zwei Zeugen haben einwandsfrei ausgesagt, daß er zur Zeit der Verheiratung nichts hatte; er mußte sogar im Mantel seines Vaters um die Hand seiner Frau anhalten. Durch die Heirat fiel ihm kein größeres Barvermögen in die Hände. Schon im März 1920 sah Grupen sich genötigt, durch die Verpfändung des Brillantenschmucks der Frau Eckert an Lange - Hamburg sich Geld zu verschaffen. Ostern 1920 erfolgte der Verkauf des väterlichen Grundstücks in Haseldorf, wodurch er 17.000 Mark erübrigt haben soll. Das sind kleine Beträge, um Haushalts- und Geschäftsunkosten zu bestreiten. Wir wissen, daß Grupen viel unterwegs gewesen ist und manchmal auch von seiner Frau begleitet wurde, die                  G e s c h ä f t s u n k o s t e n   müssen also   g r o ß   gewesen sein. Andererseits haben wir gehört, daß der Haushalt ein sparsamer war. Bei den Grundstücksgeschäften handelte es sich nur um sehr wenige Transaktionen.

 

Bis Ende Juli zehrte Grupen also von etwa insgesamt 32.000 Mark. Dazu kommt der Betrag, den er aus Wertpapieren erlöst haben soll und den er seiner Frau zur Bestreitung des Haushalts zur Verfügung gestellt haben will. Daß der Angeklagte gezwungen war, sich weitere Mittel zu verschaffen, beweist der Verkauf der Saloneinrichtung aus Itzehoe, wobei er 9.000 Mark löste. Außerdem machte er verschiedene Geschäfte mit seinem Bruder und mit Maaß. Diese Geschäfte liefen ja in ziemlich hohe Beträge, aber die Einkünfte verteilten sich auf zwei bis drei Makler. Aus dem Ottenbüttler Grundstück floß dem Angeklagten kurz vor seiner Abreise nach Kleppelsdorf der Betrag von 60.000 Mark zu. Das ist das erste Mal gewesen, daß er einen solchen Betrag wirklich in Händen hatte. Es ist gesagt worden, daß Frau Grupen und Frau Eckert ihm zwei Hypotheken im Werte von 72.000 Mark abgetreten hätten, die er in der Kassette verwahrt haben will. Tatsächlich sind ihm aber nicht 72.000 Mark zugeflossen, denn eine Zahlung hat nicht stattgefunden. Der Sachverständige schließt: „Ich will die Frage,

ob in der Kassette 60.000 oder 72.000 Mark oder gar nichts

darin war, nicht selbst entscheiden, das überlasse ich den Herren Geschworenen.

 

An das Gutachten knüpfte sich eine sehr lebhafte Auseinandersetzung zwischen den Verteidigern und den Sachverständigen, in die auch der Staatsanwalt wiederholt eingriff.

 

Dr.   J e s e r i c h -   Berlin hatte die Aufgaben, erstens: den Brief an Großmutti zu vergleichen mit Handschriften der Ursula Schade, um festzustellen, ob dieser Brief von ihr herrühre, oder von einem anderen, womöglich dem Angeklagten, geschrieben sei; zweitens festzustellen, ob das Wort „traurige“ in dem Briefe an Frau Bartel von Ursula selbst nachträglich hinzugefügt worden sei. Der Großmutti Brief, in dem die Rede ist, daß Ursel die Waffe an sich genommen habe und Großmutter sich nicht mehr über Dörte ärgern solle, ist von den Sachverständigen mit einem unzweifelhaft von Ursula stammenden Briefe verglichen worden. Dr. Jeserich, der den Geschworenen bis in alle Einzelheiten seine Vergleiche darlegt, kommt zu dem Schluß, daß zwischen diesem mit Blei geschriebenen Großmutti-Briefe und dem mit Tinte geschriebenen echten Ursula-Briefe

Abweichungen wesentlicher Art nicht zu finden

sind. Im Großmutti-Briefe sind, wie das bei flüchtiger Schrift sehr oft vorkommt, die Übergänge mehr abgerundet als die mit Tinte geschriebenen Briefe. Das sind die einzigen Momente, die als Unterschied gefunden worden sind. Sonst herrscht   Ü b e r e i n s t i m m u n g   b i s   i n s   K l e i n s t e.   Die Gesamtschrift gibt zu einer Annahme, daß der Brief nicht von Ursel geschrieben worden ist,   k e i n e   V e r a n l a s s u n g .   Absolut sei die Möglichkeit einer Fälschung jedoch nicht ausgeschlossen, aber es ist kaum möglich, einen ganzen Brief in allen Einzelheiten so treu nachzubilden. Ein mathematischer Beweis, daß er tatsächlich von Ursel geschrieben worden sei, könne natürlich nicht geführt werden.

 

Vors.: Herr Sachverständiger, auf Grund Ihrer Erklärungen in der Voruntersuchung, muß ich Sie fragen, ob der Brief nicht gewisse Ähnlichkeiten mit der Grupenschen Schrift aufweist?

 

Dr. Jeserich: Selbstverständlich, Ähnlichkeiten, wie sie zwischen   a l l e n   Schriften bestehen, man kann ein x nicht wie ein y schreiben. Mit der Grupenschen Schrift besteht eigentlich nur in der Abflachung des Übergangs vom ersten zum zweiten Element der Buchstaben und im kleinen r eine Übereinstimmung. Es spricht jedoch   k e i n e r l e i   W a h r -                s c h e i n l i c h k e i t   dafür, daß Grupen den betreffenden Brief geschrieben hat. Wenn der Brief nach geschrieben worden ist, so muß es ein Künstler im Malen gewesen sein, wie ich ihn in meiner dreiundvierzigjährigen Praxis nicht kennen gelernt habe. Ob auf dem Brief an Frau Barthel (der ebenfalls vom 9. Februar datiert ist und in dem Ursula sehr vergnügt über das Leben in Kleppelsdorf berichtet) bei der Unterschrift „Ursel“ das Wort „traurige“ von anderer Hand hinzugefügt worden ist, läßt sich nicht feststellen. Das Wort „traurige“ weist in allen Einzelheiten die Eigenart der Schrift Ursulas auf, doch kann ein aus so wenig Buchstaben bestehendes Wort nachgebildet worden sein und deshalb kann aus der Übereinstimmung der Schriftzüge irgend ein Schluß nicht gezogen werden. Positiv ist aber festgestellt worden, daß das Wort „traurige“ nachträglich hinzugefügt worden ist und zwar in gleichartiger Tinte und nachdem die ursprüngliche Schrift bereits getrocknet war, also mindestens drei bis vier Minuten nach Abschluß des Briefes. Es kann von ihr sein, kann aber auch nachgemacht worden sein.

 

In der Freitag-Sitzung teilt der Vorsitzende mit, daß der Beisitzer, Landgerichtsrat   H e r -     z o g ,   an Grippe erkrankt und an seine Stelle der Hilfsrichter, Assessor   H u b r i c h ,   getreten ist.

 

Dann setzte der Schriftsachverständige Dr.   J e s e r i c h   sein Gutachten fort, und zwar über die Frage, ob die Abschiedsbriefe der Frau Grupen echt sind. Die Untersuchung hat ergeben, daß die Schrift der Abschiedsbriefe mit älteren Briefen der Frau Grupen   v o l l -     k o m m e n   ü b e r e i n s t i m m t .   Der Sachverständige sei zu dem Schluß gekommen, daß

an eine Nachbildung der Abschiedsbriefe nicht zu denken

ist.

 

Vors.: Ist es möglich oder wahrscheinlich, daß der Angeklagte die Briefe nachgeahmt hat? - Dr. Jeserich: Ich halte es weder für möglich noch für wahrscheinlich.

 

Darauf erhält Professor Dr.   S c h n e i d e m ü h l -   Berlin das Wort zur   H a n d s c h r i f - t e n b e u r t e i l u n g :   Der Fall, um den es sich handelt, stößt in weitesten Kreisen auf Vorurteil und Mißtrauen. Dieses Vorurteil und Mißtrauen muß zunächst zerstreut werden, sonst würde ich tauben Ohren predigen. Bei der wissenschaftlichen Handschriftenbeurteilung handelt es sich um die Lehre, aus der Handschrift auf den Charakter des Menschen zu schließen. Die Graphologie hat damit, wie vielfach angenommen wird, nichts zu tun. Der Großmutti-Brief wies auf den ersten Blick einige Ähnlichkeiten mit der Schrift des Angeklagten auf, aber sehr bald änderte sich das vorläufige Urteil. Obwohl genügend Schriftproben des Angeklagten vorlagen, habe ich Wert darauf gelegt, den Angeklagten beim Abschreiben eines von ihm, dem Sachverständigen, entworfenen Schriftsatzes zu sehen und zu beobachten. Bei dieser Gelegenheit wurde Grupen gefragt, ob er sich mit okkultistischen Dingen befasse. Die Zögerung mit der Antwort erklärte sich der Sachverständige mit Unkenntnis des Angeklagten auf diesem Gebiete. Nach gegebener Definition des Begriffs „Okkultismus“ verneinte Grupen die Frage. Ich habe Grupen weiter gefragt, ob er sich mit Hypnose oder Suggestion beschäftigt, ob er solche Schriften gelesen oder solche Schaustellungen besucht habe. Grupen bejahte: als Baugewerksschüler habe er … hypnotische und Suggestions-Vorstellungen angesehen. Vom Untersuchungsrichter ist mir die Frage zur Beantwortung vorgelegt worden: Ist anzunehmen, daß der Angeklagte den Brief an Großmutti geschrieben hat, oder ist anzunehmen, daß Ursula Schade ihn geschrieben hat? Auf der ganzen Welt gibt es nicht zwei Menschen, die die gleiche Schrift schreiben, höchstens eine ähnliche Schrift. Wie die Gehirne der Menschen durchweg nicht gleichartig sind, so ist auch jede Handschrift verschieden. Bei aller Ähnlichkeit zweier Handschriften werden sich die Buchstabenbilder nicht so decken wie etwa die Typen aus dem Setzkasten. Der Sachverständige ist zu dem Schluß gekommen, daß   U r s u l a   d e n   B r i e f   a n   G r o ß m u t t i   g e s c h r i e -     b e n   hat. Auch unterliegt es für ihn keinem Zweifel, daß   F r a u   G r u p e n   i h r e   A b -     s c h i e d s b r i e f e   s e l b e r   g e s c h r i e b e n   hat. Nun die schwierigste Frage:

Liegt eine Beeinflussung der Schrift vor?

Dieser Brief der Ursula ist ganz ruhig geschrieben; die Schrift… sind dieselben wie bei den anderen Briefen der Ursula und weisen dieselben Eigentümlichkeiten auf, eine gleichmäßige und …ge Schrift. Die Schrift eines niedergedrückten Menschen erscheint niedergedrückt, der seelische Zustand drückt sich auch noch in der Schrift aus. Bei einem Kinde wie Ursula, die sehr zart, weich und fremdem Einfluß leicht zugänglich war, hätte sich der seelische Zustand erst recht in der Handschrift ausdrücken müssen. Es kann aber diesem Kinde, als sie den Brief an Großmutti schrieb,   d e r   f u r c h t b a r e   I n h a l t   d i e s e s   B r i e f e s          n i c h t   z u m   B e w u ß t s e i n   gekommen sein. Bei einem Kinde, das die Absicht hat, jemand anderen und sich selbst zu erschießen, müßte sich diese damit verbundene seelische Erschütterung auch in der Schrift   a u s d r ü c k e n .  

 

Auch in dem Abschiedsbriefe der Frau des Angeklagten findet sich keine Änderung der Schriftzüge der Schreiberin, während sich die furchtbare Seelenerschütterung, die die Schreiberin bei der Absicht, Heimat, Mann und Kinder zu verlassen, gehabt haben muß, auch darin hätte ausdrücken müssen. Es müssen also auf Frau Grupen seelische Einwirkungen seelischer Art, die ihr ganzes Sinnen und Empfinden beeinflußten, stattgefunden haben, - welcher Art, weiß ich nicht. In anderen Briefen der Frau findet sich, daß sich eine niedergedrückte Stimmung der Schreiberin in den Schriftzügen ausdrückte. Es muß also etwas im Innern der Frau Grupen

durch fremden Einfluß ausgeschaltet

worden sein.

 

Auf Fragen eines Geschworenen erklärte Professor Schneidemühl noch, daß sich auch in der einige Tage vor dem Verschwinden der Frau geschriebenen Abtretungsurkunde  k e i n e   M e r k m a l e   e i n e r   s e e l i s c h e n   E r r e g u n g   zeigen, so daß also auch damals die Schreiberin unter jenem Einfluß stand.

 

Weiter verbreitet sich Professor Schneidemühl über das   S c h r e i b e n   i n   H y p n o s e .   Er erzählt über Versuche, die von wissenschaftlicher Seite gemacht worden sind. Ein in Hypnose ver… dänischer Student habe, als man ihm vorredete, Napoleon zu sein, dessen richtigen Namenszug geschrieben, dann die Schrift einer alten Frau und eines Kindes, als er diese vorstellen sollte. Der Sachverständige zeigt selbst an der Schreibtafel, wie er die Schriftzüge eines zwölfjährigen Kindes nachahmt, weil er sich sehr massiv in dessen Gedankengang versetzt hat.

 

Dann erklärt Büchsenmachermeister   W a l t e r -   Löwenberg sein Gutachten, indem er zunächst über die Ergebnisse der   S c h i e ß v e r s u c h e   berichtet. Der Sachverständige Walter hält es für ausgeschlossen, daß Ursula Schade sich selbst erschossen hat. Nach seiner Überzeugung hat der Täter, etwa in der Mitte des Zimmers stehend,   a u f   D o r o -       t h e a   R o h r b e c k   d e n   e r s t e n   S c h u ß   a b g e g e b e n ,   d e n   z w e i t e n   a u f   d i e   z u r   R o l l s t u b e n t ü r   f l ü c h t e n d e   U r s u l a   S c h a d e   und den   d r i t t e n   (einen sogenannten Fangschuß) wieder   a  u f   d i e   n o c h   a t m e n d e      D o r o t h e a   R o h r b e c k .   Daß auf Ursula    a u s   w e i t e r e r   E n t f e r n u n g   geschossen worden ist,   a l s   a u f   D ö r t e ,   ist aus der Tatsache zu folgern, daß das in die … Stirn eingedrungene Geschoß die   S c h ä d e l d e c k e   n i c h t   d u r c h s c h l a - g e n   hat, sondern darunter stecken geblieben ist. Der Kopfschuß auf Dörte ist   a u s          k u r z e r   E n t f e r n u n g   abgefeuert worden.

 

Die Auseinandersetzung der Prozeßbeteiligten über das Gutachten des Schießsachverständigen gestaltet sich zeitweise dramatisch. Der Angeklagte, der vor der Tafel mitten im Saale steht, stellt, das Lineal in der Hand, an den Sachverständigen eine Reihe Fragen. Dabei redet er sich derart in die Erregung hinein, daß er, als der Vorsitzende ihn darauf aufmerksam macht, daß es sich hier nicht um Theorien handelt, das Lineal auf den Tisch wirft und wütend in die Anklagebank zurückkehrt. Auf eine Frage eines Geschworenen antwortet er,   d a ß     e r   j e d e   E r k l ä r u n g   i n   Z u k u n f t   a b l e h n e .

 

Gewehrfabrikant   H e n s e l -   Breslau schließt sich dem Gutachten Walters in allen Punkten an.

 

Kreismedizinalrat Dr.  P e t e r s -   Löwenberg gibt sein Gutachten auf Grund des Leichenbefundes ab. An dem Kleide der Dorothea Rohrbeck, das über ein Modell gezogen ist und an   L i c h t b i l d e r n ,   die im verdunkelten Saale mittels Projektionsapparates auf der Leinwand vorgeführt werden, zeigt er die Schußverletzungen. Dr. Peters kommt zu dem Schluß, daß

beide Mädchen von fremder Hand getötet

worden sind, und zwar zuerst Dorothea Rohrbeck, dann Ursula Schade.

 

Kreismedizinalrat Fr.   S c h o l t z -   Hirschberg macht das Gutachten des Dr. Peters zu seinem eigenen. Auch er hält es insbesondere für   a u s g e s c h l o s s e n , daß Ursula sich mit   e i g e n e r   H a n d   e r s c h o s se n   hat.

 

Geheimrat Dr.   L e s s e r -   Breslau tritt dieser Auffassung bei.

 

Der Angeklagte schweigt sich auf die Frage, ob er zu diesen Gutachten etwas zu bemerken habe, aus.

 

Geheimrat Dr.   M o l l -   Berlin behauptet in seinem Gutachten, daß der Angeklagte auf seine Umgebung einen ganz außerordentlichen suggestiven Einfluß ausgeübt habe. Es handelt sich dabei aber nicht um Hypnose, sondern um   W a c h s u g g e s t i o n .   Ausgeschlossen ist es allerdings nicht, daß hier auch Hypnose eine Rolle spielt. Jedenfalls sind nur ganz schwache Anzeichen hierfür vorhanden. Der Einfluß des Angeklagten, der offenbar einen sehr willensstarken Charakter hat, zeigt sich darin, daß er kurz nach der Hochzeit Frau und Schwiegermutter veranlaßt, ihm ihr Vermögen zu überschreiben. Besonders zeigt sich die      S u g g e s t i o n   d e s   A n g e k l a g t e n   a u f   s e x u e l l e m   G e b i e t ,   denn er hat jedes Mädchen, das in seine Nähe kam, verführt. Ursula befand sich offenbar in einem Zustand der sexuellen Hörigkeit von dem Angeklagten. Allerdings hat Grupen seinen Einfluß auch durch Drohung und Einschüchterung ausgeübt.

 

Daß der Brief Ursulas an die Großmutti in Hypnose geschrieben ist, ist nicht bewiesen. Aber in dem Briefe steht auch nichts von einem Selbstmord. Wahrscheinlich ist, daß der Angeklagte diesen Brief diktiert hat, was bei dem unter seinem Einfluß stehenden Kinde nicht schwer war, und Zeugen, Frau Eckert, die Irmgard und die Mohr beeinflußt hat. Die Mohr sagt selbst, daß sie alles glaubt, was der Angeklagte sagt. Ursel war ein normales Mädchen, das nur unter dem Einfluß des Vaters stand, dem man … die Tat nicht zutrauen kann. Es wäre auch ganz seltsam, daß ein Mädchen zur Schußwaffe greift. Für ein anormales Verhältnis der verschwundenen Frau Grupen und der Ursula ist kein Beweis vorhanden. Es sit möglich, daß der willensstarke Angeklagte seine Frau zum Schreiben dieser Abschiedsbriefe durch … oder Suggestion veranlaßt hat. Auch an dieses Gutachten schließen sich lange Auseinandersetzungen.

 

 

 

Montag, 19. Dezember „Schlesische Zeitung“ Abendblatt

Der Doppelmord in Kleppelsdorf.

Hirschberg, 17. Dezember

Aus dem Schluß der Freitagsitzung war noch von Interesse die a b e r m a l i g e   V e r n e h m u n g   Wilhelm Grupens, des Bruder des Angeklagten. Die Zeugin   H a t j e   hatte bei ihrer Vernehmung ausgesagt, daß Grupen in der letzten Zeit große Aufwendungen gemacht und Festgelage veranstaltet habe. Wilhelm Grupen bleibt jetzt mit aller Bestimmtheit dabei, daß von solchen Festen   k e i n e   R e d e   sein könne; es handelte sich vielmehr um harmlose Geburtstagsfeiern.

 

Der Gerichtshof beschloß auf Antrag des Staatsanwalts, den Zeugen wegen seiner Verwandtschaft zum Angeklagten, aber auch weil er ihn   i n   V e r d a c h t   habe, bei dem Verschwinden der Frau Grupen   s e i n e   H a n d   i m   S p i e l e   gehabt zu haben, nicht zu vereidigen.

 

Es kommt dann nochmals der   B r i e f   D ö r t h e s   a n   F r ä u l e i n   Z a h n   zur Erörterung, worin Dörthe schreibt: „Komme bald, sonst hänge ich mich auf.“ Frl. Zahn gibt hierzu noch einige Erklärungen.

 

Die Geschworenen stellten sodann die Frage an Geheimrat Dr.   M o l l ,   ob es richtig sei, daß der Angeklagte   e i n e n   s t e c h e n d e n   B l i c k   habe, der geeignet sei, auf schwache Charaktere, namentlich Kinder, einen gewissen Einfluß auszuüben. Dr. Moll bejaht das.

 

Hierauf wurde der Kolporteur   K l ä t t e   aus Itzehoe vernommen, der aussagt, daß er gesehen hat, wie wenige Tage vor dem Umzug nach Ottenbüttel der Angeklagte seine Frau, die zur Tür herauswollte, zurückgestoßen und   d i e   H a n d   z u m   S c h l a g e   e r h o b e n   habe. Die Tür wurde zugemacht und er hörte aus dem Innern des Hauses einen Streit.

 

In der achten Abendstunde wurde die   V e r h a n d l u n g   a u f   M o n t a g   v e r t a g t .   Der   S o n n a b e n d   bleibt zur Vorbereitung der Plaidoyers   s i t z u n g s f r e i .   Am Montag vormittag ist nur noch ein Arzt über die am Angeklagten vorgenommene   B l u t p r o b e   zu vernehmen. Hierauf wird der Oberstaatsanwalt das Wort zur Schuldfrage nehmen. Oberlandesgerichtsrat   K r i n k e   erklärte, daß er alles daran setzen werde, die Verhandlung am   M o n t a g   z u   E n d e   zu führen. Freilich würde es vorausssichtlich bis in die   f r ü h e n   M o r g e n s t u n d e n   hinein dauern. - Das Urteil ist demnach am Dienstag früh zu erwarten.

 

 

 

Montag, 19. Dezember „Schlesische Zeitung“ Abendblatt

Der Doppelmord in Kleppelsdorf.

Hirschberg, 17. Dezember

Aus dem Schluß der Freitagsitzung war noch von Interesse die a b e r m a l i g e   V e r n e - h m u n g   Wilhelm Grupens, des Bruder des Angeklagten. Die Zeugin   H a t j e   hatte bei ihrer Vernehmung ausgesagt, daß Grupen in der letzten Zeit große Aufwendungen gemacht und Festgelage veranstaltet habe. Wilhelm Grupen bleibt jetzt mit aller Bestimmtheit dabei, daß von solchen Festen   k e i n e   R e d e   sein könne; es handelte sich vielmehr um harmlose Geburtstagsfeiern.

 

Der Gerichtshof beschloß auf Antrag des Staatsanwalts, den Zeugen wegen seiner Verwandtschaft zum Angeklagten, aber auch weil er ihn   i n   V e r d a c h t   habe, bei dem Verschwinden der Frau Grupen   s e i n e   H a n d   i m   S p i e l e   gehabt zu haben, nicht zu vereidigen.

 

Es kommt dann nochmals der   B r i e f   D ö r t h e s   a n   F r ä u l e i n   Z a h n   zur Erörterung, worin Dörthe schreibt: „Komme bald, sonst hänge ich mich auf.“ Frl. Zahn gibt hierzu noch einige Erklärungen.

 

Die Geschworenen stellten sodann die Frage an Geheimrat Dr.   M o l l ,   ob es richtig sei, daß der Angeklagte   e i n e n   s t e c h e n d e n   B l i c k   habe, der geeignet sei, auf schwache Charaktere, namentlich Kinder, einen gewissen Einfluß auszuüben. Dr. Moll bejaht das.

 

Hierauf wurde der Kolporteur   K l ä t t e   aus Itzehoe vernommen, der aussagt, daß er gesehen hat, wie wenige Tage vor dem Umzug nach Ottenbüttel der Angeklagte seine Frau, die zur Tür herauswollte, zurückgestoßen und   d i e   H a n d   z u m   S c h l a g e   e r h o - b e n   habe. Die Tür wurde zugemacht und er hörte aus dem Innern des Hauses einen Streit.

 

In der achten Abendstunde wurde die   V e r h a n d l u n g   a u f   M o n t a g   v e r t a g t .   Der   S o n n a b e n d   bleibt zur Vorbereitung der Plaidoyers   s i t z u n g s f r e i .   Am Montag vormittag ist nur noch ein Arzt über die am Angeklagten vorgenommene   B l u t -     p r o b e   zu vernehmen. Hierauf wird der Oberstaatsanwalt das Wort zur Schuldfrage nehmen. Oberlandesgerichtsrat   K r i n k e   erklärte, daß er alles daran setzen werde, die Verhandlung am   M o n t a g   z u   E n d e   zu führen. Freilich würde es vorausssichtlich bis in die   f r ü h e n   M o r g e n s t u n d e n   hinein dauern. - Das Urteil ist demnach am Dienstag früh zu erwarten.

 

 

 

Dienstag, 20. Dezember „Schlesische Zeitung“ Abendblatt

Der Doppelmord in Kleppelsdorf.

Hirschberg, 19. Dezember   ( E i g e n e r   D r a h t b e r i c h t . )

Heute begann der voraussichtlich letzte Tag im Kleppelsdorfer Mordprozeß. Zunächst wird noch einmal in nichtöffentlicher Sitzung in die

Beweisaufnahme

eingetreten, und Privatdozent Dr.   E r i c h   K u t z n i t z k i   aus Breslau, der telegraphisch geladen war, als Sachverständiger vernommen. Er bekundet, daß die von ihm vorgenommene Blutuntersuchung bei dem Angeklagten und einer Zeugin negativ verlaufen ist. Wenn demnach auch Syphilis nicht vorliegt, so ist das Zeugnis des behandelnden Arztes Dr.   M e y e r   in Hamburg richtig, also wahrscheinlich, daß der Angeklagte, die Zeugin und   U r s u l a   S c h a d e   an einer anderen Krankheit gelitten haben. Professor Dr.   L e s s e r -   Breslau nimmt an, daß die Ursula Schade von dem Angeklagten angesteckt worden ist. Dr.   C h a u s s y   hält eine ähnliche Diagnose des behandelnden Arztes für wahrscheinlich. Nachdem das Gericht die   V e r e i d i g u n g   d e r   F r a u   E c k e r t   beschlossen hat, wird die Beweisaufnahme endgültig beschlossen.

 

Es werden dann durch den Vorsitzenden die an die Geschworenen zu stellenden

Schuldfragen

verlesen. Sie lauten:

 

1. Ist der Angeklagte Peter Grupen schuldig, am 5. Februar (Anmerkung: richtig ist 14. Februar) in Kleppelsdorf die Dorothea Rohrbeck getötet und die Tötung mit Vorsatz ausgeführt zu haben?

2. Ist der Angeklagte Peter Grupen schuldig, durch eine …nere selbständige Handlung Ursula Schade getötet und die Tötung mit Überlegung ausgeführt zu haben?

3.  Ist der Angeklagte Peter Grupen schuldig, durch eine …nere selbständige Handlung im Herbst 1920 mit einer Person unter 14 Jahren, der 13jährigen Ursula Schade eine unzüchtige Handlung oder sie zur Verübung oder Duldung verleitet zu haben?

4.  Ist der Angeklagte schuldig, durch ein und dieselbe Handlung wie in Frage 3 im Herbst 1920 als Pflegevater an seinem Pflegekind unzüchtige Handlungen verübt zu haben?

5.  Ist der Angeklagte schuldig, durch ein und dieselbe Handlung wie in Fragen 3 und 4 als Verschwägerter aufsteigender Linie mit einer Verschwägerten absteigender Linie, mit Ursula Schade den Beischlaf vollzogen zu haben?

 

Dann beginnt Oberstaatsanwalt Dr. Reiffenrad sein Plädoyer. Er schildert die Einzelheiten der Mordtat und weist auf die Angst hin, die die   D o r o t h e a   S c h a d e   (Hinweis: das muss Dorothea Rohrbeck heißen) vor dem Angeklagten hin. Bei der Schilderung der Tat betont der Staatsanwalt, daß die   G u t a c h t e n   d e r   S a c h v e r s t ä n d i g e n   K e u l e n s c h l ä g e   für den Angeklagten waren, die ihn zermalmten. Lag   k e i n   M o r d   u n d   S e l b s t m o r d   d e r   U r s u l a   S c h a d e   vor, dann kann   n u r   d e r   A n g e k l a g t e   d e r   T ä t e r   sein. Die Patronen hat der Angeklagte zweifellos selbst in die Tasche der Ursula gesteckt, um sich zu entlasten. Der Angeklagte habe die Dorothea Rohrbeck erschossen, weil sein Plan, sie zu heiraten, gescheitert sei.   U r s u l a   mußte ihr Schicksal teilen, weil sie   d i e   Z e u g i n   d e s   V e r b r e c h e n s   war, und weil der Angeklagte auf sie die Schuld des Verbrechens schieben wollte. Auch wollte er sie beseitigen wegen des an ihr begangenen Sittlichkeitsverbrechens. - In nichtöffentlicher Sitzung hatte der Staatsanwalt ausgeführt, daß   d i e   S c h u l d   G r u p e n s   a n   d e m    S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e n   e r w i e s e n   s e i .

 

Von den beiden Verteidigern nahm zunächst Justizrat Dr. Ablaß das Wort. Er sprach sehr lebhaft und temperamentvoll und bat die Geschworenen wiederholt, sich nicht von der öffentlichen Meinung, die den Angeklagten schon für den Täter halte, beirren zu lassen. Es sei in der Verhandlung so viel von Suggestion gesprochen worden. Dann solle man sich auch vor der gefährlichsten, der   M a s s e n s u g g e s t i o n ,   hüten. In seiner Schilderung des   L e b e n s l a u f e s   d e s   A n g e k l a g t e n   betont der Redner, daß   G r u p e n   ein sehr fleißiger Mensch gewesen sei und das gewiß sehr lobenswerte Bestreben gehabt habe, durch ratslosen Fleiß und Studieren vorwärts zu kommen. Als der Krieg ausbrach, eilte er freiwillig zu den Fahnen und im Dienste des Vaterlandes wurde er Krüppel. Weiter betont der Verteidiger,   d a ß   d i e   v e r s c h w u n d e n e   F r a u   d e s   A n g e k l a g t e n  durchaus nicht die edle Frau war, als die sie der Staatsanwalt dargestellt hat. Sie genoß   k e i n e n   g u t e n   R u f   und es ist von Zeugen bekundet worden, daß sie ihre Pflegekinder um ihr geringes Vermögen bringen wollte. Wiederholt wendet sich der Verteidiger noch an die Geschworenen, sich nicht von einem Vorurteil gegen den Angeklagten leiten zu lassen, sondern ihr Urteil unbeeinflußt zu bilden.

 

In   n i c h t ö f f e n t l i c h e r   S i t z u n g   führte der Verteidiger aus, daß die Schuld Grupens an dem ihm zur Last gelegten Sittlichkeitsverbrechen auch nicht nachgewiesen sei. In später Abendstunde spricht noch Dr.   A b l a ß ,   so daß das   U r t e i l ,   wenn es überhaupt noch heute gefällt werden kann,   e r s t   i n   d e n   M o r g e n s t u n d e n   zu erwarten ist.

 

Der Andrang des Publikums zur heutigen Verhandlung war sehr stark, der Saal überfüllt. Vor dem Gerichtsgebäude standen noch Hunderte, die keinen Einlaß erhalten konnten.

 

 

 

Dienstag, 20. Dezember 1921, „Schlesische Zeitung“ Abendblatt

Die Bluttat in Kleppelsdorf.

Das Plaidoyer des Staatsanwalts.

Hirschberg, 19. Dezember.

Aus dem Plaidoyer des Staatsanwalts, dessen Inhalt im letzten Morgenblatt bereits kurz wiedergegeben war, seien nachstehend noch die wichtigsten Teile hervorgehoben. Nachdem Oberstaatsanwalt Fr.   R e i f e n r a t h   die Vorgeschichte kurz geschildert hatte, ging er auf die   E r e i g n i s s e   a m  1 4 .   F e b r u a r   näher ein:

 

Grupen hatte das Bestreben, an jenem Vormittag, wo er mit Irma und der Mohr im Beisein der Großmutter Mühle spielte, bei seiner Umgebung, namentlich bei Frl. Zahn,   d e n           G l a u b e n   z u   e r w e c k e n ,   d a ß   e r   d a s   Z i m m e r   n i c h t   v e r l a s s e n   h a b e .   Er knüpft mit der im Nebenzimmer rechnenden Erzieherin Zahn eine Unterhaltung über nichtssagende Dinge an, bringt ihr Apfelsinen zum Schälen und geht im Zimmer auf und ab. Es kommt der   M o m e n t   d e r   T a t .   Irma wird vom Vater mit den Apfelschalen fortgeschickt. Der Vater folgt ihr bis zum Schrankzimmer; ob er weitergegangen ist, kann das Kind nicht sagen. Irma wird, als sie zurückkommt, von Frl. Zahn gerufen, um nach Dörte und Ursula zu sehen. Da hält Grupen das Kind noch einige Augenblicke zurück, zweifellos, weil er fürchtete, seine Opfer könnten ihr Leben noch nicht ausgehaucht haben, könnten noch nicht verstummt sein. Dann geht Irma hinunter, kehrt aber bald zurück und meldet, Dörte und Ursula gerufen, jedoch keine Antwort erhalten zu haben. Fräulein Zahn schreitet in diesen Augenblicken durch das Zimmer des Angeklagten. Warum sah er sich bei dieser Gelegenheit Frl. Zahn außerordentlich scharf an? Weil er ihr ins Bewußtsein bringen wollte: Ich bin da!

 

Das Verbrechen wird entdeckt. Grupen ist einer der ersten im Mordzimmer. Bald läuft er zurück und begegnet auf der Treppe Frl. Zahn. Mit ihr geht er wieder an den Schauplatz des Verbrechens, und da bittet ihn Frl. Zahn vergeblich, ihr zu helfen, die Opfer aufs Bett zu legen. Wie bei allen Blutverbrechen, kann auch hier der   T ä t e r   d i e   O p f e r   n i c h t      a n f a s s e n .   Erst nach dreimaliger Aufforderung tut er es mit sichtlicher Überwindung. Vorher hat er die Pistole aufgehoben, die bezeichnenderweise zur Linken der Ursula lag,      w ä h r e n d   s i e   a u f   d e r   r e c h t e n   S e i t e   h ä t t e   l i e g e n   m ü s s e n .   Als der erste Arzt kam, hat Grupen die Dreistigkeit, ihn zu fragen: „Kann man der Ursula nicht etwas geben, daß sie noch etwas sagen kann?“

 

Der Staatsanwalt zählt alles auf, was Grupen sonst noch schwer belastet. Wenn Grupen, als der Landjäger erschien, jammerte und sich an die Kinder herandrängte, so mag es möglich sein, daß der Tod Ursulas ihn in einen gewissen Grad von Trauer versetzte. Aber wie kann jemand, der ein reines Gewissen hat, zu dem Landjäger bald nach der Entdeckung der Tat sagen: „Ich werde wohl schon bewacht?“ Warum sagte Grupen, als er abgeführt wurde: „Wenn Ihr wißt, daß ich das Zimmer nicht verlassen habe, bin ich morgen wieder frei.“ Die dicken Mauers des Mordzimmer sind dem Angeklagten zum größten Verhängnis geworden. Wenn Menschen schweigen, werden Steine reden. Und die Steine in dem quadratischen Zimmer sagen uns, daß die   P a t r o n e n h ü l s e n   nicht anders fallen konnten, daß

kein Selbstmord, sondern Mord

vorliegt.

 

Der Großmutti-Brief ist kein Abschiedsbrief, sondern ein eigener Anklagebrief für den Täter. Auch in den Abschiedsbriefen seiner Frau hat er Wert darauf gelegt, sich zu entlasten.

 

Frau Eckert hat jetzt die   M ö g l i c h k e i t   z u g e g e b e n ,   d a ß   d e r   A n g e k l a g  t e   d a s   Z i m m e r   v e r l a s s e n   h a t ,   während sie früher sagte, sie könne beschwören, daß der Angeklagte nicht einen Augenblick das Zimmer verlassen hat. Aus dem Gutachten von Professor Moll ergibt sich, daß es sehr wohl möglich ist, daß jemand sich zunächst auf Wahrnehmungen nicht erinnert, sie später aber in das Gedächtnis zurückruft. Es ist kein Zweifel, daß die jetzigen Aussagen der Frau Eckert und auch der Irmgard, die ja jetzt nicht mehr unter dem Einfluß des Angeklagten stehen, richtig sind. Bei dem Zeugnis der Mohr ist zu beachten, daß sie damals während ihrer Wahrnehmungen vollständig unter dem Einfluß des Angeklagten stand. Sie hat auch sonst schlecht beobachtet. Sie las in einem Märchenbuche, und man weiß ja, wenn junge Mädchen sich mit Märchen beschäftigen, dann haben sie keinen Sinn für die Außenwelt. Sie hat daher nicht gesehen und gehört, wie Frl. Zahn zweimal durch das Zimmer ging, um eine Schüssel zu holen, daß der Angeklagte mit der Irma bis zur Türe des Schrankzimmers ging, sie hat nicht beobachtet, daß dauernd Mühle gespielt und gerechnet wurde, daß der Angeklagte zweimal zu Frl. Zahn ins Zimmer ging und mit ihr sprach. Die Zeugin kann daher wohl der Meinung gewesen sein, daß das, was sie sagt, die Wahrheit ist, in Wirklichkeit ist es aber nicht die Wahrheit.

 

Der Staatsanwalt betont, daß nach den übereinstimmenden Gutachten der Sachverständigen ein Selbstmord der Ursula vollständig ausgeschlossen ist. Die Tat hat sich nach Ansicht des Staatsanwalts folgendermaßen abgespielt: Durch Ursula hat der Angeklagte die Dorothea, die sonst stets ein Zusammensein mit ihm vermied, nach dem unteren Stockwerk gelockt. Dann ist der Angeklagte hinzugekommen, hat den ersten Schuß auf Dörte, den zweiten auf die Ursula und den dritten, den „Fangschuß“, auf Dörte abgegeben. Das beweisen die Gutachten der Sachverständigen und die Lage der Patronen.

 

 

 

Dienstag, 20. Dezember 1921, „Schlesische Zeitung“ Letzte Nachrichten des Abendblattes

Der Kleppelsdorfer Mordprozeß.

Hirschberg, 20. Dezember.

Die Wiederaufnahme des Kleppelsdorfer Mordprozesses begann heute morgen um 9 Uhr mit der   F o r t s e t z u n g   d e r   P l a i d o y e r s   d e r   V e r t e i d i g e r ,   die sich alle erdenkliche Mühe gaben, den Angeklagten Grupen von dem schweren Verdacht des   D o p p el m o r d e s   an der 16jährigen   D o r o t h e a   R o h r b e c k   und der 13jährigen   U r s u l a   S c h a d e ,   seiner Stieftochter, wie auch in letzterer begangenen   S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e n s   zu reinigen. Infolge des riesenhaften Materials aus dem Vorleben des Angeklagten dürften sich die Verteidigungsreden bis in die Nachmittagsstunden hinziehen, so daß das   U r t e i l   v o r   6   U h r   k a u m   z u   e r w a r t e n   i s t .

 

Die bereits veröffentlichten   f ü n f   S c h u l d f r a g e n   gelten nicht als definitiv; sie werden vielmehr am Schlusse der Playdoyers der Verteidiger endgültig formuliert werden.

 

 

 

Mittwoch, 21. Dezember 1921, „Schlesische Zeitung“ Morgenblatt, 1. Seite

Grupen zum Tode verurteilt.

Hirschberg, 20. Dezember.

Im   K l e p p e l s d o r f e r   M o r d p r o z e ß   sprachen die Geschworenen in der vierten nachmittagstunde den Angeklagten Peter   G r u p e n   d e s   M o r d e s   i n   z w e i   F ä l l e n   und des   S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e n s   für   s c h u l d i g .   Das Urteil des Gerichtshofes lautete   z w e i m a l   z u m   T o d e   und   f ü n f   J a h r e n   Z u c h t - h a u s   sowie dauerndem Ehrverlust. Der Angeklagte erklärte in seinem Schlußwort, auf Revision und Gnadenmittel zu verzichten.

 

 

 

Mittwoch, 21. Dezember 1921, „Schlesische Zeitung“ Morgenblatt

Der Schlußakt im Kleppelsdorfer Mordprozeß.

Hirschberg, 20. Dezember. (Eigener Drahtbericht)

Am Dienstag vormittag sprach zunächst   O b e r s t a a t s a n w a l t   R e i f f e n r a t h ,   der sich gegen die Ausführungen der beiden Verteidiger wendete und noch einmal alle Momente hervorhob, die für die Schuld des Angeklagten sprechen. Nach dem Staatsanwalt nimmt wiederum   J u s t i z r a t   D r .   A b l a ß   das Wort zu einer nochmaligen kritischen Beleuchtung des Anklagematerials. Er betont unter anderem, es wäre eine merkwürdige Verteidigung, die sich drängen ließe, den vorgezeichneten Richtlinien der Staatsanwaltschaft zu folgen. Während der Rede des Justizrats Dr. Ablaß erklärt Oberstaatsanwalt Dr. Reiffenrath, daß er die Verhandlung wegen Überanstrengung verlassen müsse. An seine Stelle tritt Oberstaatsanwalt Dr.   H e i n r i c h .

 

Vorsitzender (zum Angeklagten): Was haben Sie noch zu erklären? - Angeklagter (mit innerer Erregung): Ich schließe mich den Ausführungen meiner beiden Herren Verteidiger an. Ich will nur noch bemerken: Der Staatsanwalt glaubt, daß ich das Eiserne Kreuz als Zugabe für meinen verlorenen Arm erhalten habe. Der Staatanwalt hätte jedoch während der zehnmonatigen Untersuchung genügend Zeit gehabt, um meine Militärpapiere einzusehen und festzustellen, an welchen Gefechten ich teilgenommen habe. Ich bin als Kriegsfreiwilliger für eine gute Sache in den Krieg gezogen und nun wird von der Anklage behauptet, ich soll ein unschuldiges Kind getötet haben, ein Kind, das ich lieb hatte.   I c h   b i n   v o l l   u n d   g a n z   u n s c h u l d i g .   Ich vertraue den Herren Geschworenen und ihrer rechtlichen Anschauung.

 

Kurz nach 1 Uhr beginnt der Vorsitzende mit der Rechtsbelehrung der Geschworenen. Nach 1 1/2stündiger Beratung verkündet der Obmann, Major   D u l i t z :   D e r   A n g e k l a g t e   i s t   s c h u l d i g   d e s   M o r d e s   i n   z w e i   F ä l l e n   u n d   d e s   S i t t l i c h   k e i t s v e r b r e c h e n s .   - Der Staatsanwalt beantragt die Todesstrafe für jeden Mord und für das Sittlichkeitsverbrechen 5 Jahre Zuchthaus.

 

Vor der Urteilsverkündung erklärte der Angeklagte, er   v e r z i c h t e   v o n   v o r n h e r e i n   a u f   R e v i s i o n   u n d   G n a d e n g e s u c h .   Der Spruch der Geschworenen sei ein Fehlurteil, und es werde vielleicht   d e r   T a g   k o m m e n ,   w o   d a s   e i n e   o d e r   a n d e r e   g e k l ä r t   w e r d e .   Das Urteil des Gerichtshofes lautete dem Antrag des Staatsanwalts gemäß auf

Todesstrafe und 5 Jahre Zuchthaus

u n d   d a u e r n d e n   V e r l u s t   d e r   b ü r g e r l i c h e n   E h r e n r e c h t e .   - Der Angeklagte nahm das Urteil   m i t   g r o ß e r   G l e i c h m u t   auf.

 

 

 

Sonntag, 25. Dezember 1921, „Schlesische Zeitung“

Revision im Kleppelsdorfer Mordprozeß.

Justizrat Dr.   A b l a ß ,   der Verteidiger des wegen des Kleppelsdorfer Mordes zweimal zum Tode verurteilten Architekten   P e t e r   G r u p e n ,   hat heute, wie der „Tag“ meldet, beim Reichsgericht Revision gegen das Schwurgerichtsurteil eingelegt. Die Begründung der Revision wird sich auf das gesamte Verfahren erstrecken, also auch auf die Verurteilung zu 5 Jahren Zuchthaus, die wegen Sittlichkeitsverbrechens an der Stieftochter erfolgte.

 

 

 

Montag, 9. Januar 1922, „Schlesische Zeitung“

Neue Untersuchung gegen Grupen.

Gegen den am 20. Dezember wegen des Kleppelsdorfer Doppelmordes zum Tode verurteilten Architekten Peter   G r u p e n   ist nunmehr auch von der Staatsanwaltschaft in Altona ein Untersuchungsverfahren eingeleitet worden wegen des Verdachts, daß Grupen auch seine bekanntlich seit geraumer Zeit spurlos verschwundene   E h e f r a u   ermordet habe.

 

 

 

Dienstag, 10. Januar 1922, „Schlesische Zeitung“

Revision im Mordprozeß Grupen.

Die Verteidiger des wegen des Kleppelsdorfer Doppelmordes zum Tode verurteilten Peter Grupen haben zu der bald nach dem Prozesse gegen das Urteil angemeldeten Revision nunmehr die Begründung beim Reichsgericht eingereicht, so daß jetzt das Revisionsverfahren schwebt. Bei dem Umfange des zu prüfenden Materials dürfte, obwohl Haftsachen mit Beschleunigung behandelt werden, die Entscheidung des Reichsgerichts nicht vor vier oder fünf Wochen zu erwarten sein.

 

 

 

Freitag, 27. Januar 1922, „Schlesische Zeitung“

(Selbstmordversuch Peter Grupens.)

Hirschberg, 26. Januar

Der in der Kleppelsdorfer Mordsache zweimal zum Tode verurteilte Architekt Peter Grupen unternahm im hiesigen Gerichtsgefängnis einen Selbstmordversuch. Er versuchte sich zu erhängen, konnte aber durch das rechtzeitige Hinzukommen eines Gefängnisbeamten daran gehindert werden.  

 

 

 

Sonnabend, 28. Januar 1922, „Schlesische Zeitung“

(Peter Grupens Selbstmordversuch.)

Hirschberg, 27. Januar

Über den Selbstmordversuch von Peter Grupen wird noch gemeldet: Kurz nach seiner Verurteilung zum Tode war Grupen sehr niedergeschlagen. Er erholte sich aber bald wieder und trug eine frohe zuversichtliche Miene zur Schau. Vor einigen Tagen fiel es den Gefängnisbeamten auf, daß es in der Zelle von Peter Grupen sehr ruhig war. Durch das Beobachtungsfenster sahen sie, daß Grupen Maßnahmen traf, sich zu erhängen. Die Beamten wollten jetzt rasch die Zellentür öffnen, doch leistete diese starken Widerstand. Grupen hatte auf irgend eine Weise die Türe versperrt, obwohl inwendig kein Riegel an ihr ist. Die Tür wurde gewaltsam erbrochen und man kam eben noch zurecht, um den Selbstmord zu verhindern. Daraufhin wurde Grupen, der in Einzelhaft saß, in eine Gemeinschaftszelle gebracht. In der ersten Zeit nach diesem Vorfalle ist Grupen auch, allerdings nicht sehr lange Zeit, in den Hungerstreik eingetreten. Er verweigerte die Nahrungsmittelaufnahme, besann sich aber schnell eines Besseren. Im übrigen hat sein Verhältnis zu den Gefängnisbeamten, die in der Zeit der Schwurgerichtsverhandlung ein gutes Zeugnis über ihn ablegten, eine starke Trübung erfahren. Er bereitet jetzt den Beamten allerhand Schwierigkeiten.

 

 

 

Mittwoch, 22. Februar 1922, „Schlesische Zeitung“ Abendblatt

Die Revision Grupen verworfen.

Wie aus Leipzig gemeldet wird, hat der vierte Strafsenat des   R e i c h s g e r i c h t e s   die von dem Anwalt des Architekten Grupen gegen das doppelte Todesurteil des Hirschberger Schwurgerichts eingelegte   R e v i s i o n   v e r w o r f e n .   Das dadurch rechtskräftige Todesurteil bedarf noch der Bestätigung durch die preußische Regierung. 

 

 

 

Freitag, 24. Februar 1922, „Schlesische Zeitung“ Abendblatt

Peter Grupen entflohen.

Hirschberg, 24. Februar.

Wie der „Bote aus dem Riesengebirge“ durch Extrablatt bekannt gibt, ist der Kleppelsdorfer Doppelmörder Peter   G r u p e n ,   dessen Verurteilung durch den Entscheid des Reichsgerichts vorgestern rechtskräftig geworden war, in der vergangenen Nacht aus dem Gerichtsgefängnis ausgebrochen und entflohen. Grupen ist sehr leicht zu erkennen, da ihm der linke Arm fehlt.

 

 

 

Freitag, 24. Februar 1922, „Schlesische Zeitung“ Letzte Nachrichten des Abendblatts

Grupens Flucht.

Hirschberg, 24. Februar. (Eigener Drahtbericht.)

Die Flucht des zum Tode verurteilten Architekten   G r u p e n   aus dem hiesigen Gerichtsgefängnis gelang diesem in der verflossenen Nacht zwischen 2 und 3 Uhr. Grupen war mit drei anderen Strafgefangenen in einer Zelle im zweiten Stockwerk des Gefängnisses untergebracht. Aus dieser Zelle ist schon einmal ein Ausbruch unternommen worden. Das damals beschädigte Gitter war durch eine Flansche repariert worden. Grupen hatte mit Hilfe eines zu einer Säge hergerichteten Eßmessers die Nieten der Flansche entfernt und die Stäbe auseinandergebogen. Dann befestigte er ein vom Bett losgerissenes Brett daran, verknüpfte mit diesem ein aus Betttüchern und Laken hergestelltes Seil, und ließ sich daran auf das Dach des Verwaltungsgebäudes herab. Die beiden anderen Gefangenen folgten ihm, der dritte blieb schlafend zurück. An dem Schornstein des Verwaltungsgebäudes befestigte Grupen sodann ein etwa 5 Meter langes, aus Strohmatten hergestelltes Seil und gelangte daruch auf den äußeren Hof des Gefängnisses, und entfloh nach der Wilhelmstraße zu. Seine beiden Genossen verloren ihn bald aus den Augen, irrten die Nacht umher und fanden sich heute morgen um 6 Uhr wieder vor dem Portal des Gerichtsgefängnisses ein. Der zurückgebliebene Strafgefangene fand heute morgen einen Zettel von Grupen vor, aus dem hervorging, daß letzterer ihm eine Schlaftablette in den Kaffe geschüttet habe.

 

Als die Verwerfung der Revision Grupens bekannt geworden war, waren schärfste Beobachtungsmaßnahmen verordnet worden; vor einigen Tagen wurde Grupens Zelle durchsucht. Ein diese Zelle mit bewohnender Gefangener lag zu dieser Zeit krank im Bett, und es ist anscheinend unterlassen worden, dieses Bett besonders zu kontrollieren, sodaß das wahrscheinlich darin verborgene Mattenseil unentdeckt blieb. Ferner war angeordnet worden, Grupens Zivilkleidung aus der Zelle zu entfernen, was jedoch aus bestimmten Gründen bei den anderen drei Gefangenen unterblieb. Einen dieser Anzüge hat sich Grupen angezogen.

 

Mit Genehmigung der Staatsanwaltschaft hatte Grupen gestern nachmittag eine Unterredung mit einem Berliner Journalisten, wobei er vollkommen ruhig blieb, wie schon während der Schwurgerichtsverhandlungen, seine Unschuld beteuerte und erklärte, daß sie einmal bekannt würde, dies allerdings nur auf dem Weg über Altona.

 

In Hirschberg herrscht eine Aufregung, wie es seit Sternickels Zeiten noch nicht wieder der Fall gewesen ist.

 

 

 

Sonnabend, 25. Februar 1922, „Schlesische Zeitung“ Morgenblatt

Zur Flucht Peter Grupens.

Wie weiter aus Hirschberg gemeldet wird, ist die Verfolgung des flüchtigen Grupen sofort mit einer großen Schar von Kriminalbeamten aufgenommen worden. Man verständigte weiter schnellstens die benachbarte Tschechoslowakei, da die Möglichkeit besteht, daß sich Grupen über das Gebirge nach der Grenze gewendet hat.

 

Die Hirschberger Kriminalpolizei teilt zu dem Ausbruch folgendes mit: Peter Grupen befand sich mit noch drei anderen Gefangenen in einer am äußersten Ende des Gebäudes im zweiten Stockwerk gelegenen Gemeinschaftszelle. Mit Hilfe von zweien dieser Gefangenen hat Grupen in der letzten Nacht nach 12 Uhr einen Gitterstab an seinem Zellenfenster mittels einer aus einem Messer selbst gefertigten Säge durchsägt und dann den Stab beiseite geschoben. Durch die so geschaffene Öffnung gelangte Grupen mit seinen beiden Komplizen mittels eines Bettbrettes, das sie an den noch festen Gitterstäben befestigten, auf das Dach eines einstöckigen Nachbargebäudes, von dem sie sich dann mittels aus Schilf und Bettüchern selbstgefertigter Taue herabließen und so in einen Vorgarten zwischen Gerichtsgebäude und Gefängnis gelangten.   P e t e r   G r u p e n ,   der sich zuerst herabgelassen hatte,   e r g r i f f   s o f o r t   d i e   F l u c h t   i n   d e r   R i c h t u n g   d e r   W a r m b r u n n e r   S t r a ß e ,   während seine beiden Mitgefangenen, die ihm nicht nachzukommen vermochten, nach längerem Umherirren in der Stadt sich morgens gegen 6 Uhr bei der Gefängnisverwaltung wieder einfanden. Grupen war bekleidet mit dunkelgrünes Filzhut, feldgrauem Militärjakett, schwarzer Weste, hell- und dunkelgesprenkelter Hose (sog. Pfeffer- und Salzmuster) und schwarzen Schnürschuhen. Er muß unbedingt einen Helfershelfer haben. Die Kriminalpolizei verfolgt in dieser Richtung schon eine bestimmte Spur.

 

*

Hirschberg, 24. Februar.

Die Telegraphenunion verbreitet die Nachricht, daß sich Peter   G r u p e n   am Abend wieder im Gefängnis eingestellt habe.

 

 

 

Sonnabend, 25. Februar 1922, „Schlesische Zeitung“ Abendblatt

Grupen wieder im Gefängnis.

Es bestätigt sich, daß Peter Grupen sich Freitag abend im Gefängnis wieder selbst gestellt hat. Einzelheiten fehlen noch.

 

 

 

Sonnabend, 25. Februar 1922, „Schlesische Zeitung“ Letzte Nachricht des Abendblatts

Zur Flucht Peter Grupens.

Hirschberg, 25. Februar.

Der Doppelmörder Grupen, der sich, wie berichtet, selbst wieder gestellt hat, verweigert jede Aussage über den Grund seines Ausbruchs aus dem Gefängnis und über seinen Aufenthalt während des Freitags. Die Nachforschungen über seinen Verbleib bis zum Freitag abend haben bisher kein positives Ergebnis gehabt.

 

 

 

Sonntag, 26. Februar 1922, „Schlesische Zeitung“

Das Grupen-Abenteuer.

Hirschberg, 25. Februar.

Grupen, der zunächst nach seiner Gestellung jede Auskunft verweigerte, erklärte später, ausgebrochen zu sein, um zu beweisen, daß er aus eigener Kraft seine Freiheit zu erlangen vermöchte und zurückgekehrt zu sein, um seine Unschuld darzutun. Die Erklärung findet keinen Glauben. Man ist der Überzeugung, daß es ihm aus irgend einem Grunde unmöglich geworden ist, sich in Sicherheit zu bringen. Bei seiner Rückkehr ins Gefängnis will Grupen die Mauer mit Hilfe fremder Personen überklettert haben. Diese Personen zu nennen, lehnt Grupen ab. Nachts haben umfangreiche Nachforschungen nach Grupens Helfershelfern, darunter auch Haussuchungen, stattgefunden. Sie haben jedoch keinerlei positives Ergebnis gehabt. Die in Berlin verbreiteten Gerüchte, daß zwei Gefängnisbeamte in Untersuchungshaft genommen worden seien, entbehren jeder Begründung.

 

 

 

Montag, 27. Februar 1922, „Schlesische Zeitung“ Letzte Nachricht des Abendblatts

Neues zu Peter Grupens Flucht.

Nachdem Grupen nach seiner Rückkehr am Freitag abend Angaben über seinen Ausbruch verweigert hatte, schlug er bei den Vernehmungen am Sonnabend eine andere Taktik ein. Er gab bei einem Verhör am Mittag alle bekannt gewordenen Einzelheiten der Flucht zu. Die Annahme, daß er sich als Einarmiger nicht habe an dem Tau herablassen können, bezeichnete er als irrig; im Gegenteil: die Sache sei sehr gut gegangen. Er habe sich das Tau fest zwischen die Beine geklemmt und sich mit dem einen Arm festgehalten. Als die beiden anderen Gefangenen auf dem Gefängnishofe anlangten, will Grupen nach seiner Erklärung wörtlich gesagt haben: „So, nun wollen wir alle drei wieder hineingehen, dann sieht man, daß mir an der Freiheit dann nichts liegt, wenn ich meinen reinen Namen nicht so wiederhaben kann, wie ich ihn hierher gebracht habe.“ Weiter behauptet Grupen, ganz genau gewußt zu haben, wohin er zu gehen habe. Er will den ganzen Tag über in einer Hirschberger Wohnung gewesen sein, aber nicht in der Wohnung eines Gefängnisbeamten. Bei einem späteren Verhör machte Grupen andere Angaben. Er bestätigte zwar wieder die Einzelheiten des Ausbruchs, erklärte aber, sich den Tag über in einem Blitzableiterschacht im Gefängnishofe versteckt zu haben. Diese Angabe klingt wahrscheinlich, wenn man bedenkt, daß Grupen in Strümpfen entflohen ist und bei seiner Rückkehr die Strümpfe tatsächlich nicht so aussahen, als ob er damit weit gelaufen wäre. Daß die Flucht von langer Hand vorbereitet war, dürften folgende Umstände beleuchten: Grupen hatte eine Zeitlang Selbstverpflegung aus einem Gasthause. Anfangs wurde zu dem Essen ein Besteck nicht mitgegeben. Grupen bestand aber darauf, daß die Gastwirtschaft Messer und Gabel lieferte. Zweifellos hat er nun eines Tages ein Messer zurückbehalten und dieses ist dann so kunstgerecht als Säge hergerichtet worden, daß man zweifeln kann, ob Grupen als Einarmiger diese Arbeit verrichtet hat. Um in den Besitz des Schlafpulvers zu gelangen, das er seinem dritten Zellengenossen in das Abendessen geschüttet hat, hat Grupen schon vor längerer Zeit Schlaflosigkeit vorgeschützt. Nach den bisherigen sehr umfangreichen Ermittelungen hat Grupen unter den   G e f ä n g - n i s b e a m t e n   k e i n e   H e l f e r s h e l f e r   gehabt. Wie zur Zeit des Prozesses ist Grupen auch jetzt noch der Held gewisser Frauen. Nicht nur aus Hirschberg und Umgebung, sondern auch aus anderen Orten Deutschlands, vom Kurfürstendamm in Berlin usw., erden Briefe an Grupen gerichtet, die oft von Liebesgaben, wie Blumen und Schokolade, begleitet sind. Selbstverständlich gelangen alle diese Dinge nicht in Grupens Besitz. Überhaupt kämpfen die Hirschberger Staatsanwaltschaft und die Gefängnisleitung einen äußerst schweren Kampf gegen Mächte, die sich die Befreiung Grupens zum Ziele gesetzt haben.

 

 

 

Freitag, 3. März 1922, „Schlesische Zeitung“ Morgenblatt

Selbstmord Grupens.

Hirschberg, 2. März.

Der wegen des Kleppelsdorfer Doppelmordes zweimal zum Tode verurteilte Architekt   P e -  t e r   G r u p e n   hat in seiner Zelle Selbstmord verübt. Gegen 5 Uhr nachmittags wurde er von einem revidierenden Beamten an einem Hosenträger hängend in seiner Zelle tot aufgefunden. Grupen war seit seiner Flucht in der vergangenen Woche in Einzelhaft.

 

Hirschberg, 2. März.

P e t e r   G r u p e n   war nach seinem letzten Fluchtversuch in der Nacht vom 23. zum 24. Februar in einer Einzelzelle untergebracht. Er zeigte keinerlei Zeichen von Erregung, und genoß auch heute sein Mittagessen in vollständiger Ruhe. Gegen 4 Uhr wurde seine Zelle revidiert, und alles in Ordnung gefunden. Um 4 ¾ Uhr fand eine weitere Revision statt. Beiu dieser Gelegenheit fand man Peter Grupen an seinem Hosenträger an der Zentralheizung erhängt vor. Es wurden sofort Wiederbelebungsversuche angestellt, die aber ergebnislos waren. Irgend eine schriftliche Aufzeichnung hat Grupen nicht hinterlassen, auch nicht zu irgend jemand eine Äußerung getan, die auf sein Vorhaben schließen ließ. Er hat also seine Rätsel mit ins Grab genommen. Die Tat spricht jedoch dafür, daß er sowohl den Doppelmord in Kleppelsdorf begangen, wie auch vorher seine auf rätselhafte Weise verschwundene Frau ermordet haben dürfte. Anscheinend wußte Grupen aus seiner verzweifelten Lage keinen anderen Ausweg.

 

 

 

Freitag, 3. März 1922, „Schlesische Zeitung“ Letzte Nachrichten des Abendblatts

Zum Selbstmord Peter Grupens.

Hirschberg, 3. März.

Nach dem Ausbruch war   G r u p e n   wieder in eine Einzelzelle gebracht worden, um ihm die Möglichkeit zu nehmen, bei einem etwaigen neuen Ausbruchsversuch Helfershelfer zu haben. Man hatte ihm auch Fesseln angelegt, die ihm aber abgenommen wurden mit Rücksicht auf seine Einarmigkeit und weil er versprochen hatte, keine Ausschreitungen zu begeben. Als der kontrollierende Beamte gegen 4 Uhr nachmittags wieder an Grupens Zelle kam, sah er, daß die Scheibe des Gucklochs an der Zellentür mit Papier verhängt war. Daraufhin wurde die Zelle geöffnet und   G r u p e n   hing in schräger Stellung an dem Heizkörper. Die   V e r n e h m u n g e n   G r u p e n s   zur Aufklärung seiner am Freitag voriger Woche unternommenen Flucht haben einige bemerkenswerte neue Einzelheiten ergeben. Bereits Donnerstag abend gegen 6 Uhr begannen Grupen und seine Helfershelfer mit dem Zusammenknoten der Leinen. Grupen sah scharf darauf, daß die Knoten sachgemäß geknüpft wurden. In solchen Dingen hatte er als früherer Baugewerkschüler besondere Erfahrung. Er hatte auch Berechnungen über die Stabilität der beiden Bettbretter angestellt, die bei dem Aussteigen aus dem Fenster benutzt wurden. Gegen 3 Uhr morgens begann der Ausbruch. Zunächst kletterte Grupens Zellengenosse   B o h n   durch das Gitter und ließ sich am Tau auf das Dach des Beamtenhauses herab. Dann folgte Grupen, nachdem er die Gitterstäbe noch erweitert hatte, da die Öffnung für seine gedrungene Gestalt zu klein war. Als letzter folgte der Sträfling   V o g t l ä n d e r .   Auf dem Dach angelangt, befestigte Grupen das Schilfseil am Schornstein, an dem sich dann die drei auf die Erde herabließen. Bohn fragte Grupen, ob er ihm und Vogtländer ein Unterkommen verschaffen könnte, worauf Grupen erwiderte:   „ W o   i c h   h i n g e h e ,   k a n n   k e i n e r   m i t k o m m e n . “   Die beiden halfen dann Grupen auf die Gefängnismauer, auf der er bis zum Holzhof des Gefängnisses lief, über den Holzschuppen herab kam Grupen in den Holzhof und versteckte sich dann in dem Blitzableiterschacht, in dem er sich den Tag über aufhielt, bis er sich am Abend am Küchenfenster meldete. Bei seiner Vernehmung hat Grupen, wenn auch erst nach stundenlangem Ausfragen, Auskunft gegeben, woher er die   H i l f s m i t t e l   z u r   F l u c h t   bekommen habe. So erklärte er über die Herbeischaffung des Schilftaues, daß es von einem Mitgefangenen in einem Kübel in die Zelle gebracht worden war. In den letzten Tagen hat Grupen offenbar Mitleid empfunden mit den Gefängnisbeamten, die durch seinen Ausbruch in eine schwierige Lage gekommen sind. Er sprach sein Bedauern aus, den Behörden Arbeit gemacht zu haben. Die Ermittelungen, inwieweit   G e f ä n g n i s b e a m t e   G r u p e n   g e g e n ü b e r   i h r e   D i e n s t p f l i c h t   v e r l e t z t   oder ihm seine Flucht erleichtert haben, sind zu einem gewissen Abschluß gelangt. Ein Beamter ist bereits vom Dienst suspendiert, ein zweiter freiwillig in Urlaub gegangen.

 

 

 

Freitag, 10. März 1922, „Schlesische Zeitung“ Letzte Nachrichten des Abendblatts

(Nachspiel zu Grupens Selbstmord.)

Hirschberg, 10. März.

Der   G e f ä n g n i s i n s p e k t o r   S c h e n t k e ,   der dem   D o p p e l m ö r d e r   G r u p e n   im Gefängnis allerlei Gefälligkeiten erwiesen hat und im dringenden vErdacht steht, Helfershelfer bei der Flucht gewesen zu sein, hat sich, nachdem gegen ihn ein Strafverfahren eingeleitet worden war,   h e u t e   e r s c h o s s e n .

 

 

 

Donnerstag, 16. März 1922, „Schlesische Zeitung“ Morgenblatt

(Zum Fall Grupen.)

Die Familie des wegen Doppelmordes zur Tode verurteilten und inzwischen durch Selbstmord aus dem leben geschiedenen   P e t e r   G r u p e n ,   hat, wie aus Hirschberg berichtet wird, beschlossen, durch Rechtsanwalt   D r .   P u p p e   das   W i e d e r a u f n a h m e v e r f a h r e n   zu betreiben. Auch die   N a c h f o r s c h u n g e n   nach dem Verbleib der verschwundenen   F r a u   G r u p e n   werden fortgesetzt; man will ihr mit Hilfe eines   s p i r i t i s t i s c h e n   M e d i u m s   auf die Spur kommen. Geistergläubige haben sich übrigens schon früher mit dem Fall Grupen beschäftigt. Während der Prozeßverhandlung in Hirschberg traf beim Gericht ein Schreiben des Breslauer Polizeipräsidenten ein, daß laut Mitteilung eines Spiritisten ein Breslauer Spiritistenverein Sitzungen abgehalten habe, bei denen der Geist der ermordeten Dörthe Rohrbeck erschienen sei. Der Vorsitzende gab dies den Prozeßbeteiligten bekannt und fragte, ob ein Antrag auf Ladung des betreffenden Spiritisten gestellt werde; aber sowohl der Staatsanwalt wie die Verteidiger und auch der Angeklagte selbst verzichteten auf die Botschaft aus dem Geisterreiche.

 

 

 

 

 

 

Neuer Görlitzer Anzeiger

 

Mittwoch, 16. Februar 1921 - „Neuer Görlitzer Anzeiger“

Aus der Lausitz und dem Reiche

Doppelmord auf einem niederschlesischen Rittergut

Ein schweres Verbrechen hat sich gestern auf dem bei Lähn gelegenen Rittergut Kleppelsdorf zugetragen. Dort wurde die 17jährige Rittergutsbesitzerin Dorothea Rohrbeck und ihre 12jährige Verwandte erschossen aufgefunden. Ein Onkel der Ermordeten ist unter dem Verdacht der Täterschaft verhaftet worden.

 

Uns sind über die Angelegenheit, die in der Lähner und Hirschberger Gegend großes Aufsehen erregt, folgende Meldungen zugegangen:

 

Lähn, 15. Februar. Ein blutiges Drama spielte sich gestern (Montag) Mittag in Kleppelsdorf ab. Die 17jährige Tochter des verstorbenen Rittergutsbesitzers Rohrbeck wurde in ihrem Zimmer, nachdem sie kurz vorher von Lähn zurückgekehrt war, mit einer Schußwunde in der Brust tot und ihre 12jährige Verwandte tödlich verletzt, mit einer Schußwunde am Kopf, aufgefunden. Einige Stunden später ist diese verschieden. Der am Tatorte gefundene Revolver gehörte angeblich niemandem und wurde beschlagnahmt. Der Staatsanwalt aus Hirschberg wurde telegraphisch herbeigerufen und ist gegenwärtig mit der Aufklärung der Angelegenheit beschäftigt.

 

Wegen des Doppelmordes auf Schloß Kleppelsdorf ist dem „Boten aus dem Riesengebirge“ zufolge der Onkel der ermordeten Rittergutsbesitzerin, ein gewisser Peter Grupen aus Berlin, unter dem dringenden Verdacht der Mittäterschaft verhaftet worden. Die 16jährige Besitzerin des Schlosses Kleppelsdorf, Dorothea Rohrbeck, alleinige Erbin von drei Rittergütern, wurde von dem Dienstmädchen in ihrem Zimmer durch mehrere Schüsse in Hals und Brust verletzt tot aufgefunden. In demselben Zimmer wurde die auf Kleppelsdorf zu Besuch weilende 12jährige Cousine der Rohrbeck, Ursula Schade aus Berlin, mit einem Schuß über dem rechten Auge schwer verletzt aufgefunden. Sie ist zwei Stunden darauf ihren Verletzungen erlegen. Im Zimmer fand man einen Damenrevolver, der jedoch noch gesichert war. In der Tasche der Ursula Schade wurde ein Brief, an die in Berlin wohnende Großmutter der Schade adressiert, gefunden, in dem das Kind mitteilt, die Rohrbeck und sich dann selbst erschossen zu haben. Auf dem Gute weilten außer dem Dienstpersonal und der Gesellschafterin der Rohrbeck, z. Z. die neunjährige Schwester der Schade und der Stiefvater der beiden kleineren Mädchen, zugleich der Onkel der Dorothea Rohrbeck, der nunmehr verhaftete Peter Grupen aus Berlin.

 

 

 

Donnerstag, 17. Februar 1921 - „Neuer Görlitzer Anzeiger“

Aus der Lausitz und dem Reiche

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf

Zu der furchtbaren Tat, die sich am Montag Mittag auf Schloß Kleppelsdorf bei Lähn abgespielt hat, werden noch folgende Einzelheiten berichtet:

 

Lähn, 16. Febr. Vor etwa 30 Jahren wurde das Rittergut Kleppelsdorf, zu dem die Vorwerke Gieshübel und Kuttenberg gehören, insgesamt 315 Hektar groß, von einem gewissen Rohrbeck gekauft. Dieser stammte aus Tempelhof bei Berlin und gehörte zu den Millionenbauern, die durch enorme Preissteigerung von Grund und Boden in der Nähe von Berlin reich geworden waren. R. und seine Frau sind gestorben und hatten als alleinige Erbin die jetzt 16 Jahre alte Tochter hinterlassen, die auf dem Schlosse wohnte.

 

Fräulein Rohrbeck war Montag gegen 12 Uhr noch in Lähn. Als sie nach Hause kam, gesellte sich die kleine Schade zu ihr, und beide gingen in ein Zimmer. Die Hausdame von Fräulein Rohrbeck, Frau Zahn, wünschte von Fräulein R. eine Auskunft und wollte sie durch ein Dienstmädchen zu sich bitten lassen. Das Mädchen fand die beiden erschossen auf. Im Zimmer lag ein noch gesicherter Damenrevolver. Gleichzeitig mit der Ursula Schade und deren neunjähriger Schwester befand sich deren Stiefvater, ein Herr Peter Grupen aus Berlin, also ein Onkel der Rohrbeck, seit einigen Tagen auf dem Schlosse. Unter dem dringenden Verdacht, mit dem Morde in Verbindung zu stehen, wurde Grupen Dienstag früh verhaftet. Am Vormittag weilte eine Gerichtskommission mit Staatsanwaltschaftsrat Mertens und Amtsgerichtsrat Thomas aus Hirschberg und dem Kreisarzt Dr. Petersen aus Löwenberg auf dem Schlosse, wo an Ort und Stelle Vernehmungen stattfanden.

 

Die auf so schreckliche Weise um ihr junges Leben gebrachte Dorothea Rohrbeck war ein hübsches, lebenslustiges Mädchen und erfreute sich in Kleppelsdorf und Lähn großer Beliebtheit. Sie soll von ihren Verwandten ziemlich knapp gehalten worden sein. Verwalter des Gutes ist Direktor Bauer. In Lähn herrscht natürlich über den Vorgang helle Aufregung, und als der verhaftete Grupen gestern, Dienstag, zum Verhör gebracht wurde, nahm auf der Goldberger Straße eine Menschenmenge eine ziemlich drohende Haltung gegen ihn ein.

 

 

 

Freitag, 18. Februar 1921 - „Neuer Görlitzer Anzeiger“

Die Tragödie der jungen Schlossherrin

Neue Feststellungen über den Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.

Die geheimnisvollen Vorgänge auf Schloß Kleppelsdorf bei Lähn, die den Tod der 16jährigen Schloßbesitzerin Dorothea Rohrbeck und ihrer 12 Jahre alten Base Ursula Schade aus Berlin zur Folge hatten, sind noch nicht völlig aufgeklärt. Doch beweist die Verhaftung des 41 Jahre alten Architekten Peter Grupen aus Oldenbüttel bei Itzehoe, daß man in ihm, der der Onkel der erschossenen Dorothea Rohrbeck und der Stiefvater der Ursula Schade war, wen die Gerichtsbehörden, die die Untersuchung führen, als den Schuldigen in diesem Drama betrachten. Zwar leugnet Architekt Grupen jede Schuld, aber eine Reihe von auffallenden und überzeugenden Tatsachen läßt es nahezu sicher erscheinen, daß Grupen seit zwei Jahren schon das Ziel verfolgt, alle Erben der Rohrbeckschen Güter zu beseitigen, um sich selbst schließlich in deren Besitz zu setzen.

 

Ein Sonderberichterstatter der „Berl. Morgenpost“ meldet zu dem Vorfall noch folgendes:

Die Einsamkeit der jungen Schloßherrin wurde vor etwa 8 Tagen durch den Besuch ihrer Verwandten unterbrochen. Ihre beiden Cousinen, die 12jährige Ursula Schade und die 9jährige Irma Schade, waren aus Oldenbüttel mit ihrem Stiefvater, dem Architekten Peter Grupen, auf dem Schloß angekommen. In ihrer Begleitung befand sich auch die alte Frau Eckhardt, die Großmutter der beiden Mädchen und zugleich auch die Großmutter von Dorothea Rohrbeck. Grupen, dem es in letzter Zeit sehr schlecht gegangen war, und der allerhand dunkel Schiebergeschäfte getätigt hatte, hoffte durch eine spätere Heirat mit der jungen reichen Dorothea Rohrbeck seine finanziellen Verhältnisse zu verbessern. Aus Briefen, die man bei ihr gefunden hat, ergab sich, daß er sie mit Heiratsanträgen verfolgt hat, aber stets abgewiesen wurde, was weiter nicht wundern kann, da Grupen um vieles älter war. Am Tage des Mordes war Dorothea wie immer, um 12 Uhr mittags zur Post gegangen, um dort Briefe abzuholen. Auf dem Heimwege hat sich ihr die jüngere Cousine Ursula Schade angeschlossen und ist mit ihr in den Vorraum des Eßzimmers gegangen. Dort fand man kurz darauf Dorothea tot und Ursula Schade sterbend auf dem Fußboden liegend. Während zunächst von der Untersuchungsbehörde angenommen war, daß Grupen den beiden Kindern in dem Zimmer aufgelauert und beide erschossen habe, neigt man jetzt zu der Annahme, daß tatsächlich Ursula Schade ihre Cousine Dorothea und dann sich selbst erschossen hat. Nur nimmt man an, daß Ursula Schade auf keinen Fall aus eigenem Entschluß die furchtbare Tat begangen haben kann, sondern daß sie unter einem von ihrem Stiefvater ausgeübten Zwange gehandelt hat. Überdies ist erwiesen, daß Ursula ganz kurze Zeit vor dem verhängnisvollen Schuß mit einem Gutsangestellten über einen in den nächsten Tagen zu unternehmenden Ausfluge geplaudert hatte, wobei sie keinerlei Bewegung besonderer Art verriet. Es sind bereits Sachverständige der Hypnose und Telepathie zur Begutachtung des Falles aufgefordert worden. Die Vernehmung der Hausangestellten hat ferner ergeben, daß Grupen die Bediensteten, die sich in der kritischen Zeit in der nahe dem Mordzimmer gelegenen Küche befanden, fortgeschickt hat, so daß niemand von den zahlreichen Hausbewohnern die drei abgefeuerten Schüsse vernommen hat.

 

Gegen Grupen haben sich noch verschiedene andere Verdachtsmomente ergeben. Ein Fund, der bei der Hausuntersuchung gemacht wurde, schloß indessen den Ring der Verdachtsgründe, so daß zu seiner sofortigen Verhaftung geschritten wurde. Man fand nämlich im Zimmer der Großmutter, Frau Eckhardt, unter anderem belastendem Material eine Flasche Kognak, die ihr von ihrem Schwiegersohn Grupen geschenkt worden war, deren Inhalt aber, wie festgestellt wurde, vergiftet war. Es ist also klar, auf welcher Linie sich das Verbrechen des Grupen, wenn man ihn für den Schuldigen an der Ermordung der jungen Gutsherrin hält, bewegt hat. Auch die alte Frau war, wenn Dorothea und deren Cousine aus dem Wege geräumt war, eine Erbin, und zwar die zuständige, die beseitigt werden mußte, dann erst hatte Grupen Anrecht darauf, als Erbe des großen Besitzes in Frage zu kommen. 

 

 

 

Sonnabend, 19. Februar 1921 - „Neuer Görlitzer Anzeiger“

Lähn, 18. Febr.

Zu dem Doppelmord in Kleppelsdorf

ist mitzuteilen, daß der Verhaftete Peter Grupen in das Gefängnis nach Hirschberg überführt worden ist. Vor dem Bahnhofe hatten sich Hunderte von Menschen angesammelt, die sehr erregt waren und Drohungen gegen den Internierten ausstießen. Wenn es den begleitenden Beamten nicht geglückt wäre, ihn schnell im Packwagen unterzubringen, wäre er von der Menge gelyncht worden.

 

 

 

Sonntag, 20. Februar 1921 - „Neuer Görlitzer Anzeiger“

Aus der Lausitz und dem Reiche

Die Tragödie von Kleppelsdorf

Lähn, 19. Februar. In unserem kleinen Städtchen herrscht seit einigen Tagen größte Aufregung. Noch nie hat diese friedliche Gegend eine derartig traurige Sensation erlebt, wie sie der Mord an der Rittergutsbesitzerin Dorothea Rohrbeck darstellt. Das junge Mädchen war in der ganzen Gegend, besonders aber in Lähn, sehr bekannt und beliebt. Sie war frisch, lebenslustig und sehr hübsch und pflegte viele Arme in Lähn persönlich aufzusuchen, um ihnen ihre kleinen Spenden zu überbringen. Mit Rat und Hilfe und auch mit Geldunterstützung war sie immer bei der Hand, wenn es irgendwo an etwas fehlte. Sie verkehrte auf den wenigen umliegenden Gütern auf Waltersdorf und bei den Besitzern der Burgruine Lähn, und die Schüler des Pädagogiums Lähn waren allesamt in das schöne Mädchen verliebt.

 

Die Hirschberger Staatsanwaltschaft, die die Untersuchung des geheimnisvollen Doppelmordes durchführt, ist auf der Suche nach dem bisher verschwundenen Vormund der erschossenen Rittergutsbesitzerin Dorothea Rohrbeck. Der Mann, dessen Name zunächst noch von der Behörde geheimgehalten wird, soll sich auf einem Gut in der Nähe Berlins aufhalten. Briefe, die man bei dem verdächtigen Architekten Peter Grupen aus Oldenbüttel vorfand, belasten auch den Vormund sehr. Besonderes Augenmerk richtet man jetzt auch auf die angeblich nach Amerika ausgerückte Ehefrau Grupen, die verwitwete Frau Schade, die Mutter der ermordeten Ursula Schade. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Grupen auch seine Frau auf irgendeine Weise zu beseitigen oder zu entfernen versucht hat.

 

Am Freitag wurde der Architekt noch einmal einem Kreuzverhör unterzogen. Das Berliner Polizeipräsidium trägt sich mit dem Plan, einen Kommissar zur Unterstützung der Lähner Untersuchungskommission an den Tatort zu entsenden.

 

Von unserem Berichterstatter werden noch folgende Einzelheiten gemeldet:

Hirschberg, 19. Februar. Aus Lähn wird folgendes berichtet: Am Donnerstagnachmittag fand die Sezierung der Leichen der beiden jungen Mädchen durch zwei Kreisärzte im Beisein einer Gerichtskommission statt. Sie ergab, daß die Rohrbeck durch einen Schuß von der Seite durch den Hals in den Kopf getötet worden ist. Ein zweiter Schuß saß in der Hüfte. Bei der kleinen Schade war der Schuß über dem rechten Auge in den Kopf gedrungen. Die Leiche der Rohrbeck ist freigegeben, die der Schade noch nicht. Die Beerdigung der Rohrbeck findet heute (Sonnabend) in Kleppelsdorf statt. Eine Überraschung ergab die Sezierung noch, und zwar die, daß sich herausstellte, daß die bekanntlich erst 12 Jahre alte Ursula Schade schon einmal einer Quecksilberkur unterworfen gewesen ist. Wie stark die Erregung unter der Bevölkerung über die Tat ist, zeigt die Tatsache, daß, als am Donnerstagabend in Lähn ein Wagen mit den Ärzten nach dem Bahnhofe fuhr, er von einer erregten Menschenmenge angehalten wurde, da man glaubte, daß sich in dem Wagen die Großmutter der beiden jungen Mädchen befände, gegen die sich auch eine starke Mißstimmung richtet. Über die Tat selbst ist bis jetzt bekannt, daß die Schüsse, durch die die beiden jungen Mädchen getötet wurden, aus dem Revolver des verhafteten Onkels der Rohrbeck, des 26 Jahre alten Peter Grupen aus Oldenbüttel bei Itzehoe, stammen. Die in Berlin bereits aufgestellte Behauptung, die 12 Jahre alte Ursula Schade habe unter hypnotischem Zwange des Peter Grupen erst die Rohrbeck und dann sich selbst erschossen, scheint sich nicht zu bestätigen. Man nimmt vielmehr jetzt an, daß das junge Mädchen wohl den Brief an ihre Großmutter unter hypnotischem Zwange geschrieben hat, daß aber die Tat von Grupen selbst ausgeführt worden ist. Eine Haussuchung in seiner Wohnung in Oldenbüttel hat weiter Material gegen ihn zu Tage gefördert. Schwer belastet wird, wie schon kurz berichtet, auch der Vormund der beiden jungen Mädchen, der verschwunden ist. Dagegen ist das Gerücht, daß der Gegenvormund, Gutsdirektor Bauer, irgendwie in die Angelegenheit verwickelt sein soll, unrichtig. Bauer ist an der ganzen Sache unbeteiligt. Ein Geheimnis, wie über manches in dieser Angelegenheit, schwebt auch über dem Schicksal der zweiten Frau des Grupen, der Witwe des Berliner Apothekersohnes Schade. Es besteht die dringende Vermutung, daß die Frau sich gar nicht in Amerika befindet, sondern in irgendeinem Sanatorium.

 

 

 

Dienstag, 22. Februar 1921 - „Neuer Görlitzer Anzeiger“

Aus der Lausitz und dem Reiche

Hirschberg, 21. Februar

Zum Doppelmord in Kleppelsdorf

Am Sonnabendnachmittag fand die Beerdigung der von der Staatsanwaltschaft freigegebenen Leiche der kleinen Schade statt. Bei der Trauerfeier im Schlosse hielt der Superintendent Buschbeck (Lähn) eine kurze, ergreifende Ansprache. Dann wurde die Leiche durch das Städtchen Lähn nach dem evangelischen Friedhof von Lähn gefahren, wo nach Gebet des Geistlichen und Gesang der Schulkinder die Beisetzung erfolgte. An der Beerdigung nahmen u. a. die Großmutter der Ermordeten, Frau Apotheker Schade (Berlin), der Bruder des verstorbenen Gutsbesitzers Rohrbeck, der das Jagdschloß St. Hubertus bei Zielenzig besitzt, und der Vormund der ermordeten Rohrbeck, der Hauptmann Vielhack (Charlottenburg) teil. Entgegen einer früheren Nachricht Berliner Blätter muß festgestellt werden, daß Vielhack mit der Tat in gar keiner Beziehung steht und auch nicht verschwunden ist. Dagegen besteht in der Bevölkerung von Lähn und Umgegend eine starke Erregung gegen den Gegenvormund der ermordeten Gutsherrin, den Güterdirektor Bauer, der das Rittergut Kleppelsdorf verwaltete und mit auf dem Schloß wohnte. Zwar steht auch er der Tat völlig fern, aber man erhebt gegen ihn den Vorwurf, daß er die Gutsherrin sehr kurz gehalten hat, so daß diese nur sehr wenig von ihrem Reichtum hatte. - Nach der Beerdigung der kleinen Schade war die Besichtigung der im Schloß aufgebahrten Leiche der jungen Gutsherrin gestattet. Das Gutspersonal und die Bevölkerung von Kleppelsdorf und Lähn kamen sehr zahlreich, um von der Toten, die wegen ihres frischen, fröhlichen Wesens und ihrer oft geübten Wohltätigkeit sehr beliebt war, Abschied zu nehmen. Still und friedlich, aber um Jahre gealtert, waren die schönen Gesichtszüge, wohl ein Beweis, daß die Verstorbene plötzlich und ohne Schmerzen vom Tode überrascht worden ist. Am Montagnachmittag 3 ½ Uhr findet die Beerdigung statt. Die Untersuchung gegen Grupen wird eifrig fortgesetzt. Es erscheint sicher, daß er sich an der ermordeten 12jährigen Schade auch in sittlicher Weise vergangen und das Kind angesteckt hat, wie es bei der Sezierung festgestellt wurde. Der Behörde wäre es von größtem Werte, etwas über den Verbleib der Frau Grupen, verwitweten Schade, zu erfahren. Die Angabe des Grupen, seine Frau habe ihn und ihre aus erster Ehe stammenden Kinder verlassen und sei nach Amerika gegangen, erscheint sehr zweifelhaft. Anscheinend ist Grupen eine Verbrechernatur der allerschlimmsten Art. Zurzeit werden auch Versuche nach wissenschaftlicher Methode, wegen der Anwendung der Hypnose usw. angestellt. Grupen hat neben seinen Stiefkindern auch ein Kindermädchen mit auf Schloß Kleppelsdorf gebracht, das seine Geliebte war. Das Mädchen kann oder will aber über die Tat keine erheblichen Mitteilungen machen. Grupen ist, wie nochmals festgestellt sei, nicht 41, sondern 26 Jahre alt. Er war im Kriege Offizier und hat einen Arm verloren.

 

 

 

Mittwoch, 23. Februar 1921 - „Neuer Görlitzer Anzeiger“

Aus der Lausitz und dem Reiche

Lähn, 22. Februar

Zu einer großen Trauerkundgebung gestaltete sich die gestrige Beerdigung der durch Mörderhand so jäh aus dem Leben gerissenen Dorothea Rohrbeck auf Schloß Kleppelsdorf. Tausende von Menschen hatten sich eingefunden, um die Verewigte zur letzten Ruhestätte zu begleiten. Um 3 ¼ Uhr Nachmittag erfolgte die Einsegnung der aufgebahrten Leiche im Schlosse, nach vorangegangenem ernsten Gesange des evangelischen Kirchenchores und stimmungsvollen Harmoniumklängen. Mit einer kurzen, eindrucksvollen Ansprache des Herrn Superintendenten Buschbeck endete die Feier im Hause, worauf sich der fast unübersehbare Leichenzug unter Choralmusik nach dem Friedhof in Lähn bewegte. Hier hielt Herr Superintendent Buschbeck eine warm empfundene und zu Herzen gehende Trauerrede. Mit einigen Lieblingsliedern der Verstorbenen endete die ernste Feier. Die Beerdigung verlief völlig ruhig und der verstärkte polizeiliche Schutz hatte keine Veranlassung, irgendwie in Aktion zu treten.

 

 

 

Sonntag, 27. Februar 1921 - „Neuer Görlitzer Anzeiger“

Das neue Verbrechen in Lähn

Die Beraubung der Leiche der ermordeten Schloßherrin

Wir haben bereits an anderer Stelle (Aus der Lausiz und dem Reiche) über das neue Verbrechen in Lähn, wo der Sarg der ermordeten Schloßherrin Dorothea Rohrbeck aufgebrochen und die Leiche beraubt wurde, berichtet. Hierzu werden uns von unserem Lähner Berichterstatter noch folgende Einzelheiten mitgeteilt:

Lähn, 26. Februar. Selbst im Grabe kann man der ermordeten Schloßherrin noch keine Ruhe gönnen. In der Nacht zum Freitag ist das Grab geöffnet worden. Die Täter holten aus dem verschlossenen Bahrhause auf dem anstoßenden alten Friedhofe, das sie wahrscheinlich mittels Nachschlüssel öffneten, Hacken und Schaufeln und beseitigten den Grabhügel am Kopfende bis auf den Sargdeckel. Dieser wurde zertrümmert. als ein Steinmetz aus Hußdorf, der den Auftrag hatte, eine Sandstein-Einfassung um das Grab herzustellen, am Freitag früh zum Ausmessen des Grabes kam, bemerkte er die Öffnung. Er vermutete eine angeordnete Ausgrabung und meldete dies der Totengräberin. Da diese hiervon nichts wusste, machte sie hiervon dem Kirchkassenrendenten Sauer Mitteilung. Inzwischen gelangte diese Nachricht auch an das Amtsgericht, worauf Amtsgerichtsrat Thomas sich mit Polizeiorganen zum Grabe begaben. Das Kruzifix vom Sargdeckel lag zerschmettert beim Grabe. Der Sargdeckel wies eine größere Öffnung auf, die mit einem Kissen zugedeckt war. Auf den freigelegten Teil des Sarges war etwas Erde gestreut. Der Kirchhof wurde abgeschlossen und bewacht, während mit einem Auto ein Spürhund auf Greiffenberg herbeigeholt wurde. Gegen 2 Uhr nachmittags traf der Staatsanwalt mit dem Untersuchungsrichter und einem Kriminalbeamten aus Hirschberg am Tatorte ein. Nach Besichtigung der Grabstelle wurde der Friedhof durch den Spürhund abgesucht. Trotz der Absperrung des Friedhofes am Vormittag waren schon zahlreiche Personen auf der Straße und in den Friedhof gegangen, so daß das Auffinden der Spur sehr erschwert war. Trotzdem wurden durch den Hund verschiedene Stellen besonders markiert, und noch festgestellt, daß auch die Seilersche Gruft geöffnet worden war. Inzwischen wurde der Sarg der Rohrbeck vollständig freigelegt, und man bemerkte, daß der Sargdeckel am Kopfende eingeschlagen worden war. Der Leiche war das seidene Kleid ausgezogen, und dieses, nebst Schärpe, sowie die Schuhe, ein seidenes Kissen, ferner die Spitzen von der Unterwäsche abgetrennt und geraubt worden. Nachdem die Leiche frisch bekleidet, wurde die Öffnung des Sarges wieder geschlossen und dieser zum zweiten Male der Erde übergeben. Nachts gegen 3 Uhr sollen von Personen dumpfe Schläge vernommen worden sein. Der Täter hatte mit kleinen Holzstückchen die Sargöffnung überdeckt und darauf das eine Kissen gelegt. Beim weiteren Zuschütten des Grabes sind die Täter wahrscheinlich gestört worden.

 

(Der Vorfall der Leichenberaubung in Lähn erinnert recht lebhaft an jenes scheußliche Verbrechen, das im Sommer auf dem Görlitzer Friedhofe verübt wurde. Auch hier in Görlitz wurde nachts das Grab eines jungen Mädchens geöffnet und die Leiche beraubt. Dieses Verbrechen ist bis heute noch unaufgeklärt geblieben.)

 

27.02.1921 - Rubrik „Aus der Lausiz und dem Reiche“ gibt es auf der Verfilmung der SBB Westhafenspeicher nicht!

 

 

 

Sonnabend, 5. März 1921 - „Neuer Görlitzer Anzeiger“

Aus der Lausitz und dem Reiche

Lähn, 4. März

Die Tragödie von Kleppelsdorf

Trotz eifrigster Tätigkeit der Staatsanwaltschaft in Hirschberg und der Polizeibehörden ist es noch nicht gelungen, das Dunkel, das über der Tragödie von Schloß Kleppelsdorf lastet, etwas zu erhellen. Einen sehr wichtigen Punkt in der noch schwachen Kette der Beweisführung, die sich in der Hauptsache gegen den in Haft befindlichen Architekten Grupen richtet, bildet das eigenartige Verschwinden der Frau Gertrud Grupen. Durch Zeugenvernehmungen konnte einwandfrei festgestellt werden, daß man es bei Frau Grupen mit einer sehr exzentrisch veranlagten Persönlichkeit zu tun hat. Die Dame ist die Tochter eines Direktors Eckert aus Tempelhof bei Berlin und heiratete in jungen Jahren den Apothekenbesitzer Schade aus Perleberg. Dieser, auch noch ein junger Mann, verunglückte auf eigenartige Weise tödlich bei einem Jagdunglück. Der Ehe entstammen die beiden Töchter Ursula und Irma. Bald nach dem Tode des Apothekers verlobte sich Frau Schade mit einem Tierarzt Reske aus Holstein. Reske starb aber noch vor der Hochzeit, und Frau Schade lernte jetzt in Hamburg den Architekten Peter Grupen kennen, der dort eine Villa besaß. Auch hier kam das Verlöbnis sehr schnell zustande, und nach der Eheschließung siedelte das Paar nach Itzehoe über. Hier setzt nun die Verwicklung ein. Um die Weihnachtszeit 1920 begab sich Frau Grupen mit ihren Kindern nach Kleppelsdorf zu ihren Verwandten, der jetzigen ermordeten Gutsbesitzerin Dorothea Rohrbeck. Dort ist sie auch eingetroffen, bevor der Ehemann nachfolgt, aber auch von dort verschwunden. Wenn Grupen behauptet, seine Frau sei bereits aus Itzehoe verschwunden, so dürfte die Angabe unzutreffend sein. In Itzehoe ist zwar ein Brief der Frau Grupen gefunden worden, der inhaltlich besagt, daß sie nach Amerika auswandere. Dieser Brief dürfte aber gefälscht sein, denn ein großer gepackter Reisekoffer ist in der Wohnung in Itzehoe stehen geblieben. Frau Grupen hat lediglich einen Geldbetrag von etwa 70 000 Mark mitgenommen. Es klaffen aber zwischen der Darstellung des Verhafteten und den bisherigen Ermittlungen noch große Lücken, die noch einer genauen Aufklärung bedürfen. Auch die Hamburger Polizei hat sich mit der Angelegenheit befaßt. Sie hat festgestellt, daß in Hamburg, von wo aus Frau Grupen die Amerikafahrt angeblich antreten wollte, kein Reisepaß ausgestellt worden ist.

 

 

 

 

 

 

Berliner Morgenpost

 

Mittwoch, 16. Februar 1921, „Berliner Morgenpost“, S. 1

Doppelmord auf einem schlesischen Schloß.

Geheimnisvoller Tod der sechzehnjährigen Schloßherrin. -

Ein Berliner Kaufmann unter Mordverdacht verhaftet.

 

Hirschberg, 15. Februar.

Ein bisher noch nicht ganz aufgeklärtes, rätselhaftes Verbrechen hat sich auf dem Schlosse Kleppelsdorf bei Lähn im Riesengebirge ereignet. Dort wurde die Besitzerin des Rittergutes, die sechzehn Jahre alte Dorothea   R o h r b e c k ,   kurz nachdem sie von einer Fahrt nach Hirschberg (Anmerkung: aus Lähn) zurückgekehrt war, in ihrem Zimmer tot aufgefunden. Sie war durch mehrere Schüsse in Hals und Brust getötet worden. Neben ihr lag mit einer Schußwunde über dem rechten Auge ihre zwölfjährige Cousine, Ursula   S c h a d e   aus Berlin, die vor einiger Zeit mit ihrer neunjährigen Schwester nach Kleppelsdorf zu Besuch gekommen war. Sie starb zwei Stunden nach Entdeckung der Tat, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. In ihrer Tasche fand man einen Brief na ihre Großmutter in Berlin, in dem sie mitteilt, daß sie zuerst ihre Cousine und dann sich selbst erschießen werde. Die Tat des Kindes schien völlig rätselhaft, und die aus Hirschberg herbeigekommene Gerichtskommission verhaftete noch in der Nacht den ebenfalls auf dem Schlosse zu Besuch weilenden Stiefvater der beiden Schwestern Schade und Onkel des Fräuleins Rohrbeck, den angeblichen Kaufmann   G r u p e ,   nach einer anderen Meldung   G r u p e r   aus Berlin, unter dem Verdachte des Mordes oder zumindest der Mittäterschaft.

 

Die ermordete sechzehnjährige Schloßbesitzerin Dorothea Rohrbeck war die Tochter eines Grundstückspekulanten in Berlin-Tempelhof, der beim Ausbau der Tempelhofer Territorien zum Millionär geworden war und sich schon vor dreißig Jahren die Herrschaft Kleppelsdorf und noch zwei andere Rittergüter in Schlesien gekauft hatte. Er ist vor wenigen Jahren gestorben, auch seine Frau lebt nicht mehr. Dorothea Rohrbeck, die einzige Tochter des Ehepaares, erbte den riesigen Besitz. Sie hielt sich mit einer Gesellschafterin und ziemlich großem Dienstpersonal auf dem Schlosse Kleppelsdorf auf. Ueber ihre Beziehungen zu ihren Berliner Verwandten ist bisher noch nichts bekannt, auch über die Herkunft und die Persönlichkeit des verhafteten Onkels Gruppe werden zurzeit noch Erhebungen gemacht. So viel bis jetzt verlautet, soll seine erste Frau auf einem Ausfluge auf bisher nicht bekannte Weise verunglückt und gestorben sein. Seine zweite Frau, die Mutter der beiden Mädchen, die auf Schloß Kleppelsdorf bei ihrer weilten, soll nicht in Berlin, sondern in Amerika leben. Die Mädchen haben, wie es heißt, bei ihrer Großmutter in Berlin gelebt. Ueber den Gang der Untersuchungen wird vorläufig noch Stillschweigen bewahrt.

 

 

 

Donnerstag, 17. Februar 1921, „Berliner Morgenpost“, S. 1-2

Die Tragödie auf Schloß Kleppelsdorf

Häufung der Verdachtsgründe gegen Grupen. -

Hypnose und Telepathie im Dienste des Verbrechens.

- Von unserem nach dem Tatort entsandten Sonderberichterstatter. -

 

Lähn in Schlesien, 16. Februar.

Die geheimnisvollen Vorgänge auf Schloß Kleppelsdorf, die den Tod der sechzehnjährigen Schloßbesitzerin Dorothea  R o h r b e c k   und ihrer 12 Jahre alten Base Ursula   S c h a d e   aus Berlin zur Folge hatten, sind noch nicht völlig aufgeklärt. Doch beweist die Verhaftung des einundvierzig Jahre alten Architekten Peter  G r u p e n  aus Oldenbüttel bei Itzehoe, daß man in ihm, der der Onkel der erschossenen Dorothea Rohrbeck und der Stiefvater der Ursula Schade war, wen die Gerichtsbehörden, die die Untersuchung führen, als den Schuldigen in diesem Drama betrachten. Zwar leugnet Architekt Grupen jede Schuld, aber eine Reihe von auffallenden und überzeugenden Tatsachen läßt es nahezu sicher erscheinen, daß Grupen seit zwei Jahren schon das Ziel verfolgte, alle Erben der Rohrbeckschen Güter zu beseitigen, um sich selbst schließlich in deren Besitz zu setzen.

 

Schloß Kleppelsdorf liegt in nächster Nähe des Städtchens Lähn am Bober, 17 Kilometer von Hirschberg entfernt. Es ist ein villenartiges zweistöckiges Herrenhaus, auf einer Seite von Wirtschaftsgebäuden und Bauernhäuschen, auf der anderen Seite von einem großen Park umgeben, und liegt völlig abseits vom Verkehr. Das Schloß und das dazu gehörige Rittergut gehört seit Jahrzehnten der Familie   R o h r b e c k ,   die außerdem noch ein Gut in Gieshübel und eines in Kuttenberg besaß. In diesem Schloß wohnte das sechzehnjährige Fräulein Dorothea Rohrbeck. Der Vater war erst vor zwei Jahren gestorben (Anmerkung: am 23.10.1914), ihre Mutter, eine geborene Eckhart aus Berlin, hatte schon bei der Geburt der einzigen Tochter das Leben eingebüßt. So war Dorothea Rohrbeck Alleinerbin des gesamten beweglichen und unbeweglichen Vermögens der Rohrbecks geworden. Eine junge Dame diente ihr als Gesellschafterin. Außerdem gab es natürlich auf dem großen Gute zahlreiches Dienstpersonal. Um die Verwaltung des Gutes selbst brauchte sich die Erbin nicht zu kümmern, sie lag in den Händen eines alten, schon vom Vater her bewährten Direktors.

 

Die Einsamkeit der jungen Schloßherrin wurde vor etwa acht Tagen durch den Besuch ihrer Verwandten unterbrochen. Ihre beiden Cousinen, die zwölfjährige Ursula   S c h a d e   und die neunjährige Irma Schade waren aus Oldenbüttel mit ihrem Stiefvater, dem Architekten Peter  G r u p e n , auf dem Schloß angekommen. In ihrer Begleitung befand sich auch die alte Frau        E c k h a r d t ,   die Großmutter der beiden Mädchen und zugleich auch die Großmutter von Dorothea Rohrbeck. Die Großmutter und die beiden jungen Mädchen Schade hatten seit einiger Zeit bei Grupen in Oldenbüttel Aufenthalt genommen, obwohl ihre Mutter, aus deren erster Ehe mit dem Berliner Apothekersohn Schade in der Großgörschenstraße die Mädchen stammten. (…) ihren Mann, Peter Grupen, schon vor längerer Zeit verlassen hatte und nach Amerika gegangen war. Es ist auffallend, daß Grupen, dem es gar nicht gut gegangen zu sein scheint, und der sich nur mit großer Mühe aus dunklen Schiebergeschäften seinen Lebensunterhalt verdiente, ohne irgend dazu verpflichtet zu sein, die Last der Erhaltung der beiden Stieftöchter und der Großmutter auf sich geladen hat. Es ist kaum anders zu erklären, als dadurch, daß die jungen Mädchen die nächsten Erbinnen der Schloßbesitzerin von Kleppelsdorf waren und Grupen dadurch irgendwie hoffte, in den Besitz des großen Erbes zu gelangen. Zunächst scheint er es dadurch versucht zu haben, daß er die sechzehnjährige Dorothea zur Frau gewinnen sollte. Aus Briefen, die man bei ihr gefunden hat, ergab sich, daß er sie mit Heiratsanträgen verfolgt hat, aber stets abgewiesen wurde, was weiter nicht wundern kann, da Grupen um vieles älter war. Uebrigens hat er im Kriege einen Arm verloren. Dorothea Rohrbeck hat diese Abweisung mit dem Tode gebüßt. Wie es jedoch zu der Bluttat gekommen ist, bedarf noch immer der völligen Aufklärung.

 

Am Tage des Mordes war Dorothea, wie immer um 12 Uhr mittags zur Post gegangen, um dort Briefe abzuholen. Auf dem Heimwege hat sich ihr die jüngere Cousine Ursula Schade angeschlossen und ist mit ihr in den Vorraum des Eßzimmers gegangen. Dort fand man kurz darauf Dorothea tot und Ursula Schade sterbend auf dem Fußboden liegen. Während zunächst von der Untersuchungsbehörde angenommen worden war, daß Grupen den beiden Kindern in dem Zimmer aufgelauert und beide erschossen habe, neigt man jetzt zu der Annahme, daß tatsächlich Ursula Schade ihre Cousine Dorothea und dann sich selbst erschossen hat. Nur nimmt man an, daß Ursula Schade auf keinen Fall aus eigenem Entschluß die furchtbare Tat begangen haben kann, sondern daß sie unter einem von ihrem Stiefvater ausgeübten Zwange, wie man annimmt, im Zustande der Hypnose, gehandelt hat. Wie sollte ein zwölf Jahre altes kleines Mädchen ohne die geringste Veranlassung und bei klarem Bewußtsein mit staunenswerter Sicherheit auf zwölf Schritte Entfernung zwei tödlich treffende Schüsse auf ihr Gegenüber abgegeben und dann noch mit der gleichen Ruhe und Sicherheit die Waffe gegen die eigene Schläfe gerichtet haben? Ueberdies ist erwiesen, daß Ursula ganz kurze Zeit vor dem verhängnisvollen Schuß mit einem Gutsangestellten über einen in den nächsten Tagen zu unternehmenden Ausflug geplaudert hatte, wobei sie keinerlei Bewegung besonderer Art verriet. Es sind denn auch bereits Sachverständige der Hypnose und Telepathie zur Begutachtung aufgefordert worden. Die Vernehmung der Hausangestellten hat ferner ergeben, daß Grupen die Bediensteten, die sich in der kritischen Zeit in der nahe dem Mordzimmer gelegenen Küche befanden, fortgeschickt hat, so daß niemand von den zahlreichen Hausbewohnern die drei abgefeuerten Schüsse vernommen hat.

 

Eine außerordentlich schwere Belastung für Grupen ist der Umstand, daß es   s e i n   Revolver war, mit dem die Tat begangen wurde. Er möchte dem Umstand, daß die Waffe in die Hand seiner Stieftochter geriet, eine harmlose Erklärung geben. Er erzählt nämlich, er habe in aller Frühe mit dem Revolver im Park Spatzen geschossen, hatte aber die Waffe nachher nach Abgabe von drei Schüssen wieder gesichert und sie dann auf dem Speisezimmertisch niedergelegt. Dort habe er sie vergessen, Ursula müßte dann wohl den Revolver gefunden und im Scherz auf ihre Kusine Dorothea gezielt und losgedrückt haben. Als sich die Waffe entlud - so kombiniert Grupen weiter - und Dorothea tot umgefallen war, müsse das Kind aus Schock über das angerichtete Unheil und aus Furcht vor Bestrafung sich dann selbst das Leben genommen haben, nachdem es einen Abschiedsbrief an die Großmutter geschrieben hatte. Diese sonderbare Erklärung wird schon dadurch widerlegt, daß Ursula ja zwei Schüsse gegen ihre Kusine abfeuerte und überdies doch keinen Grund hatte, ihrer Großmutter unter diesen Umständen noch etwas vorzulügen. Die Erklärung Grupens ist also zweifellos falsch, wenn auch die Motive, aus denen Ursula gehandelt hat, nicht ganz klar sind.

 

Ein Fund, der bei der Hausdurchsuchung gemacht wurde, schloß indessen den Ring der schweren, gegen Grupen vorliegenden Verdachtsgründe, so daß zu seiner sofortigen Verhaftung geschritten wurde. Man fand nämlich im Zimmer der Großmutter, Frau Eckhardt, unter unterem belastenden Material eine Flasche Kognak, die ihr von ihrem Schwiegersohn Grupen geschenkt worden war, deren Inhalt aber, wie festgestellt wurde, vergiftet war. Es ist also klar, auf welcher Linie sich das Verbrechen des Grupen, wenn man ihn für den Schuldigen an der Ermordung der jungen Gutsherrin hält, bewegt hat. Auch die alte Frau war, wenn Dorothea und deren Kusine aus dem Wege geräumt war, eine Erbin, und zwar die vorletzte Erbin des Rohrbeckschen Vermögens. Die Verhaftung erfolgte denn auch unter dem dringenden Verdacht, allen Erben der Rohrbeckschen Güter und des Rohrbeckschen Vermögens nach dem Leben getrachtet und an dem Tode der Nichte und der Stieftochter schuld zu haben.

 

Peter Grupen wurde gestern nach dem Hirschberger Gefängnis gebracht. Die Untersuchung wird auf Schloß Kleppelsdorf von dem Hirschberger Staatsanwalt, der dort mit mehreren Kriminalbeamten, dem Obduktionsarzt und Photographen eingetroffen ist, weitergeführt. Auf dem Wege von Schloß Kleppelsdorf zum Bahnhof Lähn entging Peter Grupen nur infolge großer Anstrengungen der Polizeibeamten dem Versuch der Einwohner, ihn zu lynchen. Die Menge war umso erregter, als die kleine Dorothea Rohrbeck ein überall beliebtes, bescheidenes, bildhübsches Mädchen war, das auch unter der armen Bevölkerung in aller Stille viel Wohltätigkeit übte. Ueberall beklagt man hier das traurige Schicksal der unglücklichen jungen Erbin und Schloßherrin, die weit und breit in der Gegend die „schöne Dorothea“ genannt war.

 

 

 

Donnerstag, 17. Februar 1921, „Berliner Morgenpost“, S. 2

Die Erben der Millionenbauer.

Zum Fall Rohrbeck-Schade.

Die Zusammenhänge des Doppelmordes auf dem schlesischen Schloß Kleppelsdorf sind augenblicklich noch nicht vollkommen geklärt, aber das blutige Drama hat durch die Vorgeschichte der Beteiligten starke Beziehungen zu charakteristischen Erscheinungen der Großberliner Entwicklung, die den älteren Berlinern und den Kennern der dörflichen Verhältnisse rund um Berlin in unauslöschlicher Erinnerung sind.

 

Die Toten sind zwei junge Mädchen, die aus den Geschlechtern der alten Tempelhofer Millionenbauern stammen, eine   R o h r b e c k   und eine   S c h a d e .   Der Name Rohrbeck ist in den letzten Jahrzehnten im Kreise Teltow wohl bekannt gewesen, auch in der Kreisverwaltung war er mehrfach vertreten. Schade gibt es im Teltower Kreise wie Sand am Meer, teils als Handwerker, teils als Landbesitzer. Der Vater der ermordeten Dorothea Rohrbeck gehörte nicht eigentlich zu der alten Bauernaristokratie der Berliner Dörfer, über deren arbeitsame und tüchtige Würde die Großberliner Ausdehnung nach dem 70er Kriege wie eine unheilbringende Sturmflut hereinbrach. Rohrbeck war schon ausgesprochener Terrainspekulant und nicht mehr Bauer. Er gewann an seinen Länderein enorme Summen und legte sie in Rittergütern an.

 

Die echten Millionenbauern, zu denen das Verhängnis und das verlockende Gold zwischen 1870 und 1880 kam, im Tempelhof, Schöneberg, Steglitz, Zehlendorf und Britz, sowie die Ackerbürger in Charlottenburg hatten sich zunächst zäh gegen die Verlockung gewehrt, aber erlagen ihr doch schließlich sämtlich. Es ist schwer, einen Morgen Land in harter Arbeit zu beackern, wenn man ihn für 800 000 Mark und mehr verkaufen und dafür eine Rente beziehen kann, die das Zehnfache und Zwanzigfache des landwirtschaftlichen Ertrages ausmacht. Zum Segen ist das bare Geld nur wenigen geworden. Klara Biebig schildert in ihrem Roman „Die vor den Toren“ die Geschichte mehrerer Tempelhofer Familien, die sich auf die neuen Verhältnisse nicht mehr umzustellen verstanden und bis auf wenige generationsweise zugrunde gingen. Mit Recht weist sie auf die Inzucht hin, die schon vor dem Goldansturm die Bauernrasse untergraben hatte. Spekulanten und Schwindler aller Art haben dann vielfach leichtes Spiel gehabt, indem sie den Ahnungslosen den schimmernden Glanz der städtischen „Kultur“ vormachten, sich durch Einheirat und Handelsgeschäfte in das unbewachte Nest zu setzen. Wir alten Berliner kennen noch manche Familien, von der der Großvater mit dem Kastenwagen nach Berlin auf den Gendarmenmarkt oder Hermannplatz fuhr, um dort seine ländlichen Erzeugnisse zu verkaufen, der Vater in elegantem Coupé durch die Straßen sauste und der Enkelsohn schon wieder mit Holzpantinen als besitzloser Arbeitsmann umherging.

 

Der Grund des schnellen Schicksalwechsels war in allen Fällen die völlige Unerfahrenheit der alten Bauern, die keine Ahnung davon hatten, daß die Berührung mit dem großstädtischen Lebenskreise für jeden gefährlich ist, der seine ganze Bildung nicht vollständig auf diesen gänzlich anderen Lebenskreis einzustellen vermag.

 

Die schnell reich Gewordenen ließen ihre Kinder nicht lernen, und die Unwissenheit ist in solchen Fällen die sicherste Gewähr schnellsten Zusammenbruchs. Diese Lebenstragik fand nicht nur in den nahegelegenen Millionendörfern statt, sondern auch in den entfernteren Dörfern der beiden Landkreise Teltow und Niederbarnim. Auch eine junge Industrie, die nach 1870 steil aufschoß, die Ziegelindustrie in Teltow, wurde davon betroffen. Die Alten, die die Industrie begründet hatten, hielten sich wacker, ließen aber die nächste Generation nichts lernen und glaubten, alles getan zu haben, wenn sie ihren Kindern reichlich Geld vermachten. Die Enkel sind heute zum großen Teil schon wieder arme Leute und unfähig zu irgendeinem Aufstieg, da sie nichts gelernt haben. Daß aus diesen Millionenbauern-Familien tüchtige und kulturell wertvolle Menschen hervorgegangen sind, ist natürlich vereinzelt doch vorgekommen, aber nur sehr vereinzelt.

 

Alles in allem genommen ist aus dem Zusammenstoß des Großstädtischen mit dem Bäuerlichen mehr Unglück als Glück entstanden. Das Großstadtwesen ist nur für den ungefährlich, der hinter dem nichtigen äußeren Anschein den kulturell wertvollen Kern erkennt, und dessen waren die meisten Sprösslinge der Bauernfamilien nicht fähig. Dazu kam, wie schon gesagt, als Hemmnis die Inzucht, so daß Armut, Geisteskrankheiten und Verbrechen nur zu oft hinter dem Goldstrom herschwammen, der sich in die Umgebung der Großstädte ergoß.

 

Kulturverständige Volkswirte haben diesen Zusammenhang längst erkannt, andere werden durch Erlebnisse klüger. Bis zu einer gewissen Grenze wird auch die Vorgeschichte des Kleppelsdorfer Dramas die Erkenntnis dieses Zusammenhangs fördern.                          A. B.

 

 

 

Freitag, 18. Februar 1921, „Berliner Morgenpost“

Die Tragödie von Kleppelsdorf.

Telegr. unseres Korrespondenten.

Lähn in Schlesien, 17. Februar.

 

Die Hirschberger Staatsanwaltschaft, die die Untersuchung des geheimnisvollen Doppelmordes auf Schloß Kleppelsdorf mit einem Heer von Kriminalbeamten durchführt, ist auf der Suche nach dem bisher verschwundenen Vormund der erschossenen Rittergutsbesitzerin Dorothea Rohrbeck. Der Mann, dessen Name zunächst noch von der Behörde geheimgehalten wird, soll sich auf einem Gut in der Nähe Berlins aufhalten. Briefe, die man bei dem verdächtigen Architekten Peter Grupen aus Oldenbüttel vorfand, belasten auch den Vormund sehr.

 

Besonderes Augenmerk richtet man jetzt auf die angeblich nach Amerika ausgerückte Ehefrau Grupen, die verwitwete Frau Schade, die Mutter der ermordeten Ursula Schade. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Grupen auch seine Frau auf irgendeine Weise zu beseitigen oder zu entfernen versucht hat.

 

Am heutigen Freitag wird der Architekt noch einmal einem Kreuzverhör unterzogen. Da Grupen aber in seinen Angaben ungeheuer vorsichtig ist, besteht wenig Aussicht, ihn zu einem Geständnis zu bewegen. Das Berliner Polizeipräsidium trägt sich mit dem Plan, einen Kommissar zur Unterstützung der Lähner Untersuchungskommission an den Tatort zu entsenden.

 

Am Donnerstag fand auf dem Lähner Friedhof die Sektion der beiden Leichen statt. Es konnte keine Klarheit darüber erzielt werden, ob das zwölfjährige Mädchen die drei Schüsse selbst abgegeben hat. Da sich aber der aufgefundene Abschiedsbrief der Ursula Schade als gefälscht und als von Peter Grupen geschrieben herausgestellt hat, ist kein Zweifel an der Hauptschuld des Architekten. Die noch mit der überlebenden sieben Jahre alten Irma zusammen auf dem Schloß wohnende Großmutter Eckard ist jetzt die Erbin der drei Güter und des Millionen-Vermögens der Rohrbecks geworden. Die alte Frau, die über den Tod ihrer beiden Enkelkinder völlig zusammengebrochen ist, beabsichtigt aber die Grundstücke so schnell wie möglich zu verkaufen.

 

 

 

Sonnabend, 19. Februar 1921, „Berliner Morgenpost“, S. 1-2

Das Drama von Kleppelsdorf.

Zum Morde auf Schloß Kleppelsdorf wird noch gemeldet: Die gestern stattgefundene Obduktion der Leichen ergab die überraschende Feststellung, daß die erst zwölf Jahre alte Ursula             S c h a d e   schon einmal einer Quecksilberkur unterworfen worden ist. Die Leiche der Dorothea   R o h r b e c k   wurde vom Gericht freigegeben und wird Sonnabend beigesetzt, die Leiche der Schade ist noch beschlagnahmt. Es herrscht jetzt die Annahme vor, daß nicht, wie zuerst angenommen, die Schade unter hypnotischem Zwange ihres Stiefvaters zuerst ihre Cousine und dann sich selbst erschossen hat, sondern daß die Tat von Grupen ausgeführt worden ist, der vorher alle Dienstboten aus der Nähe des Mordzimmers entfernt hat. Dagegen dürfte der Brief der Schade, worin sie ihrer Großmutter die Absicht mitteilt, ihre Cousine und sich dann selbst zu töten, in einem von Grupen herbeigeführten hypnotischen Zustande geschrieben worden sein. Ob die bei der Großmutter der Rohrbeck vorgefundene Flasche Kognak vergiftet ist, steht noch nicht fest, da die chemische Untersuchung noch nicht beendet ist,

 

 

 

Sonntag, 20. Februar 1921, „Berliner Morgenpost“

Der Mord auf Schloß Kleppelsdorf.

Zu der Kleppelsdorfer Mordaffäre wird noch berichtet, daß es ausgeschlossen scheint, daß außer   G r u p e n   noch jemand an der Ausführung des Mordes beteiligt war. Die bei der kleinen Schade, die, wie gestern gemeldet, bereits eine Quecksilberkur durchgemacht hat, festgestellte Erkrankung ist, wie festgestellt wurde, auf Grupen zurückzuführen.

 

Ueber Grupens Vorleben herrscht noch völliges Dunkel. Sehr eingehend wird nach seiner Frau, die nach seiner Angabe nach Amerika gegangen sein soll, was aber unwahrscheinlich erscheint, geforscht. Auf das Schloß brachte Grupen außer seiner Schwiegermutter und den beiden Stiefkindern noch ein Kindermädchen mit, das, wie ermittelt wurde, sein Verhältnis ist. Sie kann oder will aber nichts über seine Tat aussagen. Die Leiche der kleinen Schade wurde bereits beerdigt. Die Beerdigung der ermordeten Gutsherrin findet am Montag statt.

 

 

 

Sonnabend, 26. Februar 1921 „Berliner Morgenpost“, S. 1

Leichenraub in Kleppelsdorf.

Ein unmenschliches Verbrechen!

Telegr. unseres Korrespondenten.

Breslau, 25. Februar

 

Der Doppelmord in Kleppelsdorf hat ein weiteres schweres Verbrechen im Gefolge gehabt. Die Leiche der ermordeten Dorothea Rohrbeck ist in schändlicher Weise beraubt worden. Als am Freitag morgen ein Steinmetz auf dem Friedhofe in Lähn erschien, um am Grabe für eine Stein-Einfassung Maß zu nehmen, fand er die Kränze vom Grabe entfernt. Am Kopfende sah er einen Schacht, durch den man das Sargkissen erblickte. Es wurde festgestellt, daß das Kruzifix auf dem Sarge umgestürzt war. Wie weiter festgestellt wurde, war in das Leichenhaus eingebrochen und Aexte und sonstiges Handwerkzeug daraus gestohlen worden, das zum Oeffnen des Sarges der Dorothea Rohrbeck benutzt worden war.

 

Der Friedhof wurde sofort abgesperrt und Polizeibeamte aus Hirschberg und Greiffenberg mit Polizeihunden herbeigerufen. Die Hunde nahmen einige Spuren auf, verloren diese aber später wieder, ohne daß man zu einem Ergebnis kam.

 

Das Grab wurde geöffnet und es ergab sich, daß die Täter, da sie den Deckel des schweren Eisensarges nicht öffnen konnten, in den Deckel ein Loch gestemmt hatten. Dann hatten sie der Toten das weißseidene Kleid, in dem sie beerdigt war, und die Schuhe ausgezogen; ferner entfernten sie vom Unterrock die wertvollen Spitzen, die sie abtrennten, sowie eine Steppdecke. Die Täter waren auch an andere Gräber gegangen und hatten dort die Särge geöffnet, aber nichts gestohlen. In Lähn herrscht ungeheure Erregung.

 

 

 

Freitag, 2. Dezember 1921, „Berliner Morgenpost“ - Erste Beilage

Der Mord auf Schloß Kleppelsdorf.

Verhandlung vor dem Schwurgericht Hirschberg. - Doppelmord-Anschlag gegen Peter Grupen. - Ein dunkles Verbrechen.

 

Eines der seltsamsten, an Rätseln aller Art überreiches Verbrechen wird in den nächsten Tagen das Schwurgericht der schlesischen Stadt Hirschberg beschäftigen. Angeklagt ist der 27jährige Architekt Peter   G r u p e n ,   die 16jährige Besitzerin des Schlosses Kleppelsdorf, Dörthe   R o h r b e c k ,   und ihre 13jährige Kusine Ursula   S c h a d e ,   letztere seine eigene Stieftochter, ermordet zu haben. Ein außerordentlicher Apparat an Zeugen und Sachverständigen ist aufgeboten, um Peter Grupen der Tat zu überführen. In der ganzen Gegend des Riesengebirges, wo die 16 Jahre alte Schloßbesitzerin und Millionärin eine sehr bekannte Persönlichkeit war, sieht man mit außerordentlicher Spannung dem Prozesse entgegen, der das Dunkel aufklären soll, das über dem Tode der beiden genannten jungen Mädchen liegt. Dem Sachverhalt, der der Anklage zugrunde liegt, ist folgendes zu entnehmen:

 

Am 14. Februar 1921 wurden im Schlosse Kleppelsdorf die Schloßherrin Dörthe Rohrbeck und ihre Kusine, die 13jährige Ursula Schade, erschossen aufgefunden. Ursula Schade weilte mit ihrer Großmutter, Frau Eckert, die zugleich die Großmutter Dörthe Rohrbecks ist, mit ihrer jüngeren Schwester Irmgard und ihrem Stiefvater Peter Grupen zu Besuch auf Schloß Kleppelsdorf. An dem genannten Tage vormittags befanden sich zunächst die drei jungen Mädchen, deren Großmutter, Peter Grupen, die Erzieherin von Dörthe Rohrbeck, Fräulein Zahn, und die Wirtschafterin Fräulein Mohr in zwei nebeneinanderliegenden, durch eine geöffnete Tür verbundenen Zimmern des Schlosses. Die Frauen beschäftigten sich mit Handarbeiten, während Peter Grupen mit den Kindern Mühle spielte. Dann rief Ursula Schade ihre Kusine Dörthe aus dem Zimmer. Beide Mädchen waren etwa zwanzig Minuten abwesend, als das Dienstmädchen zum Essen rief. Die in den beiden Wohnzimmern zurückgebliebenen Personen begaben sich nach dem Eßzimmer, das im oberen Stockwerk des Schlosses lag, und gaben dem Dienstmädchen den Auftrag, auch Dörthe und Ursula zu Tisch zu rufen.

 

Als sich die Gesellschaft auf dem Wege nach dem Eßzimmer begab, stürzte ihnen das Dienstmädchen mit der Schreckensnachricht entgegen, daß die beiden Mädchen „unten im Blute lägen“. Peter Grupen eilte nach dem Parterrezimmer. Dörthe war, als er das Zimmer betrat, schon tot. Ursula lebte noch, sie blutete aus einer Kopfwunde. Ein rasch herbeigerufener Arzt konnte durch eine Kampfereinspritzung den Puls der Bewußtlosen noch ein wenig beleben, bald darauf aber war auch Ursula gestorben. Neben ihrer Leiche lag ein Revolver, aus dem zwei Schüsse abgegeben waren. Der Befund ließ zunächst darauf schließen, daß Ursula zuerst Dörthe und dann sich selbst erschossen habe. Doch wurde Peter Grupen bald darauf unter der Bezichtigung, die beiden Mädchen ermordet zu haben, verhaftet, obwohl zunächst alle genannten Personen erklärt hatten, daß er im Laufe des Vormittags und insbesondere in der Zeit, in der der Mord begangen sein mußte, das Zimmer nicht verlassen habe. Das Motiv für den Mord sollte sein, daß durch den Tod von Dörthe Rohrbeck deren Großmutter, die 74 Jahre alte Frau Eckert, Erbin des mehrere Millionen betragenden Vermögens geworden wäre. Diese alte Frau soll ganz unter dem Einfluß des Angeklagten stehen, der daher hoffen konnte, selbst in absehbarer Zeit der Erbe des großen Vermögens zu werden. Wie die Anklage annimmt, soll Peter Grupen zuerst Dörthe getötet haben und darauf seine eigene Stieftochter Ursula, um die Mitwisserin des Mordes an Dörthe aus dem Wege zu räumen. Die Anklage behauptet, daß Grupen mit seiner 13jährigen Stieftochter in blutschänderischer Verbindung gestanden habe.

 

Der Angeklagte bestreitet mit größter Entschiedenheit, die Tat begangen zu haben und gibt der Vermutung Raum, daß Ursula, die er hysterisch und psychopathisch nennt, zuerst die Kusine und dann sich selbst erschossen habe. Das exaltierte Mädchen soll dies getan haben, weil Dörthe mit der von Ursula sehr geliebten Großmutter aus schlechtem Fuße stand, und die Großmutter sich deshalb sehr grämte. Bei der toten Ursula wurde ein Brief an die Großmutter gefunden, in dem es heißt: „Du sollst Dich nimmer an Dörthe ärgern“. Außerdem teilte Ursula in diesem Briefe mit, daß sie den Revolver aus de, Schreibtisch des Vaters genommen habe. Erwiesen ist, daß der Angeklagte Grupen diesen Revolver, bevor er einige Tage vor dem Drama in Kleppelsdorf von seinem in der Nähe von Hamburg gelegenen kleinen Landgut Ottenbüttel nach Schloß Kleppelsdorf abreiste, gekauft und ihn seinem Bruder, der in seiner Abwesenheit das Gut verwalten sollte, zum Schutz ausgehändigt hatte, weil in der letzten Zeit in der Umgegend vielfach Einbrüche vorgekommen waren. Wie der Bruder angibt, hat er kurze Zeit darauf Ursula bei der Schublade angetroffen und ihr ausdrücklich verboten, den Revolver anzurühren. Als er dann aber am Abend nach der Abreise Grupens mit Ursula sich den Revolver holen wollte, war dieser verschwunden.

 

Außer mehrfachen Indizien gegen gen Angeklagten dürfte zur Verstärkung des Verdachtes auch das mysteriöse Verschwinden der Gattin Grupens, der Mutter Ursulas, im Herbst vorigen Jahres beigetragen haben. Dieses Verschwinden wird zweifellos auch einen breiten Raum in den Erörterungen des Prozesses einnehmen. Bei dieser Gelegenheit seien auch die Familienverhältnisse, die hier in Betracht kommen, dargelegt: Die alte Frau Eckert hatte zwei Töchter, deren ältere mit dem Rittergutsbesitzer Rohrbeck verheiratet war. Sie und ihr Gatte sind bereits verstorben und die einzige Erbin der Rohrbeckschen Eheleute war die 16 Jahre alte Dorothea Rohrbeck. Die zweite Tochter der Frau Eckert war in erster Ehe mit einem Herrn Schade, einem Berliner, verheiratet, der dann unter etwas mysteriösen Umständen auf der Jagd tödlich verunglückte. Aus dieser Ehe entstammen Ursula und deren jüngere Schwester Irmgard. Die Witwe Schade hat dann in zweiter Ehe den Angeklagten Grupen geheiratet.

 

Frau Grupen, verwitwete Schade, selbst verschwand spurlos im Herbste vorigen Jahres. Sie hat allerdings eine größere Anzahl von Briefen an Verwandte und Freundinnen zurückgelassen, in denen sie mitteilte, daß sie nach Amerika gehe, und der Angeklagte selbst behauptete, daß dies in Gesellschaft eines Schauspielers geschehen sei. Die Vermutung, daß etwa der Angeklagte selbst diese Briefe und auch den bei Ursula vorgefundenen Brief an die Großmutter gefälscht habe, hat sich nicht bestätigt. Zum mindesten erklärten die im Vorverfahren gehörten Schriftsachverständigen, daß die Briefe nicht von seiner, sondern von der Handschrift der Frau Grupen bezw. Ursulas herrühren. Es sind auch Sachverständige, darunter Dr. Moll aus Berlin, zur Prüfung der Frage geladen, ob es denkbar erscheine, daß der Angeklagte die Schreiberinnen der Briefe durch hypnotischen Einfluß zu deren Anfertigung bestimmt habe. Ursprünglich war auch die Vermutung aufgestellt worden, daß Grupen durch Hypnose die 13jährige Ursula veranlaßt habe, erst Dörthe und dann sich selbst zu erschießen. Die Anklage hat aber diesen Gesichtspunkt fallen lassen, da sich kein Anhalt dafür ergeben hat, daß der Angeklagte sich jemals mit hypnotischen Experimenten oder Versuchen befaßt habe.

 

Zu der Verhandlung sind außer den sachverständigen Aerzten, die sich insbesondere darüber auszulassen haben werden, ob die Art der geistigen Verfassung Ursulas eine Möglichkeit des Selbstmordes zulasse oder ausschließe, auch Sachverständige über den Gebrauch des Revolvers und etwa 70 Zeugen geladen. Im Laufe der Verhandlungen dürfte das gesamte Schwurgericht sich nach Schloß Kleppelsdorf zu einem Lokaltermin begeben.

 

Peter Grupen ist ein 27jähriger stattlicher junger Mann, der im Felde den linken Arm verloren hat. Er hatte ursprünglich das Maurerhandwerk erlernt, war eine Zeitlang Maurerpolier, besuchte aber dann die Baugewerkschule in Eckernförde. Bei Ausbruch des Krieges trat er in das Heer ein und wurde 1916, nachdem er durch einen Granatsplitter den linken Arm verloren hatte, entlassen. Dann war er seine Zeitlang Zeichner auf den Vulkanwerken in Hamburg, heiratete die verwitwete Frau Schade und zog mit ihr zunächst nach Itzehoe und erwarb später das Grundstück in Ottenbüttel. Er ist seit acht Monaten in Haft. Der Prozeß dürfte acht bis zehn Tage dauern.

 

Den Vorsitz im Prozeß wird Oberlandesgerichtsrat   K r i n k e   aus Berlin führen. Die Staatsanwaltschaft wird durch Staatsanwaltsrat Dr. Reifenrat vertreten. Die Verteidigung haben Justizrat Dr. Ablaß aus Hirschberg und Justizrat Dr. Mamroth aus Breslau übernommen.

 

 

 

Dienstag, 6. Dezember 1921, „Berliner Morgenpost“, S. 1-2

Der Mord aus Schloß Kleppelsdorf.

Verhandlungsbeginn in Hirschberg. - Grupens Frau spurlos verschwunden. - Verdächtige Reisen nach Kleppelsdorf.

 

Hirschberg, 5. Dezember.

Von uns. Sonderberichterstatter.

 

Der erste Tag des großen Hirschberger Prozesses hat erst einen Teil des breit angelegten Verhörs mit dem Angeklagten   P e t e r   G r u p e n   gebracht. Noch hat er allein das Wort, und man muß sagen: er hat es bisher nicht ohne Geschick gebraucht. Er ist ein äußerst beherrschter Mensch, der sich zweifellos der Situation, in der er sich befindet, voll bewußt ist.

 

Der Vorsitzende hat bei diesem Verhör den Weg eingeschlagen, daß zunächst Klarheit über die Vorbedingungen geschaffen werden sollen, unter denen Peter Grupen, wenn er den Mord begangen hat, in Kleppelsdorf zur Tat geschritten wäre. Deshalb nimmt einen breiten Raum das Verschwinden der   F r a u   G r u p e n   ein. Obwohl Briefe von der Handschrift der Frau bestehen, in denen sie von ihren Angehörigen Abschied nimmt, angeblich um nach Amerika zu gehen, sind doch verschiedene Umstände, unter denen sie ihr Heim verlassen hat, sehr bedenklich und der Aufklärung bedürftig.

 

Ein weiteres Moment, das zur Aufklärung der Tat in Kleppelsdorf dienen soll, ist die Betrachtung der Beziehungen zwischen Peter Grupen und den Bewohnern in Kleppelsdorf, der jungen        D ö r t h e   R o h r b e c k   und ihrer Erzieherin Fräulein   Z a h n ,   mit dieser scheint sich Grupen in letzter Zeit sehr schlecht gestanden zu haben. Er beschuldigt sie einer besonderen Verschwendungssucht und einer sehr geringen Eignung zur Erziehung eines jungen Mädchens.

 

Am Dienstag dürfte die Gegenüberstellung mit dieser Zeugin, die in dem Prozeß eine große Rolle spielt, erfolgen und man erwartet heftige Zusammenstöße zwischen ihr und dem Angeklagten. Am Dienstag wird auch das Verhör Grupens über die letzten Ereignisse in Kleppelsdorf vor sich gehen.

 

***

 

Der Schwurgerichtssaal in Hirschberg, in dem der Prozeß Grupen stattfindet, ist ein freundlicher, heller Raum, in den hohe Glasfenster das volle Licht eines sonnigen Wintertages senden. Hell fällt dieses Licht auf Peter   G r u p e n ,   den Angeklagten. Ein hochgewachsener, junger Mann mit blondem Haar, kleinem blonden Schnurrbart und breiten Schultern. Doch reicht der linke Aermel seines leichten sommerlichen Touristenanzuges nur bis zum Ellbogen. Grupen hat den Arm im Kriege verloren. Trotzdem macht seine Gestalt einen besonderen Eindruck gedrungener Kraft. Die gleiche Stärke ist auch auf dem vollen Gesicht zu lesen, dem es jedoch an Geistigkeit nicht fehlt. Besonders die Augen, die mit gespannter Aufmerksamkeit allen einleitenden Vorgängen der Schwurgerichtsverhandlung folgen, haben einen nicht gewöhnlichen Ausdruck durchdringenden Scharfblicks. Seine Erscheinung hat nichts von einer ausgesprochenen Sinnlichkeit. Seine Stimme zeigt einen hohen Tenor von fast weiblicher Klangfarbe. An gewinnenden Formen fehlt es dem Angeklagten augenscheinlich nicht. Das sieht man schon an der leichten, höflichen Verbeugung gegen das Publikum, mit dem er den Saal betritt, an der vornehmen verbindlichen Art, wie er sich mit seinen Verteidigern unterhält.

 

Der Aufruf der Zeugen dauert eine volle halbe Stunde. Es sind zahlreiche Aerzte und Sachverständige geladen, darunter Geheimrat   L e s s e r -   Breslau, Chemiker   J e s e r i c h -   Berlin, ferner eine Anzahl waffenkundiger Sachverständiger. Am Mittwoch wird in Kleppelsdorf der in diesem Prozeß besonders wichtige Augenscheintermin stattfinden.

 

Vernehmung des Angeklagten.

Bei der Vernehmung des Angeklagten kommt zunächst seine Ehe mit Frau   T r u d e   v e r w i t w e t e   S c h a d e   zur Sprache.

Vorsitzender: Wie gestaltete sich diese Ehe?

Angeklagter: Wir waren zunächst sehr glücklich miteinander; doch hatte meine Frau eine unwiderstehliche Neigung zum Reisen und hatte wenig Interesse für den Haushalt. Auch besaß sie leider die Gewohnheit, gegen Abend Wein und Likör zu trinken, die sie in dieser Menge nicht vertrug. In einem dieser Fälle, als meine Frau berauscht war, machte sie mir Geständnisse über ein Verhältnis, das sie mit einem Herrn Schulz in Perleberg schon zu Lebzeiten des Herrn Schade, dessen Logenbruder er war, und auch nach seinem Tode noch gehabt hat.

Vorsitzender: Sie soll sich über den Tod ihres ersten Gatten, der auf der Jagd verunglückte, geäußert haben, wenigstens behaupten Sie das.

Angeklagter: Sie machte Aeußerungen, aus denen ich glaubte schließen zu können, daß dieser Tod kein zufälliger war.

Vorsitzender: Wollen Sie damit sagen, daß Schade einem Morde zum Opfer gefallen ist?

Angeklagter: Ich möchte das nicht gerade sagen. Aber die Aeußerungen meiner Frau ließen mich Aehnliches vermuten. Auch dies trübte die Harmonie, die zwischen uns geherrscht hatte.

Vorsitzender: Sie sind dann von   I t z e h o e   nach Ottenbüttel gezogen. Auf Ihre Veranlassung?

Angeklagter: Wir zogen nach   O t t e n b ü t t e l ,   weil das Wohnungsamt in Itzehoe unser Haus größtenteils beschlagnahmt hatte.

Vorsitzender: Im Juli traf   D o r o t h e a   R o h r b e c k   mit ihrer Erzieherin Fräulein Zahn bei Ihnen ein. Was war der Zweck dieser Reise?

Angeklagter: Als wir geheiratet hatten, war aus Kleppelsdorf von Dörthe eine sehr kühle Nachricht gekommen. Wir hatten auch sonst mit Kleppelsdorf nicht in Verbindung gestanden. Dörthe Rohrbeck hat sich aus sich selbst heraus zum Besuch bei uns angemeldet. Die Großmutter war anfangs dagegen, doch ließ sie es geschehen.

Vorsitzender: Fräulein Zahn erzählt, Sie hätten ihr damals gesagt, Sie wollten sich von Ihrer Frau scheiden lassen und sie heiraten.

Angeklagter: Das habe ich ihr nicht gesagt, doch ist es möglich, daß die Spannung mit meiner Frau zum Ausdruck gekommen ist.

Vorsitzender: Nun sagen Sie, welchen Eindruck Dorothea Rohrbeck und Fräulein Zahn auf Sie gemacht haben?

Angeklagter: Den Eindruck, den Dörthe auf mich gemacht hat?

Vorsitzender (unterbrechend): Sagen Sie ruhig Fräulein Dorothea Rohrbeck!

Angeklagter: Dörthe … (sich unterbrechend), also Fräulein Dorothea Rohrbeck machten einen guten Eindruck auf mich, dagegen war der Eindruck, den Fräulein Zahn machte, derart, daß mit ihr gegenüber Vorsicht am Platze schien. Ihre Angaben waren sehr widersprechend.

Vorsitzender: Sie machten dann einen Gegenbesuch in Kleppelsdorf?

Angeklagter: Ja, am 6. September.

Vorsitzender: Aber nicht mit Ihrer Frau. Das ist doch sonderlich.

Angeklagter: Ich fuhr nicht zu Besuchszwecken nach Kleppelsdorf, sondern um den Damen materielle Hilfe zu bringen, damit sie ihre dringenden Schulden bezahlen konnten. Ich brachte ihnen etwas über 2000 Mark mit.

Vorsitzender: Sie äußerten auch, Sie möchten die Verwaltung von Kleppelsdorf gern übernehmen.

Angeklagter: Auch das habe ich erst später gesagt, als ich erfahren hatte, daß die Verwaltung des Gutes äußerst schlecht war.

Vorsitzender: Hatten Sie nicht den Besuch Ihrer Frau in Kleppelsdorf in Aussicht gestellt?

Angeklagter: Ja, sie wollte weiteres Geld dahin mitbringen. Ich bin dann aber nach Hause gefahren. Ich muß erwähnen, daß meine Frau schon früher einmal geäußert hatte, daß sie nach Amerika wolle.

Vorsitzender: Das ist doch merkwürdig, daß eine Frau nach sechsmonatiger Ehe schon von ihrem Mann und ihren Kindern weg will.

Angeklagter: Wir haben das damals auch nur für einen Scherz gehalten.

 

Frau Grupen verschwunden.

Am 19. September, so sagt der Vorsitzende weiter, sind Sie mit Ihrer Frau und zwei Dienstmädchen in einem Wagen nach Itzehoe gefahren. Seit diesem Tage hat niemand mehr Ihre Frau gesehen. Wie war sie an diesem Tage angezogen?

Angeklagter: Ich weiß nur, daß sie einen grünen Hut und einen Pelzkragen hatte.

Vorsitzender: Den Pelzkragen hat sie im Wagen liegen lassen, was allgemein verwundern mußte, da die Frau daran gewöhnt war, den Pelz zu tragen.

 

Der Angeklagte erzählt nun, daß ihm auf dem Wege zum Bahnhof, von wo Frau Grupen nach Kleppelsdorf fahren wollte, nichts am Benehmen der Frau aufgefallen sei. Auf dem Wege setzte   G r u p e n   die beiden Dienstmädchen in der Stadt ab und will dann zum Bahnhof weitergefahren sein. Auf der Fahrt übergab die Frau einem der Mädchen einen Brief an den Knecht, der den Auftrag erhielt, einen Wäschekoffer nach Hamburg zu bringen.

 

Vorsitzender: Sie sind also zum Bahnhof gekommen. Mit welchem Zuge ist Ihre Frau weggefahren?

Angeklagter: Ich vermute mit dem nächsten Zuge. Ich selbst konnte nicht auf den Bahnsteig gehen, da ich die Pferde nicht allen lassen konnte.

Ein Geschworener: Wie hat sich dann der Abschied von Ihrer Frau vollzogen?

Angeklagter (nach einigem Nachdenken): So wie immer, wir reichten uns die Hände.

Vorsitzender: Ihre Frau ist seither verschwunden. Was geschah am Tage nach der Abreise?

Angeklagter: Am nächsten Tage schickten wir ein Telegramm nach Kleppelsdorf, das die Abreise meiner Frau dahin meldete. Am nächsten oder übernächsten Tage fand das Dienstmädchen auf dem Abort einen Brief, der halb zerrissen war und es stand darin, daß meine Frau abreisen will, und zwar wolle sie nach Amerika gehen; wir sollten unbesorgt sein, nämlich die Großmutter und die Kinder, da ja Grupen für die Kinder sorgen würde.

 

Noch ein merkwürdiger Fall.

Der Vorsitzende bringt nun einen zweiten, ziemlich merkwürdigen Vorfall zur Sprache. Grupen besaß eine eiserne Kasette, zu der der Schlüssel fehlte. Er ließ eines der Mädchen rufen, das die Kasette in die Höhe halten mußte, worauf er durch einen Schlag gegen den Boden die Kasette öffnete. Wie er behauptet, war kein Geld darin, sondern nur ein Kuvert mit mehreren Schriftstücken und kleinen Rechnungen.   G r u p e n   erklärt, er hätte vordem in der Kasette eine Summe von ungefähr 60 000 Mark gehabt, die die Frau mitgenommen hätte. Der   V o r s i t z e n d e   stellt fest, daß Frau Grupen sich persönlich am 18. Dezember von Itzehoe nach Lübeck abgemeldet hatte. Schon während des Krieges hatte sie sich wiederholt geäußert, daß sie zum Theater gehen wolle. Sie ist auch öfters in Liebhabervorstellungen aufgetreten.   G r u p e n   sagt aus, daß die Frau sich vor ihrer Abreise fünf bis sechs Kostüme und zahlreiche Kleider habe machen lassen.

 

Die Unterhaltung über den Koffer und über die Frage, warum der Angeklagte ihn nicht weggeschickt habe, wird im weiteren Verlaufe sehr erregt.   G r u p e n   weiß allerlei Gründe anzuführen, so daß der Wagen, mit dem die Kinder täglich zur Schule fuhren, zu klein war, um auch den Koffer mitzunehmen, und daß ein Lastwagen erforderlich gewesen wäre, für den die Pferde nicht zu haben waren. Der Angeklagte wirkt bei dieser Koffergeschichte zeitweilig äußerst erregt und nervös, bis schließlich der   V o r s i t z e n d e   erklärt, über diese Frage später die Zeugen vernehmen zu wollen.

 

Grupen veranlaßte nunmehr   D ö r t e   R o h r b e c k ,   mit ihm nach Itzehoe zu fahren. Fräulein Zahn reiste nicht mit, da sie mit der Großmutter Frau Eckert nicht harmonierte.

Vorsitzender: Sie fuhren über Berlin? Wo sind Sie dort abgestiegen?

Angeklagter: Im Christlichen Hospiz. Ich wollte auch, daß Dörte ihren Vormund besuchte. Ich sagte, ich würde selbst zu ihm gehen. Das tat ich auch. Als ich ins Hospiz zurückkam, war Dörte nicht da. Sie war mit einer Freundin ausgegangen und kam erst spät zurück.

 

Grupen und Dörte bei Dressel.

Vorsitzender: Sie sollen im   R e s t a u r a n t   D r e s s e l   plötzlich aufgesprungen und weggegangen sein, indem Sie sagten: da ist meine Frau.

Angeklagter: Ich tat das nur, weil ich für ein so feines Lokal nicht gut genug angezogen war und deshalb weggehen wollte.

Vorsitzender: Sie kamen dann mit Fräulein Dörte nach Itzehoe, und dort zeigten Sie am Tage Ihrer Ankunft der Frau Eckert den Abschiedsbrief, den ihre Tochter ihr geschrieben hatte. Wie nahm denn Frau Eckert die Nachricht vom Verschwinden ihrer Tochter auf? War sie sehr aufgeregt?

Angeklagter: Nein.

Vorsitzender: Jedenfalls scheinen Sie Fräulein Rohrbeck auf dieser Reise starke Antipathien eingeflößt zu haben, denn sie telegraphierte sofort nach der Ankunft in Ottenbüttel an Fräulein Zahn, sie möge sofort kommen, da sie sich sehr unglücklich fühle. Tatsächlich kam auch Fräulein Zahn nach Itzehoe, von wo sie mit Grupen und Dörte nach Hamburg fuhr. Dort machten sie eine Kahnfahrt auf der Alster; und es wird davon erzählt, Grupen hätte die Damen bei dem Kahnfahren wiederholt in Lebensgefahr gebracht, indem er sie in die Strömung der großen Dampfer hineinbrachte. Einmal soll er sich plötzlich auf den Boden des Kahnes habe niederfallen lassen, so daß Dörte um Hilfe rief. Grupen sucht diese kleinen Abenteuer als „harmlose Scherze“ auszulegen. Eine Gefahr habe für so ein großes Boot auf der Alster überhaupt nicht bestanden. Uebrigens hatte nur Fräulein Zahn Angst, während Dörte scherzte. Von Hamburg fuhr er mit den Damen nach Kiel. Auf die Frage des   S t a a t s a n w a l t s , warum er denn nicht in Hamburg blieb, sondern überflüssige und kostspielige Reisen unternommen hätte, erwiderte   G r u p e n ,   diese Reisen wären viel billiger gewesen, als ein Aufenthalt in Hamburg, wo die beiden Damen, namentlich Fräulein Zahn, durch kostspielige Wünsche ihm außerordentlich hohe Kosten verursacht hätte.

 

Grupen und Dörte in Hamburg.

Vorsitzender: Sie sind dann mit den Damen zu einer Frau Barry gegangen, wie man durch Auskunft der Polizei erfahren hat, ein übelberüchtigtes Absteigequartier.

Angeklagter: Das habe ich nicht gewußt. Ich hatte auf telephonische Erkundigung kein Zimmer in einem Hotel bekommen.

Vorsitzender: Sie haben in der Nacht an die Tür der Damen geklopft. Jedenfalls haben diese sich sehr gefürchtet.

Angeklagter: Ich wollte mich nur nach dem Befinden der Damen erkundigen. ich klopfte, aber ich erhielt keine Antwort.

Staatsanwalt: War das Ihr eigenes Absteigequartier in Hamburg?

Angeklagter: Ich hatte überhaupt keine Absteigequartier.

Staatsanwalt: Wir werden Zeugen darüber hören.

Vorsitzender: Sie hatten den Damen 10 000 Mark versprochen und ihnen am letzten Tage gesagt, Sie hätten Ihr Vermögen vollständig verloren und kein Geld mehr übrig.

Angeklagter: Tatsächlich hatte ich eine Summe, die ich erhalten sollte, nicht erhalten und glaubte in Uebertreibung der Gefahr, daß ich mein ganzes Vermögen verloren hätte.

Der   A n g e k l a g t e   wird weiter gefragt, was er getan hätte, um den Aufenthalt seiner Frau zu erfahren. Er sagt, er sei nach Berlin gereist, um sich mit dem Schwager seiner Frau, einem Herrn Schade, zu beraten. Auch habe er getrachtet, den Aufenthaltsort jenes Herrn Schulz aus Perleberg zu erfahren, der ihm noch immer als der Liebhaber seiner Frau galt. Eine richtige Aufklärung über diese Frage sei nicht zu erlangen gewesen.

 

Am 8. Februar kam Grupen, der seinen und den Besuch der Großmutter in Kleppelsdorf angekündigt hatte, auch mit den beiden Kindern Ursula und Irma sowie der Gouvernante Fräulein Mohr nach dem Schlosse.

Vorsitzender: Der Empfang war wohl etwas kühl, denn die Damen hatten ja auf so großen Besuch nicht gerechnet?

Angeklagter: Ja, indessen hatte ich nicht die Absicht, länger als zwei bis drei Tage zu bleiben. Nur die Kinder sollten bleiben, bis eine Wohnung gefunden wäre, da ich meine Besitzung in Ottenbüttel verkauft hatte.

 

 

 

Mittwoch, 7. Dezember 1921, „Berliner Morgenpost“, S. 1-2

Der Mord auf Schloß Kleppelsdorf.

Grupen über die Vorgänge am Mordtag. - Seine Vermögensverhältnisse und Heiratspläne. - Beginn der Zeugenvernehmung.

 

Hirschberg, 6. Dezember

Telegr. unseres Korrespondenten.

 

In dem Prozeß gegen den Architekten   P e t e r   G r u p e n   wegen des Doppelmordes auf Schloß Kleppelsdorf wurde am Dienstag die Vernehmung des Angeklagten zu Ende geführt. Er blieb dabei, daß er die beiden Mädchen nicht getötet habe und nicht wisse, wie Ursula Schade zu seinem Revolver gekommen sei, der dann bei ihrer Leiche gefunden worden ist. An die Vernehmung des Angeklagten schloß sich die Vernehmung der ersten Zeugen. Auch hier war der Gang der Verhandlungen der, daß zunächst die Zeugen gehört wurden, die über das Vorleben Grupens Auskunft zu geben hatten.

 

Zum leichteren Verständnis der etwas schwierigen Verwandtschaftsverhältnisse sei folgende Erläuterung gegeben:

 

                                                   Bankdirektor Eckert - Itzehoe V

                                        verheiratet mit Frau Eckert (Zeugin in Hirschberg)

                                                                           |

                                   ---------------------------------------------------------------

                                   |                                                                           |

                 ------------------------------                                               Trude Eckert

                 |                                   |                                        (angeblich nach Amerika

     Schloßbesitzer                    Frau                                       spurlos verschwunden)

     Rohrbeck V                     Rohrbeck V                                               |

                 |                                   |                                         ---------------------------------

                 ------------------------------                                        |                                       |

                                   |                                  in erster Ehe verheiratet          in zweiter Ehe verheiratet

                        Einziges Kind                         mit dem Kaufmann Schade    mit Peter Grupen

                 Dorothea Rohrbeck V                  (auf der Jagd verunglückt)      (kinderlos)

                                                                                              |

                                                                       ------------------------------------

                                                                       |                                          |

                                                                         Kinder aus dieser Ehe:

                                                                         Ursula und Irma

                                                                         (Ursula mit Dorothea in

                                                                          Kleppelsdorf tot aufge-

                                                                         funden)

 

Verhandlungsbericht vom Dienstag.

Der letzte Teil der Vernehmung   P e t e r   G r u p e n s   galt dem Schlussakt des Dramas auf Kleppelsdorf. Um den Geschworenen die Urteilsbildung zu erleichtern, sind im Saal zwei große Tafeln aufgestellt, auf denen die Grundrisse der Schloßräume aufgezeichnet sind, und an der Hand dieser Zeichnungen zeigt Grupen, wo die einzelnen Familienmitglieder gewohnt haben.

 

Am Vormittag des Mordtages war   G r u p e n   mit Dorothea Rohrbeck in der Nachbarstadt Lähn gewesen, von wo sie gegen Mittag nach Kleppelsdorf zurückkehrten. Dorothea ging in das Kinderspielzimmer, während Grupen sich im Nebenzimmer befand. Die Verbindungstür stand offen. Was im Kinderspielzimmer vorgegangen ist, will Grupen nicht gehört haben. Als man sich zu Tisch begeben wollte, kam ihm das Dienstmädchen auf der Treppe entgegen mit den Worten: „Die Kinder liegen unten tot.“ Auf diesen Schreckensruf hin sind dann alle nach unten gelaufen, und Grupen legte Dorothea ins Bett. Ursula kauerte am Schrank. Neben ihr lag die Pistole und einige Schachteln mit 19 Patronen.

 

Vorsitzender: Die Pistole, die neben Ursula lag, war Ihre Pistole. Wie ist es möglich, daß diese Pistole nach Kleppelsdorf gekommen ist?

Angeklagter: Ich bewahrte diese Pistole in meinem Schreibtisch in Ottenbüttel auf und hatte sie meinem Bruder gegeben, der mich während meiner Abwesenheit vertrat. Wer die Waffe mit nach Kleppelsdorf genommen hat, weiß ich nicht. Das Fach, in dem sie lag, hatte ich für meinen Bruder offen gelassen. Ich habe Ursula einmal bei diesem Fach gesehen, ihr einen Verweis erteilt und sie aus dem Zimmer gewiesen. Ich nehme an, daß sie den Revolver an sich genommen und mit nach Kleppelsdorf gebracht hat.

Vorsitzender: Sie sollen unmittelbar nach der Tat zu Frau Eckert gesagt haben: „Weißt Du auch, daß Du nun die Erbin von Kleppelsdorf bist?“ Wie kamen Sie dazu, in einem solchen Augenblick hieran zu denken?

Angeklagter: Ich habe das nicht unmittelbar nach der Tat gesagt, sondern erst am Abend; es kam das Gespräch auf die Erbschaft. Ich nahm allerdings an, daß die Großmutter Mit-Erbin wäre.

Vorsitzender: Nach Mitternacht wurden Sie für verhaftet erklärt. Bei Ihrer Abführung sagten Sie zu Frau Eckert: „Wenn Ihr aussagt, daß Ihr wißt, daß ich oben war, bin ich morgen wieder frei.“

Angeklagter: Das habe ich nicht gesagt. Wohl habe ich gesagt: „Meine Unschuld wird sich sicher herausstellen, denn Ihr wißt doch, daß ich oben war.“

Vorsitzender: Haben Sie jemals der Dorothea Rohrbeck einen Heiratsantrag gemacht?

Angeklagter: Nein.

Vorsitzender: Fräulein Rohrbeck hat das aber wiederholt erzählt und auch mehrfach geschrieben.

Angeklagter: Wo sind die Briefe? Ich habe ihr einen feststehenden Heiratsantrag jedenfalls nicht gemacht.

Vorsitzender: Was heißt „feststehend“? Wollen Sie sagen, daß es möglich ist, daß Sie so etwas einmal angedeutet haben?

Angeklagter: Das wäre möglich.

Sachverständiger Sanitätsrat   L e s s e r   fragt nach der Gemütsveranlagung der Ursula Schade.

Angeklagter: Schon als zwölfjähriges Mädchen litt Ursula an Schwermut. Diese Zustände wurden später noch heftiger.

Vorsitzender: Den vermutlichen Grund werde ich Ihnen nach Ausschluß der Oeffentlichkeit sagen.

Staatsanwalt: Der Ursula hatte es in Kleppelsdorf so gut gefallen, daß am Abend vor dem Morde davon gesprochen wurde, sie wolle dort bleiben und auch dort zur Schule gehen.

Verteidiger   A b l a ß :   Haben Sie sich jemals mit Hypnose beschäftigt?

Angeklagter: Nein.

Vorsitzender: Sind Sie ein guter Schütze?

Angeklagter: Vor meiner Militärzeit kannte ich kein Gewehr. Später hatte ich in Itzehoe einen Revolver. Ich darf sagen, daß ich ein verhältnismäßig guter Schütze bin.

 

Die Verhandlung wendet sich den   V e r m ö g e n s v e r h ä l t n i s s e n   d e s   A n g e k l a g t e n   zu. Während Grupen stets behauptet, daß er vermögend und deshalb unabhängig war, wird ihm vorgehalten, daß er Wertstücke seiner Frau und seiner Schwiegermutter verpfändet hat. Seine Schwiegermutter Eckert hat davon erst nach seiner Verhaftung Kenntnis erhalten, und seitdem hat ihre Neigung zu Grupen sehr nachgelassen.

 

Vorsitzender: Von den vier Ringen Ihrer Frau, die Sie verpfändet haben, waren drei beschädigt. Der Herr, bei dem sie verpfändet wurden, glaubt, daß diese Beschädigungen beim gewaltsamen Abziehen der Ringe vom Finger erfolgt sind.

 

Angeklagter: Es waren alte Ringe, die meine Frau schon lange nicht mehr trug, und die ich mit ihrem Einverständnis verpfändete. Das Geld dafür habe ich ihr gegeben. Die Pelze habe ich verpfändet, weil dies die einfachste Form der Aufbewahrung ist. Das Silbergeschirr meiner Schwiegermutter habe ich allerdings in einer augenblicklichen Geldverlegenheit versetzt, aber bald wieder eingelöst.

 

Fräulein Zahn als Zeugin.

Damit war die Vernehmung beendet, und es begann die   Z e u g e n v e r n e h m u n g .   Erste Zeugin war die Erzieherin von Dörte Rohrbeck Fräulein Zahn. Sie ist in tiefe Trauer gekleidet, eine hübsche elegante Frau von offenbar sehr guten Manieren und bekundet in sehr gewählter Sprache:

Ich kam im Frühjahr 1905 als Hausdame und Erzieherin nach Kleppelsdorf. Dorothea war damals 1 ½ Jahre alt. Vor mir war ihre Großmutter, Frau Eckert, im Hause gewesen, nachdem Frau Rohrbeck kurz nach der Geburt ihres Kindes gestorben war. Ich leitete den Haushalt, bis Dorothea zur Schule ging. Im Jahre 1914 wurde Herr Rohrbeck schwer krank und starb einige Monate später in einem Berliner Sanatorium. Er hinterließ ein bedeutendes Vermögen und zwar neben dem Gut Kleppelsdorf die kleineren Güter Tempelhof und Gießhübel im Werte von damals 1 ½ Millionen Mark und außerdem ein Barvermögen von 1 ¼ Millionen Mark. Vormund der Dorothea wurde ein Herr Vielhack. Ein Nachtrag des Testamentes bestimmte, daß die Ausbildung und Erziehung der Dorothea mir übertragen wurde.

 

Vorsitzender: Man hat behauptet, daß Frau Eckert eine Abneigung gegen Sie hatte, weil sie fürchtete, daß Rohrbeck Sie heiraten könnte.

Zeugin: Frau Eckert hatte den Wunsch, daß Rohrbeck ihre damals noch ledige Tochter, die spätere Frau Grupen, heiraten möchte, und es bestand auch eine kurze Zeit lang so eine Art Verlobung der beiden.

Vorsitzender: Frau Eckert soll auch gefürchtet haben, daß Ihr Bruder Dorothea heiratet.

Zeugin: Das fürchtete sie auch.

Vorsitzender: Frau Eckert soll Ihnen Erbschleicherei vorgeworfen haben.

Zeugin: Das wohl nicht, aber sie hat mir nicht ohne Absicht allerlei Geschichten über Erbschleicherei erzählt.

Vorsitzender: Gab es denn irgendwelche Unterlage dafür, daß Rohrbeck Sie heiraten würde?

Zeugin: Ich hatte Rohrbeck während seiner Krankheit gepflegt und eine Zeitlang schien es, als ob er wieder gesund werden sollte. Da sagte er mir einmal in Berlin im Garten des Sanatoriums, er hätte den Wunsch, wenn er wieder zu Hause wäre, mich zu heiraten. Auf seine Frage, ob ich das wolle, antwortete ich ihm: „Ich will es gern tun.“

Vorsitzender: Ist es dann zu Streitigkeiten gekommen zwischen Ihnen und dem Vormund Vielhack. Dieser hatte seit 1916 für den Haushalt, die Erziehung, das Personal und die Kleidung monatlich 100 Mark festgelegt, und das Geld soll nicht gereicht haben.

Zeugin: Das Leben wurde von Tag zu Tag teurer und wir kamen wirklich nicht aus. Da es neben dem Vormund Vielhack noch den Gegenvormund Bauer gab, der als Verwalter vielfach nach Kleppelsdorf kam, so trug ich ihm meine Klage vor, und daraufhin kündigte mir der Vormund Vielhack. Das Gericht hat die Kündigung auf Grund des Testaments aber für ungültig erklärt, da ich nicht Angestellte des Vormundes war.

Vorsitzender: Wie entstanden nun Ihre Beziehungen zur Familie Grupen?

Zeugin: Dorothea wurde Ostern 1920 konfirmiert, und ich hatte alle Verwandten gebeten, zur Konfirmation nach Kleppelsdorf zu kommen. Sie kamen aber nicht. Den Vormund hatte ich gebeten, das nötige Geld für die Feier und die Kleider zur Verfügung zu stellen, aber er lehnte es ab, und auf dem Gericht sagte man mir, ich möchte das Konfirmationskleid für Dorothea aus den alten Gesellschaftsanzügen des Herrn Rohrbeck machen lassen. Erst auf mein hartnäckiges Weigern wurden mir 800 Mark für diese Zwecke zur Verfügung gestellt. Aber ich kam damit nicht aus, und so mußten wir das Notwendigste aus anderen Quellen besorgen. Da wir selbst kein Geld hatten, beschlossen wir, uns an die Verwandten zu wenden, und so wurde die Verbindung mit Ottenbüttel hergestellt. Dorothea besuchte Mitte 1920 ihre Großmutter Eckert und Grupen und wurde äußerst liebenswürdig empfangen. Auf Grupens Wunsch sagten sie alle Du. Man fuhr gemeinsam nach Hamburg und verlebte dort vergnügte Tage.

Vorsitzender: Hat er nicht auch einmal über seine Frau mit Ihnen gesprochen?

Zeugin: Er fragte mich, ob ich wüßte, daß seine Frau krebskrank wäre. Hätte er das gewußt, so hätte er sie nicht geheiratet.

Vorsitzender: Wie sah denn Frau Grupen aus?

Zeugin: Frau Grupen war eine sehr elegante Frau, aber es schien mir, als ob sie in ihrem Aeußern nicht mehr so sorgfältig wie früher war.

Vorsitzender: Hat Ihnen Grupen nicht allerlei erzählt?

Zeugin: Er sagte einmal, er bedauere, mich nicht früher kennen gelernt zu haben.

Vorsitzender: Was wollte er denn damit sagen?

Zeugin: Wahrscheinlich wollte er sein Gefallen damit ausdrücken.

Vorsitzender: Hat er Ihnen gesagt, Sie sollen seine Frau werden?

Zeugin: Ich weiß nicht, ob das damals war oder erst später. Er erzählte von einem reichen Onkel in Amerika, den er besuchen müßte, es wäre schön, wenn ich mit ihm nach Amerika ginge.

Vorsitzender: Angeklagter, haben Sie einen Onkel in Amerika?

Angeklagter: Jawohl, er heißt Joseph Polk. Von ihm aber habe ich nicht gesprochen, sondern in Hamburg beim Anblick eines vorüberfahrenden Dampfers nur gesagt, daß es schön wäre, mit diesem Dampfer nach Amerika zu fahren. Weiter habe ich nichts gesagt.

Zeugin: Frau Grupen hat ihren Besuch auf Kleppelsdorf angekündigt, aber wir erwarteten sie vergeblich. Dafür kam Grupen selbst und erzählte, seine Frau wäre nach Amerika gegangen.

Zum Schluß gelangten   A b s c h i e d s b r i e f e   der verschwundenen   F r a u   G r u p e n   an Dorothea Rohrbeck und andere Verwandte zur Verlesung.

Ein Geschworener: Ist überhaupt festgestellt, daß Frau Grupen die Schreiberin der Briefe ist?

Vorsitzender: Das ist bisher nicht festgestellt, ein Sachverständiger ist darüber bisher nicht vernommen worden. Das wird aber jetzt nachgeholt werden.

 

 

 

Donnerstag, 8. Dezember 1921, „Berliner Morgenpost“ - Erste Beilage

Lokaltermin auf Schloß Kleppelsdorf.

Gerichtsverhandlung am Ort der Tat.

 

Lähn, 7. Dezember.

Von uns. Sonderberichterstatter.

 

Waldige Höhen umschließen das Städtchen   L ä h n ,   dessen sonst so friedliche Ruhe durch ein ungewöhnliches Ereignis unterbrochen wird. Gegen Mittag rumpeln zwei geräumige Auto-Omnibusse von Hirschberg her durch die Straßen dem Ende des Städtchens zu, wo der Gutshof   K l e p p e l s d o r f   liegt (Anmerkung: vor dem Städtchen, nicht am Ende). Ein einfaches, einstöckiges Herrenhaus mit einem weitläufigen Hofe, gegenüber die Scheunen und Wirtschaftsgebäude. Dem ersten Wagen entsteigen die Gerichtsherren, die Geschworenen und einige Zeugen aus Hirschberg. Aus dem zweiten funkeln zahlreiche Pickelhauben. Gerichtsdiener mit Aktenstößen verlassen den Wagen. Ein Polizeikommissar gibt strenge Befehle, und am Hintertor des Herrenhauses stehen einige Jäger in grünen Uniformen zum Empfang bereit.

 

 

Karte

 

 

Als letzter verläßt Peter   G r u p e n ,   in einen dunklen Mantel gehüllt, den Wagen. Fast regungslos hatte er, in eine Ecke gedrückt, von einem Knäuel Polizisten umgeben, darin gesessen, regungslos durch die Fenster in die bekannte Gegend starrend, die er seit acht Monaten heute zum erstenmal wiedersieht. Keine Muskel zuckt in dem unbeweglichen Gesicht, nur als der Omnibus vor dem Schlosse vorfährt und er sich von seinem Sitze erhebt, scheint es, als wäre alles Blut aus seinem Gesicht gewichen. Fünf Polizisten umringen ihn und rühren ihn zur Gittertüre vor dem Herrenhaus. Hier steht ein Haufen von Menschen, Männer, Frauen und Kinder, alle mit verdrossenen, feindseligen Gesichtern. „Da ist er, der Schweinehund!“ ruft ein Mann, an dem Grupen hart vorüber muß, ganz laut, und ein anderer ruft im schlesischen Tonfall „Runter mit´m Kopp!“ Mit beinahe gellender Stimme ruft eine Frau dazwischen: „Er is es und keen andrer! Warum die langen Umstände?“ Man fühlt, daß die Welle des Hasses dem Manne entgegenschlägt, der nun eilig inmitten seiner Wächter im Hause verschwindet.

 

Ein großes Zimmer im ersten Stock, mit gutem Geschmack eingerichtet, nimmt die Richter, Geschworenen und Zeugen auf. Die Richter ziehen ihre Talare über die Pelze an. Die Verhandlung wird eröffnet. Zunächst wieder die Treppe hinab zu dem im Erdgeschoß liegenden Mordzimmer. Es ist seit dem Unglückstage verschlossen geblieben. An der Einrichtung ist nichts geändert worden. Noch stehen hier nebeneinander zwei Betten, deren Wäsche mit Blut bedeckt ist und vor dem Bette ein großer dunkler Fleck vom Blut der unglücklichen Dörte, die an dieser Stelle den Tod gefunden hat. Ein Blutfleck auch etwa zwei Schritte weiter, wo man die sterbende Ursula an einen Schrank gekauert aufgefunden hat. Das Zimmer ist eng, kaum daß es die Personen faßt, die dabei sein müssen. Als alle beisammen sind, kommt Peter Grupen, der Angeklagte.

 

„Herr Vorsitzender,“ ruft er laut, „ich habe ein Mitteilung zu machen. Als ich ins Haus trat, hat eine Frau gerufen: Da ist der Mörder. Ich bin doch nicht verurteilt.“

 

Der Vorsitzende sagt: „Ich möchte das Publikum bitten, den Angeklagten noch nicht als überführt anzusehen. Ich bitte das zu unterlassen.“

 

Das Zimmer selbst ist ein freundliches, helles Schlafzimmer mit zwei Betten in der Mitte, einem Waschtisch und zwei Schränken. Vom Nebenzimmer führt eine Tür nach dem Flur, wo sich die Treppe befindet, die zum ersten Stock führt. Eine der wichtigsten Feststellungen ist die, daß die Patronenhülsen der abgeschossenen Kugeln alle drei nahe der Eingangstür gefunden wurden, während Ursula und die Pistole auf der entgegengesetzten Seite des Zimmers lagen.

 

Um ein deutliches Bild davon zu bekommen, wie Dörte und Ursula aufgefunden wurden, werden die beiden Dienstmädchen Mende und Hirsch, die zuerst die furchtbare Entdeckung gemacht hatten, gebeten, zu zeigen, wie Dörte und Ursula dalagen. Die Lage Dörtes führt dann dazu, durch den sachverständigen Arzt Kreismedizinalrat Dr. Peters aus der Lage des Schußkanals die Richtung bestimmen zu lassen, aus der der Schuß vermutlich gekommen ist. Der erste Schuß war in die Achselhöhle Dörthes eingedrungen und beim Halse herausgetreten, war also von unten nach oben gegangen. Ebenso hatte der zweite Schuß in den Kopf dieselbe Richtung. Die genaue Lage der Leiche nach der Auffindung war kaum festzustellen, da die beiden Mädchen darüber verschiedene Bekundungen machten. Auch wurden, als die anderen Hausgenossen ins Zimmer kamen, Dörthe, die nach Fräulein Zahns Angaben noch lebte, aber wenige Augenblicke später starb, sowie Ursula, die noch zwei Stunden mit dem Tode rang, aufs Bett gelegt. Jedenfalls geschah aber die Tat zwischen 12 und ½ 1 Uhr. Als etwa 20 Minuten nach Entdeckung der Tat der Arzt Dr. Scholz kam, war Dörthes Körper noch warm.

 

Der Tatort erweckt in Fräulein   Z a h n ,   der Erzieherin, genauere Erinnerungen über die Entdeckung der Tat. „Als ich Dörthe aus der Blutlache aufheben wollte, wobei ich eigentlich noch nicht wußte, was geschehen war, sagte Grupen: „Da ist ja geschossen worden.“ Ich sah jetzt die Wunden und fragte: „Wo ist denn das Ding?“ Darauf nahm Grupen den Revolver und legte ihn auf den Tisch. Die Großmutter sagte jetzt: „Ja, wie kommt denn Ursel zu der Waffe?“ Niemand wußte eine Antwort.“

 

Eine interessante Entdeckung machte der Postverwalter   G r i m m i g ,   der sofort nach dem Arzt ins Mordzimmer kam. Als er den Revolver auf dem Tische liegen sah, wollte er ihn sichern. Da er das System nicht kannte, aber annahm, daß die Waffe wohl entsichert war, drehte er den Hebel nach der anderen Seite. Etwas später aber erkannte er, daß er die Waffe nicht gesichert, sondern entsichert hatte. Grupen gibt zu, daß er, als er den Revolver aufhob, ihn gewohnheitsmäßig gesichert haben könne, doch ist es auffallend, daß er sich nicht genau erinnert, da der Hebel sehr schwer geht und er im übrigen behauptet, die Waffe nie gebraucht zu haben.

 

Grimmig fragte auch: Wem gehört die Waffe? Die Großmutter sagte, sie gehört niemand. Auch der Angeklagte sagte dieses. Erst nachdem der Brief bei Ursula gefunden war, sagte er: Dann ist es doch meine Waffe, dann bin ich ja schuld an dem Tode Dörthes.

 

Der Gerichtshof und alle Teilnehmer gehen dann über die Treppe in die Räume im ersten Stock, wo sich zurzeit der Tat die übrigen Familienmitglieder befanden. Ist es die merkwürdige Erinnerung dieses Tages - die beiden freundlichen Zimmer sind wir von einem Hauch von Schwermut erfüllt. Der Vorsitzende wünscht, daß alles wieder genau so gemacht werde, wie an jenem traurigen Tage. Im vorderen Zimmer setzt sich Fräulein Zahn allein an den Tisch, um Rechnungen zu prüfen. Im Nebenzimmer um den runden Tisch in der Ecke, den man vom Platz des Fräulein Zahn aus übersehen kann, setzen sich die Großmutter, die kleine Irma (Ursulas Schwester), ein schüchternes 10jähriges Kind, das verhalten zu weinen beginnt, Fräulein Mohr, die Stütze, und endlich der Angeklagte Grupen nieder. Die beiden Dienstmädchen stellen Dörthe und Ursula vor, die im Zimmer des Fräulein Zahn am Fenster sitzen.

 

Plötzlich hört man die scharfe Stimme des   S t a a t s a n w a l t s :   „Ein dringender Antrag Herr Vorsitzender. Ich bitte, den Angeklagten Grupen zu entfernen und durch eine andere Person zu ersetzen.“ Der Staatsanwalt deutet dabei auf die weinende Irma und die unruhig auf ihrem Platze herumrückende Großmutter.

 

G r u p e n   steht sofort auf und sagt: Das ist mir auch sehr angenehm. An seine Stelle setzt sich ein Polizeikommissar.

 

Nun geht das eine Dienstmädchen hinaus und eine Weile darauf hört man die Tür klinken und die Worte: Dörthe, komm doch mal und die Antwort Dörthes: Gleich komme ich.

 

In der beinahe gespenstischen Stille hört man dieses Zwiegespräch, die letzten Worte, die vor acht Monaten zwei unglückliche Menschenkinder sprachen, wie aus weiter Ferne. Vielleicht ist die Schallwirkung durch die Anwesenheit der vielen Menschen abgeschwächt.

 

Dann hört man die etwas deutlichere Stimme des Fräulein   Z a h n :   „Irma, sieh doch mal, wo Dörthe ist.“

 

Es ist damit erwiesen, daß Grupen alle diese Worte hören konnte. Jetzt wird nur noch geprüft, wielange Zeit ein mit den örtlichen Verhältnissen vertrauter Mann braucht, um aus dem oberen Zimmer nach dem Mordzimmer im Parterre und zurück zu gelangen. Der jetzige Besitzer von Kleppelsdorf, Herr   P i n g e l ,   braucht dazu genau eine Minute.

 

Grupen steht unweit der Tür und folgt wortlos, aber mit größter Aufmerksamkeit diesen für sein Schicksal vielleicht so bedeutsamen Vorgängen.

 

Die Feststellungen am Tatorte selbst sind beendet. Langsam leeren sich die Räume, die hoffentlich in Zukunft niemals wieder von ähnlichen Schrecken heimgesucht sein werden, und in einem saalähnlichen Zimmer des ersten Stockes versammelt sich das Gericht zur Fortsetzung der Verhandlung.

 

 

 

Freitag, 9. Dezember 1921, „Berliner Morgenpost“, S. 1+3

Irma Schade belastet Grupen.

Aufsehen erregende Aussage im Kleppelsdorfer Mordprozeß.

Die Zwölfjährige gegen den Stiefvater. - Dörthes Ahnungen.

 

Hirschberg, 8. Dezember.

Von uns. Sonderberichterstatter.

 

Der heutige Tag brachte im Prozeß Grupen eine überraschende Wendung zuungunsten des Angeklagten. Seine Stieftochter, die jetzt zwölfjährige   I r m a   S c h a d e ,   bekundete, daß Grupen in der Zeit, in der der Mord geschah, das Zimmer im ersten Stock, das es die ganze kritische Zeit über nicht verlassen haben will, doch verlassen habe. Diese Aussage erregte um so mehr Aufsehen, als die Frage, ob der Angeklagte das Zimmer verlassen haben konnte oder nicht, den Angelpunkt des gegen ihn geführten Indizienbeweises bildete. Es ist weitaus die wichtigste Frage des Prozesses.

 

Zum besseren Verständnis sei nochmals die örtliche Situation geschildert: Im ersten Stock saß in der kritischen Zeit, am 14. Dezember zwischen 12 und 1/2 1 Uhr mittags, in dem größten der drei Zimmer Fräulein Zahn und schrieb Briefe. Bei ihr befanden sich zunächst Dörthe und Ursula, die dann das Zimmer verließen, nachdem Ursula Dörthe gerufen hatte. Im Nebenzimmer, dem Wohnzimmer, saßen in der Ecke um einen runden Tisch die Großmutter, die kleine Irma, die Stütze Frl. Mohn und Grupen. Dieser spielte mit Irma Mühle. Aus diesem Zimmer führt eine Tür nach dem „Schrankzimmer“, von dem man nur eine Tür zu öffnen braucht, um nach der Treppe zu gelangen, die nach dem Parterre führte, wo der Mord geschah. Es ist durch die Versuche beim Lokal-Augenschein bewiesen, daß man nur eine Minute braucht, um aus dem Wohnzimmer nach dem Parterrezimmer und zurück zu kommen. Das ist festzuhalten, um die Wichtigkeit der heutigen Verhandlungsvorgänge zu verstehen.

 

Am späten Nachmittag wurde die kleine   I r m a   als Zeugin vorgerufen. Auf Beschluß des Gerichts wird der Angeklagte während der Vernehmung abgeführt, weil befürchtet wird, daß Irma sich vor dem Angeklagten fürchtet. Gleich zu Beginn der Vernehmung erklärt Irma, sie müsse noch etwas aussagen, was sie bisher vergessen habe. In der Stunde vor der Tat, als sie einen schlechten Apfel auf den Abort tragen wollte, sei der Stiefvater hinter ihr hergekommen.

 

Es entsteht sofort eine große Bewegung im Saal, weil hier zum ersten Male bekundet wird, daß der Angeklagte in der kritischen Stunde das Wohnzimmer verlassen hat. Der Vorsitzende geht aber zunächst nicht auf diesen Punkt ein, sondern läßt sich von Irma die Vorgänge in der Reihenfolge erzählen.

 

Die gutmütige, gewinnende Art des Vorsitzenden läßt nun Irma, die einen durchaus intelligenten Eindruck macht, frei und bestimmt ihre Aussage machen. Insbesondere bekundet sie, daß sie niemals in den Händen ihrer Schwester einen Revolver gesehen habe und auch nicht wußte, ob Ursula je geschossen hat. Am Vormittage des Mordtages habe sie mit Dörthe Post und Apfelsinen geholt, und Ursel sei ihnen auf der Treppe mit dem Vorwurf entgegengekommen: „Wo bleibt Ihr denn so lange mit den Apfelsinen?“

 

Ursula hatte im Mühlespielen eine Apfelsine gewonnen, die sie nun haben wollte. Ursula sei in guter Laune gewesen. Dann sei sie in das Zimmer getreten und habe nun auch Mühle gespielt. Die Großmutter habe dabeigesessen und war wohl etwas eingeschlummert. Nach einer Weile sei sie von Fräulein Zahn aufgefordert worden, Dörthe zu suchen. Sie habe dies auch getan, war auch unten im Eßzimmer, habe sie aber nicht gefunden. Dann sei sie zurückgekommen. Nach einer Weile habe sie einen Apfel essen wollen. Der sei schlecht gewesen.

 

Der Stiefvater habe am Ofen gestanden und wollte den Apfel in den Ofen werfen, die Ofentür war aber zum Oeffnen zu heiß. Dann habe der Stiefvater ihr gesagt, sie solle den Apfel auf den Abort tragen.

 

„Dabei“ - fährt sie wörtlich fort - „ging er hinter mir her und folgte mir ins Schrankzimmer. Als ich vom Abort kam, sah ich ihn noch im Schrankzimmer. Wann er in das Wohnzimmer zurückkam, weiß ich nicht.“

 

Verteidiger Dr. Mamroth: „Diese Aussage macht Irmgard zum ersten Male und hat sie in keiner früheren Vernehmung gesagt.“

 

Vorsitzender: „Sie ist vielleicht nicht so eingehend danach gefragt worden. (Zur Zeugin:) Höre, kleine Irma, du mußt uns aber die volle Wahrheit sagen! Wann ist dir denn das alles eingefallen? Oder hat dir jemand gesagt, du sollst das aussagen?“

 

I r m a   (energisch): „Nein, es ist mir schon im Sommer eingefallen.“ Auf wiederholtes Fragen erklärt die Zeugin: „Ich habe das schon im Sommer der Tante Erna Lux erzählt, und sie hat mir gesagt, ich solle es nicht vergessen, heute zu sagen.“ Auch auf weitere Vorhaltungen bleibt Irmgard bei ihrer Aussage.

 

Der   A n g e k l a g t e   wird hereingerufen. Der Vorsitzende liest ihm die Aussage vor. Der Angeklagte folgt mit eiserner Ruhe und erklärt, er habe Irma die Tür geöffnet, sei ihr aber nicht gefolgt. Irmgard bleibt jedoch bei ihrer Bekundung, wobei sie dem Angeklagten den Rücken zudreht.

 

A n g e k l a g t e r   (in Erregung): „Irmgard ist schon vor Jahren ein lügenhaftes und verstocktes Kind gewesen und hat der Großmutter 50 Mark gestohlen und die Tat erst nach einige Tagen eingestanden.“

 

Verteidiger Dr.   A b l a ß   stellt nun den Antrag, das Gericht möge veranlassen, daß die Zeugin ihre Bekundung dem Angeklagten Auge in Auge wiederholt. Geheimrat   M o l l   erklärt als Sachverständiger das größte Bedenken gegen eine solche Gegenüberstellung. Der Staatsanwalt bittet um Ablehnung des Antrages, da die Strafprozeßordnung eine derartige Anforderung nicht stelle.

 

Während dieser Gespräche bricht die kleine Irmgard in lebhaftes Weinen aus. Der Gerichtshof zieht sich zur Beratung zurück und verkündet, der Antrag des Verteidigers sei abgelehnt worden, da die Strafprozeßordnung zwar die Gegenüberstellung nicht verbiete, aber auch nicht anordne. Die Verteidigung beantragt, Beweisführung für die Lügenhaftigkeit der Zeugin.

 

Ursula und Dorothea.

Wichtige Zeugenaussagen.

 

Aus dem weiteren Verlauf der Donnerstag-Verhandlung, über deren überraschende Wendung wir auf der ersten Seite berichten, sind noch die Aussagen der Erzieherin, Frl.  Z a h n ,   über die Vorgänge am Tage vor der Tat, an einem Sonntag, zu erwähnen: „Der Nachmittag verlief harmlos und heiter.   D ö r t h e   spielte Klavier, und es wurde gesungen. Nur   U r s u l a   stand scheu beiseite und war nicht zu bewegen, an dem Gesang teilzunehmen, obgleich Grupen sie selbst dazu aufforderte. Dann wurde getanzt.   G r u p e n   war sehr lustig und forderte auch mich zum Tanzen auf. Ich lehnte ab. Grupen tanzte dann mit der Großmutter. Das Verhältnis Dorotheas und Ursulas war stets sehr gut. Nur war Ursula so bedrückt, daß Dörthe äußerte: „Ich glaube, sie hat eine Sorge.“

 

Vorsitzender: Wußten Sie, daß Ursula (geschlechtlich) erkrankt und in Behandlung war? - Fräulein Zahn: Bei dem letzten Besuch in Hamburg sprach Grupen von Furunkeln. Ich wußte aber nicht, um was es sich handelte. Dann aber sprach auch die Großmutter davon, und zwar deutlicher, in Anwesenheit Dörthes beim Frühstück, was Dörthe offensichtlich unangenehm war. Die Großmutter äußerte dabei, es sei doch sehr lieb, daß Peter die Behandlung selbst vornimmt.

 

Ueber die Zeit der Tat berichtet die Zeugin noch, daß sie mehrere Male die Türe gehen hörte, und zwar bald, nachdem Dörthe und Ursula hinausgegangen waren. Doch weiß Frl. Zahn nicht, wer sich entfernt hat. Nach einer Weile habe sie Irma gebeten, Dörthe zu holen, weil sie mit dieser die Wochenrechnung machen wollte. Hierauf hat der Angeklagte aus dem Nebenzimmer geantwortet: „Irma geht gleich.“ Irma kam nach wenigen Minuten zurück, ohne Dörthe gefunden zu haben. Nach einer zweiten Frist sei ein Dienstmädchen gekommen und habe eine Gemüseschüssel verlangt. Zu diesem Zwecke mußte sie aufstehen und durch das Wohnzimmer gehen, wobei ihr der Angeklagte auffällig scharf ins Gesicht gesehen habe.

 

Im weiteren Verlaufe schilderte Fräulein Zahn die Ursula als ein überaus dürftiges, aufgeschlossenes Kind, das früher zutunlich und heiter war, zuletzt außerordentlich melancholisch und gedrückt gewesen sei. Sie sei leicht lenkbar und gefügig gewesen und weder lügenhaft noch trotzig und habe in keiner Weise einen moralischen Defekt gezeigt.

 

In der Nachmittagssitzung wird Oberschwester Emma   K u b e   aus Lähn vernommen, die Dörthe von der Geburt her kannte und eine besondere Vertraute Dörthes war. Sie müsse sagen, daß Fräulein Zahn in mustergültiger Weise Dörthe versorgt habe. Der Vater Dorotheas habe viel von Fräulein Zahn gehalten und auch gelegentlich geäußert, daß er sie ganz gerne heiraten würde. Er hat auch Fräulein Zahn testamentarisch zur Erzieherin seiner Tochter bestimmt. Dorothea hat Fräulein Zahn sehr geliebt und ihr einmal gesagt: Wenn ich mal majorenn bin, bekommt Fräulein Zahn von mir das Gut Tempelhof. Das Verhältnis zwischen Dörthe und der Großmutter sei immer ein kühleres gewesen, was vielleicht darauf zurückzuführen sei, daß Herr Rohrbeck für seine Schwiegermutter keine großen Sympathien hatte. Aber Dörthe sei ein viel zu zartfühlendes und gutes Kind gewesen, als daß sie die Großmutter je verletzt hätte.

 

Besonders dramatisch gestaltete sich die Erzählung der Oberschwester von den letzten Besuchen Dörthes. Schon nach der Hamburger Reise hatte Dörthe erzählt, wie unheimlich ihr das Verhalten Grupens auf der Alsterfahrt war. Dörthe habe das deutliche Gefühl gehabt, daß Grupen ihr nach dem Leben trachtete. Insbesondere ängstigte sie sich vor seinen Heiratsanträgen. Dörthe sei auch zu ihr gekommen, als plötzlich Grupen mit der Großmutter und den Kindern eingetroffen war. Dörthe sei sehr erregt gewesen, und sie selbst äußerte die größte Angst für Dörthe. Sie solle sich jeden Abend einschließen. Dörthe äußerte den Wunsch, sich einen Revolver zu kaufen. Als Dörthe wegging, drehte sie sich noch einmal in der Tür nach ihr um und sagte: „Ach, Du liegst so geborgen, mich gruselt, wenn ich in mein Haus gehe.“ Als dann zwei Tage später der Zeugin die Nachricht von dem Unglück überbracht wurde, habe sie sofort gesagt: „Das ist kein Unglück - Dörthe ist ermordet worden.“

 

 

 

Sonnabend, 10. Dezember 1921, „Berliner Morgenpost“, S. 1-2

Neue aufregende Zwischenfälle im Prozeß Grupen.

Bettelvormünder einer Millionenerbin. - Eine Erklärung der Geschworenen. - Die Aussage des Kindermädchens Mohr.

 

Hirschberg, 9. Dezember.

Von uns. Sonderberichterstatter.

 

Nun sind auch die seltsamen Vormünder der Millionenerbin Dörthe Rohrbeck vor Gericht erschienen, deren Sparsamkeit das Mündel gezwungen hat, bei fremden Leuten um Geld zu betteln, während die Zinsen und Zinseszinsen ihres großen Vermögens zu einem neuen Reichtum anwuchsen. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß Dörthe Rohrbeck ohne diese Vormünder nie in jene enge Verbindung mit Grupen und seiner Familie gekommen wäre, die ihr jedenfalls zum Verhängnis geworden ist.

 

Als Zeuge wird zunächst Amtsgerichtsrat   T h o m a s   aufgerufen, der als Vorsteher des Amtsgerichtes Lähn der Vormundschaftsrichter für Dörthe Rohrbeck war. Kaum betritt der kleine, noch jugendliche Herr den Raum, so ist die Luft wieder „dick“. Denn ohne die Engherzigkeit des Vormundes, sagt man, hätte sich weder Fräulein Zahn noch Dörthe diesem Grupen anvertraut, der ihnen in ausgesprochener Notlage als einziger mit Geldmitteln zu Hilfe kam, und was der in Tempelhof wohnende Vormund engherzig vorschrieb, hat der in unmittelbarer Nachbarschaft wohnende Vormundschaftsrichter stets gebilligt, ohne sich . was so leicht gewesen wäre - an Ort und Stelle von den Verhältnissen zu überzeugen.

 

Er muß das in seiner Vernehmung zugeben, wie er auch keinen Widerspruch erhebt, als Frl.   Z a h n   ihm öfters vorhält, daß die Einkünfte der jungen Schloßherrin, die ein vermögen von mehr als drei Millionen besaß, von anfangs 26 000 Mark (einschließlich der Gehälter und Naturalverpflegung) auf 1000 Mark monatlich und später auf 120 Mark, ja hundert Mark wöchentlich (ausschließlich der Gehälter und Naturalverpflegung) reduziert wurden. Als Fräulein Zahn anläßlich der Konfirmation bei ihm einen Zuschuß beantragte, gab er ihr den Rat, die Kleider für Dörthe aus den alten Anzügen des Vaters machen zu lassen und die seidenen Hemden des Verstorbenen zu Blusen zu verarbeiten, was ein Lachen der Entrüstung im Saale hervorruft.

 

Vorsitzender: Der Vormund hat dann Fräulein Zahn wiederholt gekündigt, obwohl in dem Testament stand, daß diese die Erziehung des Fräuleins bis zu ihrer Mündigkeit leiten soll. Glaubte denn der Vormund und Sie, daß Sie hierzu ein Recht hatten? - Zeuge: Das war jedenfalls die Ansicht des Vormundes und meine auch. - Vorsitzender: Ihre Ansicht, aber die oberen Gerichte waren jedenfalls anderer Ansicht. (Heiterkeit, die der Vorsitzende rügt.) Weshalb wollte der Vormund Fräulein Zahn entlassen? - Zeuge: Er war der Meinung, daß ihm Fräulein Zahn das Mündel entfremdete. - Vorsitzender: Aber der Vormund hatte doch gar keine persönliche Beziehungen zu Fräulein Rohrbeck. Er war doch nur ein früherer Jagdgast des Herrn Rohrbeck.

 

Aber die Situation spitzt sich weiter zu, als der Zeuge erzählt: Kurz vor der Tat hatte der Vormund beantragt, einige alte morsche Kastanienbäume vor dem Herrenhause niederhauen zu lassen, wogegen Fräulein Rohrbeck, die die alten Bäume liebte, Einspruch erhob. Der Vormund bestand darauf, weil er die Verantwortung für einen Unglücksfall nicht übernehmen konnte. Fräulein Rohrbeck hatte am Tage vor der Mordtat die Entscheidung des Vormundschaftsgericht zugestellt erhalten. Als ich dann, sagt Zeuge, am Tage der Tat um 3 Uhr mit der Eisenbahn aus Hirschberg in Lähn ankam, wurde ich von Sanitätsrat Dr. Scholz und anderen abgeholt, die mich von dem Geschehenen unterrichteten. Ich eilte sofort nach dem Herrenhause, wo mir Fräulein Zahn entgegentrat. Ich fragte: Dörthe wird sich doch die Geschichte mit den dummen Bäumen nicht zu Herzen genommen haben? Ich zitterte an allen Gliedern, während Fräulein Zahn eine unglaubliche Ruhe bewahrte. Ich konnte ihr keine Erregung anmerken. Sie hat gelacht.“

 

In diesem Augenblick geht eine heftige Bewegung durch den ganzen Saal. Man sieht im Halbdimmer des Lampenlichts die schwarze Gestalt des Fräulein   Z a h n   sich erheben. Unter Schluchzen ruft sie aus:

 

„Das ist zuviel, Herr Vorsitzender, das ist zuviel, das kann ich nicht ertragen!“

 

Auf Zureden des Vorsitzenden verläßt Fräulein Zahn in tiefer Erregung den Saal.

 

Ein Geschworener stellt die Frage: „Wie konnte der Zeuge glauben, Fräulein Dörthe habe sich wegen der Kastanienbäume das Leben genommen, wo er doch über den Tatbestand schon halbwegs unterrichtet war?“

 

Zeuge: Ich gebe zu, daß der Gedanke nicht sehr geistreich war - er kam mir aber -

 

Verteidiger Dr. Ablaß: Ich bedauere, daß Fräulein Zahn im Augenblick abwesend ist, aber ich muß darauf zurückkommen, daß Fräulein Zahn von der Vormundschaft wegen ihres „taktlosen Verhaltens“ Vorwürfe gemacht worden sind. Der Ausdruck kommt nicht von mir. Er steht in den Akten.

 

Zeuge: Ich habe die Worte gebraucht. Ich hatte sie bei einem Zwischenfall angewandt, der sich nachher als ein Mißverständnis herausstellte. Taktlos fand ich es andrerseits, daß Fräulein Zahn das Mündel über die vielfachen Differenzen, die zwischen Fräulein Zahn und den Vormündern bestanden, unterrichtete.

 

Vorsitzender (mit erhobenem Ton): Erlauben Sie, Herr Amtsgerichtsrat, Fräulein Zahn war die Vertraute Dörthes. Mit wem sollte sie sich denn sonst aussprechen? Außerdem machte sie doch ihre Schritte bei den Vormündern im Interesse Dörthes. Wollten Sie vorher wirklich sagen, daß Fräulein Zahn gelacht hat, oder wollten Sie nur sagen, daß Fräulein Zahn eine bewunderungswürdige Ruhe gezeigt hat?

 

Zeuge (zögert): Ich wollte sagen, daß ich nie eine Frau gesehen habe, die in einer solchen furchtbaren Situation eine solche Ruhe gezeigt hätte. - Vorsitzender: So - ich habe vorher nach dem Ton Ihrer Aussage die Empfindung gehabt, als wollten Sie an Fräulein Zahn eine üble Kritik üben.

 

Da geschieht das Außerordentliche: Unter großer Bewegung im Saale erhebt sich einer der Geschworenen: „Im Namen der Geschworenen erkläre ich, daß wir uns dem Urteil des Herrn Vorsitzenden über die Aussage des Zeugen anschließen.“

 

Verteidiger Dr. Ablaß: „Ich stelle den Antrag, die Erklärung des Geschworenen zu Protokoll zu nehmen.“

 

Der ganze Saal begreift: War die Erklärung des Geschworenen zulässig? Ist ein Revisionsgrund gegeben?

 

Der Gerichtshof zieht sich zur Beratung zurück und hinterläßt den Saal in fieberhafter Aufregung.

 

Nach langer Beratung treten die Herren wieder ein. Der Vorsitzende richtet noch einmal das Wort an den Zeugen: „Sie sollten, Herr Zeuge, nur ausdrücken, daß Sie eine Frau in einer so schweren Lage nie in so vollkommener Ruhe gesehen haben?“

 

Zeuge: „Ja!“

 

Vorsitzender: „Gut! Das Gericht hat zu Protokoll genommen: „Einer der Geschworenen gibt eine Erklärung ab, die besagt, daß man auf der Geschworenenbank die Aussage des Zeugen als eine Kritik am Verhalten des Fräulein Zahn angesehen habe. Der Zeuge hat wiederholt ausgesprochen, daß eine solche Kritik nicht in seiner Absicht lag. Die Geschworenen wurden nochmals von dieser Absicht des Zeugen unterrichtet.“ Damit ist wohl das Mißverständnis aufgehoben.“

 

Der Herr Vormund.

Der Vormund Dörthes, Hauptmann a. D.   V i e l h a c k ,   ein stattlicher Herr von 65 Jahren, wird sodann aufgerufen. Die Beziehungen zwischen dem Zeugen und Dörthes Vater waren nur jagdfreundlicher Natur. „Ich selbst“ - sagt er - „war sehr überrascht, daß Rohrbeck mich zum Vormund seiner Tochter gemacht hatte. Ich erfuhr es erst von Fräulein Zahn, als ich von ihr zu dem kranken Herrn Rohrbeck gerufen wurde. Ich wußte, Herr Rohrbeck wünschte nicht, daß seine Tochter von seinen Verwandten erzogen würde, insbesondere nicht von seiner Schwägerin Frau   S c  h a d e   (der späteren Frau des Angeklagten). Vor dem Besuch bat mich Fräulein Zahn, ich möchte bei Herrn Rohrbeck dafür sprechen, daß sie testamentarisch zur Erzieherin seiner Tochter bestellt würde. Ich selbst erwähnte, daß es für mich praktisch war, wenn Fräulein Zahn die Erziehung behielte. In diesem Sinne sprach ich kurz vor dem Tode mit Rohrbeck, der einen entsprechenden Nachsatz in dem Testament machte.“ Der Zeuge gibt nun in militärischem Tone die Einzelheiten der Wirtschaftsführung an. Fräulein   Z a h n   sei mit dem Gelde nicht ausgekommen.

 

Vorsitzender: Es ist doch aber alles soviel teurer geworden. - Zeuge: Wir müssen uns alle einschränken. Ich habe dann den Eindruck gehabt, daß es für Dörthe besser war, in eine Pension zu gehen. Vorsitzender: Aber Fräulein Zahn war doch testamentarisch zur Erzieherin bestellt worden. - Zeuge: Ich hatte den Eindruck, daß Fräulein Zahn mir Dörthe fernhielt.  Sie hielt es nicht für nötig, Dörthe meiner Frau vorzustellen.

 

Vorsitzender: Die Unterlassung der Vorstellung konnte doch kein Grund sein, Fräulein Zahn zu kündigen. - Zeuge: Ich habe auch sonst Ungünstiges über Fräulein Zahn gehört. Da ich direkt keine Nachricht bekam, mußte ich mich auf Hintertüren verlegen, und so verständigte ich mich mit einem Fräulein Christiane, das ¼ Jahr Lehrerin in Kleppelsdorf war. Sie hat mir gesagt, daß bei einem gemeinsamen Spaziergang das Kind hinterher gegangen sei, und als Fräulein Christiane das rügte, habe Fräulein Zahn gesagt: „Lassen Sie doch - das Kind grübeln.“

 

Vorsitzender: Und das machen Sie Fräulein Zahn zum Vorwurf? Das ist doch Klatsch, was haben Sie weiter erfahren? - Zeuge: Dörthe Rohrbeck hat über den Tod des Leutnant   M a t t  h ä i   geweint - sie soll sogar mit ihm verlobt gewesen sein, und das war nur ein Beweis    g e g e n   die Erziehung des Fräulein Zahn. Denn sie hätte es nicht zulassen dürfen, daß ein Kind einer so leidenschaftlichen Mutter, das eine so leidenschaftliche Tante hat, sich verlobt.

 

Grupens „Stütze“ Luise Mohr. (Anm.: Luise, Martha oder Marie? Wahrscheinlich Marie)

Aeußerst eingehend gestaltete sich die Vernehmung der Zeugin Martha Mohr, die im Dezember zu dem Angeklagten nach Ottenbüttel gekommen war und mit ihm in intimen Beziehungen stand, auch die Nacht vor der Tat mit ihm verbrachte. Martha Mohr ist das typische blonde Landmädchen von der Waterkant, offenbar nicht von sehr wacher Intelligenz. Der Staatsanwalt beantragt, von einem Gutachten Geheimrat   M o l l s   unterstützt, die Entfernung des Angeklagten während der Vernehmung, da die Gefahr der Beeinflussung bestehe. Der Antrag wird abgelehnt.

 

Die Vernehmung dieser neben der Schwiegermutter Frau Eckert wichtigsten Zeugin ergibt das Bild einer jedenfalls beschränkten Person. Ihr Gedächtnis ist schwach, sie gerät oft in Widersprüche und erinnert sich erst nach wiederholten Vorhalten an gewisse Einzelheiten. Nur an einem Punkt hält sie merkwürdigerweise sehr fest: daß der Angeklagte sich in der kritischen Stunde nicht aus dem Wohnzimmer entfernt habe. Es ist um so auffallender, als gerade in diesem Punkte vom Staatsanwalt eine Beeinflussung von seiten des Angeklagten angenommen wird.

 

Die Zeugin wird zunächst über die getötete Ursula befragt. Einen Revolver hat sie nie in Ursulas Händen gesehen. Ueber Frau Eckert sagt die Zeugin, Frau Eckert habe mal geäußert, Dörthe sei genauso verschwenderisch wie Fräulein Zahn, habe sich auch sonst gelegentlich über Dörthes mangelnde Liebe und über den kühlen Empfang beklagt. Frau Eckert hat auch gesagt, Herr Vielhack (der Vormund) hat Recht gehabt, wenn er in einem Brief schrieb, die zwei Kleppelsdorfer werden ein Ende mit Schrecken nehmen, anders verdienen sie es nicht.

 

Vorsitzender: Fanden Sie diese Aeußerung nicht übertrieben - für den schlechten Empfang einer Großmutter gleich ein Ende mit Schrecken? - Zeugin: Ich verstand die Aeußerung damals gar nicht.  Vorsitzender: Hat Ihnen die kleine Ursula einen Brief an die Großmutter gegeben? - Zeugin: Ja, aber am Abend kam sie und sagte, ich soll ihn erst am übernächsten Tage abgeben. - Vorsitzender: Haben Sie denn das getan? - Zeugin: Nein, sie kam am Abend wieder und sagte, ich soll ihn erst am übernächsten Tage geben. Ich habe sie dann gefragt, warum sie ihn nicht selbst abgibt. Sie war ganz vergnügt und sagte, es sei eine Ueberraschung für Großmutter. Nach drei Tagen gab ich ihr den Brief zurück.

 

Vorsitzender: Hat der Angeklagte etwas von dem Brief gewußt? - Zeugin: Er hat den Brief in meiner Handtasche gesehen; ich sagte ihm, es sei ein Brief Ursulas, eine Ueberraschung für die Großmutter. Der Angeklagte hat den Brief sich nicht angesehen.

 

Das Gespräch wendet sich jetzt dem Tage der Tat zu. Martha Mohr schildert zunächst die Vorgänge am Tage in der bekannten Weise, Ursula verließ, ohne ein Wort zu sagen und ohne vom Angeklagten aufgefordert zu sein, das Zimmer. Daß Ursula Dörthe herausgerufen hat, hat sie nicht bemerkt.

 

Dann haben wir Mühle gespielt, Irmgard und ich gegen Grupen. Später haben wir Aepfel gegessen. Irmgard sollte die Ueberreste ins Klosett werfen.

 

Vorsitzender: Ist der Angeklagte hinter ihr hergegangen? - Zeugin: Nein. - Vorsitzender: Hat er ihr die Tür geöffnet? - Zeugin: Nein. Er saß und spielte mit mir. - Vorsitzender: Aber der Angeklagte sagt doch selbst, daß er Irmgard die Tür geöffnet hat. - Zeugin: Davon weiß ich nichts. Irma brachte den verfaulten Apfel zurück, weil er zu groß für das Abflußrohr war. Darauf stand der Angeklagte auf und warf den Apfel in den Ofen.

 

Vorsitzender: Das ist vollkommen neu. Ist der Angeklagte im Zimmer auf und ab gegangen? - Zeugin: Nein.

 

Staatsanwalt: Hat der Angeklagte nicht auch das Nebenzimmer betreten? - Zeugin: Nein. - Staatsanwalt: Aber hat der Angeklagte nicht Apfelsinen ins Nebenzimmer gebracht? - Zeugin: Das kann sein. - Staatsanwalt: Dann muß er doch mal vom Spiel aufgestanden sein.

 

Verteidiger Dr. Ablaß: Hat Grupen während dieser Stunden das Zimmer verlassen? - Zeugin: Nein.

 

Vorsitzender: Können Sie das, war Sie bisher immer behauptet haben, auch heute beschwören? - Zeugin: Ja.

 

Sachverständiger: Erinnern Sie sich, daß der Angeklagte Frl. Zahn gefragt hat, was auf plattdeutsch „Küßchen" heißt? - Zeugin: Ja. (Bewegung.)

 

Vorsitzender: Zeugin, Sie müssen hier die volle Wahrheit sagen. Sie haben in der Voruntersuchung gesagt: Sie glauben alles, was Grupen sagt. Hat der Angeklagte nach der Auffindung der Leichen nicht gesagt: „Es war gut, daß wir oben zusammen waren?“ - Zeugin: Nein. - Vorsitzender: Eine andere Zeugin kann es aber bestätigen. - Zeugin (zögernd): Es kann sein.

 

Vorsitzender: Nach der Tat, als Sie mit dem Angeklagten und Frau Eckert zusammen waren, wurde da von der Erbschaft gesprochen? - Zeugin: Nein. - Vorsitzender: Als der Angeklagte abgeführt wurde, hat er nicht gesagt: „Wenn Ihr aussagt, daß ich oben war, wird meine Unschuld bald herauskommen“? - Zeugin: Nein; ich soll vor allen Dingen die Wahrheit sagen, dann werde sich seine Unschuld schon herausstellen.

 

Vorsitzender: Zeugin, überlegen Sie sich genau: Als der Angeklagte nach Hirschberg geschafft wurde, hat man da geweint? - Zeugin: Ja. - Vorsitzender: Hat der Angeklagte mit Ihnen gesprochen? - Zeugin: Nein.

 

Vorsitzender: Aber erinnern Sie sich nicht, daß der Landjäger die Unterhaltung verbot? - Zeugin: Nein. - Vorsitzender: Hat er nicht etwas plattdeutsch zu Ihnen gesagt? - Zeugin (zögernd): Ja, es ist möglich, daß er da gesagt hat, ich soll bei der Wahrheit bleiben.

 

Vorsitzender: Wie heißt denn das auf plattdeutsch? - Zeugin: Bliew bi die Wahrheit, dann wird sich meine Unschuld schon herausstellen.

 

Vorsitzender: Das hätten der Landjäger und die Großmutter auch verstanden, die ausdrücklich sagen: sie hätten es nicht verstanden.

 

Angeklagter: Hat sich die Frau Eckert über die Erbschaft geäußert? - Zeugin: Ja. Frau Eckert hat gesagt, sie sei jetzt Millionenerbin.

 

Der Staatsanwalt fragt den Angeklagten, was er damals plattdeutsch gesagt habe.

 

Der Angeklagte sagt etwas, was vollständig unverständlich bleibt und ungefähr lautet: Bleib bei der Wahrheit, geniere Dich auch nicht, über unser Verhältnis zu sprechen.

 

Verteidiger Ablaß: Das war allerdings vollkommen unverständlich.

 

Vorsitzender: Hat der Angeklagte das so gesagt? - Zeugin: Ja.  Vorsitzender: Aber warum haben Sie denn zuerst abgestritten, daß der Angeklagte überhaupt etwas gesagt habe? - Zeugin schweigt.

 

Hierauf wird die Oeffentlichkeit ausgeschlossen.

 

 

 

Sonntag, 11. Dezember 1921, „Berliner Morgenpost“, S. 1-2

Dörthes Großmutter als Zeugin.

Die verschwundene Tochter. - Ursulas Brief. - „Ein paar Minuten kann Grupen weg gewesen sein!“ - Die Erbin Aller.

 

Hirschberg, 10. Dezember.

Von uns. Sonderberichterstatter.

 

Der heutige Verhandlungstag brachte die Zeugenaussage der Großmutter der beiden getöteten Mädchen Dörthe Rohrbeck und Ursula Schade. Diese Aussage ist von großer Wichtigkeit, da die alte Frau jedenfalls vor und nach der Tat sich im selben Zimmer befand wie der Angeklagte und ihre Bekundungen um so mehr ins Gewicht fallen, als die beiden anderen, im Zimmer anwesend gewesenen Personen, nämlich die Stütze Marta Mohr und die kleine Irma Schade widersprechend aussagten, überdies die Glaubwürdigkeit beider angezweifelt wird. Denn die Mohr war die Geliebte Grupens und Irma Schade ist ein Kind, das sich vielleicht der Tragweite seiner Aussage nicht bewußt ist. Auch Frau Eckert, die Großmutter, hat nunmehr zugegeben, daß möglicherweise Grupen in der kritischen Zeit für einige Minuten das Zimmer im oberen Stockwerk verlassen hat, bekanntlich eine der wichtigsten Fragen in dem rätselhaften Prozeß. Auch im übrigen waren die Aussagen der Großmutter wichtig und brachten mancherlei Aufklärung.

 

Frau   E c k e r t   ist eine nahezu 78jährige, magere Frau, die aber noch sehr rüstig und geistig frisch ist. Sie macht ihre Aussagen klar und deutlich.

 

Vorsitzender: Sie sind die Schwiegermutter des Angeklagten. - Zeugin: Ja, leider. - Vorsitzender: Sie brauchen nicht auszusagen, wenn Sie nicht wollen. - Zeugin: Ich will aussagen. Nachdem Fräulein Zahn ins Haus gekommen war, ist mir die Liebe Dörthes entfremdet worden. Ich habe um ihre Liebe geworben, aber Fräulein Zahn hat Dörthe mehr ihren eigenen Verwandten zugeführt.

 

Vorsitzender: Wie standen Sie denn mit Ihrer zweiten Tochter, der späteren Frau Grupen? - Zeugin: Zuerst ganz gut. Nach dem Tode des ersten Mannes hatte sie ein Verhältnis mit dem Seifenfabrikanten Schulz aus Perleberg. - Vorsitzender: Hatte sie nicht schon vor dem Tode ein Verhältnis mit ihm? - Zeugin: Ich weiß nichts davon, später zog sie nach Berlin, sie verlobte sich mit dem Staatsveterinär Reske, dessen Tochter aus erster Ehe sie sofort zu sich nahm.

 

Vorsitzender: Nach einer Weile kamen Fräulein Zahn und Dörthe nach Itzehoe zu Besuch. - Zeugin: Ja, auf einer Verwandtenreise. Ich war sehr erfreut, aber sie wollten am nächsten Tage nach Hamburg, um sich zu amüsieren.

 

Vorsitzender: Ich komme nun zum Verschwinden Ihrer Tochter. Was geschah denn nach seiner Rückkehr vom ersten Besuch in Kleppelsdorf beim Notar? - Zeugin: Ich konnte doch nicht die Papiere, die ich hatte, selbst verwalten und hatte ihm Generalvollmacht gegeben. Nun wollte Grupen, daß ich, wie meine Tochter es auch tat, meine Hypothek auf die Perleberger Apotheke auf sie übertrage. - Vorsitzender: Warum taten Sie denn das? - Zeugin: Ja, das war doch eben meine Dummheit. Zwei Tage später erklärte meine Tochter persönlich, sie wolle nach Kleppelsdorf. Ich verstand das gar nicht, weil die Kinder doch nicht in Ordnung waren. Sie verabschiedete sich dann gar nicht als ob sie auf eine lange Reise gehen wollte, auch von den Kindern nicht sehr herzlich. Sie nahm nur einen Handkoffer mit, ihre Kleider waren auch nicht für eine weite Reise.

 

Vorsitzender: Der Angeklagte begleitete Ihre Tochter und dann kam er zurück. - Zeugin: Er sagte, in dem Koffer sei Wäsche, die nach Hamburg geschickt werden solle. Aber meine Tochter hatte die Wäsche immer nach Neumünster geschickt. Ich Telefonierte und telegraphierte nach Kleppelsdorf, wo ich zu meinem Schrecken hörte, daß meine Tochter gar nicht angekommen sei. Dann fuhr der Angeklagte nach Kleppelsdorf.

 

Vorsitzender: Sie wußten doch nicht, daß Ihre Tochter angeblich nach Amerika gegangen sei? - Zeugin: Nein.

 

Vorsitzender (zum Angeklagten): Aber Sie hatten doch die Abschiedsbriefe Ihrer Frau schon gelesen? - Angeklagter: Ja, ich wollte eben Dörthe als Trost für die Großmutter haben, wenn ich ihr die Abreise ihrer Tochter mitteilte.

 

Vorsitzender (zur Zeugin): Dann kam er mit Dorothea zurück? - Zeugin: Ja, und dann las er mir die Abschiedsbriefe vor, und ich glaubte wirklich, daß meine Tochter nach Amerika gegangen sei. - Vorsitzender: Haben Sie denn nichts getan, um Ihre Tochter zu suchen? - Zeugin: Der Angeklagte hat mir gesagt, er habe einen Hamburger Detektiv beauftragt. Der habe gemeldet, meine Tochter sei mit einem reichen Herrn durchgegangen, und es gehe ihr sehr gut. Außerdem erzählte er mir sehr Schlechtes über meine Tochter.

 

Vorsitzender: Nun kommt die gemeinsame Reise nach Kleppelsdorf. - Zeugin: Ich reiste erst nicht gerne, mitten im Winter, aber der Angeklagte überrede mich. Ich richtete mich auf acht Tage ein. Unterwegs sagte er mir: „Wir können ja sagen, wir kommen, weil wir von Ottenbüttel wegziehen.“

 

Vorsitzender: War die Möglichkeit vorhanden, daß Ursel den Revolver mitgenommen hat? - Zeugin: Nein. Ich habe sie nie mit einer Waffe gesehen; sie konnte meines Wissens auch nicht schießen. - Vorsitzender: Aber haben Sie den Revolver bei dem Angeklagten gesehen? - Zeugin: Ja, er lag in der offenen Schreibtischschublade. Der Angeklagte hatte ihn kurz vorher angeblich für seinen Bruder gekauft.

 

Vorsitzender: Haben Sie einmal geäußert, es werde in Kleppelsdorf ein Ende mit Schrecken geben? - Zeugin: Ich besinne mich nicht.

 

Eine wichtige Debatte entspinnt sich über den Brief, den Ursula an eine Frau   B a r t e l s   in Itzehoe geschrieben hat. Ursula hatte den Brief ursprünglich auf Veranlassung der Großmutter verfaßt, weinte aber später, als sie den Brief noch einmal schreiben sollte. Das Konzept des Briefes ist später in der Hosentasche des Angeklagten gefunden worden; die Staatsanwaltschaft nimmt an, daß der Angeklagte den Brief noch einmal schreiben ließ, um für die Fälschung des Abschiedsbriefes an „Großmutti“ ein Modell zu haben. Der Angeklagte hatte bisher immer gesagt, Ursula habe auf Anordnung der   G r o ß m u t t e r   den Brief noch einmal geschrieben. Dies bestreitet heute Frau Eckert aufs Entschiedenste. Ursel habe geweint, weil sie den Brief noch einmal schreiben mußte. Aber wer das angeordnet hat, weiß Frau Eckert nicht.

 

Ueber das Verhältnis Ursulas zu dem Angeklagten sagt sie: „Sie liebte ihn sehr, sie war sehr anhänglich an ihn geworden, half ihm beim An- und Ausziehen und war sonderbar traurig, wenn er nicht anwesend war.“ Frau Eckert schildert dann die Vorgänge in der kritischen Stunde zunächst in der bekannten Weise.

 

Vorsitzender: Haben Sie bemerkt, daß Irmgard mit den Apfelresten das Zimmer verlassen hat? - Zeugin: Nein, ich habe nur gesehen, daß sie die Apfelreste in den Ofen geworfen hat, oder mir war doch so. - Vorsitzender: Daß Irmgard aus dem Zimmer gegangen ist, wissen Sie nicht? - Zeugin: Nein, das habe ich nicht bemerkt.

 

Bewegung im Publikum, weil ja Irmgard und der Angeklagte selbst angeben, daß Irmgard das Zimmer verlassen hat, und man erstaunt darüber ist, daß die Großmutter das nicht bemerkt haben soll.

 

Vorsitzender: Waren Sie vielleicht ein bißchen eingeschlafen?

 

Zeugin: Das ist wohl möglich. Ich saß da und häkelte, und dabei schläft man wohl mal ein, wenn man ein alter Mensch ist.

 

Vorsitzender: Und wo war der Angeklagte? - Zeugin: Er ging im Zimmer auf und ab. Während dieser Zeit, weiß ich, haben Irmgard und Martha Mühle gespielt. Dann glaube ich, daß er Irmgard sagte, wo sie die Apfelreste hinwerfen solle. Jedenfalls habe ich ihn dann für eine Weile nicht gesehen. Nachher saß er wieder auf seinem Stuhl.

 

Vorsitzender: Kann er sich auch aus dem Zimmer entfernt haben? - Zeugin: Ich habe es nicht gesehen, aber ich weiß genau, daß ich ihn für eine Weile aus den Augen verloren habe.

 

Vorsitzender: Wie lange kann er abwesend gewesen sein? - Zeugin: Einige Minuten kann es gewesen sein. Ich weiß nur, daß inzwischen Irmgard und Fräulein Mohr zusammen Mühle spielten. Nachher saß er wieder da. - Vorsitzender: Glauben Sie, daß die Zeit ausreichte, um bis zu dem Mordzimmer zu gelangen und von dort zurückzukommen? - Zeugin: Nachdem die Versuche neulich in Kleppelsdorf gemacht worden sind und man festgestellt hat, daß zu dem Wege nur 59 Sekunden gebraucht werden, habe ich das Gefühl gehabt: ein paar Minuten kann er weg gewesen sein. (Große Bewegung.)

 

Vorsitzender: Wie Sie nun nach der Tat den Brief von Ursula in die Hand bekommen haben, was haben Sie gedacht? - Zeugin: Ich war ganz sprachlos. Zuerst glaubte ich das, was in dem Brief stand, und hielt Ursula für die Mörderin. Aber ich bin dann zu der festen Ueberzeugung gekommen, daß es Ursula gar nicht gewesen sein konnte. Sie war ja viel zu schwach, sie konnte keine Wasserkanne aufheben.

 

Vorsitzender: Hat nicht der Angeklagte nachher gesagt, es sei seine Waffe? - Zeugin: Ja. - Vorsitzender: Haben Sie ihn dann getröstet? - Zeugin: Er warf sich über die Ursel und rief: „Mach doch die Augen auf und sage, wer es gewesen ist!“ - Und da habe ich ihn getröstet und gesagt: „Aber du bist doch unschuldig!“

 

Einen langen Raum nimmt dann die Debatte ein über die Frage, ob Frau Eckert zuerst von der Erbschaft gesprochen habe oder der Angeklagte, als sie geraume Zeit nach der Tat im Eßzimmer beisammen saßen. Frau Eckert versichert aufs Bestimmteste, daß der Angeklagte zuerst es gewesen sei, der gesagt habe: „Nun bist du die Erbin.“

 

Dann wird versucht, die Vermögensverhältnisse des Angeklagten klar zu stellen.

 

Zeugin: Ich habe nicht darüber nachgedacht, wie er Geld verdiente. Angeblich hatte er einen Kompagnon, mit dem er Baugeschäfte machte. Im übrigen hatte er Verfügung über unser Vermögen. Einmal hat er meine Brillantbrosche nach Hamburg mit meiner Erlaubnis mitgenommen, um sie zu verkaufen. Er tat das aber nicht. Später behauptete er, meine Tochter hätte die Brillanten mit nach Amerika genommen. In Wirklichkeit waren die Schmuckstücke in Hamburg versetzt worden. Außerdem soll meine Tochter 70 000 Mark mit nach Amerika genommen haben. Als ich in Sorge um meine Zukunft war, sagte er mir, er habe schon eine Viertel Million Mark Vermögen, und er habe ein Testament zu meinen Gunsten und meiner Enkelkinder gemacht.

 

Staatsanwalt: Hat der Angeklagte ein Testament gemacht? - Angeklagter: Ja, zugunsten meiner Frau und meiner Kinder.

 

Die weitere Vernehmung der Zeugin Eckert wird Montag unter Ausschluß der Oeffentlichkeit fortgesetzt.

 

 

 

Dienstag, 13. Dezember 1921, „Berliner Morgenpost“, S. 1-2

Neue Zeugen im Grupen-Prozeß.

Briefe und Telegramme an das Gericht. - Ursulas Krankheit. - Der gute Schütze. - Nochmals die verschwundene Frau.

 

Der Prozeß vor den Hirschberger Geschworenen, der nur für acht bis zehn Tage anberaumt war, hat durch den Gang des Beweisverfahrens eine solche Ausdehnung erfahren, daß er bestenfalls Ende dieser Woche durch das Urteil seinen Abschluß finden dürfte. Es sind doch eine ganze Reihe von Zeugen zu vernehmen, denen die Aussagen der Sachverständigen folgen werden. Gerade in diesem Prozesse sind die Gutachten der Sachverständigen von besonderer Wichtigkeit, da man annimmt, daß ihre Aussagen gerade in einige der dunkelsten Rätsel des Prozesses einiges Licht bringen werden. Bei der Größe des Prozeßstoffes und der Wichtigkeit fast jedes einzelnen Details sind auch sehr ausgedehnte Plaidoyers des öffentlichen Anklägers und der Verteidiger zu erwarten.

 

Das außerordentliche Interesse, das der Prozeß nicht nur am Verhandlungsorte, sondern in ganz Deutschland, ja sogar im Auslande findet, hat dazu geführt, daß an den Gerichtshof zahlreiche Schreiben gelangt sind, in denen gute Ratschläge zur Erforschung der Wahrheit gegeben werden. Sogar aus der Schweiz langte ein Telegramm an, in dem versichert wurde, Grupens verschwundene Frau lebte als internationale Rokotte in der Schweiz und versorge mit dem Ueberschuß ihrer Einkünfte, was ihr dank der Valuta leicht falle, ihren angeklagten Gatten. Freilich bemerkte der Absender des Telegrammes, daß er seine Kenntnis aus - spiritistischen Kreisen habe.  Ein anderes Telegramm lautete: „Kann nach der Handschrift männliches und weibliches Geschlecht unterscheiden.“ Und Dutzende von mehr oder minder konfusen oder verrückten Schreiben und Telegrammen ähnlicher Art. Der Vorsitzende sagt mit heiterer Verzweiflung: „Die Irrsinnigen fangen schon an, uns Briefe zu schreiben.“

 

Ein Wort noch den verdienten Männern, die in diesem alle Kräfte anspannenden Prozeß der Erforschung der Wahrheit dienen. Ueber alles Lob erhaben ist die Führung der Verhandlung durch den Vorsitzenden, Oberlandesgerichtsrat   K r i n k e .   Er war bisher Staatsanwalt, und dies ist der erste große Prozeß, den er leitet. Dieser Vorsitzende ist nicht nur Jurist, er ist ein Mensch. Dem bleichen, scharfen und eckig geschnittenen Gesicht merkt man nicht sogleich die große geistige Beweglichkeit, die schmiegsame, auf feinster Seelenkenntnis beruhende Fähigkeit an, Menschen zu behandeln. Es ist ein Genuß, ihn mit Kindern sprechen zu hören; aber aus seiner langen Staatsanwaltspraxis hat er sich auch eine Waffe mitgebracht: eine Ironie von tödlicher Wirkung. Und dennoch - als er sie mit so unfehlbarem Geschick gegen den Vormund Dörthes anwendete, da steckt doch eben Herz und nichts als das dahinter. Lebendigstes Gefühl für das arme, liebliche Opfer, von dem heute einer, der Dörthe gut kannte, sagte: „Ich bin ein geschworener Junggeselle, aber die hätte ich geheiratet …“

 

Der Erste Staatsanwalt, eigentlich schon Oberstaatsanwalt in Köln, Dr.   R e i f e n r a t h ,   beherrscht den gesamten Stoff des Riesenprozesses bis in seine feinsten Windungen und Ausläufer. Ein passionierter Kriminalist, der mit ganzer Seele bei der Sache ist. Die beiden Verteidiger endlich, die Justizräte Dr. Ablaß und Dr. Mamroth, in Kämpfen um das Recht ergraute Männer, der erstere von unerschütterlicher Ruhe und ein gewiegter Strafrechtsjurist, der andere temperamentvoll, findig und erfahren, seine ideale Ergänzung.

 

***

 

Heute wurde das Zeugenverhör fortgesetzt. Zunächst bekundete Frau Oberst   S e m m e r a k ,   daß Dörthe das Muster eines wohlerzogenen Mädchens war. Die Neigung zu dem gefallenen Leutnant war lediglich eine Mädchenschwärmerei.

 

Rittmeister   L u x   berichtet von dem psychologischen Experiment, das er mit Frau Eckert nach dem Morde angestellt hat. Während Frau Eckert in dem gewohnten Stuhl im Wohnzimmer genau wie am Tage des Mordes halb häkelte, halb nickte, entfernte er sich aus dem Zimmer. Er brauchte zu dem Wege ins Mordzimmer fünfzig Sekunden. Seine Abwesenheit war von Frau Eckert nicht bemerkt worden. Von Frau   G r u p e n   gewann er aus persönlicher Beobachtung den Eindruck, daß sie an ihren Kindern sehr hing.

 

Dem Gutsverwalter   S c h ü p k e   hat der Angeklagte drei Tage vor der Tat erklärt, er interessiere sich für Schießsport und sei ein ausgezeichneter Schütze. Auf die Frage: Dann schieße er wohl wie der Kaiser mit einem Arm, hatte Grupen geantwortet: „Vielleicht noch besser.“

 

Gasanstaltsdirektor   W r o b e l   aus Hirschberg, der von der Staatsanwaltschaft zu hypnotischen Experimenten an den Prozessbeteiligten herangezogen war, als Sachverständiger zu Beginn der Verhandlung aber abgelehnt wurde, bekundet als Zeuge, daß Frau   E c k e r t   und   I r m g a r d   leicht zu beeinflussen waren. Fräulein   M o h r   war jedoch von Wrobel nicht zu beeinflussen, hingegen Frau Eckert außerordentlich leicht. Nach kurzer Beeinflussung erinnerte sie sich nicht, daß jemand aus dem Zimmer herausgegangen war.

 

Die Beweisaufnahme wendet sich hierauf unter Ausschluß der Oeffentlichkeit des angeblichen Sittlichkeitsverbrechen an Grupens Stieftochter, Ursula, zu. Hierüber wird zunächst Frau   E c k e r t   vernommen. Ursula klagte eines Tages über Schmerzen, der Angeklagte erzählte ihr davon und fuhr mit dem Kinde zu einem Arzt. Grupen gab als Ursache des Leidens eine harmlose Angelegenheit an. Ein Gehilfe des Angeklagten behandelte dann das Kind unter Grupens Anleitung.

 

Frau Eckert hat das damals als lobenswert empfunden, weil niemand anders da war.

 

Die kleine Ruth   R e s k e ,   jetzt in Berlin-Zehlendorf bei den Großeltern, eine Pflegetochter der Frau Grupen, berichtet, daß die Frau des Angeklagten einmal von Amerika sprach und zu ihrem Mann sagte: „Wenn Du artig bist, später nehme ich Dich mit.“ Ruth, offenbar ein sehr gewecktes Kind, erklärt heute, daß sie diese Aeußerung für Scherz gehalten habe.

 

Es erscheint dann ein damals sechzehn Jahre altes Dienstmädchen des Angeklagten. Ihr hat Grupen die Ehe versprochen, als seine Frau noch bei ihm war. Die Zeugin hatte den Angeklagten gern und trat in engere Beziehungen zu ihm. Von einem Vergehen Grupens an seiner Stieftochter oder einer anormalen Handlung der Mutter der Ursula gegenüber weiß die Zeugin nichts.

 

Landgerichtsrat   P i e t s c h ,   der einen Teil der Voruntersuchung führte, suchte aufzuklären, in welcher Weise der Angeklagte sich in seinen bisherigen Angaben über die Auffindung des Revolvers widersprochen hat. Und noch etwas bekundet er: „Ich fragte den Angeklagten, wo seine Frau sei. - Darauf erwiderte er zunächst nichts, sondern sah mich starr und eigentümlich an. Als ich ihm sagte, eine Auskunft über seine Frau würde ihm nur nutzen, antwortete er: „Ich kann und werde über meine Frau erst in der Hauptverhandlung Auskunft geben. Ich fürchte, ich würde dann meiner Frau und anderen Persönlichkeiten Ungelegenheiten bereiten.“ Ich hatte den bestimmten Eindruck, daß der Angeklagte mir mit Bezug auf seine Frau etwas verheimliche.“

 

Zu einem interessanten Ergebnis führte die Vernehmung des Geheimrats   D u b i e l ,   der die Voruntersuchung geführt hat. In der Hauptverhandlung hatte der Angeklagte bisher stets bestritten, Ursula zur Wiederholung des Schreibens an Frau Bartel veranlaßt zu haben. In der Voruntersuchung hatte dies Grupen aber bereits zugegeben, was man ihm aber, weil es die Strafpro-zeßordnung verbietet, nicht vorhalten konnte. Auf die Aussage Dubiels hin bequemte sich Grupen nun doch zu sagen: „Ich habe immer gesagt, daß ich die Ursula veranlaßt habe, den Brief noch einmal zu schreiben, aufgefordert habe ich sie nicht.“

 

Er erinnert sich offenbar an den seinen Unterschied von „uffjefordert“ und „injeladen“.

 

 

 

Mittwoch, 14. Dezember 1921, „Berliner Morgenpost“ - Erste Beilage

Frau Grupens Verschwinden.

Neue Zeugen im Mordprozeß Grupen. - Lässige Suche nach der Verschwunden. - Ein verdächtiges Hypothekengeschäft.

 

Hirschberg, 13. Dezember.

Telegramm unsers Sonderberichterstatters.

 

Zwei halbe Tage war die Oeffentlichkeit in der Verhandlung über den Kleppelsdorfer Mord ausgeschlossen. Nun wurde sie bei ungeheurem Andrang des Publikums wiederhergestellt. Heute kommt die Zeugengruppe zur Vernehmung, die etwas von dem Verschwinden der Frau    G r u p e n   wissen soll.

 

Als erster Zeuge tritt der Vater des ersten Mannes der Frau Grupen, Apothekenbesitzer   S c h a d e   aus Berlin, auf. Er hat den Angeklagten, der sich ihm gegenüber als reicher Mann aufspielte, zweimal gesehen. Die Abschiedsbriefe der Frau Grupen habe er immer für falsch gehalten. Ihm gegenüber habe sie nie von ihrer Auswanderungslust nach Amerika gesprochen. Ein Verhältnis seiner Schwiegertochter mit einem anderen Manne zu Lebzeiten seines Sohnes habe nicht bestanden. Er hat sich gesagt, es müsse ein fanatischer Einfluß seine Schwiegertochter zur Abreise veranlaßt haben.

 

Es folgt die Frau des Vorzeugen. Auch Frau Schade war von der plötzlichen Abreise ihrer Schwiegertochter vollkommen überrascht. Ich habe diese Abreise um so weniger verstanden - sagte sie -, als Frau Grupen ihre Kinder sehr liebte.

 

Verteidiger Dr. Mamroth: Hat nicht Ihre Tochter einmal geschrieben, Peters Liebe zu den Kindern sei rührend? - Zeugin: Ja. - Verteidiger Dr. Mamroth: Haben Sie den Eindruck gehabt, Frau Grupen habe in geistiger Umnachtung gehandelt? - Zeugin: Nein. Ich habe bloß zum Trost an Frau Eckert geschrieben, Trude sei nach jahrelangem, mühevollem Leben wohl auf die Idee gekommen, von allen diesen Dingen mal freizukommen. Anders sei es nicht zu verstehen! Ich habe mich dann sehr gewundert, daß meine Tochter die Muffe nicht mitgenommen hat, an der sie sehr hing. Ich sah dann später die Muffe bei Marie   M o h r ,   der ich sie weggenommen habe.

 

Notar   R h e i n e c k   aus Itzehoe, der frühere Rechtsbeistand des Angeklagten, fragte zunächst, ob ihn der Angeklagte von seiner Schweigepflicht entbinde. Angeklagter bejaht.

 

Zeuge: Am 17. September 1920 kam der Angeklagte mit Frau Eckert und seiner Frau zu mir. Die Damen übertrugen zwei Hypotheken im Betrage von 72 000 M. auf den Angeklagten. Mir fiel das gleich auf - ich dachte an eine Steuerschiebung - und sagte: „Was ist das für ein Unsinn?“ Zumal er sagte, er gebe seiner Frau den vollen Gegenwert. Es hatte ja keinen Zweck, die Hypotheken gegen Bezahlung abzutreten. Da sie die notwendigen Papiere nicht bei sich hatten, sollten sie am nächsten Tage wiederkommen. Das war der 18. Wir machten dann auch die Gütertrennung, und am nächsten Tage war die Frau verschwunden. Ich erfuhr es erst einige Tage später, als Grupen die Abschiedsbriefe in mein Büro brachte. Merkwürdigerweise war, wie mir auffiel, kein Brief an den Angeklagten dabei. Grupen machte auf mich den Eindruck eines geknickten Ehemannes, und ich redete ihm zu, daß er sofort die Verfolgung seiner Frau aufnehme. Nach etwa 14 Tagen kam er zu mir zurück und sagte, er habe alles getan, was ich ihm geraten hätte. Es sei alles vergebens gewesen. Auf seinen Wunsch leitete ich dann die vorbereitenden Schritte zur Ehescheidung ein. Als ich dann die Sache mit dem Mord in Kleppelsdorf hörte, habe ich das Mandat niedergelegt und Anzeige vom Verschwinden der Frau an die Staatsanwaltschaft erstattet.

 

Vorsitzender: Angeklagter, haben Sie die Ratschläge des Zeugen befolgt? - Angeklagter: Ich war in Berlin. - Vorsitzender: Ich fragte, ob Sie in Hamburg, wie es Ihnen der Zeuge geraten hat, bei den Dampfergesellschaften … - Angeklagter: Ich war in Berlin. Der Zeuge hatte mir auch gesagt, ich solle mich nach der Abreise des Schulz erkundigen, der doch vielleicht mit meiner Frau durchgegangen sei. Ich habe dann Frau Schade gefragt.

 

Vorsitzender: Frau Schade, hat der Angeklagte Sie nach Schulz gefragt? - Frau Schade: Er hat mich nur gefragt, ob der Schulz damals allein mit meinem Sohne auf der Jagd war, als er verunglückte.

 

Vorsitzender: Was haben Sie sonst noch unternommen, um Ihre Frau zu finden? - Angeklagter: Ich habe Herrn Rechtsanwalt Rheineck gebeten, von der Polizei Erkundigungen einzuziehen.

 

Zeuge Rheineck: Ich habe bei der Polizei telephonisch angefragt und den Bescheid bekommen, daß sie nach Lübeck abgemeldet sei.

 

Vorsitzender (zum Angeklagten): Und was haben Sie sonst getan, um Ihre Frau zu finden? - Angeklagter: Schweigt.

 

Vorsitzender: Wollen Sie denn nun von Ihrer Frau nichts mehr wissen? - Angeklagter: Nein.

 

Verteidiger Dr. Mamroth stellt fest, daß der Angeklagte von den anempfohlenen Maßnahmen nur unterlassen habe, die Schiffahrtgesellschaften zu befragen. Die Aussprache mit den Berliner Verwandten habe der Zeuge anempfohlen und der Angeklagte befolgt.

 

Vorsitzender: Der Herr Zeuge hat uns geschildert, daß Sie vollkommen geknickt waren. - Zeuge: Helle Tränen hat er geweint.

 

Vorsitzender (fortfahrend): Und hier vor Gericht sagten Sie eben, daß Sie von Ihrer Frau nichts mehr wissen wollten. Das ist doch ein Widerspruch.

 

Angeklagter (trotzig): Dann ist es eben ein Widerspruch.

 

Vorsitzender: Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß die Geschworenen aus diesem Widerspruch Schlüsse ziehen können. - Angeklagter (nervös): Man weiß eben nicht, was das für eine Frau war - und ich wünsche keinem -

 

Staatsanwalt: Ist Ihnen bekannt, daß der Angeklagte vom Gefängnis aus noch immer mit der Generalvollmacht über das Vermögen der Frau Eckert verfügt? - Angeklagter: Dann muß man x gleich u setzen, sonst stimmt´s nicht.

 

Staatsanwalt: Das Vermögen der Frau Eckert soll doch 109 000 Mark betragen haben. Wo ist das Geld?

 

Vorsitzender: Weg. (Heiterkeit.)

 

Angeklagter: Frau Eckert hat nichts gehabt. Die 109 000 M. in Wertpapieren gehörten meiner Frau und nicht Frau Eckert. Ueber dieses Geld hat meine Frau zum größten Teil verfügt oder es ausgegeben.

 

Vorsitzender: Der Angeklagte hat diesen Standpunkt allerdings immer eingenommen.

 

 

 

Donnerstag, 15. Dezember 1921, „Berliner Morgenpost“ - Zweite Beilage

Peter Grupens Ehe-Irrungen.

Frau Grupens Abschied. - Die Bräute bei Lebzeiten der Frau. - Eine gefaßte Großmutter. - Die verschenkte Uhr.

 

Hirschberg, 14. Dezember.

Telegramm unsers Sonderberichterstatters.

 

Das Verschwinden der Frau Grupen beherrscht auch weiterhin das Zeugenverhör. Dabei werden auch die zahlreichen zärtlichen Beziehungen besprochen, die Grupen schon während der kurzen Zeit seiner Ehe mit fast jeder seiner weiblichen Hausgenossen anknüpfte. Auch über die verschwundene Frau Grupen selbst werden Tatsachen bekannt, die sie in viel besserem Licht erscheinen lassen, als dies bisher der Fall war.

 

Als Zeugin erscheint zunächst das 16jährige Dienstmädchen der Familie Grupen, Frl.   K l ä s c h e n .   Sie hat die Fahrt der Frau Grupen nach Itzehoe mitgemacht, von der die Frau Grupen nicht zurückgekehrt ist. Die Zeugin erzählt: Beim Abschied hat Frau Eckert gesagt: „Ach Trude, bleibe nicht lange weg, mir ist so bange.“ Darauf hat Frau Grupen geantwortet: „Ich komme ja bald wieder, Du weißt, ich kann ohne ihn nicht leben.“ Dann fuhren wir weg, und die beide Ehegatten waren sehr vergnügt. In Itzehoe, wo ich eine Evangelisationsveranstaltung besuchte, setzte er mich vor dem betreffenden Hause ab und fuhr mit seiner Frau zum Bahnhof weiter. Nachher sollte ich ihn in einem Wirtshaus erwarten, um mit ihm nach Hause zurückzufahren. Er kam aber nicht, und da traf ich mich mit dem Knecht und der anderen Magd, und wir gingen zusammen nach Hause.

 

Vorsitzender: Wer öffnete Ihnen die Haustür? - Zeugin: Ich weiß nicht. - Vorsitzender: Der Knecht behauptet, Herr Grupen selbst habe Ihnen aufgemacht. - Zeugin: Ich weiß nicht.

 

Ein Geschworener: Konnte denn der Angeklagte mit der einen Hand das Pferd vom Wagen selbst abschirren?

 

Angeklagter: Jawohl, das kann ich.

 

Der Hausarzt der Frau Grupen während ihres zweijährigen Aufenthalts in Rostock stellt ihr ein glänzendes Zeugnis aus. Sie sei eine sehr besorgte, eher zu ängstliche Mutter gewesen, und er könne sich absolut nicht vorstellen, daß die Frau auch bei einem ernsteren Zerwürfnis mit ihrem Manne sich länger als vierzehn Tage von ihren Kindern trennen könnte. Frau Grupen sei außerdem eine ausgezeichnete Hausfrau gewesen, die niemals sich gescheut hat, mit Hand anzulegen, sie habe auch grobe Arbeiten verrichtet, besonders im Garten. Während ihres ganzen Aufenthaltes in Rostock sei ihr Ruf völlig makellos gewesen.

 

Der Zeuge   B o o s ,   Bruder der Frau Eckert, erzählt: Nach dem Verschwinden meiner Nichte kamen uns allmählich Zweifel, daß sie wirklich nach Amerika gegangen sei. Ich riet deshalb meiner Schwester, sie solle sich in Hamburg bei einem Detektiv und bei den Schiffahrtsgesellschaften erkundigen. Sie schrieb zurück: „Peter macht alles!“ Dann bekam ich einen Brief von meiner Schwester, die mir schrieb, sie möchte sich mal mit uns aussprechen. Den Brief hatte meine Schwester heimlich zur Post gegeben, weil Grupen ihre ganze Post kontrollierte.

 

Staatsanwalt: Der Bruder des Angeklagten, Wilhelm Grupen, hat, wie Sie früher gesagt haben, auf Sie einen schlechten Eindruck gemacht. - Zeuge: Ja. Er schien mir hinterlistig und spionierte, als ich mich später am Wohnort Grupens aufhielt, immer hinter uns her. Es war ja das ein subjektiver Eindruck, aber dieser Mann war uns unheimlich und verdächtig.

 

Vorsitzender: Haben Sie denn Anhaltspunkte gehabt? - Zeuge: Wir haben uns gesagt, das Verschwinden von Frau Grupen könnte nicht die Tat eines einzelnen Mannes sein, und glaubten an die Möglichkeit, daß Wilhelm seinem Bruder bei der Beiseiteschaffung geholfen habe, oder daß er etwas mehr davon wollte.

 

Die Dienstmagd   G n i e w a k o w s k i   sagt aus: Der Angeklagte hat schon vor dem Verschwinden der Frau dem Kinderfräulein Charlotte   M ü l l e r   die Ehe versprochen. Das war zu gleicher Zeit, als er der 16jährigen Magd   K l ä s c h e n   auch die Ehe versprochen hatte. Da ist es zu einer Auseinandersetzung gekommen zwischen Grupen, der Kläschen und der Müller. Am Ende fiel die Müller dem Grupen um den Hals und sagte: „Ich will ihn haben!“

 

Vorsitzender: Angeklagte, haben Sie eine Frage? - Angeklagter (stolz): Ich habe auf das Gerede nichts zu erwidern.

 

Hinrich   G r u p e n ,  der älteste Bruder des Angeklagten, wird gerufen, um die Identität eines von ihm an den Angeklagten gerichteten Schreibens zu bestätigen. Er sieht Peter sehr ähnlich, macht aber einen gesetzteren Eindruck.

 

Es wird sodann eine junge Frau vernommen, die einmal mit Grupen richtig verlobt war. Die blonde freundliche Holsteinerin war nach dem Krieg Hilfsbriefträgerin gewesen. Grupen hatte sie Briefe gebracht und dieser ihr Herz gewonnen. Lange aber hatte das nicht gedauert: Da erklärte er ihr unter Tränen: Er müsse sich anderweitig verloben. Ein Verhältnis mit einer anderen Frau sei nicht ohne Folgen geblieben, sie müsse er nun heiraten. Aber wie zum Trost sagte er: „Meine Frau habe ich doch nicht lange, Du kannst ja zu uns als Kindermädchen kommen!“ was sie indessen nicht tat. Grupen sei ein sehr unruhiger Geist gewesen, er habe jeden Augenblick einen anderen Plan gehabt. Einmal wollte er eine Luftschaukel kaufen, dann kaufte er alte Fahrräder und Anzüge, die er aufarbeiten ließ und sie nachträglich weiter verkaufte. Er bezog damals Erwerbslosenunterstützung. Er verstand es, sich durch Bezugsscheine Anzüge zu verschaffen, die er verkaufte.

 

Vorsitzender zum Angekl.: Was sagen Sie dazu, was die Zeugin behauptet, Sie hätten gesagt: Die Frau habe ich nicht lange? - Angeklagter: Im Interesse der Zeugin wie meiner Frau lehne ich jede Antwort ab.

 

Als nächste Zeugin tritt eine neue ehemalige Braut auf, schlank, hochgewachsen, mit leuchtendem blonden Haar. Sie hat inzwischen anderweitig geheiratet; in ihrem singenden hübschen Dialekt erzählt sie ihre Leidensgeschichte.

 

Zeugin: Als meine Verlobung mit Grupen schon aufgehoben war, traf ich ihn eines Abends einmal, und als ich ihm sagte, daß ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wolle, weil ich meinem neuen Bräutigam treu sei, da hat er einen Revolver gezogen und ihn mir auf die Brust gesetzt und gesagt: Ich kann ohne Dir nicht leben. Da bin ich ihm um den Hals gefallen und habe ihm versprochen, mich jede Woche mit ihm zu treffen. Aber ich bin nicht hingegangen. Als er dann wieder schrieb, bin ich mit meinem Verlobten zu ihm gegangen. Er hat ihm die Geschenke und noch 60 M. gegeben, und dann hat Grupen die Geschenke seiner nächsten Braut geschenkt.

 

Frau Dr.   B e y e r ,   eine Fräulein Zahn und Dorothea Rohrbeck befreundete Dame erzählt: Als ich am Tage nach dem Unglück kam, fiel mir auf, das Frau Eckert immerzu Grupen bedauerte. Es hieß immer: Der arme Peter! Als ich sagte: „Aber Frau Eckert, Dorothea!“, da sagte Frau Eckert: „Ach Dorothea, die hat mich doch nie gemocht.“ Erst als ich die Vermutung äußerte, daß Grupen vielleicht auch am Verschwinden von Frau Grupen schuld sei, sagte Frau Eckert: „Wenn ich erfahre, daß meine Tochter tot ist, lasse ich den Täter fallen.“ An die kleine Irma habe ich öfters die Frage gerichtet, ob Peter Grupen wirklich nicht aus dem Zimmer gegangen sei. Dann kam Marie   M o h r   der kleinen Irma immer zuvor und sagte: „Herr Grupen ist nicht aus dem Zimmer gegangen.“

 

Vorsitzender: Hat Frl.   D o r o t h e a   sich über die Reise des Grupen zur Großmutter geäußert? - Zeugin: Ja. Dorothea sagte, sie sei sehr verwundert gewesen, daß die Großmutter über das Befinden von Frau Grupen nicht sehr traurig gewesen sei. Zuerst habe sie und Grupen ein bißchen geweint. Dann aber waren sie ganz vergnügt. Und Dorothea sagte schließlich: „Mir kommt die ganze Geschichte vor wie ein Theater.“

 

Eine besondere Bewegung ruft die Aussage einer jungen Holsteinerin hervor, der Tochter von Grupens Lehrherrn, die nach dem Verschwinden der Frau Grupen in Grupens Haus als Stütze kam.

 

Vorsitzender: Der Angeklagte hat Ihnen mal eine goldene Uhr geschenkt. - Zeugin: Ja. - Vorsitzender: Wissen Sie, ob das die Uhr von der verschwundenen Frau Grupen war? - Zeugin: Das weiß ich nicht. - Vorsitzender: Wo ist denn die Uhr jetzt? - Zeugin: Ich habe sie noch zu Hause. - Angeklagter (sehr tief errötend): Darüber kann ich eine Erklärung abgeben: Es ist die Uhr meiner Frau. - Staatsanwalt: Das sagen Sie heute zum ersten Male aus! - Angekl.: Meine Frau hatte mehrere Uhren.

 

Frau Eckert erklärt: Meine Tochter hatte meines Wissens nur eine goldene Armbanduhr, die sie auf Reisen wohl immer trug, ob auch am Tage der Abreise, kann ich nicht sagen.

 

 

 

Freitag, 16. Dezember 1921, „Berliner Morgenpost“, S. 1-2

Grupens Brüder und Freunde.

Geldgeschäfte unter Brüdern. - Ursula und die Pistole. - Grupen wollte Kleppelsdorf verkaufen.

 

Hirschberg, 15. Dezember.

Telegramm unsers Sonderberichterstatters.

 

Trotz des weit vorgeschrittenen Zeugenverhörs kommen in der Verhandlung über den Kleppelsdorfer Mord noch immer neue Tatsachen hervor, die das gespannte Interesse für diesen merkwürdigen Rechtsfall aufrecht erhalten. Der heutige Tag brachte unter anderem die Aussage des Bruders des Angeklagten, Wilhelm Grupen, an den Peter Grupen schwer zu erklärende Vermögensabtretungen machte. Auch die Geschichte mit der Pistole, die Peter Grupen bei dem Bruder zurückließ, dem sie die kleine Ursula angeblich entwendet haben soll, kommt zur Erörterung und trägt nicht zur Entlastung des Angeklagten bei. Das weitere Verhör mit einem Geschäftsgenossen Grupens bringt die überraschende Enthüllung, daß der Angeklagte schon zwei Monate vor den Ereignissen in Kleppelsdorf über einen Verkauf dieses Gutes verhandelt oder zumindest darüber gesprochen hat. Nachstehend die Fortsetzung des Zeugenverhörs.

 

Zunächst wird die letzte von Grupens vielen Bräuten, die Tochter seines früheren Lehrmeisters, ein reizendes Mädchen mit seinen, zart geschnittenen Zügen, vernommen. Die Zeugin erzählt: Als Grupen nach dem Verschwinden seiner Frau uns besuchte, sagte mir mein Vater, seine Frau sei tot. Ich müsse ihm den Haushalt führen. Mir sagte er dann später, seine Frau habe ihn verlassen, sei über Holland nach Amerika gegangen und dort, wie er von einem Detektiv erfahren habe, an Syphilis gestorben.

 

Vorsitzender: Angeklagter! Das ist ja ganz neu, daß Ihre Frau über Holland fuhr. Wer ist denn der Detektiv? - Angeklagter: (schweigt). - Zeugin: Später, als er mit Frl. Zahn und Dorothea Rohrbeck in Hamburg gewesen war, kam er zurück und erzählte mir, die beiden Damen hätten den Versuch gemacht, ihn zu vergiften, indem sie Gift in eine Weinflasche schütteten.

 

Vorsitzender (zum Angeklagten): Was sagen Sie dazu? - Angeklagter (lächelnd): Wir haben wohl einen etwas starken Wein getrunken. - Vorsitzender: Den Wein haben doch aber Sie bestellt,   S i e   haben die beiden Damen traktiert!

 

Nunmehr wird der Bruder des Angeklagten, Wilhelm   G r u p e n ,   hervorgerufen. Man erwartet ihn mit besonderem Interesse, da der Bruder der Frau Eckert von einer Möglichkeit der Mitschuld Wilhelm Grupens an dem Verschwinden von Frau Grupen gesprochen hat.

 

Vorsitzender: Wollen Sie aussagen? Sie brauchen es nicht - Zeuge: Ich will.

 

Vorsitzender: Hat Ihr Bruder vor seiner Verheiratung Vermögen gehabt, oder haben Sie ihn unterstützt? - Zeuge: Meine Frau hat ihm mit Lebensmittel ausgeholfen. - Vorsitzender: Hat Ihr Bruder Ihnen nicht aus dem Gefängnis eine Hypothek im Werte von 78 000 M. zediert? - Zeuge: Ja. - Vorsitzender: Ja, warum hat Ihnen denn Ihr Bruder im November 1920 Generalvollmacht erteilt? Haben Sie mit der Generalvollmacht Geschäfte gemacht? - Zeuge: Nein.

 

Vorsitzender: Haben Sie mit der Generalvollmacht einmal Geld von der Bank geholt? - Zeuge: Ja.

 

Das Gespräch über die Geldangelegenheiten wird hier abgebrochen und man wendet sich den Kleppelsdorfer Tagen zu. Vorsitzender: War die Waffe, die Ihnen Ihr Bruder zurückließ, geladen? - Zeuge (verwirrt und verlegen): Ich kenne mich überhaupt nicht mit der Waffe aus. - Vorsitzender: Sie wußten mit der Waffe nicht Bescheid, aber die kleine Ursula soll damit so Bescheid gewußt haben, daß sie den Mord begangen hat.

 

Die Waffe wird nunmehr dem zeugen übergeben, nachdem der Polizeiinspektor den Rahmen herausgenommen hat. - Vorsitzender: Ist das die Waffe, die Ihnen Ihr Bruder gezeigt hat? - Zeuge (verwirrt): Es ist ja gar kein Patronenrahmen darin. - Vorsitzender: Ja. Sie scheinen also mit der Waffe gut Bescheid zu wissen. Die Unterhaltung über die Waffe dauert sehr lange, bis schließlich aus Handgriffen, die der Zeuge macht, hervorgeht, daß er mit der Waffe ganz genau Bescheid gewußt hat.

 

Es werden dann noch Versuche mit dem Revolver angestellt, aus denen hervorgeht, daß der Angeklagte den Revolver mit seine Hand sichern und entsichern kann. Er selbst sagt: „Ich hätte vielleicht den Revolver auch allein laden und spannen können, aber mein Bruder hat mir dabei geholfen.“

 

Das Verhör wendet sich dann wieder dem Verschwinden der Frau Grupen zu.

 

Vorsitzender: Wissen Sie etwas von dem Verschwinden Ihrer Schwägerin? - Zeuge: Nein. Erst nach den Kleppelsdorfer Ereignissen habe ich mich bei den Hamburger Behörden erkundigt, aber nichts erfahren. - Vorsitzender: Das ist doch 3 Monate nach dem Verschwinden  gewesen? - Ein Geschworener: Wo haben Sie die Nachricht von den Kleppelsdorfer Ereignissen erhalten? - Zeuge: In Ottenbüttel durch den Nachbar Hinrich Schmidt.

 

Heinrich Grupen, der ältere Bruder des Angeklagten, dem Aussehen nach das sympathischste Mitglied der Familie, wird in den Saal gerufen.

 

Vorsitzender: Haben Sie Ihrem Bruder nahegestanden oder mit Ihrem Bruder Geschäfte gemacht? - Zeuge: Ich wohne in Kiel, bin Schiffsführer und habe wenig Verkehr mit ihm. - Vorsitzender: Hat Ihr Bruder Ihnen etwas vom Verschwinden seiner Frau erzählt? - Zeuge: Ich bin meines Wissens seitdem nie mit ihm zusammengekommen.

 

Mit Hinrich   M a a s   tritt einer der interessantesten Zeugen des Prozesses in den Saal. Ein starker, hochgewachsener holsteinischer Bauer, ein Mann von einige vierzig Jahren. Auf den breiten Schultern sitzt ein Kopf, der wie aus Stein gehauen, niemals auch nur die mindeste innere Bewegung verrät. Die festen Wangen und der scharf gezeichnete Mund sind bartlos. Die dünne Adlernase springt scharf nach vorn. Nur in den großen, harten, blauen Augen ist ein heißes, schwer zu deutendes Leben. Knapp und vorsichtig sind seine Antworten. Meistens stößt er ein langgezogenes „Jach“ oder „Noon“ aus, das Heiterkeit, aber auch die größte Aufmerksamkeit hervorruft. Mit ihm hat Grupen die meisten seiner Geschäfte abgewickelt, und von größtem Interesse ist es, daß Grupen und er bereits im Dezember, also zwei Monate vor dem Morde, daran dachten, das Gut Kleppelsdorf zu kaufen. Vorsitzender: Haben Sie nicht einmal etwas davon gesprochen, daß Sie das Gut Kleppelsdorf kaufen wollten? - Zeuge: Ich habe nichts mit dem Angeklagten, sondern mit Frau   E c k e r t   in der Weihnachtszeit davon gesprochen. Sie hat mir erzählt, daß das Gut schlecht verwaltet, und daß die Besitzerin ein junges Mädchen sei.

 

Vorsitzender: Hatten Sie nicht auch mit dem Angeklagten darüber gesprochen? - Zeuge: Noon.

 

Staatsanwalt: Sie haben aber anderen Zeugen gesagt, Sie hätten mit Grupen eine große Sache vor. Sie wollten mit ihm Kleppelsdorf kaufen. - Zeuge: Ich wollte nicht kaufen, sondern nur vermitteln. - Vorsitzender: Aber über die Verhandlungen müssen Sie doch zumindest gesprochen haben? - Zeuge: Ich habe wohl mal gesagt, ich möchte Kleppelsdorf ansehen.

 

Staatsanwalt: Angeklagter, wie kommen Sie auf die Idee, Kleppelsdorf verkaufen zu wollen, wo doch niemals in Kleppelsdorf selbst davon die Rede war, daß das Gut verkauft werden sollte. - Angeklagter: Das Gut warf doch nichts ab, und der Vormund hatte doch selbst gesagt, daß das Gut verkauft werden müsse, wenn so weiter gewirtschaftet werde.

 

Nach längerer Debatte beschließt das Gericht, zwei neue vom Staatsanwalt gestellte Zeugen zu vernehmen. Johannes   W i t t m a k ,   Lehrer aus Mehlbeck, weiß nur, daß der Zeuge Maas im Wirtshaus gesagt hat, daß er bald mal nach der Lausitz fahren wolle, wo er in einer großen Sache zu tun habe. Johannes   W i c h ,   Landmann und Kaufmann aus Mehlbeck, bekundet: Ungefähr vor einem Jahre hat Maas gesagt: „Wir wollen nächstens nach der Lausitz fahren, um ein Gut zu kaufen.“ - Vorsitzender: Wer ist wir? - Zeuge: Ich nehme an, daß das Maas und Grupen waren, und als jetzt der Mordprozeß losging, und Maas mir erzählte, daß er auch nach Hirschberg fahre, habe ich ihn gefragt, ob Kleppelsdorf das Gut sei, daß er damals kaufen wollte. Und da sagte er: „Ja.“

 

Hierauf werden mehrere Zeugen, darunter ein Rektor, die dem Angeklagten günstige Zeugnisse ausstellen, vernommen. Insbesondere rühmt der Rektor, der ihm Nachhilfsunterricht während seiner Lehrzeit gab, seinen Fleiß und Lerneifer. Allerdings sei Grupen offenbar etwas zu ehrgeizig gewesen. Aber er habe in seiner ganzen freien Zeit gearbeitet, und sein größter Ehrgeiz sei gewesen, doch noch einmal sein Einjährigenzeugnis zu erwerben.

 

Der Vorsitzende teilt mit, ein Kolporteur habe telegraphisch mitgeteilt, er könne bekunden, daß Grupen kurz vor der Abreise seiner Frau diese gewürgt habe. Das Gericht beschließt, den Kolporteur bis Sonnabend zu laden.

 

Es folgen einige Gefängnisbeamte, die über das Verhalten des Angeklagten ein günstiges Zeugnis ausstellten.

 

Der Staatsanwalt bittet, den Untersuchungsrichter darüber zu befragen, ob Marie   M o h r   auf ihn nicht in sittlicher Beziehung einen unnatürlich unbefangenen Eindruck gemacht hat. Der Untersuchungsrichter fragte: Haben Sie denn überhaupt kein Schamgefühl? Darauf sagt sie: Nein. Später sagt sie dann noch: Ich habe mich geschämt.

 

Die Zeugin   H a t s e ,   die schon einen Vor- und einen Nacheid geleistet hat, offiziell aber entlassen ist, wird nochmals vorgerufen und zum dritten Male vereidigt. Sie sagt: Grupen hat mir erzählt, daß Dorothea   R o h r b e c k   ihm mehrere Heiratsanträge gemacht habe. Er könne sie aber nicht leiden.

 

 

 

Sonnabend, 17. Dezember 1921, „Berliner Morgenpost“ - Erste Beilage

Die Sachverständigen im Prozeß Grupen.

Selbstmord ausgeschlossen! - Projektionen im verdunkelten Saal. - Geheimrat Moll über sexuelle Hörigkeit. - Grupen gibt den Kampf auf.

 

Hirschberg, 16. Dezember.

Von uns. Sonderberichterstatter.

 

Die lande Dauer des Prozesses macht sich fast bei allen Beteiligten fühlbar. Der Staatsanwalt, der aus Rücksicht auf die ungeheuren Kosten darauf gedrungen hatte, daß eine Anzahl von Zeugen nach ihren Aussagen definitiv entlassen wurde, kommt oft in die Lage, sich einen entlassenen Zeugen wieder herbeizuwünschen. Meist hat er Glück und die Leute sitzen noch im Gerichtssaal oder wenigstens im Hotel. Eine Zeugin erlebte auf diese Weise die Sensation, dreimal schwören zu müssen. Die Bemühungen des Vorsitzenden, jeden Revisionsanlaß zu vermeiden, machen oft lange juristische Erörterungen notwendig, bei denen sich die Gemüter erhitzen. Die Stimmung ist aber namentlich deshalb gereizt, weil der Wunsch aller, die Verhandlungen in der Nacht zum Sonntag zu Ende zu führen, nicht in Erfüllung gehen wird. Der Staatsanwalt beansprucht einen vollen Tag zur Vorbereitung seines Plädoyers. Bis jetzt ist folgendes bekannt: Beginn der Plädoyers Montag Vormittag, Urteil vielleicht in der Nacht zum Dienstag.

 

Die Zeugenvernehmung ist in der Hauptsache abgeschlossen und es beginnt die V e r n e h m u n g   d e r   S a c h v e r s t ä n d i g e n .   Bücherrevisor   S c h e r f -  Brieg weist auf die völlig ungeordnete oder vielmehr nicht existierende Buchführung des Angeklagten hin und sucht nachzuweisen, daß er zur Zeit des Mordes über keine flüssigen Mittel verfügte. Dann sprach der Berliner Gerichts-Chemiker Dr.   J e s e r i c h   über die von ihm angestellten Schriftvergleiche. Den Brief Ursels „An Großmutti“ bezeichnete er als zweifellos von der Hand Ursels herrührend. Der Zusatz des Wortes „traurige“ in dem Brief Ursels an Frau Bartels aber ist, wie Jeserich ausführte, zweifellos nachträglich hinzugefügt; ob von der Hand Ursels, ließ er dahingestellt. Auch hier gab es zwischen dem Vorsitzenden und dem Sachverständigen ein nervöses Geplänkel. Der einzig Ruhige im Saal ist der Angeklagte - stets klug, kühl, schlagfertig und beherrscht.

 

Professor Jeserich kam hinsichtlich der Abschiedsbriefe der Frau Grupen zu dem Schluß, daß keine Fälschungen vorliegen und sich keine irgendwie bemerkenswerten Abweichungen feststellen ließen. Auf einige Fragen, ob die Briefe psychisch beeinflußt sind, antwortete Jeserisch, daß das nicht in sein Gebiet falle.

 

Auf diesen knapp und sachlich sich äußernden Sachverständigen folgte Professor   S c h n e i d e m ü h l .   Er begann mit einer langatmigen und selbstgefälligen Einleitung über seinen Werdegang. Nur für einige Minuten befaßte er sich mit dem Beweisthema, um anzudeuten, daß Ursula zweifellos den Brief an Großmutti geschrieben habe. Die Briefe der Frau Grupen erschienen ihm nach dem graphischen Bilde zunächst als Geschäftsbriefe. Er kam zu dem Schluß, daß auch diese Briefe unter äußerer Beeinflußung geschrieben worden sind.

 

Verteidiger Mamroth: Glauben Sie nicht, daß, wenn die Frau diese Briefe wider Willen geschrieben hat, die innere Hemmung gegen den Inhalt der Briefe eine so starke gewesen sein muß, daß die Hemmung erkennbare Veränderungen in der Handschrift hervorgerufen haben müßte?

 

Sachverständiger: Möglich, daß Frau Grupen diese Briefe ganz harmlos geschrieben hat, vielleicht hat man sie diese Briefe zum Scherz schreiben lassen. Jedenfalls war die innere Erregung ausgeschlossen.

 

Schieß-Sachverständiger Büchsenmeister   W a l t e r :   Die Schießversuche mit der Originalpistole und der Originalladung haben ergeben, daß die Verbrennung bei Nahschüssen bis zu 10 Zentimeter Entfernung sehr deutlich ist. Bei 15 bis 20 Zentimeter Entfernung sind auch Stoffverbrennungen nicht mehr zu sehen. Es müssen bei Einwirkung auf die Haut Schüsse bis 20 Zentimeter Entfernung absolut erkannt werden. Die Durchschlagskraft nimmt ab, je weiter die Waffe sich vom Körper befindet. Bei dieser Pistole läßt die Durchschlagskraft schon bei 8 Metern nach.

 

Der Sachverständige kam nach der Untersuchung zu dem Schluß, daß   U r s u l a   u n m ö g l i c h   S e l b s t m o r d   begangen haben könne, da sonst die gefundenen Patronenhülsen in einem anderen Teil des Zimmers gelegen haben müßten. Auch die Durchschlagskraft, die die Kugel gehabt hat, läßt annehmen, daß der Täter in der Mitte des Zimmers gestanden hat, wahrscheinlich hat er zuerst auf Dorothea den von unten nach oben laufenden Schuß abgegeben. Der zweite Schuß galt der Ursula, die in den Hintergrund des Zimmers geflüchtet war. Der dritte Schuß war wahrscheinlich ein sogenannter Handschuß, der auf die schon am Boden liegende Ursula aus einer Entfernung von etwa 30 Zentimeter abgegeben wurde. Auf jeden Fall also sind die Schüsse von dritter Hand abgegeben worden.

 

Es entspinnt sich zwischen dem Sachverständigen und dem Angeklagten, der in der Mitte des Saales vor der Tafel steht, eine heftige Debatte. Der Angeklagte verteidigt sich mit großer Lebhaftigkeit und Sachverständnis. Der Sachverständige bleibt dabei, er halte es für ausgeschlossen, daß die kleine Ursula die Schüsse abgegeben hat.

 

Sachverständiger Medizinalrat Dr.   P e t e r s -  Löwenberg, der die Sektion vorgenommen hat, sagt aus, daß alle drei Schüsse aus mehr als 15 Zentimeter abgegeben worden seien. Damit sei die Möglichkeit eines Selbstmordes der Ursula von vornherein ausgeschlossen. Der Saal wird verdunkelt, und mit Hilfe eines Projektionsapparates sieht man die Photographien, die von den Leichen gemacht worden sind. Das Kleid der getöteten Dörthe, ein rotes Sommerkleidchen, ist auf eine Puppe gesteckt, an der Medizinalrat Peters zu demonstrieren sucht, wie der erste Schuß Dorothea getroffen hat. Da der Täter viel größer als Ursula ist, so ist zunächst der Verlauf des Schußkanals im Kopfe Ursulas von unten nach oben auffallend. Indessen sein anzunehmen, daß Ursula im Augenblicke des Angriffes sich mit erhobenen Händen Armen nach hinten übergelegt hat.

 

Sachverständiger Geheimrat Professor   L e s s e r -  Breslau: Für ihn besteht kein Zweifel an der Tatsache, daß beide Schüsse von fremder Hand erfolgt sind. Auch sei es kaum denkbar, daß ein 13jähriges, der Waffen ungewohntes Mädchen drei so absolut sichere Schüsse abgeben kann.

 

Geh. Sanitätsrat   M o l l -  Berlin geht in seinem Gutachten von der Hypnose aus, unter welchem Namen eine ganze Reihe von Zuständen zusammengefaßt werden, bei denen Störungen der willkürlichen Bewegungen bewirkt werden. Daß im Falle dieses Mordes die Hypnose eine Rolle spielt, ist nicht ganz ausgeschlossen, aber auch nicht wahrscheinlich. Es sind nur ganz vage Anhaltspunkte dafür vorhanden. Ganz anders mit der Suggestion. Besonders stark ist die Suggestionskraft des Menschen, wenn die Suggestion sich mit Erotik kreuzt. Ich halte es für möglich, daß insbesondere das Verhältnis zu Ursula ein Fall sexueller Hörigkeit ist. Daß Ursel den Brief an Großmutti unter hypnotischen Einflüssen geschrieben hat, ist nicht bewiesen. Aber der Brief ist gar kein Abschiedsbrief: es steht darin nichts von Selbstmord. Hier liegt allerdings die Annahme sehr nahe, daß der Angeklagte den Brief diktierte oder vorschrieb, und zwar einfach, um eine Entlastung für sein Verbrechen vorzubereiten.

 

Daß der Angeklagte die Zeuginnen, wie Frau Eckert, die Marie Mohr und Irmgard, suggestiv beeinflußt hat, ist klar. Ich bezweifle nicht den Wahrheitswillen dieser Zeugen. Aber, was haben wir von ihren Zeugenaussagen zu halten? Charakteristisch ist die Aenderung in der Aussage der Frau Eckert, die erst später sagte: „Wenn der Weg zum Mordzimmer hin und zurück nur eine Minute dauert, kann Grupen wohl abwesend gewesen sein.“ Frau Eckert hat eben nicht ihre Wahrnehmungen mitgeteilt, sondern daß was sie geschlossen hat. Die Wahrnehmungsfähigkeit wird auch von den Richtern meistens überschätzt. Fräulein Marie Mohr indessen glaubt sich zu erinnern, daß der Angeklagte das Zimmer nicht verlassen hat. Nun zu der Frage, ob Ursel die Täterin sein kann: Ursel ist ein normales Kind gewesen und wer die Tragödie der geheimen Sitzung miterlebt hat, weiß, warum dieses Kind betrübt und verstimmt war. Es war weder geisteskrank noch hysterisch, noch melancholisch und es besteht kein Anlaß zu glauben, daß dieses Kind die schreckliche Tat ausgeführt und sich selbst erschossen hat. Es ist überhaupt äußerst selten, daß das weibliche Geschlecht mit der Pistole umgeht, noch seltener bei einem Kinde weiblichen Geschlechts. Auch für das angeblich perverse Verhältnis zwischen Mutter und Tochter ist gar kein Anlaß vorhanden.

 

Die Nachmittagssitzung nahm ein unerwartet rasches Ende, da merkwürdigerweise weder die Verteidigung noch der Angeklagte   G r u p e n   zu den Gutachten der Sachverständigen Stellung nahmen. Die Verteidigung hat damit offenbar ihre Praxis grundsätzlich geändert. Der Anstoß hierzu mag allerdings von dem Angeklagten selbst ausgegangen sein, der nach der heftigen kontroverse mit dem Schießsachverständigen, die mitten im Saale stattfand, plötzlich sagte: „Ich habe nichts mehr zu erklären,“ und dann auf die Anklagebank zurückkehrte. Infolgedessen wickelte sich die Nachmittagssitzung rasch ab.

 

Am Ende erschien als letzter Zeuge ein Zeitungskolporteur aus Itzehoe, der aussagte, daß er einmal einen Streit zwischen dem Ehepaar Grupen beobachtet hätte.

 

Damit war das Programm des Tages erschöpft. Das Gericht beschloß von einer Vereidigung Wilhelm Grupens Abstand zu nehmen. Der Sonnabend wird zur Vorbereitung der Plädoyers freigegeben. Die Plädoyers beginnen Montag früh, und das Urteil wird vermutlich in der Nacht vom Montag zum Dienstag gefällt werden.

 

 

 

Dienstag, 20. Dezember 1921, „Berliner Morgenpost“, S. 1-2

Antrag des Staatsanwalts im Grupen-Prozeß.

Schuldig des Doppelmordes und des Sittlichkeitsverbrechens. - Die These des Verteidigers Ablaß: Ursula ist die Täterin!

 

Die Verhandlung über das Morddrama von Kleppelsdorf neigt sich ihrem Ende zu, Der ungeheure Beweisapparat ist erschöpft, die Beweisaufnahme geschlossen. Der Vertreter der Anklage hat seinen Antrag gestellt. Peter Grupen sei schuldig zu sprechen des Doppelmordes an Dörthe Rohrbeck und Ursula Schade und des Sittlichkeitsverbrechens, begangen an seiner minderjährigen Stieftochter Ursula. In vierstündiger Rede begründete der Staatsanwalt seinen Antrag.

 

Dann trat der erste Verteidiger Ablaß in weitausholender Rede für den Angeklagten ein. Ohne den Angeklagten als einen Ehrenmann hinstellen zu wollen, bestritt er doch aufs entschiedenste, daß er ein Mörder wäre. Die Unglückstat habe vielmehr Ursula Schade, ein unglückliches, nervenzerrüttetes Kind, begangen. Keines der von der Anklage angeführten Motive wäre annähernd stark genug, um eine solche Tat wahrscheinlich erscheinen zu lassen.

 

*    *    *

Für den wahrscheinlich letzten Verhandlungstag waren einige Sachverständige nochmals geladen. Privatdozent Dr.   K u z n i t z k i -  Breslau äußerte sich über das Ergebnis der von ihm beim Angeklagten und bei einer Zeugin angestellten Blutuntersuchung. Die Syphilis-Probe sei negativ verlaufen. Wohl aber haben die Zeugin, Ursula und Grupen mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer anderen, weniger schweren Krankheit gelitten. Geheimrat   L e s s e r -  Breslau und Arzt Dr.   C h a u s s y   schlossen sich dieser Feststellung an. Dann holte das Gericht die Vereidigung der Frau Eckert nach und mit allseitigem Einverständnis wurde die Beweisaufnahme geschlossen.

 

Die vom Vorsitzenden entworfenen und weder vom Staatsanwalt, noch von der Verteidigung bemängelten   S c h u l d f r a g e n   gegen Grupen lauten auf Mord, sowie auf Sittlichkeitsverbrechen an einer Minderjährigen, die zugleich verwandt ist.

 

Die Rede des Staatsanwalts.

Hierauf begründete   O b e r s t a a t s a n w a l t   Reifenrath die Anklage. Sein viereinhalbstündiges Plädoyer schloß mit dem Antrage, den Angeklagten Grupen sowohl des Doppelmordes wie des Sittlichkeitsverbrechens für schuldig zu erklären.

 

Der Staatsanwalt erörterte mit großer Ausführlichkeit jedes einzelne Indiz, das gegen Grupen spricht. Bei der Schilderung der Tat verweist er auf die Lage des Revolvers links neben der sterbenden Ursula. Der Staatsanwalt ist ferner der Ansicht, daß der Angeklagte als alter Soldat unwillkürlich die Waffe unmittelbar nach der Tat sicherte, einer jener Fehler, die fast alle Verbrecher begehen. Völlig unsinnig und unmöglich erscheint es dem Staatsanwalt, daß Ursula sich das Schächtelchen mit den 19 Ersatzpatronen selbst in die Unterbindetasche gesteckt haben soll. Der Angeklagte habe diese Patronen zweifellos in Ursulas Tasche gesteckt, um sich selbst zu entlasten. Neu in der Darstellung des Staatsanwalts ist, daß er die Annahme fallen läßt, Grupen habe die Tat begangen, als er nach Irmgard das Zimmer verließ. Diese Zeitspanne erscheint dem Staatsanwalt zu kurz. Eher glaubt er, daß die Tat schon am vorhergehenden Teil des Vormittags ausgeführt worden ist.

 

Das Motiv für die Tat und für die Handlungsweise des Angeklagten sieht der Staatsanwalt in dem Streben nach Macht und Reichtum. Zuerst hatte er - durch Heiratsanträge - versucht, Dörthes Millionen auf friedlichem Wege an sich zu bringen. Als das mißlungen war, führte er den wohldurchdachten Plan aus. In nichtöffentlicher Sitzung begründete der Staatsanwalt seine Anschauung, daß der Angeklagte mit Ursula intimen Verkehr gehabt und sich daher eines Sittlichkeitsverbrechens schuldig gemacht hat.

 

Der erste Verteidiger.

Von den Verteidigern sprach zunächst Justizrat   A b l a ß -  Hirschberg. Eindringlich wandte er sich an die Geschworenen. „Die wahre Beredsamkeit besteht darin, das zu sagen, was zur Sache gehört - und zwar nur das!“ Mit diesem Satz begann Justizrat Ablaß, zugleich mit einem deutlichen Hinweis auf die Bemerkung des Staatsanwaltes, der Angeklagte habe während der Verhandlung mehrfach gelächelt. Ablaß sagte, er habe das Mandat angenommen, aber nicht in die Verhandlung eingegriffen, weil es nicht seine Gewohnheit sei, der rächenden Gerechtigkeit in die Arme zu fallen. Aber als er die Anklageschrift las, habe er sich gesagt, daß es noch nie eine schwächer begründete Anklage gegeben habe. Die Suggestion habe den Angeklagten zum Mörder gestempelt und, noch bevor das Urteil gefällt sei, war das Vorurteil schon gesprochen. Der Verteidiger klagt den Untersuchungsrichter an, daß er zuerst seine Ueberzeugung von der Schuld des Angeklagten ausgesprochen habe. Von den Geschworenen erhoffe er das ehrlich Bestreben, abseits von der öffentlichen Meinung die Wahrheit zu suchen.

 

Justizrat Ablaß geht nun auf die Vorgeschichte des Kleppelsdorfer Personenkreises ein: „Ich kann den Standpunkt von Fräulein Zahn verstehen, ich bezweifle nicht ihre Wahrheitsliebe, umso weniger, als ich mich selbst auf einige ihrer Aussagen stützen muß. Aber ich verstehe auch den Vormund, der seine Aufgabe vom Standpunkt eines alten preußischen Offiziers aus zu lösen suchte. Ich urteile nicht darüber, welche von den beiden Parteien recht hat. Aber es herrschte Feindschaft zwischen den beiden Parteien, und aus dieser Gegnerschaft entstand die besondere Atmosphäre von Kleppelsdorf, die sich auf so tragische Weise klären sollte.“ Ablaß wendet sich dem Personenkreis um die Frau des Angeklagten zu: „Ich will ihr nicht beweisen, was man ihr nachsagt. Denn sie hatte einen schlechten Ruf. Es heißt, man soll auf Gerüchte nichts geben. Gut, meine Herren Geschworenen, ich bin der gleichen Ansicht: aber (mit erhobener Stimme) dann dürfen Sie sich auch nicht auf die Gerüchte einlassen, die über den Angeklagten umhergehen.“

 

Dann schildert Ablaß den Charakter des Angeklagten, dessen „Fleiß, Ausdauer und Regsamkeit“ er hervorhebt. Die Ehe mit seiner Frau war anfangs glücklich. Die Tatsache, daß Grupen die Generalvollmacht der Frau Grupen und ihrer Mutter hatte, ist in der heutigen Zeit kein Beweis für die sexuelle Hörigkeit. In nichtöffentlicher Sitzung gibt der Verteidiger das Liebesleben des Angeklagten rücksichtslos preis. Er schildert die verschiedenen Verhältnisse, die der Angeklagte teilweise zu gleicher Zeit unterhielt, aber in einer Weise löste, die sich nicht beschönigen läßt. Er bespricht das Eheleben des Angeklagten und führt Tatsachen an, die es ihm glaubhaft erscheinen lassen, daß die Frau an der Zerrüttung des Ehelebens die Schuld trug. Man könne nicht ohne weiteres die Schuld der Frau ablehnen und alles dem Angeklagten zuschieben. Der Angeklagte habe sich bei seinen vielfachen Beziehungen gewiß nicht einwandfrei benommen, aber anormal sei er nicht.

 

Die Atmosphäre von Kleppelsdorf.

Ablaß fährt sodann fort: „Sie sehen, meine Herren Geschworenen, in Kleppelsdorf eine geladene Atmosphäre: den Kampf um die Macht, in Ottenbüttel eine sittlich unterwühlte Familie - wir kommen zur Katastrophe. Der Staatsanwalt hat mit außerordentlichem Geschick all die Dinge zusammengetragen, die für den Angeklagten belastend sind, - aber ohne Berücksichtigung der zeitlichen Einordnung der Geschehnisse. Ich habe mich der Riesenaufgabe unterzogen, die Geschehnisse zeitlich zu kontrollieren. Ich fürchte nur Gespenster. Und ich komme jetzt zu einem Gespenst, gegen das zu kämpfen schwer ist. Die Staatsanwaltschaft hat im Falle der angeblichen Ermordung der Frau Grupen keine Anklage erhoben. Aber dieser Fall war ihr gut genug, um aus dem Verdacht Beweise für die Kleppelsdorfer Tat abzuleiten. Es ist vor der Abreise der Frau Grupen ein Entwurf zu dem Abschiedsbrief von einem Dienstmädchen gefunden worden. Was wäre geschehen, wenn die Finderin das Papier sofort zu Frau Eckert gebracht hätte? Frau Eckert hätte ihre Tochter von der Flucht zurückgehalten - und die ganze sogenannte Mordtat wäre ungeschehen geblieben.“

 

Ablaß stellt der These des Staatsanwalts und der Sachverständigen eine andere These entgegen: wie wenn der Angeklagte, der sich ja eingestandenermaßen wie befreit fühlte, als seine Frau verschwunden war, einverstanden damit war, daß die Frau ihren oft geäußerten Wunsch, nach Amerika zu gehen, ausführte? Dann bedurfte es keiner „Suggestion“, um die Abschiedsbriefe zu schreiben und keines Abschiedsbriefes an den Angeklagten selbst.

 

Warum nur, so fragte Ablaß weiter, hatte sich der Angeklagte in die Kleppelsdorfer Angelegenheit gemischt? Der Angeklagte arbeitete viel in Grundstücksgeschäften; er hatte einen reichen Freund, Hinrich Maaß, hinter sich. War es nicht möglich, daß der Angeklagte sich sagte: „Die Streitigkeiten zwischen Fräulein Zahn und dem Vormund, die Geldnöte von Kleppelsdorf werden eines schönen Tages doch dazu führen, daß das Gut verkauft wird. Liegt der Gedanke so weit ab, daß der Angeklagte sich sagte: vielleicht winkt hier ein Geschäft? Der Verteidiger erörtert die einzelnen Verdachtsmomente aus den Wochen vor dem Mord: „Man soll in dieser Sache nicht lächeln. Aber wirkt es nicht wie eine Pose, wenn von einem Doppelmord-Versuch gesprochen wird, weil auf dem Alsterbassin ein Ruder aus dem Boot ins Wasser fiel, ein Ruder, das von einem der vielen dort verkehrenden Boote sofort aufgefischt und an Grupen zurückgegeben wurde? Dies - ein Mordversuch? Es ist richtig, daß der Angeklagte den Kleppelsdorfer Damen gegenüber in Verlegenheit geriet. Die Damen sagten, er spiele ein Doppelspiel. Er befand sich allerdings in einer Zwickmühle. Es hatte dem Vormund gegenüber nicht die Kraft besessen, den Standpunkt der Damen zu wahren. Man war sich im Gespräch über eine gewisse Mißwirtschaft einig geworden, und seine Aeußerungen hierüber wurden indiskreterweise den Kleppelsdorfer Damen überbracht. Daher die Verstimmung und zu deren Behebung die Reise nach Kleppelsdorf. Dort kühler Empfang, Beseitigung der Verstimmung durch den Besuch bei Rechtsanwalt Pfeiffer. Es kommt der Brief der kleinen Ursel an die Frau Bartels. Der Brief ist an sich vollkommen harmlos. Das Wort „traurig“ ist, wie der Sachverständige Jeserich betont, später eingefügt. Sie war eben ein unglückliches Kind, von dem ich annehme, daß es die Tat begangen hat. Warum nicht das Natürlich annehmen, wenn ein Kind, das sich vor einer solchen Tat befindet, ein solches Wort in seinen Brief hineinfügt? Sie fühlte sich eben unglücklich, weil sie bei ursprünglich liebenswerter Veranlagung wußte, daß sie ein körperlich und sittlich zerrüttetes Geschöpf war.

 

Suggestion und Hypnose.

Ich erkenne die Bedeutung des Geheimrats Moll vollkommen an. Er genießt seinen hohen Ruf mit Recht. Aber er hat eine psychologische Theorie aufgestellt, die den Angeklagten unzweifelhaft belastet. Ich weiß, daß das Gutachten Molls einen tiefen Eindruck gemacht hat. Aber prüfen Sie, ob eine solche Theorie ausreicht, um ein Urteil darauf aufzubauen. In einem Punkte mache ich mir allerdings die Ansicht Molls zu eigen. Ich glaube nicht, daß die ganze Gesellschaft, die sich in dem Wohnzimmer befand, zur Zeit des Mordes hypnotisiert gewesen ist. Wie aber kommt es, daß Irma Schade sich 14 Tage vor dem Prozeß daran erinnert, daß Grupen ihr aus dem Wohnzimmer gefolgt sei, nachdem sie monatelang behauptet hat, der Angeklagte sei nicht aus dem Zimmer gegangen. Da glaube ich wahrhaftig an eine Suggestion, und das ist keine Grundlage, auf der ein Todesurteil aufgebaut werden kann. Der Staatsanwalt hat gesagt, dreimal habe Fräulein Zahn den Angeklagten auffordern müssen, die tote Dörthe auf das Bett zu legen; ein Mörder fasse eben sein Opfer nicht an. Und hier ist beschworen worden, daß Grupen nach der ersten Aufforderung mit angefaßt hat und Dörthe mit auf das Bett gehoben hat! Nur eine Hülse ist unmittelbar nach der Tat gefunden worden, die beiden anderen sind zwei volle Tage nach der Tat gesucht und aufgefunden worden! Wieviel Personen sind in diesen zwei Tagen in dem Zimmer aus- und eingegangen! Wie leicht konnte die Lage der Hülsen verändert werden! Sind aber diese Hülsen verschoben worden, dann sind alle Gutachten der Schießsachverständigen hinfällig, denn diese Gutachten der Schießsachverständigen bauen sich sämtlich auf die Lage der Hülsen so auf, wie man sie gefunden hat.

 

Warum aber hat der Angeklagte den Mord begangen? Er hat sein und seiner Frau, sowie Frau Eckerts Vermögen von etwa 100 000 Mark bis nahe an 300 000 Mark vergrößert. Was hatte er von einer Ermordung Dörthes zu erwarten? Fräulein Dörthe Rohrbeck ist tot.   H a t   der Angeklagte Kleppelsdorf? Nein, das Gut fiel an Frau Eckert und an die Rohrbeckschen Erben. (Mit erhobener Stimme): Nein! Der Angeklagte hat von dem Morde nichts zu erwarten gehabt. Wenn er den Mord wirklich begangen hat, dann glaube ich, daß er mehr aus Blutdurst gehandelt hat als auch Habsucht. Von den drei Personen, die ursprünglich behaupteten, der Angeklagte habe das Zimmer nicht verlassen, sind zwei anderer Ansicht geworden. Die Geschworenen müssen      w i s s e n ,   ob der Angeklagte aus dem Zimmer gegangen ist und den Mord begangen hat. Sie können nicht auf die Vermutung hin ein Urteil fällen.

 

Ursula die Täterin!

Justizrat Ablaß erörtert dann nochmals die Möglichkeit, daß   U r s e l   d i e   T ä t e r i n   war. Die Schüsse müssen in einer Entfernung von mehr als 15 Zentimetern abgegeben sein, da unter 15 Zentimetern sich Verbrennungserscheinungen zeigen. Diese Entfernung ist aber so gering, daß es dazu keiner Kunstfertigkeit bedurfte. Nach mehr als fünfstündiger Rede schloß Justizrat   A b l a ß   mit folgenden Worten:

 

„Glauben Sie, daß es mir leicht fällt, an die Schuld dieses armen Kindes zu glauben? Aber warum soll es mir leicht fallen, an die Schuld des Mannes zu glauben, der hinter mir sitzt? Das Mädchen war körperlich und sittlich zerrüttet, und wir haben es oft gehört, wie traurig es über seinen Zustand war. Es ist möglich, daß dieses Kind in einer furchtbaren Depression so gehandelt hat. Aber für die Schuld des Grupen sehe ich keinen Anlaß und keine Unterlage.“

 

 

 

Mittwoch, 21. Dezember 1921, „Berliner Morgenpost“, S. 1-2

Peter Grupen zum Tode verurteilt.

Alle Schuldfragen bejaht. - Das letzte Word. - Grupens Verzicht auf Revision und Gnade. - Das Todesurteil damit rechtskräftig.

 

Im Kleppelsdorfer Mordprozeß vor dem Schwurgericht Hirschberg haben die Geschworenen den Angeklagten   P e t e r   G r u p e n   des Mordes in zwei Fällen und des Sittlichkeitsverbrechens nach eineinhalbstündiger Beratung für schuldig erklärt. Sämtliche ihnen unterbreiteten Schuldfragen wurden mit Ja beantwortet. Darauf wurde Peter Grupen hereingeführt: er war bleich und sichtlich nervös, beherrschte sich aber vollkommen.

 

Oberstaatsanwalt   R e i f e n r a t h   beantragte (hier ist ein Riss oder Knick in der Zeitung und daher eine Zeile nicht lesbar!) Geschworenen die Todesstrafe und wegen des Sittlichkeitsverbrechens fünf Jahre Zuchthaus sowie die üblichen Nebenstrafen. Die Verteidiger Justizrat   A b l a ß -  Hirschberg und   M a m r o t h -  Breslau verzichteten auf das Wort.

 

Hierauf erhielt   P e t e r   G r u p e n   das letzte Wort. Er erhob sich und sagte mit seiner hellen, fast nicht zitternden Stimme: „Ich verzichte von vornherein auf jedes Rechtsmittel, auf Revision und Gnade. Ich halte Ihren Spruch für einen Fehlspruch, den ich Ihnen aber nicht übelnehme, weil ich einsehe, daß Sie bei der Art, wie die Anklage erhoben wurde, zu diesem Spruch kommen mußten. Aber ich erkläre, daß ich unschuldig bin, und ich hoffe bestimmt, daß die Zeit einmal eine Aufklärung bringen wird.“

 

Nunmehr zog sich der Gerichtshof zur Beratung zurück. In der vierten Nachmittagsstunde wurde das Urteil verkündet: Zweimal zum Tode, fünf Jahre Zuchthaus sowie dauernder Ehrverlust. Nach Verkündung des Urteils wurde Peter Grupen abgeführt. Die Zuhörer brachen in laute Beifallsrufe aus, die vom Vorsitzenden streng gerügt wurden.

 

*    *    *

Unwiderruflich!

Von den vielen Ueberraschungen, die der   K l e p p e l s d o r f e r   P r o z e ß   gebracht hat, ist der Verzicht Peter Grupens auf Revision und Gnade sicher die größte. Niemand, der die energische Verteidigung Grupens verfolgte, hat wohl geglaubt, daß er so schnell die Waffen strecken würde. Ist es ein verspätetes Schuldbekenntnis? An anderer Stelle ist darüber das Nötige gesagt. Ohne Zweifel hat Peter Grupen bei diesem Verzicht nicht aus einem augenblicklichen Impuls gehandelt, denn er ist sich über die Tragweite seiner Erklärung sicherlich im unklaren gewesen.

 

Grupens Verzicht auf Revision ist endgültig. Der Verzicht ist dem zuständigen Gericht gegenüber erklärt und damit unwiderruflich: das Todesurteil ist damit rechtskräftig. Anders steht es mit Grupens Verzicht auf die Gnadenmittel. Die Ausübung der Gnade ist von seinem Willen völlig unabhängig. Nach der Strafprozeßordnung darf ein Todesurteil erst vollstreckt werden, wenn das Staatsoberhaupt die Begnadigung abgelehnt hat. Es wird also in jedem Fall geprüft, ob vom Gnadenrecht Gebrauch gemacht oder der Urteilsvollstreckung freier Lauf gelassen werden soll. Nach der neuen Preußischen Verfassung liegt das Begnadigungsrecht beim Preußischen Staatsministerium, das dieses Recht im Namen des Volkes ausübt. Für diese Ausübung gelten ganz selbstverständlich die Grundsätze, die für das Begnadigungsrecht in der Monarchie galten, nämlich, daß in keinem Falle eine Todesstrafe vollstreckt wird, wo nicht ein völlig lückenloser, jeden Justiz-Irrtum ausschließender Indizienbeweis vorliegt.

 

*    *    *

Nach bestem Wissen und Gewissen.

Der Spruch der Geschworenen.

Die Geschworenen von Hirschberg haben nach bestem Wissen und Gewissen   P e t e r      G r u p e n   des Doppelmordes und eines der schwersten Sittlichkeitsverbrechen schuldig gesprochen. Damit hat ein Prozeß, der die öffentliche Meinung weit über das schlesische Gebirgsstädtchen hinaus wochenlang in höchster Spannung gehalten hat, sein Ende gefunden. Der Angeklagte Peter Grupen, der mit einer an sich bewundernswerten Willenskraft und Nervenbeherrschung für seine Existenz gekämpft hatte, hat den weiteren Kampf aufgegeben und auf die Revision des Urteils verzichtet. Es soll nicht entschieden werden, ob dieser Verzicht der endlich doch erfolgte seelische Zusammenbruch eines schuldbewußten Verbrechers oder die Resignation eines von der Vergeblichkeit aller seiner Bemühungen überzeugten Unschuldigen ist.

 

Die Geschworenen brauchen ihr Urteil nicht zu begründen. Vor ihnen hat sich der ganze ungeheure Stoff des Prozesses aufgerollt, und als ernste Männer haben sie, sicher ihrer Verantwortung bewußt, ihr Schuldig in der Erkenntnis ausgesprochen, daß sie damit der Gerechtigkeit dienen. Es liegt im Wesen eines Indizienprozesses, wie er sich diesmal in Hirschberg abrollte, daß trotz zahlloser Beweismomente, die für die Schuld des Angeklagten sprechen, immer auch noch die Möglichkeit offen bleibt, daß eine andere Deutung der Geschehnisse, der Zusammenhänge und Folgerungen auch zu einem anderen Ergebnis führen kann. Jedenfalls waren aber in diesem Falle die an sich of kleinen und in jedem anderen Falle bedeutungslosen Tatsachen zu einer solchen Kette von Beweisen angehäuft, daß die Wahrscheinlichkeit der Schuld Peter Grupens sich in den Geschworenen zur Gewissheit verdichten konnte. Um ein Todesurteil zu fällen, müssen Geschworene aufs tiefste von der Schuld des Angeklagten durchdrungen sein. Nur ein leiser Zweifel mußte sie vor einem solchen Urteil zurückschrecken lassen. Die Geschwornen von Hirschberg haben diesen Zweifel offenbar nicht gehabt.

 

Wenn wir uns fragen, wie diese Ueberzeugung in den Geschworenen entstehen konnte, so müssen wir uns das Bild des Angeklagten, wie es sich seinen Richtern darbot, aus den Prozeßergebnissen wieder zu schaffen trachten. Es war das Bild eines Mannes, der, aus kleinen Verhältnissen hervorgegangen, danach trachtete, durch eine reiche Heirat zu Reichtum und Ansehen zu gelangen. Das wäre ihm weiter nicht zu verübeln gewesen, denn tausend andere junge Leute tun nichts anderes, um emporzukommen. Allein hier scheint die Versetzung in eine höhere bürgerliche Sphäre, in der man weniger arbeitet und mehr genießt, alle schlechten Triebe zum Vorschein gebracht zu haben. Er wird ein Frauenjäger schlimmster Sorte, auch im eigenen Hause, ohne Scham und Zurückhaltung, ein wahrer Wüstling, der in der Befriedigung seiner Gelüste keine Schranken kennt. Das führt zu Zerwürfnissen mit der Frau, an denen sie kaum schuld gewesen ist, denn es spricht nicht für die Abneigung der Frau, wenn sie sich bewegen läßt, ihr ganzes Vermögen in seine Hand zu geben und sogar ein Testament zu seinen Gunsten zu verfassen. Am Tage nach der Abfassung des Testaments verschwindet die Frau unter Umständen, die den Gedanken nahelegen, daß sie ihren Platz nicht freiwillig geräumt hat. Grupen hat so gut wie nichts getan, um das Verschwinden der Frau aufzuklären, dagegen in der Verfügung über ihr Vermögen sich keinerlei Schranken auferlegt. Er handelte so, als ob die Frau gestorben wäre und er das Recht hätte, ihr Erbe anzutreten.

 

Aber auch als Erbe hatte er nur Rechte in Anspruch genommen, dagegen die Pflichten aus das schmählichste verletzt. Es ist durch die Sachverständigen erwiesen, daß er mit der minderjährigen Stieftochter, die seiner Obhut anvertraut war, in ein unsittliches Verhältnis getreten war, das zudem noch zur Erkrankung des Mädchens führte. Man mußte sich sagen, daß ein Mensch, der ein solches Verbrechen begeht, auch von anderen Hemmungen des Gewissens ziemlich befreit sein muß. Wie hätte er überdies der Mutter des Kindes entgegentreten können, wenn sie doch einmal später aufgetaucht wäre, was er ja als durchaus möglich bezeichnete?

 

Es wäre überflüssig, die schweren Verdachtsmomente, die gegen Grupen in der Mordsache im Schlosse Kleppelsdorf selbst vorlagen, neu aufzuzählen. Aber sie alle hätten vielleicht nicht zu einem Schuldspruch führen müssen, wenn nicht durch das Verschwinden der Frau und das Verbrechen an der kleinen Ursula die Voraussetzungen für weitere Verbrechen geschaffen gewesen wären. Denn mit der Ehe, die er eingegangen war, die aber ein so schnelles Ende genommen hatte, hatte er sein Ziel, in den Kreis der reichen Familie als gleichberechtigtes Mitglied aufgenommen zu werden, noch nicht erreicht. Dazu bedurfte es neuer Schritte, die ihn nach Kleppelsdorf führten. Er hatte sich zweifellos mit dem Gedanken getragen, die Millionenerbin Dörthe Rohrbeck zu heiraten, sah aber dieses Vorhaben halb an der erklärten Abneigung des jungen Mädchens (hier ist ein Riss oder Knick in der Zeitung und daher sind einige Wörter nicht lesbar!) auch ihrer einflußreichen Erzieherin scheitern. Wäre er nun von Kleppelsdorf weggegangen, so wäre er bei der gegen ihn dort herrschenden Stimmung wahrscheinlich niemals dahin zurückgekehrt, zumal wenn eines Tages das Verbrechen, das er an seiner Stieftochter begangen hatte, zum Vorschein gekommen wäre. Wenn er die Tat begangen hat, woran seine Richter nicht zweifeln, so dürfte die Entfernung der kleinen Ursula wahrscheinlich das Hauptmotiv gewesen sein, denn mit dieser Zeugin, wenn sie am Leben blieb, war seine Zukunft immer bedroht. Sein Streben ging nach Reichtum und Ehre. Der Tod Dörthe Rohrbecks konnte ihm, der damals sich seines Einflusses auf die Großmutter für sicher hielt, zum Reichtum verhelfen, der Tod Ursula Schades seine verlorene Ehre retten.

 

Mit diesen, wenn man sie so nennen kann, positiven Indizien, trifft eine Reihe negativer Indizien zusammen, die es als höchst unwahrscheinlich erscheinen lassen, daß die dreizehnjährige Ursula Schade, ein gutgeartetes, kränkliches und schwaches Kind, das nie mit einer Waffe etwas zu tun hatte, ihre Kusine, mit der sie in bestem Einvernehmen lebte, mit der tödlichen Sicherheit eines ausgezeichneten Schützen getötet und dann mit derselben Sicherheit ihrem eigenen Leben ein Ende gemacht haben soll. Selbst der bedeutsame Brief an die Großmutter, der Hauptstützpunkt der Verteidigung Grupens, wurde ihm dadurch zum Verderben, daß das Kind ihn wie eine scherzhafte Sache mehrere Tage vor der Tat dem Dienstmädchen Mohr anvertraute, so daß an die ernsthafte Absicht Ursulas, dem Briefe eine solche Deutung zu geben, kaum gedacht werden kann.

 

Aber wie dem immer sein: das Urteil wäre niemals gesprochen worden, wenn nicht die Handlungen und Unterlassungen Grupens in den Geschworenen von vornherein die Ueberzeugung gefertigt hätten, daß er einer solchen Tat auch fähig sei. Ein Indizienbeweis ist wie ein Mosaikgemälde aus tausend kleinen Steinchen mühselig zusammengesetzt, die aber doch im ganzen ein vollendetes Bild ergeben. So auch in diesem Falle. Wäre während der Verhandlung die verschwundene Frau Grupen erschienen oder hätte sie ein Lebenszeichen von sich gegeben, so wäre zweifellos der ganze Bau der Anklage in sich zusammengebrochen. Aber diese Frau wird nicht erscheinen.

 

Es wird sicher Menschen geben, die trotz der Fülle von Beweismomenten an der Schuld Peter Grupens zweifeln. Und es ist sogar anzunehmen, daß in Zukunft wiederholt der Ruf nach einer Wiederaufnahme des Verfahrens ertönen wird. Denn das Rechtsbewußtsein des Volkes ist ein sehr empfindliches Organ, und schon die Möglichkeit eines Fehlurteils beunruhigt jeden, der in der wahren Gerechtigkeit eines der höchsten Güter des Volkes sieht. Es ist indessen ein tröstlicher Gedanke, daß solche Fehlurteile, die offenbar die Unschuld zum Leiden verdammen, sehr seltene Ereignisse sind. Die Einrichtung der Geschworenengerichte, die den Schuldspruch über einen Angeklagten vom dem Gewissen und der (hier ist ein Riss oder Knick in der Zeitung und daher sind einige Wörter nicht lesbar!) völlig unabhängiger Männer abhängig macht, bieten eine gewähr dafür, daß nach menschlichem Ermessen ein richtiges Urteil gefällt wird.

 

So ist auch in diesem Falle anzunehmen, daß der Schuldspruch von Hirschberg das Rechte getroffen hat. Nach einer alten Gewohnheit wird in Fällen, wo sich das Todesurteil auf reine Indizien stützt und kein Geständnis des Angeklagten vorliegt, eine Vollstreckung der schwersten Strafe vermieden. Wenn also, so unwahrscheinlich das ist, neue Tatsachen in Zukunft hervorkommen sollten, so wird es Peter Grupen auch noch erleben. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist aber gering.

m. m.

 

Die Schlußverhandlung.

Ueber den letzten Teil der Verhandlung hatten wir bis zu der großen Rede des Verteidigers   A b l a ß   berichtet. Die Rede dauerte bis nach 10 Uhr abends. Dann nahm als zweiter Verteidiger Justizrat   M a m r o t h   das Wort, wie er sagte, um den Ausführungen seines Mitverteidigers noch „einige Kleinigkeiten“ hinzuzufügen. Aus diesen Kleinigkeiten wurde ein gewaltiges Plädoyer von vier Stunden. Mamroth kämpfte in erster Linie gegen die „Volksstimme“ und führte als Beispiel den ernsthaften Amtsrichter aus Itzehoe an, der herkam, um zu erzählen, seine Frau habe gesagt, sie habe gehört, daß Grupen versucht habe, seine Frau einzumauern. Von diesen Redereien dürften die Geschworenen sich nicht beeinflußen lassen, und es sei zweifellos, daß eine ganze Reihe von Beweisversuchen auf solche Gerüchte und Redereien sich stützen. Im übrigen seien einige zugespitzte Ausführungen Mamroths wiedergegeben:

 

„Das Plädoyer des Staatsanwaltes lasse ich gern gelten als eine Rechtfertigung der Anklage. Die Staatsanwaltschaft hat ihre Pflicht erfüllt, wenn sie auf Grund hinreichenden Verdachtes ihre Anklage erhebt. Aber für das Urteil genügt weder der hinreichende, noch der dringende Verdacht. Hier bedarf es des   B e w e i s e s .

 

Aus der Tatsache, daß der Angeklagte in der Nacht vor der Tat bei einem Mädchen war, um seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen, darf man nicht schließen, daß er sich nur zu ihm begeben hat, um es in sexuelle Hörigkeit zu versetzen.

 

Doppelte Vorsicht!

Wenn Sie, meine Herren Geschworenen, keinen sympathischen Eindruck von dem Angeklagten bekommen haben, so müssen Sie doppelt vorsichtig bei der Erwägung Ihres Urteils sein.

 

Es sind im ganzen doch so viel ungünstige Dinge über das Vorleben der Frau Grupen bekannt geworden, daß man schließlich auch glauben kann, sie habe jenes Ungeheuerliche getan, was der Bruder Grupens durch die Tür gesehen zu haben behauptet. Wenn das aber wahr ist, so war ihr Eheleben so zerrüttet, daß es für sie notwendig war, das Haus zu verlassen und ihr Glück woanders zu versuchen. Und wenn sie bis heute nichts von sich hat hören lassen. so wissen wir ja nicht, ob sie noch lebt oder ob sie nicht unter ihr bisheriges Leben einen endgültigen Strich gezogen hat.

 

Ich habe alle Hochachtung vor dem Sachverständigen Professor Dr. Schneidemühl. Als (hier ist ein Riss oder Knick in der Zeitung und daher sind einige Wörter nicht lesbar!) daß ein Brief der Frau Grupen, der (wieder fehlen ein oder zwei Wörter!) durchaus harmlos und behaglich war, jene so oft in dem Prozeß erwähnten Wellenlinien zeige, die ein erregtes Gemüt verraten sollen, da antwortete mir Prof. Schneidemühl: „Ja, das käme nicht darauf an, dann sei es eben wahrscheinlich, daß die Gemütserregung früher gewesen sei; denn solche Dinge zeigten sich in der Handschrift oft noch Wochen später.“ Mir scheint, mit der Graphologie kann man alles beweisen.

 

Geheimrat   M o l l   hatte die Aufgabe, hier über die Hypnose zu reden. Er hat die ganze Beweisaufnahme unter der Flagge der Psychologie der Zeugenaussagen aufgerollt. Ich bin gewiß der Ansicht, daß Herr Geheimrat Moll ein scharfsinniger und interessanter Sachverständiger ist, aber ich halte seinen Ausflug in das …anwaltliche Gebiet für mißglückt.

 

Der Staatsanwalt hat in einer drastischen Weise ausgeführt, daß Dörthe von   A h n u n g e n   erfüllt war und das Unglück herankommen sei. Der Staatsanwalt meint, daß Leute, die ein schweres Schicksal haben, dies immer vorausahnen. Wieso hat die kleine Ursula gar nichts geahnt?

 

Der Sachverständige Dr. Kuznitzki hat heute gesagt, wir Aerzte sind Menschen und können uns irren. Der Sachverständige Dr. Meyer hat von diesem Recht reichlich Gebrauch gemacht. Ein anderer Sachverständiger hat gesagt, überzeugt sei er nicht, aber für wahrscheinlich halte er die Uebertragung der Krankheit von Grupen auf Ursula …“

 

Der Staatsanwalt unterbricht.

Staatsanwalt (unterbrechend): Ich bitte den Verteidiger darauf hinzuweisen, daß der Sachverständige von   h o h e r   Wahrscheinlichkeit gesprochen hat.

 

Vorsitzender: Ich erinnere mich ebenfalls, daß der Sachverständige sich so ausgedrückt hat.

 

Verteidiger Dr. Mamroth: Selbst, wenn das der Fall ist, so ist das kein Grund, mein Plädoyer zu unterbrechen.

 

Vorsitzender: Es ist die Pflicht des Vorsitzenden, materielle Ungenauigkeiten zu korrigieren.

 

Verteidiger: ich bin mir der größten Gewissenhaftigkeit bewußt; es muß aber mein gutes Recht sein, die Beweisaufnahme anders zu werten als Sie.

 

Nach diesem kleinen Zwischenfall sprach Mamroth ungehindert weiter. Es wurde später und immer später. Auf den Geschworenenbänken nickte einer der Geschworenen nach dem andern ein, um wenigstens für einige Stunden in das lieblichere Gebiet des Schlafes zu enteilen. Ein Beisitzer nickte auch. Auch der Vorsitzende schloß für einige Sekunden die Augen, und am Ende fielen sogar dem Angeklagten die Augen zu, natürlich nur für Augenblicke.

 

Erwiderung des Anklagevertreters.

In seiner Replik am Dienstag nahm   O b e r s t a a t s a n w a l t   Reifenrath noch einmal das Wort und verteidigte nachdrücklich die Gutachten der Sachverständigen. Sei seien         v e r n i c h t e n d   für Grupen. Sodann ging der Oberstaatsanwalt sehr scharf gegen das Liebesleben des Angeklagten vor. Er sei nicht der harmlose Genießer, der gern Romanerlebnisse habe, sondern er habe wahllos tolle Streiche mit von großer Gewissenlosigkeit getrieben. Der Zeugin Marie   M o h r   glaube er durchaus. Aber sie   i r r e   sich eben, wenn sie sage, daß der Angeklagte das Zimmer nicht verließ. Sie hat darauf offenbar nicht geachtet, was auch gar nicht verwunderlich ist; denn wer achtet auf so gleichgültige Dinge? Wenn ihm, dem Oberstaatsanwalt, vorgeworfen sei, warum er   n i c h t   a u c h   M o r d a n k l a g e   im Falle des Verschwindens der   F r a u   G r u p e n  erhoben habe, so erwidere er darauf, daß der Tod der Frau noch nicht so klar dargestellt sei. Zuständig für einen neuen Mordprozeß sei die Staatsanwaltschaft Altona. Was jedoch den Kleppelsdorfer Mord anbetreffe, so habe er geglaubt, daß Grupen, unter der erdrückenden Last der Schuldbeweise gestern zusammenbrechend, ein reumütiges Geständnis ablegen werde. Hierauf zogen sich die Geschworenen zur Beratung zurück.

 

 

 

Donnerstag, 22. Dezember 1921, „Berliner Morgenpost“

Die verschwundene Frau Grupen.

Die in   B l a n k e n e s e   bei Hamburg erscheinenden Norddeutschen Nachrichten verbreiten das Gerücht weiter, daß die am 31. Januar 1920 (Anm.: muss 1921 heißen) in der Wedeler Aue gefundene   L e i c h e   mit der der verschwundenen Frau Grupen identisch sei. Alle Nachforschungen nach ihr waren bisher vergeblich, wie der Kleppelsdorfer Prozeß ergab. Die an der Leiche vorgefundenen Wunden konnten nicht mit Sicherheit als Schnittwunden festgestellt werden. Es wurde angenommen, daß die Wunden auch von scharfen Eisschollen herrühren könnten. Zwar erklärte damals der Zahnarzt in Itzehoe, der die Frau Grupen behandelt hat, daß das Gebiß der Toten nicht das der Frau Grupen gewesen sei, doch wird jetzt wieder behauptet, die Tote sei die Frau Grupen gewesen. Der Angeklagte war in Wedel sehr bekannt und hielt auch seinerzeit um die Hand einer dortigen Landwirtstochter an.

 

 

 

Sonnabend, 28. Januar 1922, „Berliner Morgenpost“

Peter Grupens Selbstmordversuch.

Ueber den Selbstmordversuch des wegen des Kleppelsdorfer Doppelmordes zum Tode verurteilten Peter   G r u p e n   wird uns aus   H i r s c h b e r g   berichtet: Bald nach seiner Verurteilung zum Tode war Grupen sehr niedergeschlagen. Er erholte sich aber dann wieder und trug seine alte zuversichtliche Miene zur Schau. Vor etwa zwei Wochen fiel eines Tages dem Gefängnisbeamten auf, daß es in der Zelle von Grupen sehr ruhig war. Durch das Beobachtungsfenster sah er, daß Grupen Maßnahmen traf, sich zu erhängen. Die Beamten wollten jetzt rasch die Zellentür öffnen, doch leistete diese starken Widerstand. Grupen hatte auf irgendeine Weise die Tür versperrt, obwohl innen kein Riegel an ihr war. Die Tür wurde gewaltsam erbrochen, und man kam eben noch zurecht, um den Selbstmord zu verhindern. Daraufhin wurde Grupen, der bis dahin in Einzelhaft war, in eine Gemeinschaftszelle gebracht.

 

In der ersten Zeit nach diesem Vorfall ist Grupen auch, allerdings nicht sehr lange Zeit, in den Hungerstreik getreten. Er verweigerte die Nahrungsmittelaufnahme, besann sich aber bald eines Besseren. Im übrigen hat sein Verhältnis zu den Gefängnisbeamten, die zum Teil in der Schwurgerichtsverhandlung ein gutes Zeugnis über ihn ablegten, eine starke Trübung erfahren, er bereitete jetzt den Beamten allerhand Schwierigkeiten und hat besonders einen Beamten gewisser Pflichtwidrigkeiten beschuldigt. Darüber schwebt zurzeit eine Untersuchung.

 

 

 

Sonnabend, 25. Februar 1922, „Berliner Morgenpost“, S. 1-2

Flucht und Rückkehr Peter Grupens.

Der Ausbruch zu Dreien. - Das Brotmesser als Stahlsäge. - Ein Seil aus Hanf. - Freiwillige Rückkehr ins Gefängnis.

 

Der wegen des zweifachen Mordes auf Schloß Kleppelsdorf zum Tode verurteilte Peter Grupen ist in der Nacht auf Freitag aus dem Gefängnis des Hirschberger Landgerichts mit zwei Zellengenossen auf kühne und geschickte Weise ausgebrochen. Die Genossen und Helfer der Flucht Grupens kehrten am Morgen, nachdem sich Grupen sogleich von ihnen getrennt hatte, freiwillig wieder ins Gefängnis zurück. Alle Versuche, Grupens habhaft zu werden, blieben zunächst vergeblich. Am Freitag abend jedoch fand sich der geflüchtete Verbrecher, der angesichts des auffallenden Merkmals, seines fehlenden Arms, wohl die Aussichtslosigkeit seines Unternehmens erkannt haben mochte. selbst wieder im Hirschberger Gefängnis ein.

 

*

Ueber die näheren Einzelheiten der Flucht und die dabei in Betracht kommenden Umstände wird uns aus   H i r s c h b e r g   berichtet:

 

Peter Grupen, der kurz nach seiner Verurteilung zum Tode einen Selbstmordversuch durch Erhängen begangen hatte, war zur besseren Ueberwachung in eine Zelle gebracht worden, die er mit drei anderen Strafgefangenen teilte, die aber nur noch kurze Strafen zu verbüßen hatten. Man ist jetzt geneigt, anzunehmen, daß Peter Grupen, der sich wegen seines fehlenden Arms nicht selbst zu helfen vermochte, den Selbstmordversuch nur vorgetäuscht habe, um Helfer für seine wahrscheinlich schon damals gehegten Fluchtpläne zu gewinnen. Die Zelle liegt im zweiten Stockwerk des nach allen modernen Grundsätzen erbauten Gerichtsgefängnisses. Aber offenbar hatte man daran vergessen, daß bereits vor Jahren ein Gefangener in dieser Zelle den Querstab des Gitterwerks durchgesägt hatte und glücklich entkommen war. Man hatte nun den Querstab nicht durch einen neuen ersetzt, sondern durch zwei Laschen zusammengeflickt. Ungefähr zwei Meter unter dieser Zelle aber, in einer seitlichen Entfernung von einem reichlichen Meter, ist das Dach des Vorhauses, in dem sich Büroräume und eine Beamtenwohnung befinden.

 

Am Freitag früh, als um 6 Uhr die auswärts wohnenden Gefängnisbeamten ihren Dienst antreten wollten, fanden sie vor dem Gefängnis die beiden Gefangenen   B o h n   und   V o i g t l ä n -   d e r .   Sie erzählten, daß sie mit Grupen die Flucht in der Nacht ausgeführt, dann aber sich die Sache überlegt hätten und zurückgekehrt seien, weil sie doch nur noch eine geringe Zeit zu verbüßen hätten. Der vierte Gefangene, der mit in der Zelle war,   B u l l e c k ,   erklärte, von der ganzen Sache nichts gehört zu haben. Auf einem Zettel, der bei ihm lag, entschuldigte sich Grupen in höflichem Ton, daß er ihm ein Schlafpulver gegeben habe. Das sei aber nötig gewesen, weil Bulleck sonst das Vorhaben vereitelt hätte. Nach den Angaben der beiden zurückgekehrten Flüchtlinge hat sich die Flucht nun folgendermaßen abgespielt:

 

Die beiden Helfer Grupens haben die Laschen des Gitterwerks mit einem zur Säge umgewandelten Brotmesser abgesägt. Damit hatte das Gitterwerk seinen Halt verloren und konnte leicht mit einem Bettbrett durchstoßen werden. Das Bettbrett wurde in der Richtung auf das Dach des Vorhauses aus dem Fenster geschoben und im Innern der Zelle befestigt. Am Ende des Brettes wurde ein aus Bettlaken und Bettüchern zusammengedrehter Strick befestigt. An dem Strick ließen sich zunächst Bohn und Voigtländer und zuletzt Grupen hinab. Auf dem Dach des Vorhauses gingen sie weiter zum Vorderteil des Gebäudes, auf dem sich ein Schornstein befindet. An dem Schornstein befestigten sie eine doppelte Leine, die ziemlich kunstvoll zusammengesetzt war und in ihrem oberen Teil aus zerschnittenen Riemen und zusammengedrehten Teilen von bunten und weißen Bettüchern und am unteren Teil aus dicken Schilfrohrstöcken bestand. An dieser doppelten Leine ließ sich diesmal Grupen zuerst herunter. Als die anderen unten ankamen, war Grupen bereits spurlos verschwunden. Die beiden Flüchtlinge gingen nun allein in die Stadt, kehrten aber am Morgen ins Gefängnis zurück.

 

Grupen selbst mußte seine Kleidung immer abends abgeben. Er hat sich dafür zur Flucht Kleider von Bulleck angezogen. Die beiden Gefangenen erklärten, sie hätten unter einem unwiderstehlichen Zwang von Grupen gehandelt. Allerdings erklärten sie dann wieder, sie wären Grupen zu Willen gewesen, weil sie sich vor seiner Gewalttätigkeit fürchteten. Diese Angabe erscheint aber wenig glaubhaft, da sich doch außer Grupen drei Mann in der Zelle befanden, die mit dem einarmigen Grupen leicht fertig werden konnten. Unaufgeklärt ist auch noch, wie Grupen in den Besitz des Brotmessers kam, insbesondere, wie die Seile aus Schilfrohr in die Zelle gekommen sind.

 

Die Flucht hatte natürlich in der ganzen Gegend ungeheures Aufsehen erregt. Alle Polizisten befanden sich den ganzen Tag auf der vergeblichen Suche nach Grupen. In den letzten Tagen hat Grupen wiederholt seine Unschuld beteuert. Er wollte nach seinen Angaben das Wiederaufnahmeverfahren beschreiten, nachdem die Untersuchung in Altona wegen des Verschwindens seiner Frau erledigt sein würde. Die Einreichung eines Gnadengesuches hat er entschieden abgelehnt.

 

Gegen neun Uhr abends wurde die überraschende Nachricht bekannt, daß Peter Grupen wieder nach Hirschberg zurückgekehrt sei. Er war plötzlich wieder vor dem Landgerichtsgefängnis, das er die Nacht vorher verlassen hatte, erschienen und hatte sich selbst gestellt. Er hatte offenbar das Vergebliche seines Unternehmens eingesehen. Wohin er sich nach seiner Flucht gewandt hatte, ist zurzeit noch nicht bekannt.

 

*

Wie war die Flucht möglich?

Telegr. unseres Korrespondenten.

Hirschberg, 24. Februar.

 

Es wurde bereits gesagt, daß man jetzt in Hirschberg nicht daran glaubt, daß Grupens Selbstmordversuch vor einigen Wochen ernst gemeint war. Grupen, der, wie man weiß, im Kriege einen Arm verloren hat, war, allein auf sich angewiesen, hilflos. Jeder Fluchtversuch war von vornherein zum Scheitern verurteilt, ohne Hilfe war er seinem Schicksal verfallen. Grupen war sich dessen bewußt. Er war sich aber auch offenbar seines bannenden Einflusses auf seine Umgebung und nicht nur auf willensschwache Personen bewußt. Helfer mußte er im Gefängnis suchen, und er hat es durchzusetzen gewußt, in einer Gemeinschaftszelle mit anderen Gefangenen untergebracht zu werden, und dort war es ihm auch in der Tat in kurzer Zeit gelungen, zwei seiner Mitgefangenen seinem Willen untertan und völlig gefügig zu machen. Sie sind es gewesen, die das schadhafte Gitterwerk durchgesägt, das Rettungsgerüst, an dem Grupen zwei Stockwerke hoch an einem Arme hängend ins Freie gelangt ist, gebaut, die Stricke gedreht, befestigt und so dem Doppelmörder ins Freie verholfen haben. Kein eigenes Interesse trieb sie. Sie alle hatten nur noch kurze Zeit zu sitzen. Und Geldversprechungen eines flüchtigen Mörders können sie auch nicht gelockt haben. Und sie erklären, wie so viele Zeuginnen im Prozeß, sie hätten es getan, weil Grupen es so wollte. Also zwei Helfershelfer aus der Zelle zur letzten Durchführung der Tat.

 

Trotzdem: Wie war es möglich? Und hier tun sich neue Rätsel auf. Wie ist Grupen - das ist die erste Frage - in den Besitz des Schlafpulvers gekommen, mit dem der vierte Insasse der Zelle am Vorabend der Flucht unschädlich gemacht worden ist? Wer hat dem Grupen das mit sehr feinen Instrumenten zu einer Metallsäge umgewandelte Brotmesser zugesteckt? Wie ist Grupen in den Besitz des recht dicken und handfesten Schilfrohrseiles gekommen? In früheren Zeiten sind in dem Gefängnis Schilfrohrmatten angefertigt worden, vor Monaten schon aber ist die Fabrikation eingestellt worden. Grupen ist niemals mit diesen Arbeiten beschäftigt worden. Woher kommt das Seil? Die Reihe der antwortheischenden Fragen ist damit aber nicht erschöpft: Wie konnte der Doppelmörder, über dessen täuschende Verstellungskunst, kluge Verschlagenheit und tollkühne Verwegenheit kein Mensch im unklaren sein konnte, in einer Zelle mit schadhaftem Gitterwerk und obendrein noch gerade in einer der wenigen Zellen untergebracht werden, deren Fenster nicht nach dem von einer hohen Mauer umgürtelten Gefängnishofe, sondern über die Dächer des Vorhauses hinweg unmittelbar ins Freie führt?

 

Da erinnert man sich unwillkürlich einer merkwürdigen Szene aus der Verhandlung:   W i l h e l m   Grupen, der Bruder des Mörders, der einzige, der über die angeblichen Perversitäten der verschwundenen Frau Grupen und über die angebliche Fortnahme des Revolvers durch Ursula Schade etwas zu bekunden wußte, war vernommen worden und hatte sich dabei nicht wenig zu den Aussagen seines angeklagten Bruders in Widerspruch gesetzt. Alsdann wurden die Gefangenaufseher vernommen, und dabei gab es erstaunte Gesichter: Wilhelm Grupen hatte seinem Bruder in der Untersuchungshaft einen Besuch gemacht, war dabei von einem Gefangenaufseher oder, wie es wohl heute korrekt heißt, „Strafanstaltswachtmeister“ überwacht worden und hat dann in der Wohnung desselben Wachtmeisters übernachtet.

 

Und das nicht allein. Die Unterredung zwischen den beiden Grupen, zwischen   P e t e r ,   dem Angeklagten, und   W i l h e l m ,   dem Hauptentlastungszeugen, ist dabei plattdeutsch geführt worden. Wo war da die Kontrolle? Der Schlesier, der nie selbst jahrelang in plattdeutschen Gegenden gewohnt hat und trotzdem das plattdeutsch geführte Gespräch zweier Füchse erfassen Will, soll noch geboren werden. Der Vorsitzende der Verhandlung, Oberlandesgerichtsrat   K r i n k e   war einen Augenblick sprachlos vor Erstaunen und ganz Hirschberg mit ihm. Und dieses Erstaunen ist heute noch gewachsen und fordert endlich Beachtung. Wie war es möglich, woher hatte Grupen die Hilfsmittel zur Flucht? Wie ist es möglich, daß die Staatsanwalt bis heute keine Photographie des Mörders besitzt, und weshalb - auch das muß einmal gesagt werden - ist erst nach dem Hirschberger Prozeß die Untersuchung über das rätselhafte Verschwinden der Frau Grupen eingeleitet worden?

 

 

 

Sonntag, 26. Februar 1922, „Berliner Morgenpost“

Grupens Rückkehr ins Gefängnis.

Peter   G r u p e n ,   der zunächst über seine Flucht und seine Rückkehr ins Hirschberger Gefängnis keinerlei Angaben machen wollte, hat sich dann doch zum Reden entschlossen. Er behauptete, zurückgekehrt zu sein, um zu zeigen, daß er imstande sei, sich aus eigener Kraft zu befreien, es aber vorgezogen habe, zurückzukehren, um weiterhin für seine Unschuld einzustehen. Das glaubt natürlich niemand. Er behauptet ferner, er habe sich den ganzen Tag nach seinem Ausbruch in Hirschberg in einer Privatwohnung aufgehalten, doch sei es nicht die Wohnung eines Gefängnisbeamten gewesen. Den Namen zu nennen weigerte er sich. Bei der Rückkehr in den Gefängnishof - wobei er eine hohe Mauer übersteigen mußte - hätten ihm zwei Personen geholfen, deren Namen zu nennen er gleichfalls ablehnt.

 

In Hirschberg haben im Zusammenhang mit der Angelegenheit mehrere Hausdurchsuchungen stattgefunden, die jedoch kein Ergebnis hatten. Vorläufig bleibt es daher noch immer in Dunkel gehüllt, woher Grupen von außen Hilfe bekam und welche Gründe ihn eigentlich veranlaßten, ins Gefängnis zurückzukehren. Es ist wohl das zunächst Liegende, anzunehmen, daß er selbst die Schwierigkeit seines Unternehmens bei einigem Nachdenken einfach und mit Hilfe von Personen, die sich auch leichtsinnig unterstützt hatten und wahrscheinlich über diese Lösung erleichtert aufatmeten, wieder über die Mauer ins Gefängnis stieg. Die Hirschberger Behörden setzen ihre Bemühungen fort, die verschiedenen Rätsel der Angelegenheit aufzulösen.

 

 

 

Dienstag, 28. Februar 1922, „Berliner Morgenpost“

Grupens Fluchtversuch.

Das Versteck im Blitzableiterschacht.

 

Die Geschichte von Grupens Fluchtversuch und Rückkehr wird immer verwickelter. Während bisher Grupen immer behauptet hatte, er habe in einer Privatwohnung in der Wilhelmstraße den Freitag verbracht, tritt er jetzt mit der Behauptung auf, er habe das Gefängnisgrundstück gar nicht verlassen, sondern sich vielmehr im Blitzableiterschacht im Holzhof verborgen. Es ist nicht zu verkennen, daß für die Angabe verschiedene Momente sprechen.

 

Es herrscht wohl aber kein Zweifel, daß Grupen die Flucht seit längerer Zeit sorgfältig vorbereitet hatte. Seine Behauptung, er habe damit nur eine Kundgebung für seine Unschuld veranstalten wollen, wird nach wie vor für unglaubwürdig gehalten. Zu den beiden anderen Gefangenen, die mit ihm geflüchtet waren. hat er allerdings gesagt: „So, nun laßt uns wieder hineingehen, dann sieht man wenigstens, daß mir an der Freiheit nichts liegt, wenn ich meinen reinen Namen nicht wieder so haben kann, wie ich ihn hierhergebracht habe.“

 

Die Ermittlungen, inwieweit Gefängnisbeamte Grupen Vorschub geleistet haben, sind noch nicht abgeschlossen. Seit Anfang Januar aber ist schon der Strafanstaltsinspektor   S c h e n k e   beurlaubt und seit Anfang Februar vom Dienst suspendiert worden. Am Sonnabend hat auch noch ein anderer Gefängnisbeamter unfreiwillig Urlaub nehmen müssen. Wahrscheinlich hängen beide Angelegenheiten mit dem Fall Grupen zusammen. Von einer merkwürdigen Geistesverfassung mancher Menschen zeugt es, daß an Grupen sehr viele Zuschriften von Damen ankommen; darunter ist auch der Kurfürstendamm in   B e r l i n   vertreten. Auch Blumen und Schokolage sind für Grupen angekommen, aber natürlich nicht ausgeliefert worden.

 

 

 

Freitag, 3. März 1922, „Berliner Morgenpost“, S. 1

Selbstmord Grupens.

I n   d e r   Z e l l e   e r h ä n g t   a u f g e f u n d e n .

 

Wie uns aus Hirschberg gemeldet wird, hat nunmehr wenige Tage nach seiner Flucht und Rückkehr ins Gefängnis der zum Tode verurteilte Peter Grupen seinem Leben selbst ein Ende gemacht. Er wurde am gestrigen Donnerstag gegen 5 Uhr Nachmittag von einem revidierenden Beamten an einem Hosenträger hängend, tot in der Einzelhaft aufgefunden, in die er nach jenem Fluchtversuch gebracht worden war.

 

Grupen war nach seiner Rückkehr von seiner in der Nacht zum vorigen Freitag unternommenen Flucht in Einzelhaft genommen worden. Im Augenblick seiner Selbstgestellung war Grupen damals sehr erregt. Es unterliegt keinem Zweifel mehr, daß Grupen damals keinen Ausweg mehr gesehen und sich deshalb selbst wieder gestellt hat. Schon am nächsten Tage bei den umfangreichen Verhören trug Grupen das alte sichere, mit Höflichkeit gepaarte Wesen zur Schau. Weder die vernehmenden Beamten noch die Wärter hatten Grund zur Klage. Grupen verweigerte einige Aussagen, machte sonst aber keinerlei Schwierigkeiten, Auch gestern hat Grupen sein Mittagessen noch in aller Ruhe eingenommen. Keinerlei Anzeichen von Erregung waren an ihm bemerkbar. Auch bei einer um 4 Uhr nachmittags vorgenommenen Revision seiner Zelle war Grupen völlig gelassen. Bei der nächsten, um ¾ 5 Uhr vorgenommenen Revision war Grupen bereits tot. Er hatte sich mit einem Hosenträger an der Zentralheizung seiner Zelle erhängt. Alle Wiederbelebungsversuche, die sofort angestellt wurden, waren vergeblich. Grupen hat keinerlei Auslassung, auch nicht eine Zeile, hinterlassen. Er hat vielmehr in den letzten Tagen über den Mord von Kleppelsdorf nicht anders als sonst behauptet, daß er unschuldig sei.

 

*

Mit Peter Grupens selbstgewählten Tode findet eine der merkwürdigsten, kriminalistisch wie psychologisch vielfach nicht restlos aufgeklärten Mordtaten ihren Abschluss. Der ehemalige Maurergeselle, der, von einer ungewöhnlichen Willenskraft beseelt, nach dem Verlust eines Arms durch eine tückische Granate, sich zum Architekten hinaufarbeitete, geriet durch seine Heirat mit einer älteren Frau in einen Lebenskreis verwöhnten und verwöhnenden Reichtums, dem seine sittliche Kraft nicht gewachsen war. Die Ehe wurde bald unglücklich, und es kann heute nach den Aufklärungen des Hirschberger Prozesses kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß Grupen jene Frau mit der ganzen kalten Berechnung, Voraussicht und bedenkenlosen Gewalttätigkeit, deren nur der „große“ Verbrecher fähig ist, hat verschwinden lassen. Dieses Verschwinden wäre wahrscheinlich niemals aufgeklärt worden, wenn ihm nicht das Verbrechen auf dem Gute Kleppelsdorf gefolgt wäre und der Verdacht, der auf Grupen gefallen war, zu ebenso umfangreichen als ergebnislosen Nachforschungen geführt hätte.

 

auch der Doppelmord in Kleppelsdorf war, wie die Beseitigung der Frau, nur denkbar, wenn man annahm, daß sich in Peter Grupen ein eiserner verbrecherischer Willen mit der keine Mühe und Vorsicht scheuenden Sorgfalt der Vorbereitung, mit ungeheurer Selbstbeherrschung und blitzschnellem Entschluß zur Tat verbunden haben. Die Geschworenen und auch wohl die meisten übrigen Teilnehmer der ereignis- und eindrucksreichen Verhandlung sind zu dieser Ueberzeugung gekommen, trotzdem der Angeklagte nie aufhörte, seine Unschuld zu versichern. Aber aus ihm sprach nicht die einfache Stimme der verfolgten Unschuld, sondern die eines fast unpersönlichen, geschickten, auf jede denkbare Frage sorgsam vorbereiteten Verteidigers. So ist er von den Geschworenen nach bestem Wissen und Gewissen verurteilt worden. Die ganze, in ihrer Art großartige Leistung, die Grupen seinem Willen und seinen nerven abgerungen hatte, war vergeblich gewesen.

 

Wäre Grupen unschuldig gewesen, so hätte er nicht verzweifeln müssen. Es mußte bloß, was in diesem Falle möglich, ja wahrscheinlich gewesen wäre, seine verschwundene Frau wieder einmal auftauchen, und eine Wiederaufnahme seines Prozesses wäre sicher gewesen. Aber diese Hoffnung hatte er nicht. Deshalb gab er gleich nach dem Schuldspruch der Geschworenen sein Spiel verloren, und versuchte, sich kurze Zeit danach, selbst zu töten. Der Fluchtversuch war nur ein letztes Aufflackern der ungeheuren Energie, die in diesem Manne lebte. Aber seine Vernunft sagte ihm, daß das nicht der Weg in die Freiheit sei. Ihm blieb nur der eine Weg, den er jetzt gegangen ist.

 

 

 

Sonnabend, 4. März 1922, „Berliner Morgenpost“ - Erste Beilage

Der Selbstmord Grupens.

Maßregelung von Hirschberger Gefängnisbeamten.

 

Zu dem Selbstmorde Peter Grupens wird uns aus   H i r s c h b e r g   mitgeteilt: Grupen wurde, nachdem er in einer Einzelzelle untergebracht worden war, sehr stark bewacht. Jede halbe Stunde sah ein Beamter durch das in der Zellentür befindliche Guckloch nach Grupen. Als der Beamte am Donnerstag nach 4 Uhr die Zelle kontrollieren wollte, sah er, daß das Guckloch an Grupens Zelle mit Papier zugeklebt worden war. Die Zelle wurde sofort geöffnet und man fand Grupen an der Zentralheizung hängend vor. Da der Körper noch warm war, wurden sofort Wiederbelebungsversuche vorgenommen, die aber schließlich als erfolglos aufgegeben werden mußten.

 

Bis jetzt ist nicht bekannt, ob Grupen irgendwelche Aufzeichnungen hinterlassen hat, so daß man bezüglich des Selbstmordmotivs nur auf Vermutungen angewiesen ist. In den letzten Tagen war er stundenlang über seine Flucht vernommen worden. Er hatte dabei eine zum Teil neue Darstellung gegeben. Danach haben die drei Flüchtlinge in der Zelle noch außer den zu Sägen umgewandelten Brotmessern ein richtiges Sägeblatt gehabt, über dessen Herkunft noch Unklarheit herrscht. Er hatte aber bei der letzten Vernehmung am Mittwoch abend noch dem Polizeiinspektor versprochen, auch zu verraten, woher das Sägeblatt stammt. Nach seiner Darstellung hat er sich, nachdem er im Hofe des Gefängnisses gelandet war, von den anderen Gefangenen wieder auf die Gefängnismauer, die den Gefängnishof einschließt, heben lassen.

 

Auf dieser Mauer ist er bis zum Holzhofe entlanggekrochen, hat sich über den Holzhaufen in den Hof hinabgelassen und sich dann im Blitzableiterschacht verkrochen. Auf diese Weise würde es sich erklären, daß Grupen zunächst fast in Freiheit war, denn er brauchte nur über einen Zaun zu steigen, um auf die Straße zu kommen, daß er sich aber abends zum allgemeinen Staunen wieder im Gefängnishofe meldete. Bemerkenswert ist noch, daß er nach seiner Angabe vorher statische Berechnungen aufgestellt hat, ob die beiden Bettbretter, die er zur Flucht aus dem Fenster besitzen mußte, auch standhalten würden. Bei den Vernehmungen hat er noch sein Bedauern ausgesprochen, daß er den beteiligten Behörden so viel Arbeit gemacht habe. Die Leiche Grupens wurde von der Staatsanwaltschaft bereits zur Beerdigung freigegeben.

 

Die Ermittlungen inwieweit Gefängnisbeamte Grupen gegenüber ihre Dienstpflicht verletzt und insbesondere ihm seine Flucht erleichtert haben, sind zu einem gewissen Abschluß gelangt. Ein Beamter wurde hierfür vom Dienst suspendiert, ein zweiter ist freiwillig in Urlaub gegangen und jetzt wird wahrscheinlich auch noch gegen einen dritten Beamten das Disziplinarverfahren eröffnet werden.

 

 

 

Donnerstag, ?. (Anfang) März 1922 - Berliner Morgenpost:

Frau Grupen in Südamerika?

Der Fall Grupen beschäftigt trotz des Selbstmordes Grupens noch die Gerichte. Bei dem Justizrat Ablaß, dem Verteidiger Grupens in der Hirschberger Schwurgerichtsverhandlung, hat sich ein Zeuge gemeldet mit der Angabe, daß er nach der Lektüre der in Buchform erschienenen Verhandlungsberichte sich durch sein Gewissen gedrängt fühle, Bekundungen zu machen, die vielleicht das Verschwinden der Frau Grupen aufklären könnten. Justizrat Ablaß wies den Zeugen an den Rechtsanwalt Dr. Puppe in Berlin, der kurz vor dem Selbstmorde Grupens dessen Verteidigung in der damals zu erwartenden Altonaer Schwurgerichtsverhandlung übernommen hatte. Der Mann machte folgende Aussage: er sei im September 1920 in Nordenham bei einer Schiffsreederei beschäftigt gewesen. Am 29. September 1920 habe er auf der Mole eine Frau beobachtet, die im Begriff war, mit einem Dampfer nach Südamerika abzureisen. Auf diese Frau passe die Beschreibung die die Mutter der Frau Grupen, Frau Schade (richtig: Frau Eckert), von ihrer verschwundenen Tochter abgegeben habe. Der Zeuge hat sich jetzt nach Hamburg und Nordenham begeben, um weitere Nachforschungen anzustellen und sich eine Photographie der Frau Grupen zu beschaffen. Welcher Wert dieser Bekundung beizumessen ist, muß naturgemäß abgewartet werden. 

 

 

 

 

 

Berliner Illustrirte Zeitung

 

11. Dezember 1921, „Berliner Illustrirte Zeitung“, Nr. 50, S. 804

Bilder zu dem Prozeß vor dem Schwurgericht in Hirschberg

 

1921BerlinerIllustrirteZeitungSlawomir

                                                        Schloß Kleppelsdorf

 

 

Vor dem Schwurgericht in Hirschberg in Schlesien spielt sich der letzte Akt einer außerordentlichen, seltsamen und noch dunklen Familientragödie ab, deren Schauplatz im Februar dieses Jahres das schlesische Schloß Kleppelsdorf war. Hier wohnte das 16jährige Fräulein Dörthe Rohrbeck, die einzige verwaiste Tochter und Erbin der Millionen und der Güter ihres verstorbenen Vaters, eines Berliner Grundstücks-Spekulanten. Erzieherin und große Dienerschaft waren die einzige Gesellschaft der jungen Schloßherrin. Das junge Mädchen wurde am 21. Februar (Anmerkung: es war der 14. Februar 1921) um die Mittagsstunde in einem Zimmer des Schlosses erschossen aufgefunden. Im Nebenzimmer lag (Anmerkung: beide lagen in demselben Zimmer), gleichfalls tödlich verwundet - sie starb wenige Minuten später, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben -, ihre 13jährige (Anmerkung: 12jährige) Cousine Ursula Schade, die zu jener Zeit mit ihrer Großmutter, der 74jährigen Frau Eckert, ihrer kleinen Schwester Irmgard und ihrem Stiefvater, dem Architekten Peter Grupen auf dem Schloß zu Besuch weilte. Ursula Schade hatte einen Brief an ihre Großmutter zurückgelassen, aus dem man zunächst schloß, daß sie die Cousine Dörthe und dann sich selbst erschossen hatte. Da man jedoch keinen ausreichenden Grund für einen so fürchterlichen Haß des jungen Mädchens gegen seine nahe Verwandte zu finden vermochte, richtete sich der Verdacht des Mordes gegen Ursulas Stiefvater, Peter Grupen, der nunmehr angeklagt ist, zuerst Dörthe Rohrbeck und dann Ursula Schade erschossen zu haben. Jedenfalls war es sein Revolver, den man bei Ursula gefunden hat.

 

 

Gruppenfoto

 

 

Wie um das Geheimnis um die Beweggründe dieser Bluttat noch zu vertiefen, war kurz vorher auf völlig unaufgeklärte Weise auch noch die Frau des Architekten Grupen, die Mutter Ursulas, im Herbst vorigen Jahres verschwunden. Grupen behauptet, sie sei mit einem Schauspieler nach Amerika durchgebrannt. Jedenfalls hat man keine Spur mehr von ihr auffinden können. Das Motiv des Mordes, dessen Grupen nun angeklagt ist, wird darin gesehen, daß Grupen hoffen durfte, nach dem Tod Dörthe Rohrbecks in den Besitz der Rohrbeckschen Millionen zu gelangen, deren gesetzliche Erbin nun die greise Großmutter ist, auf die der Schwiegersohn den größten Einfluß besaß. Dem scheint aber der Charakter des Grupen zu widersprechen, der sich sein Leben ganz aus eigener Kraft aufgebaut hat. Grupen, ein erst 27jähriger junger Mann, der im Kriege durch einen Granatsplitter seinen linken Arm verlor, hat sich vom einfachen Maurer zum Architekten emporgearbeitet. Zuletzt war er Besitzer eines kleinen Gutes, Ottenbüttel bei Hamburg, wo er mit seinen beiden Stieftöchtern und der Großmutter lebte.

 

 

Grabstätte

 

 

Aber bald nach der Entdeckung der blutigen Tat ergab sich eine weitere Komplikation, die die Verdachtsfäden noch mehr verwirrte. Wenige Tage nach der Beisetzung der Opfer der Kleppelsdorfer Tragödie wurde die Gruft der ermordeten Gutsherrin Dörthe erbrochen und beraubt, eine Tat, die durch ihre niedrige Roheit allenthalben Abscheu erregte. Ein großer Apparat an Zeugen und Sachverständigen ist aufgeboten, um in die geheimnisvolle Angelegenheit, die auch in das Gebiet der Hypnose hineinspielt, und die die Kriminalistik vor die schwierigsten Aufgaben stellt, aufzuklären.

 

Fotos zu diesem Artikel (Qualität der Kopie ist zu schlecht, um sie hier wiederzugeben):

„Bilder zu dem großen Prozeß in Hirschberg, der die Aufsehen erregende Mordtat im Schloß Kleppelsdorf enthüllen soll“

- Die ermordete Millionenerbin Frl. Rohrbeck (Foto: F. Hartelt & Co., Breslau)

- Gruppenfoto: In der ersten Reihe von links: die ermordete Ursula Schade (13 Jahre), Frau

  Grupen, die Gattin des Angeklagten, die verschwunden ist, die ermordete Dorothea Rohr-

  beck (16 Jahre) (Foto: van Bosch, Hirschberg)

- Schloß Kleppelsdorf, das Besitztum des Fräuleins Rohrbeck, der Schauplatz der Tragödie

  (Foto: Herta Schubert, Lähn)

- Die Grabstätte der ermordeten jungen Gutsherrin. Die Gruft wurde wenige Tage nach der

  Beisetzung erbrochen. (Foto: Herta Schubert, Lähn)

 

 

 

05.03.1922, „Berliner Illustrirte Zeitung“, Nr. 10, S. 182

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19.03.1922, „Berliner Illustrirte Zeitung“, Nr. 12, S. 228

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Hamburger Anzeiger

General-Anzeiger für Hamburg-Altona

 

 

Keine Berichterstattung im Februar und März 1921!

 

 

Montag, 5. Dezember 1921, „Hamburger Anzeiger“

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Hirschberg, Anfang Dezember.

Heute beginnt vor dem Schwurgericht in Hirschberg die Verhandlung eines Prozesses, der in der Kriminalgeschichte beispiellos ist. Durch die Verhandlung soll der dichte Schleier zerrissen werden, der sich geheimnisvoll über das gewaltsame Ende der jugendlichen Gutsherrin von Kleppelsdorf und ihrer kleinen Base ausbreitet.

 

Seit dem 14. Februar 1921 wird Kleppelsdorf weit über Schlesiens Grenzen hinaus viel genannt: Kleppelsdorf, das schlichte bürgerliche Landgut jenseits des am stillen Städtchen Lähn dahinrauschenden Boberflusses. An diesem Tage wurde die 16 Jahre alte Erbin des Gutes, Dorothea Rohrbeck, und ihre Anverwandte Ursula Schade, ein Kind von 12 Jahren, im Gutsschlosse   e r s c h o s s e n   aufgefunden.

 

Dorothea Rohrbeck war eine Waise. Von ihrer Wiege hinweg riß der Tod die Mutter, und als zehnjährige stand sie an der Bahre des Vaters. In Kleppelsdorf geboren, wuchs Dorothea hier auf. Ein bildhübsches, freundliches Mädchen, war sie der Liebling der Ortsbewohner, die heute noch mit viel Liebe von ihrer „Dörte“ sprechen. Die Einsamkeit des Schlosses teilte sie mit ihrer Erzieherin Fräulein Zahn, mit ihrer 74 Jahre alten Großmutter, Frau Eckhardt, einer geborenen Booß, und den Angestellten des kleinen Haushalts. In den Ferienmonaten kamen Verwandte von mütterlicher Seite auf Besuch, namentlich die in zweiter Ehe mit dem 27 Jahre alten Architekten Peter Grupen verheiratete, jetzt verschollene Tochter der Frau Eckhardt aus zweiter Ehe, die auch ihre Kinder, die ermordete Ursula Schade und deren jüngere Schwester Irmgard mitbrachte. Die beiden kleinen Schade waren also die Stiefkinder des Peter Grupen und die Stiefbasen der Rohrbeck.

 

An ihrer Erzieherin, Fräulein Zahn, hing die Dörte mit kindlicher Liebe; kühler war das Verhältnis zur Großmutter. Hin und wieder ließ sich auch Peter   G r u p e n   auf Schloß Kleppelsdorf sehen, der Dörtes Stiefonkel war. Nach dem rätselhaften Verschwinden seiner Frau soll Grupen der Dorothea Rohrbeck mit   L i e b e s a n t r ä g e n   genähert haben, die aber, wie erzählt wird, mit Abneigung erwidert wurden. Dorothea unternahm zwar einmal mit ihrer Erzieherin eine Reise nach Grupens Heimat, nach Oldenbüttel bei Itzehoe, und besuchte mit ihm von dort aus auch Hamburg. Sonst aber soll sie bestrebt gewesen sein, des Onkels Gesellschaft zu meiden. Wenn Grupen auf Schloß Kleppelsdorf kam, soll Dorothea ihre Erzieherin gebeten haben, in deren Zimmer schlafen zu dürfen.

 

Gegen Anfang Februar d. J. fand sich Grupen wieder in Kleppelsdorf ein. Montag, den 14. Februar, war Dorothea Rohrbeck mit Ursula Schade mittags zur Post nach Lähn gegangen. Nach ihrer Rückkehr um 12 ½ Uhr ließ Fräulein Zahn sie durch das Dienstmädchen Mende rufen. Das Dienstmädchen suchte Dorothea in dem im Erdgeschoß des Schlosses befindlichen Gastzimmer. Dort gewahrte die Mende Dörtes Gestalt vor dem Liegesofa und in der Ecke zwischen Schrank und der zur Rollstube führenden Tür die Gestalt der Ursula Schade. Die Mende glaubte, die beiden Mädchen spielten Verstecken. als sie auf ihren Anruf keine Antwort erhielt und näher hinzutrat, gewahrte sie zu ihrem Entsetzen, daß Dorothea entseelt in einer Blutlache am Boden lag und die aus einer Stirnwunde blutende Ursula, in einer Ecke kauernd, mit dem Tode rang. Ein furchtbares Drama hatte sich abgespielt - die Dörte und ihre Ursel waren erschossen worden!

(Schluß folgt.)

 

 

 

Dienstag, 6. Dezember 1921, „Hamburger Anzeiger“

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Der Bericht hierüber erscheint auf Seite 6.

 

 

 

Dienstag, 6. Dezember 1921, „Hamburger Anzeiger“

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Hirschberg, Anfang Dezember.

II.

Die Schlossbewohner, die Gutsleute und Amtspersonen aus Lähn waren in wenigen Minuten an der Stätte der Tragödie versammelt. Eine Krankenschwester bemühte sich um die schwerröchelnde Ursula Schade, die, auf das im Zimmer befindliche Bett gelegt, nach etwa zwei Minuten starb, ohne das Bewußtsein wieder erlangt zu haben. Bald erschien auch eine Gerichtskommission, die an Dorothea Rohrbeck einen Schuß in die rechte Brustseite und eine Schußverletzung am Halse, bei Ursula Schade einen Schuß in die rechte Stirnseite feststellte. Ein Damenrevolver lag, merkwürdigerweise gesichert, auf dem Fußboden, ferner wurden drei Patronenhülsen gefunden. In den Kleidern der Ursula fand man einen von ihr an ihre Stief-Großmutter Eckhardt (richtig: Frau Eckhardt ist ihre wirkliche Großmutter) geschriebenen Brief, worin es heißt: „Du sollst Dich nicht mehr über Dörte ärgern.“

 

Dieser Brief ließ anfangs eine Kindertragödie vermuten, einen möglicherweise im gegenseitigen Einverständnis verübten Mord und Selbstmord der beiden Mädchen. Bald trat aber das Gerücht auf, Dorothea Rohrbeck, die alleinige Erbin der Herrschaft Kleppelsdorf, deren Vermögen mehrere Millionen betrug, sei das Opfer ihres Onkels Peter   G r u p e n   geworden, der gleichzeitig auch gegen sein Stiefkind Ursula die Waffe gerichtet habe. Grupen wurde, als des Doppelmordes verdächtig, bald verhaftet. Bei seiner Ueberführung nach Hirschberg war es nur mit List möglich, ihn der Lynchjustiz einer großen aufgeregten Menschenmasse zu entziehen.

 

Zur Stunde des Dramas soll Grupen bei der Großmutter Schade im ersten Stock gewesen sein und zeitweilig an der Unterhaltung teilgenommen haben, welche die Großmutter Eckhardt durch eine offene Tür mit der in einem Nebenzimmer beim Briefschreiben beschäftigten Erzieherin Zahn führte. Bei seiner Vernehmung wie auch während der langen Untersuchungshaft hat Grupen, ein großer, kräftiger Mann, der im Kriege den linken Arm verloren hat, jede Schuld entschieden in Abrede gestellt. Für die Dorothea Rohrbeck, die von den Vormündern sehr kurz gehalten wurde, will er wie ein aufrichtiger Verwandter gesorgt und dem Fräulein Zahn sogar namhafte Erziehungsbeihilfen gegeben haben.

 

Die Anklage der Staatsanwaltschaft stützt sich auf Indizien, deren Tragfähigkeit die Geschworenen prüfen sollen. Die Anklagebehörde nimmt u. a. an, daß Grupen durch Hypnose seiner Stieftochter den Revolver in die Hand gespielt und daß Ursula zunächst ihre Base und dann sich selbst getötet hätte. Auch wird angenommen, daß Ursulas Brief an die Großmutter unter Grupens hypnotischem Einfluß geschrieben worden sei. Es sei vermutlich seine Absicht gewesen, durch den Mord seine Schwiegermutter Eckhardt zur Erbin von Kleppelsdorf zu machen, auf die er einen großen Einfluß ausübte und von der er dann große Vorteile erwartete. Die Ursula Schade soll übrigens schon dadurch ein Opfer ihres Stiefvaters geworden sein, daß er sich an ihr in sittlicher Beziehung schwer vergangen haben soll. Auch wird dem Angeklagten die Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung zur Last gelegt.

 

Auf dem Lähner Friedhofe, der über einem Eisenbahntunnel liegt, ist Dörte Rohrbeck neben Ursula Schade beigesetzt worden. Aber wenige Tage danach war ihre Ruhestätte der Ort eines ruchlosen Frevels. Das Grab wurde geöffnet, die Leiche des seidenen Kleides beraubt und die Spitzen des Unterrockes abgeschnitten. Alle Bemühungen, den Leichenräuber zu ermitteln, sind bisher vergeblich gewesen.

 

Vor den   H i r s c h b e r g e r   Geschworenen hat nunmehr der Prozeß begonnen, der Licht in das Dunkel bringen soll, das sich noch immer über den mysteriösen Kriminalfall breitet. Der Voruntersuchung ist es nicht gelungen, die rätselhaften Vorgänge aufzuklären, wie sie sich am 14. Februar auf dem einsam an der Lähn gelegenen Schloß zugetragen haben. Auf der Anklagebank sitzt der Stiefvater der kleinen Ursula Schade, die zusammen mit der Dorothea Rohrbeck dem Verbrechen zum Opfer fiel. Peter Grupen ist erst 27 Jahre alt. Er hat bisher ein einwandfreies Leben geführt und hat es verstanden, sich vom einfachen Polier zum angesehenen Architekten hinaufzuarbeiten. Im Kriege hat er dann einen Arm verloren. Ihm legt die Anklageschrift bekanntlich den Mord an beiden Mädchen zur Last. Der Prozeß wird sich mit interessanten psychologischen Fragen zu beschäftigen haben; denn es wird angenommen, daß Grupen das   V e r b r e c h e n   d u r c h   S u g g e s t i o n   ausgeführt hat. Es finden sich daher auch heute morgen schon lange vor Beginn der Verhandlung zahlreiche Sachverständige in dem verhältnismäßig kleinen Schwurgerichtssaal ein. Unter ihnen erblickt man den bekannten Psychiater Professor Dr.   M o l l   aus Berlin und den Geheimen Medizinalrat Dr.   L e s s e r   aus Breslau.

 

 

 

Mittwoch, 7. Dezember 1921, „Hamburger Anzeiger“

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Ueber den Angeklagten Grupen ergaben die Verhandlungen folgendes: Nachdem er aus dem Lazarett als Kriegsbeschädigter entlassen war, besuchte er die staatliche Baugewerkschule in Hamburg und füllte stets seine freie Zeit mit Studien aus, nebenbei erteilte er auch noch Privatstunden. Er machte die Abschlußprüfung. Der Vorsitzende hält ihm vor, daß er sich in dieser Zeit

verschiedentlich verlobt

habe. Grupen gibt dies zu. Er wird nun gefragt, wie seine Bekanntschaft mit der

verschwundenen Frau Grupen

zustande gekommen sei. Er gibt dazu an, daß er sie auf Grund einer Anzeige kennen gelernt habe, die er   l e d i g l i c h   a u s   S c h e r z   aufgegeben hatte. Er habe nicht gewußt, daß Frau Grupen 13 Jahre älter war als er und auch nicht, daß sie ein großes Vermögen besaß. Sie habe ihm die Gelder von selbst zur Verfügung gestellt.  

 

Es wurde dann in der Hauptsache über den Verbleib der Frau Grupen verhandelt. Der Angeklagte wurde zunächst darüber vernommen, wie die Vermögensverhältnisse waren und wann er zum letztenmal mit seiner Frau zusammen gewesen war. In der Folge wird der Brief verlesen, den seine Frau an den Knecht Roske um Nachsendung eines Koffers gerichtet hat, nachdem sie von Itzehoe aus nach Lübeck abgereist war, um nicht mehr wiederzukehren.

 

Ein anderer Brief der Frau Grupen ist an ihre Mutter adressiert und lautet: „Meine liebe Mutter! Wenn Du in den Besitz dieser Zeilen gelangst, bin ich auf dem Wege nach Amerika, den ich ja schon lange gehen wollte. Schon lange wollte ich die Fesseln in Deutschland abwerfen, und nun hat sich endlich mein Künstlertum durchgerungen. Du darfst nicht denken, daß Peter die Veranlassung dazu war bzw. unser Zusammenleben, denn den Plan hatte ich schon, ehe ich Peter kennen lernte. Peter wird sicher für die Kinder sorgen und auch Dir das Leben nicht schwer machen. Es küßt Dich in Liebe Deine Tochter Gertrud.“ Trotz der sehr eingehenden Vernehmung des Angeklagten wird   k e i n e   K l a r h e i t   über den Verbleib der Frau Grupen geschaffen.

 

Es wird dann dem Angeklagten vorgehalten, daß er   F r ä u l e i n   D o r o t h e a   R o h r b e c k   zweimal in Lebensgefahr gebracht habe. Der Angeklagte gibt dazu an, daß er in Hamburg   z w e i   K a h n f a h r t e n   mit Fräulein Rohrbeck

auf der Alster

unternommen habe. Fräulein Rohrbeck habe keine Ahnung vom Rudern gehabt. Wenn die Zeugen ausgesagt hätten, daß er direkt in die Wellen der vorüberfahrenden Dampfer gefahren sei, so könne er nur sagen, daß man die Wellen senkrecht schneiden müsse und alsdann nichts geschehen könne. Im zweiten Falle wird ihm zur Last gelegt, einfach  die Ruder ins Wasser geworfen und sich der Länge nach in den Kahn gelegt zu haben. - Der Angeklagte erklärt dazu, daß Fräulein Rohrbeck sehr ängstlich gewesen sei. Da er aber infolge seines fehlenden Armes nur mit einem Ruder habe arbeiten können, hätte er ihr das andere Ruder überlassen.   D i e s e s   s e i   a l s d a n n   h e r a u s g e s p r u n g e n .   Als er danach griff, sprang sein Ruder heraus und   f i e l   i n s   W a s s e r .   Darauf hätten ihm die Insassen des vorüberfahrenden Bootes das Ruder zurückgebracht. Der Länge nach habe er sich in dem Boote nicht hingelegt. Da es ein Boot für vier Personen gewesen sei, könne ja keine Rede davon sein. - Der Vorsitzende erklärt, daß die Vorfälle nicht so harmlos gewesen sein könnten, da Fräulein Rohrbeck Zeugen gegenüber erklärt habe, sie hätte das sichere Gefühl gehabt, daß Grupen ihr nach dem Leben trachte.

 

Die Ereignisse am Mordtage selbst ergaben folgendes Bild: Grupen hatte erst mit den Kindern, dann mit der Stütze Frl. Mohr Mühle gespielt, als das Mittagessen angerichtet war und das Dienstmädchen Mende den sich zu Tisch Begebenden mit den Worten entgegenkam:   „ D i e   K i n d e r   l i e g e n   u n t e n   t o t ! „

 

Bei Ursula wurde eine Schachtel mit 19 Patronen und   e i n   B r i e f   gefunden, der lautete:

 

K l e p p e l s d o r f ,   1 9 .   (muss heißen: 9.)

Liebe Großmutti! Sei mir nicht böse, daß ich Vati den Revolver aus dem Schreibtisch genommen habe. Ich will dir helfen, du sollst dich nie mehr über Dörte ärgern. Als Vati Onkel Wilhelm das zeigte, habe ich das gesehen und ihn mitgenommen.

 

Die Adresse lautete: An Großmutti.

 

Vors.: Das soll dieser Brief sein, der schon mehrere Male von der Mohr der Großmutter gegeben werden sollte? - Angekl.: Jawohl.

 

Vors.: Sie wollen dann zur Frau Eckert gesagt haben: Das scheint ja meine Pistole zu sein.

 

Angekl.: Ich habe am Nachmittag zu Frau Eckert gesagt, an der ganzen Sache bin ich schuld, weil ich die Pistole eingeschlossen habe. Frau Eckert antwortete darauf:

„Beruhige dich, du warst doch die ganze Zeit bei mir.“

 

Auf die Frage des Vorsitzenden, ob er jemals der Dörte Rohrbeck einen   H e i r a t s a n t r a g   gemacht habe, verneint dies der Angeklagte. Vors.: Aber Frl. Rohrbeck hat es wiederholt erzählt und auch geschrieben. Angekl.: Jedenfalls habe ich ihr einen feststehenden Heiratsantrag nicht gemacht.

 

Auf Befragen des Sachverständigen über die Gemütsveranlagung der Ursula Schade sagt der Angeklagte, daß sie schon als 12jähriges Mädchen

an Schwermut gelitten

habe, also schon ein Jahr vor der Tat. Vors.: Den vermutlichen Grund dazu werde ich Ihnen nach Ausschluß der Oeffentlichkeit sagen. Es besteht nämlich die Vermutung, daß die Stieftochter

unter dem hypnotischen Einfluß des Angeklagten

gestanden hätte. Die Frage des Verteidigers, Justizrats Adler (richtig: Dr. Ablaß), ob sich der Angeklagte schon mit Hypnose beschäftigt habe, verneint der Angeklagte. Vors.: Sie sind ein guter Schütze? Angekl.: Vor meiner Militärzeit kannte ich kein Gewehr, später hatte ich einen Revolver. Man kann aber annehmen, daß ich ein verhältnißmäßig guter Schütze bin.

 

Hierauf wird die Oeffentlichkeit auf Antrag des Staatsanwalts ausgeschlossen.

 

 

 

Donnerstag, 8. Dezember 1921, „Hamburger Anzeiger“

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Hirschberg, 7. Dezember.

Die fortgesetzte Vernehmung des Angeklagten   G r u p e n ,   der auch heute wieder sehr sicher und gewandt auftritt und nur bei verfänglichen Fragen des Vorsitzenden in einige Erregung gerät, dreht sich zunächst um die Ereignisse in der Zeit vom Verschwinden seiner Frau ab bis zum Tage seines Eintreffens im Schloß Kleppelsdorf. Der Angeklagte bleibt dabei, daß er an dem Verschwinden seiner Frau vollkommen unbeteiligt sei, deutet aber an, daß sie schon während ihrer ersten Ehe mit dem Perleberger Apotheker   S c h a d e   sehr leicht gewesen sei und ein Verhältnis mit einem gewissen   S c h m i d t   unterhalten habe, der vielleicht auch an dem plötzlichen Tode Schades, der bekanntlich auf der Jagd von unbekannter Seite angeschossen wrude und an Verblutung verstarb, mitbeteiligt sei. Er wisse jedenfalls von diesem ganzen Vorgange nichts, da er ja seine Frau erst sehr viel später auf Grund eines Scherzinserats kennen gelernt habe. Es wurde dann dem Angeklagten vorgehalten, daß er auf der Reise nach Hamburg großen Aufwand getrieben hätte, während er sich schon in Vermögensverfall befand. Auch erscheint es verdächtig, daß er in   H a m b u r g   m i t   d e r   R o h r b e c k   und deren Erzieherin Fräulein   Z a h n

in einem übelberüchtigten Absteigequartier

Wohnung nahm und sich dort nachts durch Klopfen an die Tür bemerkbar machte. Jedenfalls war er nach diesen Vorgängen und besonders dem Verhalten bei den Alsterfahrten Fräulein   R o h r b e c k   d e r a r t   u n h e i m l i c h   geworden, daß sie ihn, wie der Vorsitzende ihm vorhält, nur mit sehr gemischten Gefühlen bei seiner Ankunft am 8. Febraur begrüßte.

 

Es wird nun in die Beweisaufnahme eingetreten.

 

Als erste Zeugin wird Frl. Bertha Zahn vernommen. Sie sagt unter anderem aus: Noch zu Lebzeiten des Vaters bin ich nach Kleppelsdorf gekommen. Dorothea war damals 1 ½ Jahre alt. Ich übernahm die Stelle der Frau Eckert, doch war unser Verhältnis von vornherein nicht sehr günstig, da Frau Eckert annahm, daß ich mich mit Herrn Rohrbeck verheiraten könnte, während sie eine Ehe des Herrn Rohrbeck mir Frl. Schade (richtig: Frau Schade), der späteren Frau Grupen wünschte. In der Hauptsache übernahm ich die Wirtschaft und die Erziehung der Dorothea. Nach dem Testament des Herrn Rohrbeck war seine Tochter   D o r o t h e a   A l l e i n e r b i n .   Das gesamte Erbe bestand aus dem Schloß Kleppelsdorf, einem Besitztum Tempelhof bei Berlin und einem

Barvermögen von mehreren Millionen.

 

Nach dem Testament war mir die Haushaltsführung und die Erziehung der Dorothea Rohrbeck übertragen worden. Frau Eckert war erbittert, daß ich im Testament nicht bedacht worden war. In späteren Jahren entstanden zwischen mir und dem Vormund der Dorothea Rohrbeck   D i f f e r e n z e n ,   da die Wirtschaftsausgaben dem Vormunde zu hoch waren. Anfangs waren 1000 Mark monatlich als Wirtschaftsgeld ausgemacht, das später zunächst in 120 Mark, dann auf 100 Mark wöchentlich festgesetzt wurde. (Bewegung.) Mit diesem Gelde war es mir   u n m ö g l i c h   die Wirtschaft zu führen.

 

Kurz vor Weihnachten (Anmerkung: 1919) hat der Angeklagte nach Kleppelsdorf geschrieben, daß er die verwitwete Frau Schade geheiratet habe. Einer daraufhin ergehenden Einladung nach Kleppelsdorf wurde nicht Folge geleistet. Späterhin besuchte die Zeugin, Dorothea Rohrbeck und Frau Eckert auf eine Einladung des Angeklagten hin diesen und seine Frau in Hamburg, wo sie sehr nette Aufnahme fanden. Bei dieser Gelegenheit bestand der Angeklagte darauf, daß Frl. Rohrbeck eine Bluse von ihm als Erinnerung an diese Reise annehmen müsse. Man sprach auch von den wirtschaftlichen Nöten und der Angeklagte bat ihnen dann seine Unterstützung aus eigenen an.

 

Es werden dann die Abschiedsbriefe der Frau des Angeklagten zur Verlesung gebracht, darunter auch einer an Frl. Dorothea Rohrbeck folgenden Inhalts:

 

„Liebe Dörte! Ich sende dir hiermit vor meiner Abreise nach Amerika noch einen Abschiedsbrief und wünsche dir, daß sich dein Leben in Zukunft recht glücklich gestalten möge. Es wäre wohl am besten du fändest einen guten Mann.

Nimm die den guten Enkel Peter zum Berater,

der, nachdem er sehr viel verloren hat, auch jetzt wieder viel verlieren wird und dennoch alle Lebensstürme überwinden möchte. Herzliche Grüße von Deiner Tante.“ (Mit Peter ist der Angeklagte Peter Grupen gemeint. Die Red.)

 

Ein Geschworener fragte den Vorsitzenden: „Ist festgestellt, daß Frau Grupen auch Schreiberin dieses Briefes ist?“

 

Vors.: Das ist nicht festgestellt. Wir haben diese Briefe niemals einem Sachverständigen vorgelegt, da die Verwandten der Meinung waren, daß es die Schrift der Frau Grupen sei.

 

Justizrat Dr. Mamroth stellt den Antrag, die Briefe einem Sachverständigen vorzulegen.

 

Der Vorsitzende erklärt, daß er sämtliche Abschiedsbriefe dem zurzeit noch nicht anwesenden Sachverständigen Prof. Jeserich vorlegen werde.

 

Der weitere Termin ist dem   l o k a l e n   A u g e n s c h e i n   auf Schloß Kleppelsdorf gewidmet. Um 9 ½ Uhr vormittags begaben sich der Gerichtshof, der Angeklagte, einige Zeugen und Sachverständige nach Kleppelsdorf. Dort werden auch verschiedene Schießproben vorgenommen werden. Der Augenschein dürfte mehrere Stunden in Anspruch nehmen.

 

 

 

Freitag, 9. Dezember 1921, „Hamburger Anzeiger“

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Hirschberg, 8. Dezember.

Wie wir bereits meldeten, wurden am letzten Termin der Verhandlungen gegen den Angeklagten   G r u p e n   die Lokalitäten des Schlosses Kleppelsdorf durch den Gerichtshof besichtigt.

 

Während in dem sogenannten Mordzimmer des Schlosses stundenlange Schießversuche der Sachverständigen stattfanden, wurden in einem anderen Zimmer, in dem sich der Gerichtshof versammelte, die   Z e u g e n v e r n e h m u n g e n   fortgesetzt. -

 

Die Zeugin   M a n d e   (richtig: Mende) hat von einer Verstimmung der Ursula gegen Dorothea Rohrbeck nichts gemerkt, auch nichts von einem Revolver oder von Patronen. Der Zeugin ist aufgefallen, daß, als sie Grupen zu der Vernehmung durch den Amtsrichter rufen wollte, die Tür im Eßzimmer, wo sich Grupen und Frau Eckert befanden,   v e r s c h l o s s e n   war und auf Klopfen nicht gleich geöffnet wurde. Sie will hinter der Tür Papiergeräusche gehört haben. - Zeuge Sanitätsrat Dr. Scholz macht Angaben über seine Wahrnehmungen bei seinem Erscheinen im Schlosse, in das er etwa acht Minuten nach der Tat eingetroffen war. Er hörte, daß Grupen nach Verlesung des Briefes sagte:

Da bin ich also doch schuldig.

 

Die Großmutter   b e r u h i g t e   i h n ,   was dem Zeugen auffiel, da sie   i m   A n b l i c k    i h r e r   e r s c h o s s e n e n   E n k e l   den Schwiegersohn   t r ö s t e t e .   Zeuge Postverwalter   G r i m m i g   sagte aus: Ich verkehre seit zehn Jahren im Rohrbeckschen Hause und bin in alle Verhältnisse eingeweiht. Ich bin mit der vorgefaßten Meinung am Mordtage hierher gekommen, daß der Angeklagte

Grupen der Mörder

sei. Dann hatte ich Grupen nicht für den Mörder gehalten, denn er war ruhig. Dagegen konnte ich mir das Verhalten der Frau Eckert nicht erklären, die beim Anblick der beiden niedergeschossenen Enkel so ruhig war. Dem Zeugen Oberwachtmeister Klapper fiel auch

das merkwürdige Benehmen der Großmutter

auf, die den Angeklagten am Aermel faßte und sagte: Aber Peter, Du kannst doch nichts dafür. Die Zeugin   Z a h n   wird darüber befrag, wie sich der Angeklagte im Mordzimmer verhielt. Zeugin: Er war sehr aufgeregt und hat   g e w e i n t .   Ich konnte nur nicht begreifen, daß ich Grupen erst dreimal bitten mußte, er möge mir helfen, Dörte auf das Bett zu legen. Das machte auf mich einen merkwürdigen Eindruck, und ich hatte das Gefühl,   d a ß   d e r   T ä t e r   d a s   O p f e r   w o h l   n i c h t   a n f a s s e n   w o l l t e .

 

 

 

Sonnabend, 10. Dezember 1921, „Hamburger Anzeiger“

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Belastung Grupens durch seine Stieftochter.

Hirschberg, 9. Dezember.

Die Erzieherin Frl.   Z a h n   berichtet weiter über das Folgende: Grupen zog mich in ein Gespräch über   D ö r t e s   C h a r a k t e r .   Ich konnte ihm nur gutes mitteilen. Dörte selbst hat mich in jenen Tagen keinen Schritt verlassen, weil sie   s o   u n r u h i g   war. Bei dem Gespräch mit Grupen hatte ich den Eindruck, daß er wünschte, wir sollten uns seinen freieren Ansichten anschließen. Die Unterhaltung gestaltete sich zu einem   r e l i g i ö s e n   G e s p r ä c h .   Ich schlug daher abends vor, etwas aus Maltzahns Erbauungsbuch vorzulesen und Grupen zu überzeugen, daß man doch an Gott glauben könne. Im Laufe des Abends fragte mich Grupen, ob es vielleicht vorteilhaft wäre, wenn   U r s u l a   l ä n g e r e   Z e i t   i n   K l e p p e l s d o r f   bleibe. Meine Erziehungsmethode gefalle ihm. Ich sagte zu, zumal Dörte die Ursula sehr gern hatte. Dörte ging im Laufe des folgenden Vormittags, also am Mordtage, die Postsachen holen, und zwar mit Irma Schade.

 

Staatsanwalt: Hatten Sie den Eindruck, daß die Kinder (Dörte und Ursula) gut miteinander standen?

 

Zeugin Zahn: Die Kinder standen sich immer gut. Dörte hatte schon beobachtet, daß Ursula ein auffallend gedrücktes Wesen habe. Dörte meinte,   „ U r s e l   m ü s s e   e i n e   S o r g e   h a b e n “ .   Jedenfalls hatte die Traurigkeit der Ursula mit etwaigen Unstimmigkeiten der Kinder nichts zu tun. Ursula war zwar ein nicht besonders intelligentes, aber sehr liebes Kind, dem sie irgend eine moralisch-minderwertige Handlung nicht zutraue. Bei dem letzten besuch war Ursula gegen früher allerdings sehr verändert, sehr traurig und mißgestimmt. Nach ihrer Meinung sei Ursula sehr leicht zu lenken gewesen. Zwischen dem   A n g e k l a g t e n   und Frau   E c k e r t   habe   e i n   b e s o n d e r s   h e r z l i c h e s   V e r h ä l t n i s   bestanden, wie man es sonst unter Schwiegermüttern und Schwiegersöhnen selten findet. Der Angeklagte habe seine Schwiegermutter zärtlich gestreichelt, und noch am Abend vor dem Mordtage habe Grupen mit der Großmutter   g e t a n z t ,   nachdem die Zeugin und Dorothea es abgelehnt hatten, mit Grupen zu tanzen. Grupen hat auch einmal gesagt: „Was würdet Ihr wohl sagen, wenn ich die Großmutter heiratete“, was allerdings die Zeugin nicht ernst genommen habe. Ursula und auch Irma hätten mit geradezu schwärmerischer Liebe an ihrem Stiefvater gehangen.

 

In der weiteren Verhandlung kommt es zu einer kleinen Auseinandersetzung zwischen den Verteidigern und dem Schreibsachverständigen Professor Schneidemühl, der in sehr zahlreichen Fragen Auskunft von der Zeugin verlangt, so auch, welchen Eindruck sie von den Schriftstücken der verschwundenen Frau Grupen hatte.

 

Sehr bemerkenswert war die Aussage der dann vernommenen Oberschwester   K u b e   aus Lähn, die mit der ermordeten Schloßherrin von Kleppelsdorf sehr befreundet war. Zu ihr habe Dörte gesagt: Weißt Du, Grupen ist ein ganz schlechter Kerl. Bei einer Alsterfahrt hat er die Ruder weggeworfen, daß ich große Angst bekam. Ich glaube, er hatte es   a u f   m e i n   L e b e n   a b g e s e h e n .   Auf die Bemerkung der Zeugin, daß Dörte wohl nur Scherz treibe, erwiderte diese: Nein, nein, und die   H e i r a t s a n t r ä g e   sind mir

direkt unheimlich geworden.

Nach Ansicht der Zeugin hat Grupen nicht den Eindruck eines gebildeten Mannes gemacht. Im Februar habe Dörte die erkrankte Zeugin besucht und erzählt, daß Grupen mit seiner ganzen Familie auf Besuch gekommen sei. Dörte sagte, er hat mir   w i e d e r   H e i r a t s a n t r ä g e   gemacht; ja, du liegst geborgen in deiner Ecke, aber mir   g r u s e l t ,   wenn ich in mein Haus gehe. Weiter sagte Dörte, die später einmal Millionenerbin sein sollte: Nun kommt wieder dieser viele Besuch und wir haben es doch selbst   s e h r   k n a p p .   Jedenfalls hat Dörte eine sehr große Angst vor Grupen gehabt, so daß die Zeugin ihr riet, mit ihm nie allein zu gehen.

 

Bei der   V e r n e h m u n g   d e r   k l e i n e n   I r m a   S c h a d e ,   der Stieftochter Grupens, wird der   A n g e k l a g t e   a u s   d e m   S a a l e   g e f ü h r t ,   um eine Beeinflußung des Kindes durch die Anwesenheit des Stiefvaters zu verhindern. Sie sagt aus, daß der Angeklagte im allgemeinen gut zu den Kindern war, besonders habe er Ursula gern gehabt.

 

Die kleine Irma macht dann folgende   A u f s e h e n   e r r e g e n d e   B e k u n d u n g ,   die die Behauptung des Angeklagten, er habe zur kritischen Stunde sein Zimmer nicht verlassen, umstürzt. Alle Anwesenden folgen mit gespanntester Aufmerksamkeit. Irma sagte aus: „Unter den Aepfeln, die wir beim Mühlespielen verzehrten, befand sich auch ein schlechter. Diesen wollte ich erst in den Ofen werfen, aber auf Veranlassung meines Vaters trug ich ihn hinaus.

Mein Vater kam hinter mir her

ins Schrankzimmer. Weiter habe ich ihn nicht beobachtet.“

 

Auf den Vorhalt, warum die Zeugin bei ihren früheren Vernehmungen über diese wichtige Tatsache nichts gesagt habe, antwortete sie: Ich habe mich erst gestern beim   L o k a l t e r m i n   a u f   S c h l o ß   K l e p p e l s d o r f   wieder daran erinnert. Niemand hat mir diese Bekundung eingeredet. Ich sehe noch heute den Angeklagten in seinem grauen Anzug im Schrankzimmer.

 

Als dem Angeklagten nach seinem Wiedererscheinen im Saale die Aussage seiner Stieftochter vorgelesen wurde, bemüht er sich,   d a s   K i n d   a l s   e i n e   v e r s t o c k t e   L ü g n e r i n   h i n z u s t e l l e n .  

 

Verteidiger Dr. Ablaß versucht, die Zeugin zu veranlassen, ihre Behauptung, daß ihr der Angeklagte nachgegangen sei, ihm ins Gesicht zu sagen.

 

Der   S t a a t s a n w a l t   widerspricht diesem Antrage. Auch Geheimer Medizinalrat Dr.   M o l l   spricht sich dagegen aus, unter dem stechenden Blick des Angeklagten würde die Wahrheit leiden, wenn das Kind veranlaßt werden sollte, dem Angeklagten etwas ins Gesicht zu sagen.

 

Im weitere Verlauf der Beweisaufnahme kommt noch zur Sprache, daß der   A n g e k l a g t e   den Amtsgerichtsrat   T h o r m a n n   (richtig: Thomas) während der Voruntersuchung einmal gefragt hat, ob Fräulein Mohr und seine Schwiegermuter bei ihren Aussagen geblieben seien, und als der Amtsgerichtsrat bejahte, sagte Grupen: „D a n n   b i n   i c h   b e r u -  h i g t . “   Später hat der Angeklagte Fräulein Mohr und seiner Schwiegermutter gesagt:        „ I h r   b l e i b t   b e i   e u r e r   A u s s a g e . „

 

Interessant ist auch der wirtschaftliche Horizont mancher Vormünder. So war der Amtsgerichtsrat Thomas aus Lähn, der Vormundschaftsrichter für Dorothea Rohrbeck war, in Ueber-einstimmung mit dem Vormund Vielhak der Ansicht, daß in Kleppelsdorf unter Fräulein Zahn   z u   g r o ß e   A u s g a b e n   gemacht würden. Die Aeußerungen des Zeugen, die eine rührende Weltfremdheit zeigen, wurden von dem Vorsitzenden durchaus nicht geteilt. So erzählten die beiden Damen aus dem Schlosse, daß sie   i n   d e r   l e t z t e n   Z e i t   w ö c h e n t l i c h   n u r   h u n d e r t   M a r k   erhalten hätten, mit denen sie natürlich nicht auskommen konnten. Ueber die Aeußerungen des Zeugen kam es im Zuschauerraum wiederholt zu großer Heiterkeit. So zum Beispiel, als der Zeuge ausführte, daß er tatsächlich der Meinung war, daß sich aus den Sachen des verstorbenen Herrn Rohrbeck Kleidungsstücke hätten herstellen lassen können, außerdem auf den Hinweis, daß sich aus den seidenen Sprthemden des Herrn Rohrbeck Blusen für Dorothea zu ihrem Konfirmationstag machen ließen. Der Vorsitzende sagte hierbei: „Und das bei einer Millionenerbin.“

 

Dann folgt noch eine hochdramatische Szene. Der Zeuge sagt ferner aus, daß er, als er nach der Tat in das Schloß kam, an   F r ä u l e i n   Z a h n   n i c h t   d i e   g e r i n g s t e   E r r e g u n g   bemerkt habe, so daß die Liebe des Fräulein Zahn zu Fräulein Rohrbeck doch wohl nicht so groß gewesen sei. Fräulein Zahn, die sich im Zeugenraum befindet, ruft aus:   „ D a s   i s t   z u   v i e l !   I c h   k a n n   n i c h t   m e h r ! “   Und mit Erlaubnis des Vorsitzenden verläßt sie den Saal. Später schränkt der Zeuge seine Aussagen etwas ein. Aber der Vorsitzende bemerkt: „Ich habe vorhin aus dem Tone Ihrer Aussagen die Empfindung gehabt, als wollten Sie an Fräulein Zahn eine sehr üble Kritik üben.“

 

 

 

Montag, 12. Dezember 1921, „Hamburger Anzeiger“

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Hirschberg, im Dezember.

Der Vorsitzende fragt den   A n g e k l a g t e n ,   warum er in Kleppelsdorf geblieben sei, nachdem er doch gemerkt habe, daß der Empfang so kühl war. Warum sind Sie nicht abgereist? - Angeklagter (in Erregung geratend): Aber ich war doch zu Besuch.

 

Vors.: Aber erlauben Sie, Sie haben sich doch selbst angemeldet. Wollten Sie denn warten, bis Sie hinausgeschmissen würden?

 

Angeklagter (mit erhobener Stimme): Ich   w o l l t e   i c h   w ä r e   h i n a u s g e s c h m i s s e n   worden, dann säße ich   h e u t e   n i c h t   a u f   d e r   A n k l a g e b a n k .   (Bewegung.)

 

Anschließend wurde eine   L e h r e r i n   d e r   g e t ö t e t e n   U r s u l a   vernommen, bei der Ursula von Ostern bis Michaelis 1920 in der Schule war. Sie hat Ursula immer als ein sehr nettes, zartes und gefügiges Lind kennen gelernt. Nach der Mordtat sei ihr von Mitschülerinnen erzählt worden, daß Ursula einmal nach der Schule, in der von Hypnotisieren die Rede war, gesagt hatte: ihre Mutter kenne einen Mann, der einen so scharfen Blick habe, daß man alles tun müsse, was er wolle. Eine Adresse dieses Mannes hat Ursula nicht angegeben. Die Angaben der Mädchen über diesen Ausspruch sind ganz bestimmt, aber sie konnten des näheren nicht nachgeprüft werden. Die Lehrerin hält es für völlig ausgeschlossen, daß Ursula die Tat begangen haben kann.

 

Dann folgte noch die mit Spannung erwartete Vernehmung der Schwiegermutter des Angeklagten,

Frau Eckert,

die eine   s e h r   s c h w e r e   B e l a s t u n g   für den Angeklagten ergab. Als der Vorsitzende fragte: „Sind Sie die Schwiegermutter des Angeklagten?“ antwortete sie:   „ J a ,   l e i d e r . “   Von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht macht die Zeugin keinen Gebrauch. Sie sagt aus, daß ihre Tochter aus erster Ehe mit dem bereits verstorbenen   R o h r b e c k   verheiratet war. Ihre Tochter aus zweiter Ehe war zuerst mit dem Apothekenbesitzer   S c h a d e   in Perleberg verheiratet. Der Tod des Herrn Schade wurde zunächst auf einen Unglücksfall zurückgeführt, es hat indessen auch eine Untersuchung gegen den Seifenfabrikanten Schulz in Perleberg stattgefunden, der mit meiner Tochter enge Beziehungen hatte. „Damals war ich meiner Tochter sehr böse“, sagte die Zeugin, „ich habe ihr später verziehen. Dann war meine Tochter mit dem Stabsveterinär   R e s k e   in Berlin verlobt, der aber vor der Verheiratung starb. Die Bekanntschaft mit Grupen kam dann durch eine Heiratsanzeige zustande, worauf Frau Schade später das Grundstück in Itzehoe kaufte. Das Verhältnis der Frau Schade zu Grupen war zunächst sehr herzlich, denn man rechnete es Grupen hoch an, daß er eine Witwe mit drei Kindern heiratete. Die Zeugin hatte damals ein Vermögen von 100 000 Mark. Später kam es zwischen den Eheleuten zu Differenzen. Dem Angeklagten hat die Zeugin, ebenso wie ihre Tochter, Generalvollmacht erteilt und eine Hypothek von 37 000 Mark übertragen. Am 19. September sagte meine Tochter:   „ I c h   f a h r e   n a c h   K l e p p e l s d o r f “ ,   und ist

seit dieser Zeit verschwunden.

 

Grupen erwähnte hierbei, er habe einen Detektiv in Hamburg mit den Nachforschungen beauftragt. Dieser habe ermittelt, daß seine Frau mit einem unbekannten Manne durchgegangen sei, und daß es ihr sehr gut gehe.

 

Frau Eckert erzählte dann weiter, daß   U r s u l a   m i t   g r o ß e r   L i e b e   an dem Stiefvater gehangen hätte; sie war

wie gebannt von diesem Manne.

 

Dann kommt eine für den Angeklagten sehr belastende Aussage. Frau Eckert bekundet nämlich: Am 14. Februar saß ich im sogenannten Winterwohnzimmer und häkelte. Grupen spielte mit Frl. Mohr Mühle. Ursula saß auf dem Sofa und las. Dann war Ursula plötzlich aus dem Zimmer, ohne daß ich es beobachtet habe. Der Angeklagte ging mehrmals im Zimmer auf und ab und sprach auch mit dem im Nebenzimmer weilenden Fräulein Zahn. Irmgard stand dann auf, um die Reste von einem Apfel wegzuschaffen, auch der Angeklagte hatte sich erhoben, und ich nahm an, daß er vielleicht Irma begleiten wollte. Dann habe ich den Angeklagten   e i n i g e   M i n u t e n   im Zimmer   n i c h t   gesehen. Vielleicht war ich auch etwas eingeschlafen, ich habe ihn nicht das Zimmer verlassen sehen oder hören. Die Zeit, in der ich den Angeklagten   n i c h t   beobachtet habe, würde nach meiner Ansicht genügen, die Tat zu verüben. Ursula traue ich auf   k e i n e n   Fall die Tat zu, ich halte es sogar für völlig ausgeschlossen.

 

Hierauf werden noch der Schneidermeister   W a r n i n g   aus Hamburg und seine Ehefrau vernommen, in deren Haus Grupen ein Absteigequartier hatte. Ueber das Auffinden einer Frauenleiche in   e i n e m   H a m b u r g e r   W a s s e r l o c h   - angeblich sollte es Frau Grupen sein - wissen beide Zeugen nicht besonderes zu berichten. Dann wird die weitere Zeugenvernehmung auf morgen, vormittags 10 Uhr, vertagt,   b e i   d e r   d i e   O e f f e n t l i c h k e i t   d e n   g a n z e n   T a g   a u s g e s c h l o s s e n   b l e i b t .

 

 

 

Donnerstag, 15. Dezember 1921, „Hamburger Anzeiger“

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Hirschberg, im Dezember.

Frau Oberst Semerak gibt Auskunft über eine Unterredung, die sie im Januar d. J. mit Dorothea Rohrbeck gehabt hatte. Fräulein Rohrbeck hat ihr erzählt, daß sie den Inhalt einer Kognakflasche, die ein Geschenk Grupens war, untersuchen lassen wollte. Als die Zeugin nach dem Grunde fragte, antwortete Dörte:   „ I c h   f ü r c h t e ,   d a ß   G r u p e n   m i r   n a c h   d e m   L e b e n   t r a c h t e t . “   Vors. (zum Rittergutsbesitzer Lux): Wie ist der Charakter der kleinen Irmgard Schade, die Sie in Pflege genommen haben? - Zeuge: Ich habe viele Freude an dem Kinde. Es ist geradezu empörend, daß dem Kinde wegen eriner einfachen Lüge Eigenschaften beigemessen werden, die es tatsächlich gar nicht hat. - Der Zeuge Gutsverwalter Schöpke weiß, daß Frl. Zahn gesagt hat: „Es ist furchtbar, daß dieser Mann (Grupen) in unserem Hause ist!“

 

Beeinflussungsexperimente?

Gaswerksdirektor Wrobel hat im Auftrage des Staatsanwalts festzustellen versucht, ob die Stütze Mohr, Frau Eckert und die kleine Irma leicht oder schwer zu beeinflussen sind, ob sie unter dem Einfluß des Angeklagten stehen und wie ihre Aussagen bezüglich des Verlassens des Zimmers durch Grupen zu bewerten sind. Die Versuche wurden im Winterwohnzimmer, an dem bekannten Tische, an dem Mühle gespielt worden war, vorgenommen. Sowohl die Irma, wie Frau Eckert haben im Zustande suggestiver Beeinflussung   n i c h t   b e m e r k t ,   daß der den Versuchen beiwohnende Oberstaatsanwalt   d a s   Z i m m e r   v e r l i e ß .

 

An den Zeugen Landsgerichtsrat Pietsch richtet der Vorsitzende die Frage, ob er bei der Vernehmung des Angeklagten den Eindruck hatte, daß dieser die Absicht hegte, den Gang der Untersuchung zu erschweren, oder ob er bestrebt war, die Sache aufzuklären. Der Zeuge erklärt hierzu, daß der Angeklagte damals auf die Frage, wo seine Frau sei, keine Antwort gegeben und den Zeugen vielmehr dabei sehr scharf angesehen und erklärt habe: „Ich kann darüber nur in der Hauptverhandlung Auskunft geben.   I c h   f ü r c h t e ,   m i t   m e i n e r   A u s k u n f t   m e i n e r   F r a u   u n d    a n d e r e n   P e r s o n e n   U n g e l e g e n h e i t e n   z u   b e r e i t e n . “   Ich hatte den Eindruck, daß der Angeklagte etwas zu verheimlichen hatte und verheimlichen wollte. Es schien, als ob sich der Angeklagte auf mich stürzen wollte. Ferner hat der Angeklagte bestritten, mit den beiden Dienstmädchen intim verkehrt zu haben.

 

Im weiteren Verlauf der   n i c h t ö f f e n t l i c h e n   Sitzung sprachen sich die   m e d i z i n i s c h e n   S a c h v e r s t ä n d i g e n   in ihren Gutachten über die Wahrscheinlichkeit des dem Angeklagten zur Last gelegten Sittlichkeitsverbrechens   s e h r   z u r ü c k h a l t e n d   aus. Die Möglichkeit eines intimen Verkehrs zwischen Ursula und dem Angeklagten wurde zugelassen, weil ein solcher Verkehr sich im Rahmen der Diagnose befinde. Der Angeklagte erklärt sich mit dem Antrag eines Sachverständigen, von ihm eine Blutprobe zur Feststellung einer gewissen Krankheit zu entnehmen, einverstanden. In der   ö f f e n t l i c h e n   Verhandlung wurde zunächst der Apothekenbesitzer Otto   S c h a d e   aus Berlin vernommen, der Vater des ersten Ehemannes der Frau Grupen. Er bekundet: Ostern 1920 stellte mir meine Schwiegertochter den Angeklagten als ihren Ehemann vor, der auf mich einen ganz günstigen Eindruck machte. Meine Schwiegertochter hat mir   n i e m a l s   davon gesprochen, daß sie nach Amerika gehen wollte. - Vors.: Hat der Angeklagte Nachforschungen nach seiner Frau angestellt? - Zeuge: Der Angeklagte sagte mir, er hätte einen Detektiv mit der Ermittelung beauftragt. Ueber den Erfolg hat er mir nichts mitgeteilt. Die Abschiedsbriefe seiner Frau hat er mir gezeigt. Ich erklärte ihm sofort, daß Trude diese Briefe unmöglich geschrieben haben könnte. Das Verhältnis meiner Schwiegertochter mit dem Fabrikbesitzer Schulz ist uns bekannt geworden.

 

Frau Margarete   S c h a d e ,   die Gattin des Vorzeugen, hat den Angeklagten bei seinem ersten Besuch als   s e h r   z u r ü c k h a l t e n d   kennen gelernt. Die Abschiedsbriefe, die er uns zeigte, kamen mir   m e r k w ü r d i g   k ü h l   vor. Wenn meine Schwiegertochter wirklich nach Amerika gegangen sein sollte, so kann sie es   n u r   i n   g e i s t i g e r   U m n a c h t u n g   getan haben, denn sie hing sehr an ihren Kindern. Ueber die Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit der kleinen Irma kann die Zeugin ebenso wie ihr Ehemann aus eigener Erfahrung nichts nachteiliges sagen.

 

(Der Text geht nahtlos mit dem folgenden Absatz weiter, aber hier fehlen einige Angaben. Es handelt sich um die Aussage des Rechtsanwalts und Notars Reinecke aus Itzehoe, bei der hier einige Passagen fehlen!)

Als ich Grupen von dem Inhalt der Briefe in Kenntnis gesetzt habe, machte er auf mich den Eindruck eines geknickten Ehemannes. Ich gab ihm den Rat, nach seiner Frau zu forschen. Nach vierzehn Tagen beauftragte mich Herr Grupen mit der Einleitung der Ehescheidungsklage. Als ich im Februar von dem Mord las, da machte ich mir meine eigenen Gedanken und legte mein Mandat für Grupen nieder. - Vors. zum Angeklagten: Haben Sie den Rat des Rechtsanwalts ausgeführt? - Angekl.: Jawohl, ich bin nach Berlin zu den Verwandten meiner Frau gefahren. - Vors.: Angeklagter, sind Sie bei den Dampfergesellschaften gewesen? - Angekl.: Nein, weil ich erfahren hatte, daß meine Frau sich nach Lübeck abgemeldet hatte.

 

 

 

Freitag, 16. Dezember 1921, „Hamburger Anzeiger“

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Hirschberg, 15. Dezember.

Im Kleppelsdorfer Mordprozeß wurden heute zunächst die   Z e u g e n   a u s   I t z e h o e   vernommen. Eine Frau   H a f f n e r   erzählte, daß nach ihrer Beobachtung bei einem Besuch in Ottenbüttel das Zusammenleben von Grupen mit seiner Frau   n i c h t   s e h r   g l ü c k l i c h   war.

 

Das Dienstmädchen   G n i e w o k o w s k y   meldet sich noch einmal als Zeugin und erklärt, der Angeklagte habe auch dem Kindermädchen Müller   d i e   E h e   v e r s p r o c h e n ,   deshalb habe ihn die Klara, der er bekanntlich auch ein Eheversprechen gemacht hat, zur Rede gestellt. Bei der Auseinandersetzung mit der Müller ist diese schließlich dem Angeklagten um den Hals gefallen und hat gesagt: „Wenn ich Dich nur habe.“ Dies sei passiert, als Frau Grupen   n o c h   n i c h t   v e r s c h w u n d e n   war.

 

Der nächste Zeuge, Direktor der landwirtschaftlichen Schule in Perleberg   v .   T o b a l d ,   gehörte mit zu einem Freundeskreis, zu dem auch der Apothekenbesitzer   S c h a d e   und dessen Frau, die spätere Frau Grupen, gehörten. Als 1911 Herr Schade auf der Jagd tödlich verunglückte, nahm sich der Fabrikbesitzer Schulz der Frau Schade an. Er führte ihr die Bücher und stand ihr bei. Er gewann auch ihr Vertrauen und verkehrte sehr viel bei ihr. Nach seiner Kenntnis ist das Verhältnis zwischen Frau Schade und dem Fabrikbesitzer erst nach dem Tode ihres Mannes entstanden.   D r e i   F r e u n d i n n e n   d e r   F r a u   G r u p e n   schildern diese als tüchtige Hausfrau und gute Mutter; sie hatten den Eindruck, als ob sie   u n t e r   d e m   E i n f l u ß   i h r e s   M a n n e s   s t a n d .

 

Eine   f r ü h e r e   V e r l o b t e   d e s   A n g e k l a g t e n ,   Frau   V o l p e r t   aus   H a m b u r g ,   bekundet, Grupen führte   e i n   s e h r   u n r u h i g e s   L e b e n .   Heute wollte er dies, morgen jenes. Einmal wollte er eine Luftschaukel kaufen, dann eine Speiseanstalt einrichten. Er kaufte alte Fahrräder und verkaufte sie wieder. Er wollte, wie er sagte, den „Doktor machen“ und sich eine Villa kaufen. Unter falschen Angaben und nach Verteilen von Schokolade verschaffte er sich Kleider aus der Kleiderverwertungsstelle, die man sonst nur gegen Bezugsschein erhielt; er sagte auch, daß er Erwerbslosenunterstützung beziehe. Als er noch mit ihr verlobt war, teilte er ihr mit, daß er sich mit Frau Schade verlobt habe, da sein Verhältnis zu ihr nicht ohne Folgen geblieben sei. Ich gab ihm den Ring zurück. Nach einigen Monaten telephonierte er mir, daß ich noch zu ihm halten solle, denn seine Frau sei krank und werde nicht mehr lange leben.

 

Vorsitzender: Wollen Sie nun der Wahrheit die Ehre geben und sagen, warum Sie sich mit Frau Schade verlobten?

 

Angeklagter: Im Interesse der Zeugin und im Interesse meiner Frau gebe ich darüber keine Erklärung ab.

 

 

 

Sonnabend, 17. Dezember 1921, „Hamburger Anzeiger“

Ungünstige Gutachten für Grupen.

Hirschberg, 17. Dezember. (Drahtmeldung.)

In den Verhandlungen des Kloppelsdorfer Mordprozesses wurde das Gutachten des Schreibsachverständigen abgegeben, daß dieser Brief durchaus mit anderen Briefen von Frau Grupen übereinstimmt und daß es kaum möglich sei, daß der Angeklagte den Abschiedsbrief nachgeahmt habe. Das Gutachten über die Briefe der kleinen Ursula geht ebenfalls dahin, daß sie wohl von dem Kinde selbst geschrieben wurden; es sei allerdings möglich, daß das Kind dabei unter dem Einfluß des Angeklagten gestanden habe, bezw. daß der Inhalt des Briefes dem Kinde gar nicht ins Bewußtsein gekommen ist und daß der Brief möglicherweise diktiert worden ist.

 

Es werden dann die Gutachten der Schieß-Sachverständigen abgegeben. Aus diesen geht hervor, daß es ganz   a u s g e s c h l o s s e n   i s t ,   d a ß   U r s u l a   S c h a d e   s i c h   s e l b s t   e r s c h o s s e n   habe. Es müsse vielmehr ein anderer die Waffe auf sie gerichtet haben. Der Täter habe bestimmt in der Mitte des Zimmers gestanden, und Ursula, die nach der Tür geflüchtet sei, habe dort den Schuß erhalten, der sie sofort tötete, auch Dörthe Rohrbeck habe zweifellos die Schüsse von fremder Hand bekommen, und zwar sei der zweite Schuß ein sogenannter Fangschuß gewesen, da sie nach dem ersten Schuß noch lebte. Der Sachverständige hält es für ausgeschlossen, daß die dreizehnjährige Ursula technisch imstande gewesen sei, die komplizierte Waffe zu bedienen. Es sei dazu grpße Gewandheit erforderlich.

 

Der Angeklagte kam mit den Schießsachverständigen in eine heftige Auseinandersetzung und geriet schließlich in große Erregung, so daß er erklärte, er werde künftighin jede Aeußerung ablehnen. Auch der zweite Schießsachverständige schloß sich dem Urteil an, daß kein Selbstmord in Frage komme, sondern daß Ursula die Kudel dort erhalten habe, wo sie aufgefunden wurde. Medizinalrat Dr. Peters sagt zum Schluß wörtlich:   „ I c h   h a b e   k e i n e n   Z w e i f e l ,   a u c h   n i c h t   d e n   g e r i n g s t e n ,   d a ß   d e r   T o d   b e i d e r   M ä d c h e n   d u r c h   f r e m d e   H a n d   h e r b e i g e f ü h r t   w o r d e n   i s t . “

 

 

 

Sonnabend, 17. Dezember 1921, „Hamburger Anzeiger“

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Hirschberg, 16. Dezember.

Es wurde die   V e r n e h m u n g   W i l h e l m   G r u p e n s ,   eines Bruders des Angeklagten, fortgesetzt, der sich dabei über die Frage, ob er einmal im Zimmer der Kinder geschlafen habe, in Widersprüche mit den Aussagen der kleinen Irmgard Schade und der Stütze Hatje verwickelt. Der   z w e i t e   B r u d e r   des Angeklagten,   H e i n r i c h   G r u p e n ,   der einen sehr günstigen Eindruck macht, ist mit seinem Bruder seit dem Verschwinden der Schwägerin nicht mehr zusammen gekommen. Er kann daher darüber keine Angaben machen. Er hat aber einmal an den Angeklagten einen   e n e r g i s c h e n   B r i e f   geschrieben, er solle seine Verpflichtungen gegen die Eltern, die er bei der Uebernahme des elterlichen Grundstückes übernommen habe, auch erfüllen.

 

Sehr zahlreiche Geschäfte hat der Angeklagte mit dem Zeugen Maars aus Mehlbeck gemacht, der in seinen Aussagen aber recht zögernd und zurückhaltend ist. Er ist der Typus eines gerissenen Geschäftsmannes von der Waterkant. Der Angeklagte hat mit ihm auch über den   V e r k a u f   v o n   K l e p p e l s d o r f   g e s p r o c h e n ,   wobei der   S t a a t s a n w a l t   seine Verwunderung ausspricht, da Kleppelsdorf doch gar nicht verkauft werden sollte.

 

Eine Reihe von Zeugen wird dann über den Leumund des Angeklagten vernommen. Ein Teil der Zeugen sagt ungünstig über Grupen aus, da er sie bei Geschäften angeblich übervorteilt hat. Die Gefängnisbeamten aus Hirschberg loben Grupen, da er sich im Gefängnis sehr gut geführt habe.

 

Der Staatsanwalt erklärt, nach seiner Feststellung habe der Angeklagte zur Zeit seiner Verhaftung ein Vermögen von 110 000 Mark gehabt, worauf der Angeklagte erwidert, er werde beweisen, daß er damals eine Viertelmillion besaß, und daß er das Vermögen seiner Frau und seiner Schwiegermutter nicht angegriffen habe.

 

 

 

Mittwoch, 21. Dezember 1921, „Hamburger Anzeiger“

(Wiederholt, weil in einem Teil der letzten Ausgabe nicht erschienen.)

Die Plaidoyers im Kleppelsdorfer Mordprozeß.

n. Hirschberg, 20. Dezember. (Eigener Drahtbericht.)

Bei der Darstellung der Tat betonte der Staatsanwalt besonders die Lage des Revolvers neben der toten Ursula. Die Waffe lag nämlich zur Linken Ursulas. Der Staatsanwalt ist ferner der Ansicht, daß der Angeklagte unwillkürlich als alter Soldat die Waffe unmittelbar nach der Tat sicherte, einer jener Fehler, die fast alle Verbrecher begehen. Völlig unsinnig und unmöglich erscheint es ihm, daß Ursula sich das Schächtelchen mit den 19 Ersatzpatronen selbst in die Unterbindetasche gesteckt hätte. Der Angeklagte habe zweifellos diese Patronen in Ursulas Tasche gesteckt, um sich selbst zu entlasten. Wesentlich neu in der Darstellung des Staatsanwalts ist es, daß er annimmt, Grupen habe die Tat nicht begangen, als er nach Irmgard das Zimmer verließ. Eher glaubt er, daß die Tat schon im vorhergehenden Teil des Vormittags ausgeführt ist. Den Grund für die Tat und die Handlungsweise des Angeklagten sieht der Staatsanwalt in dem Streben nach Macht und Reichtum. In nichtöffentlicher Sitzung begründet der Staatsanwalt seine Anschauung, daß der Angeklagte sich eines Sittlichkeitsverbrechens schuldig gemacht habe. Am Ende seiner Ausführungen bittet der Staatsanwalt die Geschworenen,

den Angeklagten im Sinne der Anklage, insbesondere des Doppelmordes

als auch des Sittlichkeitsverbrechens für schuldig zu befinden.

 

4 ½ Stunden lang sprach der Staatsanwalt, eintönig die Indizien aneinanderreihend. Ihm folgte der Verteidiger Dr.   A b l a ß ,   der mit großer Eindringlichkeit spricht. Die Massensuggestion habe den Angeklagten zum Mörder gestempelt. Von den Geschworenen erhoffe er das ehrliche Bestreben, abseits von der öffentlichen Meinung die Wahrheit zu suchen. Der Verteidiger schildert den Personenverkehr um die Frau Grupen, die an der Zerrüttung des Ehelebens die Schuld getragen habe. Ablaß stellte der These des Staatsanwalts und der Sachverständigen seine eigene entgegen: „Die kleine Irma Schade hat so viel vom Hinausgehen Grupens gehört - bis sie sich erinnerte. Aber, meine Herren Geschworenen, ist das eine Grundlage, auf die Sie ein Todesurteil aufbauen können? Nur eine Hülse ist unmittelbar nach der Tat gefunden worden. Die beiden anderen sind zwei volle Tage nach der Tat aufgefunden worden. Wie viel Personen sind in diesen beiden Tagen im Zimmer ein- und ausgegangen. Sind aber diese Hülsen verschoben worden, dann sind alle Gutachten der Schießsachverständigen hinfällig.“ Justizrat Ablaß erörterte dann die Möglichkeit, daß Ursula die Täterin sein könne. Nach 4 1/2stündiger Rede schloß Justizrat Ablaß sein Plaidoyer mit den Worten: „Glauben Sie, daß es mir leicht fällt, an die Schuld dieses armen Kindes zu glauben? Aber warum soll es mir leicht fallen, an die Schuld des Mannes zu glauben, der hinter mir sitzt. Das Mädchen war körperlich und sittlich zerrüttet und wir haben oft gehört, wie traurig es über seinen Zustand war. (Mit erhobener Stimme zu den Geschworenen:) Lassen Sie sich bei allen Ihren Entschlüssen nur von Ihrem Gewissen leiten.

 

 

 

Mittwoch, 21. Dezember 1921, „Hamburger Anzeiger“

Peter Grupen zum Tode verurteilt.

Der letzte Akt im Drama des Schlosses Kleppelsdorf ist abgerollt. Wie aus Hirschberg gemeldet wird, sprachen die Geschworenen den Angeklagten   G r u p e n   d e s   M o r d e s   i n   z w e i   F ä l l e n   und des   S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e n s   in Tateinheit für   s c h u l d i g .   Das Urteil des Gerichtshofes lautet   z w e i m a l   z u m   T o d e   u n d   f ü n f   J a h r e   Z u c h t h a u s   sowie dauernder Ehrverlust. Der Angeklagte erklärte in seinem Schlußwort, auf eine Revision und die Gnadenmittel   z u   v e r z i c h t e n . -   In längeren Ausführungen verbreiten die Norddeutschen Nachrichten das Gerücht weiter, daß die am 31. Januar 1920 in der Wedeler Aue gefundene Leiche mit der verschwundenen   F r a u   G r u p e n   identisch sei. Alle Nachforschungen nach ihr waren bisher vergeblich, wie der Kleppelsdorfer Prozeß ergab. Der Angeklagte Grupen hielt auch seinerzeit in Wedel um die Hand einer hiesigen Landwirtstochter an. Bemerkt sei noch, daß die fragliche Leiche ausschließlich auf die Aussage eines   I t z e h o e r   Z a h n a r z t e s   hin als nicht identisch mit der Frau Grupen angesehen wurde.

 

 

Der Zeitraum 01.01.1922-31.03.1922 ist in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg nicht vorhanden!

 

 

Freitag, 5. Mai 1921, „Hamburger Anzeiger“

Peter Grupens Fluchtgenossen.

Die Hirschberger Strafkammer hat die beiden Gefangenen, die mit Peter Grupen aus dem Gefängnis entflohen waren, sich aber am nächsten Morgen wieder freiwillig gestellt hatten, zu   j e   s e c h s   M o n a t e n   G e f ä n g n i s   verurteilt. Strafaufschub wurde abgelehnt mit Rücksicht auf die Vorstrafen der Angeklagten und auf die Tatsache, daß sie einem bereits verurteilten Mörder   z u r   F l u c h t   v e r h o l f e n   haben. 

 

 

 

 

 

 

Hamburger Nachrichten

Morgenzeitung für Politik, Handel und Schiffahrt

 

 

Mittwoch, 16. Februar 1921, „Hamburger Nachrichten“ Morgen-Ausgabe

Wegen Doppelmordes auf dem Schloß Klappelsdorf (richtig: Kleppelsdorf) in Schlesien ist   d e r   O n k e l   der ermordeten Rittergutsbesitzerin, Peter   G r u p e n   aus Berlin, unter dem dringenden Verdacht der Täterschaft verhaftet worden. Die   s e c h z e h n j ä h r i g e   Besitzerin des Schlosses, Dorothea   R o h r b e c k , alleinige Erbin von drei Rittergütern, wurde von dem Dienstmädchen in ihrem Zimmer (richtig: im Gästezimmer), durch mehrere Schüsse in Hals und Brust verletzt, tot aufgefunden. In demselben Zimmer wurde die auf dem Schlosse zu Besuch weilende zwölfjährige Kusine der Rohrbeck, Ursula   S c h a d e   aus Berlin, mit einem Schuß über dem rechten Auge schwer verletzt aufgefunden; sie erlag zwei Stunden darauf ihren Verletzungen. In demselben Zimmer fand man einen Damenrevolver, der jedoch noch gesichert war. In der Tasche der Schade wurde ein Brief an ihre in Berlin wohnende Großmutter aufgefunden, worin das Kind mitteilt, daß es die Rohrbeck und dann sich selbst erschießen werde. Der nun verhaftete Grupen weilte gleichfalls zu Besuch auf dem Schlosse.

 

 

 

Donnerstag, 17. Februar 1921, „Hamburger Nachrichten“ Abend-Ausgabe

Der Mord auf Schloß Kleppelsdorf.

Berlin, den 17. Februar.

Das Dunkel, das über dem   s c h w e r e n   V e r b r e c h e n   a u f   S c h l o ß   K l e p -     p e l s d o r f   gebreitet ist, hat trotz eifriger Nachforschungen der Staatsanwaltschaft und der Kriminalpolizei   n o c h   n i c h t   g e l i c h t e t   werden können. Der Verdacht der Täterschaft lenkt sich mehr und mehr auf den bereits verhafteten Onkel der ermordeten Schloßherrin Dorothea Rohrbeck, einen Berliner Grundstücksspekulanten   G r u b e r   (richtig: Grupen). Der Verhaftete befindet sich im Polizeigefängnis; er bestreitet die ihm zur Last gelegte Tat. In der mysteriösen Angelegenheit soll auch der Vormund der Rittergutsbesitzerin eine Rolle spielen. Der Gutsverwalter auf Schloß Kleppelsdorf, Direktor   B a u e r ,   ist seit dem Mordtage   s p u r l o s   v e r s c h w u n d e n .

 

 

 

Sonnabend, 19. Februar 1921, „Hamburger Nachrichten“ Abend-Ausgabe

Das Verbrechen auf Schloß Kleppelsdorf.

Zu der Tragödie auf   S c h l o ß   K l e p p e l s d o r f   erfährt das Berl. Tagebl. noch aus Hirschberg: Die gestern vorgenommene Obduktion der Leichen hat ergeben, daß Dorothea   R o h r b e c k   durch   z w e i   S c h ü s s e   und ihre Kusine Ursula   S c h a d e   durch einen Schuß   g e t ö t e t   worden sind. Die Leiche der Gutsherrin ist von der Kommission freigegeben worden, während die andere Leiche noch zurückbehalten wird. Es herrscht jetzt die Annahme vor, daß nicht, wie zuerst angenommen, die Schade vielleicht unter hypnotischem Zwange ihres Stiefvaters zuerst ihre Kusine und dann sich selbst erschossen hat, sondern daß die Tat von Grupe (richtig: Grupen) ausgeführt worden ist, der vorher alle Dienstboten aus der Nähe des Mordzimmers entfernt hat. Ob eine bei der Großmutter der Rohrbeck gefundene Flasche Kognak vergiftet ist, steht noch nicht fest. Vieles ist noch aufzuklären. So ist der in der Nähe von Berlin wohnende Vormund der Rohrbeck, der schwer belastet ist, nicht aufzufinden.

 

 

 

Sonnabend, 22. Februar 1921, „Hamburger Nachrichten“ Abend-Ausgabe

Grabschändung in Kleppelsdorf.

Berlin, den 26. Februar.

Der   K l e p p e l s d o r f e r   D o p p e l m o r d   hat, wie dem Tag aus Hirschberg berichtet wird, ein   z w e i t e s   s c h w e r e s   V e r b r e c h e n   im Gefolge gehabt. Das   G r a b   der ermordeten sechzehnjährigen Gutsbesitzerin   D o r o t h e a   R o h r b e c k   ist auf empörende Weise geöffnet und   d i e   L e i c h e   b e r a u b t   worden. Der Steinsetzmeister, der gestern am Grab der Verstorbenen die Steinfassung anbringen wollte, fand die Kränze vom Grab entfernt. Am Kopfende bemerkte er einen   g e g r a b e n e n   S c h a c h t ,   durch den man das Sargkissen erblickte. Auch wurde festgestellt, daß das Kruzifix auf dem Sarge zertrümmert war. Das Leichenhaus war erbrochen und sonstige Handwerkszeuge daraus gestohlen und zum Öffnen des Grabes benutzt worden. Die Täter hatten den Deckel des schweren Eichensarges nicht öffnen können und   e i n   g r o ß e s   L o c h   i n   d e n   S a r g   g e s t e m m t .   Darauf hatten sie der Toten das   w e i ß s e i d e n e   K l e i d ,   in dem sie beerdigt worden war, und die Schuhe   a u s g e z o g e n ,   ferner vom Unterrock die wertvollen Spitzen abgetrennt und eine Steppdecke geraubt. Die Täter waren dann noch in eine andere Gruft gegangen, hatten dort aber offenbar nichts gestohlen.

 

 

 

Dienstag, 6. Dezember 1921, „Hamburger Nachrichten“ Morgen-Ausgabe

Ein Mordprozeß in Hirschberg.

(Drahtmeldung)

Berlin, den 5. Dezember.

Vor dem Schwurgericht   H i r s c h b e r g   begann der Prozeß gegen den Architekten und Gutsbesitzer Peter   G r u p e n ,   der des Mordes an den beiden jungen Mädchen Dörte   R o h r b e c k   und Ursula   S c h a d e   auf Schloß   K l e p p e l s d o r f   angeklagt ist.

 

 

 

Dienstag, 20. Dezember 1921, „Hamburger Nachrichten“ Abend-Ausgabe

Mordprozeß Kleppelsdorf.

Gestern war voraussichtlich der   l e t z t e   T a g   des Kleppelsdorfer Mordprozesses. Der Zuhörerraum war überfüllt und vor dem Gerichtsgebäude wartete eine noch Hunderte zählende Schar von Menschen, die keinen Einlaß mehr gefunden hatte. Die Schuldfragen lauteten, ob sich der Angeklagte in zwei Fällen des Mordes an der Dorothea Rohrbeck und Ursula Schade und des Sittlichkeitsverbrechens an Ursula Schade schuldig gemacht habe. Dann beginnt Oberstaatsanwalt Dr.   R e i f e n r a d   sein   P l a i d o y e r .   Er schildert die Einzelheiten der furchtbaren Mordtat und weist auf die Angst hin, die Dorothea Rohrbeck vor dem Angeklagten gehabt hat. Bei der Schilderung der Tat selbst betont der Staatsanwalt, daß die   G u t a c h t e n   d e r   S a c h v e r s t ä n d i g e n   f ü r   d e n   A n g e k l a g t e n   K e u l e n s c h l ä g e   seien,   d i e   i h n   z e r m a l m e n   müßten. Liege kein Mord und Selbstmord der Ursula vor, dann kann nur der Angeklagte der Schuldige sein. Die Patronen habe er zweifellos in die Tasche der Ursula gesteckt, um sich zu entlasten. Der   A n g e k l a g t e   h a t   D o r o t h e a   R o h r b e c k   e r m o r d e t ,   weil sein Plan, sie zu heiraten, scheiterte. Ursula Schade mußte ihr Schicksal teilen, weil sie die Zeugin ges Verbrechens war und weil er auf sie die Schuld schieben wollte. Auch wollte er sie wegen der an ihr begangenen Sittlichkeitsverbrechen beseitigen.   I n   n i c h t   ö f f e n t l i c h e r   S i t z u n g   führte der Staatsanwalt aus, daß die   S c h u l d   G r u p e n s   a n   d e m   S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e n   e r w i e s e n   s e i .

 

Der Staatsanwalt beantragte, den Angeklagten   G r u p e n   im Sinne der Anklage sowohl des   D o p p e l m o r d e s ,   wie auch des   S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e n s   f ü r   s c h u l d i g   zu befinden.

 

Hirschberg, den 20. Dezember.

Der Kleppelsdorfer Mordprozeß konnte nachts noch nicht beendet werden. Nach dem Staatsanwalt, der fünf Stunden sprach, kamen die beiden Verteidiger zu Wort. Dr. Ablaß (Hirschberg) sprach 5 ½ Stunden und Dr. Mamroth (Breslau) über vier Stunden. Nach 2 Uhr nachts wurde die Verhandlung auf heute Vormittag 9 ½ Uhr vertagt. Das   U r t e i l   wird wahrscheinlich am Nachmittag zu erwarten sein.

 

 

 

Mittwoch, 21. Dezember 1921, „Hamburger Nachrichten“ Morgen-Ausgabe

Das Urteil im Kleppelsdorfer Mordprozeß.

(Drahtmeldung.)

wtb. Hirschberg, den 17. Februar.

Im Hirschberger Mordprozeß sprachen die Geschworenen den Angeklagten   G r u p e n   des Mordes in zwei Fällen und des Sittlichkeitsverbrechens in Tateinheit für   s c h u l d i g .   Das   U r t e i l   des Gerichtshofes lautete:   Z w e i m a l   z u m   T o d e   und   f ü n f   J a h r e   Z u c h t h a u s ,   sowie dauernder Ehrverlust. Der Angeklagte erklärte in seinem Schlußwort, auf eine   R e v i s i o n   und die   G n a d e n m i t t e l   z u   v e r z i c h t e n .

 

 

 

Freitag, 24. Februar 1922, „Hamburger Nachrichten“ Abend-Ausgabe

Der Doppelmörder Grupen entflohen.

wtb. Hirschberg, den 24. Februar.

Wie der Bote aus dem Riesengebirge bekannt gibt, ist der Kleppelsdorfer Doppelmörder   G r u p e n ,   dessen Verurteilung durch Entscheid des Reichsgerichts vorgestern rechtskräftig geworden ist, in der vergangenen Nacht aus dem Gerichtsgefängnis   a u s g e b r o c h e n   und   e n t f l o h e n .

 

Über die Flucht wird noch berichtet: Das   F e n s t e r g i t t e r   der im zweiten Stock gelegenen Zelle ist mit feinen Sägen   d u r c h s c h n i t t e n   worden. Grupen hat sich an einem   S t r o h s e i l   herabgelassen und ist auf das Dach eines Vorgebäudes gekommen, das direkt an der Bergstraße liegt. Er hat vermutlich das Riesengebirge erreicht und kann in der Nacht nur   ü b e r   b ö h m i s c h e   G r e n z e   gegangen sein. Mit Grupen sind auch seine zwei Zellengenossen, die mit ihm zusammen untergebracht waren, weil er schon einmal einen Selbstmordversuch unternommen hatte, mit Hilfe des Strohseiles entkommen. Sie haben sich aber heute morgen freiwillig gestellt, wodurch Grupens Flucht bekannt wurde. Grupen trug Gefängniskleider und man vermutet, daß er gleich nach seiner Flucht mit anderen Kleidern versehen wurde. Von der Gefängnisverwaltung, der Polizei und der Staatsanwaltschaft wurden umfangreiche Maßnahmen zur Wiederergreifung des Flüchtlings getroffen.

 

 

 

Sonnabend, 25. Februar 1922, „Hamburger Nachrichten“ Morgen-Ausgabe

Grupen hat sich wieder gestellt.

wtb. Hirschberg (Schlesien), den 24. Februar.

Der Kleppelsdorfer Doppelmörder stellte sich abends im Gefängnis selbst.

Der Bote aus dem Riesengebirge meldet noch zur Flucht Grupens aus dem Hirschberger Gerichtsgefängnis: Grupen schläferte einen seiner beiden Zellengenossen am Donnerstag mit Schlafpulver ein und eignete sich dessen Zivilkleider an. Aus der Zelle, in der Grupen untergebracht war, ist bereits früher ein Gefangener ausgebrochen, nachdem er die Querstange des vergitterten Fensters durchsägt hatte. Diese Querstange wurde mit Hilfe zweier Laschen repariert. Die Köpfe der Nieten, womit diese Laschen an der Querstange angebracht waren, durchsägte Grupen und die Mitgefangenen mit einem zur Säge umgewandelten Brotmesser und bogen daraufhin das Gitterwerk auseinander, zwängten sich durch die Öffnung hindurch und ließen sich dann an einem Strick hinunter. Die beiden Gefangenen, die Grupen beim Ausbruch behilflich waren, stellten sich Freitag früh wieder und erklärten, unter einem unbegreiflichen Zwange gehandelt zu haben, den Grupen auf sie ausübte. Wie das zur Säge umgewandelte Brotmesser und das Schlafpulver in den Besitz Grupens gelangte, ist bis jetzt ungeklärt.

 

 

 

Sonnabend, 25. Februar 1922, „Hamburger Nachrichten“ Abend-Ausgabe

Die geheimnisvolle Flucht Grupens.

(Drahtmeldung.)

wtb. Hirschberg, den 25. Februar.

Wie der Bote aus dem Riesengebirge zur Selbststellung   G r u p e n s   noch mitteilt, verweigert Grupen jede Auskunft über den Grund des Ausbruches und über seinen Aufenthalt während des Freitags. Die Nachforschungen über seinen Verbleib während dieses Tages haben bis abends noch zu keinem Ergebnis geführt.

 

 

 

Sonntag, 26. Februar 1922, „Hamburger Nachrichten“ Morgen-Ausgabe

Grupens Flucht.

(Drahtmeldung.)

wtb. Hirschberg, den 25. Februar.

Grupen, der zunächst nach seiner Gestellung jede Auskunft verweigerte, erklärte später, daß er ausgebrochen sei, um zu beweisen, daß er aus eigener Kraft seine Freiheit zu erlangen vermöchte und zurückgekehrt sei, um seine Unschuld darzutun. Diese Erklärung findet keinen Glauben, man ist der Überzeugung, daß es ihm aus irgend einem Grunde unmöglich geworden ist, sich in Sicherheit zu bringen. Bei seiner Rückkehr ins Gefängnis will Grupen die Mauer mit Hilfe zweier Personen überklettert haben, …

(nicht weiter kopiert!)

 

 

 

Freitag, 3. März 1922, „Hamburger Nachrichten“ Morgen-Ausgabe

Selbstmord Grupen.

(Drahtmeldung.)

wtb. Hirschberg, den 2. März.

Der wegen des Kleppelsdorfer Doppelmordes zweimal zum Tode verurteilte   G r u p e n   verübte in der Zelle   S e l b s t m o r d .   Heute nachmittag wurde er von einem Beamten am Hosenträger hängend in der Zelle   t o t   aufgefunden. Grupen war seit der Flucht in der vergangenen Woche in Einzelhaft. 

 

 

 

Freitag, 3. März 1922, „Hamburger Nachrichten“ Abend-Ausgabe

Zum Selbstmord Grupens wird uns noch mitgeteilt: Grupen hat gestern das Mittagessen noch in aller Ruhe eingenommen. Bei einer um 4 Uhr vorgenommenen Revision seiner Zelle war Grupen noch völlig gelassen, bei der nächsten um 4 ¾ Uhr vorgenommenen Revision war er bereits tot. Er hatte sich mit seinem Hosenträger an der Zentralheizung seiner Zelle erhängt. Alle   W i e d e r b e l e b u n g s v e r s u c h e ,   die sofort angestellt wurden, waren   v e r g e b l i c h .   Grupen hat keinerlei Auslassungen, auch keine Zeile hinterlassen. Er hatte auch in den letzten Tagen zu dem Mord von Kleppelsdorf nichts anderes erklärt, als daß er unschuldig sei. Mit dem Selbstmord Grupens hat nun die so rätselhafte Kleppelsdorfer Doppelmordaffäre ihren Abschluß gefunden. Wie Rechtsanwalt Dr.   P u p p e ,   der Grupen im Altonaer Prozeß verteidigen sollte, mitteilt, liegt die Vermutung sehr nahe, daß Grupen in einem ganz plötzlichen seelischen Zusammenbruch Hand an sich gelegt hat.

 

Von Altona wird uns noch mitgeteilt, daß die Voruntersuchung wegen der Ermordung Grupens schon seit langer Zeit beim Landgericht Altona schwebt. Die Ermittlungen sind, wie uns von maßgebender Seite mitgeteilt wird, noch nicht abgeschlossen. Bevor man nicht die Leiche der Frau gefunden hat, wird der Beweis schwer zu erbringen sein.

 

 

 

 

 

 

Norddeutsche Nachrichten

Amtlicher Anzeiger der Staats- und Gemeindebehörden der Elbgegend

 

Donnerstag, den 24. Februar 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Haseldorf, im Februar.

Ein entsetzliches Verbrechen

ist in einem Schlosse in Schlesien begangen worden, dessen Urheber Peter Grupen sein soll, der aus   H a s e l d o r f   stammt und in hiesiger Gegend allgemein bekannt ist. Grupen hatte nach dem Kriege eine Witwe geheiratet, mit der er in der Nähe von Kellinghusen wohnte. Ueber die furchtbare Tat, die ungewöhnliches Aufsehen erregt, wird aus Lähn in Schlesien folgendes berichtet: In einem Gartenzimmer ihres Schlosses ist die 16jährige Gutsbesitzerin Dorothea Rohrbeck erschossen aufgefunden worden. Neben ihr lag die Leiche der gleichfalls erschossenen kleinen Kusine der Schloßherrin, der zwölfjährigen kleinen Ursula Schade aus Oldenhütten bei Kellinghusen, die mit ihrer jüngeren Schwester, ihrem Stiefvater Peter Grupen und ihrer Großmutter Frau Ekhardt, die zugleich die Großmutter der Dorothea Rohrbeck ist, zu Besuch auf dem Schloß weilte. In der Tasche der Ursula Schade wurde ein Brief vorgefunden, in dem sich die Kleine des Mordes an ihrer Kusine bezichtigt. Auf dem Tisch lag ein Revolver, mit dem die Tat zur Ausführung gelangte. Als des Mordes dringend verdächtig wurde   P e t e r   G r u p e n ,   der Stiefvater der kleinen Schade und angeheiratete Onkel der Dorothea Rohrbeck, verhaftet. Es wird behauptet, daß Grupen, der völlig vermögenslos ist, durch Hinwegräumen der Dorothea Rohrbeck und ihrer Nacherben den Versuch machen wollte, das gesamte, sehr große Vermögen an sich zu bringen. Die Frau des Grupen war eine Apothekerstochter, die Witwe wurde, und deren zweiter Bräutigam im Felde fiel. Sie heiratete dann den Maurer Grupen, der sich „Architekt“ nannte. In der Nähe von Kellinghusen hatte sie eine schöne Besitzung, und ihre Tochter, die kleine Ursula, war allgemein bekannt. - Die Untersuchung der Behörde geht nun dahin, ob Peter Grupen die Schüsse selbst abgegeben hat, oder ob er durch hypnotische Einwirkung auf seine Stieftochter Ursula diese dahin gebracht hat, Dorothea und dann sich selbst umzubringen. Der Brief, der bei Ursula Schade vorgefunden wurde und in dem sie bekennt, sich selbst und ihre Kusine erschossen zu haben, wird von den Sachverständigen genau geprüft werden, jedoch soll sich schon nach flüchtiger Prüfung ergeben, daß der Brief unmöglich von der Kleinen geschrieben worden sein kann. Weiterhin sollen die Schriftzüge auffallende Aehnlichkeit mit denen des verdächtigen Peter Grupen aufweisen. Dieser hat früher die verschiedensten Berufe ausgeübt, bezeichnet sich teils als Grundstücksspekulant, teils als Architekt und rühmte sich oft, es im Schießen zu einer Fertigkeit gebracht zu haben, die an die eines Kunstschützen heranreichte. Schon im vergangenen Sommer ist ein Attentat auf die nun ermordete Dorothea Rohrbeck verübt worden. Es wurde damals von außen her in das Zimmer, in dem sie sich aufhielt, geschossen. Von dem Täter war keine Spur zu ermitteln. Grupen soll auch versucht haben, die Großmutter der erschossenen Kinder, die alte Frau Ekhardt, durch Ueberreichung einer Flasche Kognak, die stark wirkendes Gift enthielt, aus dem Wege zu räumen. Zum Glück ist die Flasche nicht geöffnet worden. Nur so ist die alte Dame dem Tode entronnen. Als Motiv für diesen Plan wird folgendes angegeben: Die Erbin der Schloßherrin von Kleppelsdorf ist ihre Großmutter, eben die alte Frau Ekhardt. Nach deren Tode erbt, da die Mutter der Dorothea Rohrbeck, die älteste Tochter der Frau Ekhardt, vor etwa 12 Jahren verstorben ist, ihre zweite Tochter, also die jetzige Ehefrau des Grupen, das gesamte Vermögen. Diese lebt aber schon seit geraumer Zeit von ihrem Ehemann getrennt. Seit einigen Monaten hat man nichts von ihr gehört. Nach den Angaben Grupens ist seine Frau nach Amerika ausgewandert. Die Behörde bringt jedoch dieser Angabe jetzt starkes Mißtrauen entgegen und forscht nach dem Verbleib der Verschwundenen. An der Neuenbroken Schleuse bei der Stör ist im Dezember eine weibliche Leiche aufgefunden worden, die vielleicht die Verschwundene ist. Wenn also auch diese aus dem Leben geschieden sein würde, so kämen als nächste Erben ihre Kinder aus erster Ehe, eben die kleinen Schade, in Betracht, von denen Ursula ermordet aufgefunden wurde. Ueber die Erbenreihe hinweg würde dann Grupen selbst das mehrere Millionen große Vermögen zufallen. Grupen ist vor etwa drei Wochen zugleich mit Frau Ekhardt, seinen beiden Stieftöchtern und dem Kindermädchen, das, wie sich herausstellte, seine Geliebte ist, auf Kleppelsdorf zu Besuch bei seiner Nichte eingetroffen. Er hat noch die Nacht vor dem Morde bei seiner Geliebten zugebracht. Die Untersuchung wird von dem Landgerichtsdirektor Dubiel in Hirschberg geführt, wohin der des Mordes Verdächtigte ins Untersuchungsgefängnis verbracht worden ist. Vieles ist noch aufzuklären. So ist der in der Nähe von Berlin wohnende Vormund der Rohrbeck, der schwer belastet ist, nicht aufzufinden.

 

 

 

Sonnabend, den 26. Februar 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Ein neues Verbrechen in der Mordaffäre Peter Grupen aus Haseldorf.

WTB. Berlin, den 26. Februar

Die Klöppelsdorfer Mordaffäre, in die der Maurer Peter Grupen aus Haseldorf verwickelt ist, hat ein zweites großes Verbrechen zur Folge gehabt. Das Grab der 16jährigen Gutsbesitzerstochter Dörthe Rohrbeck ist in grober Weise geöffnet und die Leiche beraubt worden.

 

 

 

Montag, den 28. Februar 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Haseldorf, im Februar.

Z u   d e r   T r a g ö d i e   a u f   S c h l o ß   K l e p p e l s d o r f ,

die auch in unserer Gegend ungeheures Aufsehen erregt, weil der als Täter verdächtige Grupen aus   H a s e l d o r f   stammt und verschiedene in dem Drama genannte Personen hierselbst bekannt sind, wird weiter berichtet: Die ermordete 16 Jahre alte Gutsherrin Dorothea Rohrbeck ist am Dienstag zur letzten Ruhe gebettet worden. In einem endlosen Trauerzuge, an dem wohl 800 Menschen teilnahmen, wurde die Leiche nach dem Friedhof gefahren, wo die Beisetzung neben der am Sonnabend beerdigten Kusine Ursula Schade erfolgte. In der Familie Rohrbeck hat sich zur gleichen Stunde ein zweiter trauriger Fall ereignet. Während der Schwager des verstorbenen Vaters der Dorothea Rohrbeck, Pingel, an der Beerdigung teilnahm, hat sich sein Sohn auf dem väterlichen Gute in Hannover erschossen. In Lähn wurde am Trauertage die Nachricht verbreitet, daß die Leiche der verstorbenen Frau Grupen in der Nähe von Itzehoe aufgefunden worden sei. Die Staatsanwaltschaft neigt bekanntlich zu der Annahme, daß der verhaftete Architekt Grupen seine Frau verborgen hält, um deren Aussagen über das Verbrechen, von dem diese wahrscheinlich unterrichtet ist, zu verhüten. An amtlicher Stelle lag noch keine Bestätigung dieser Meldung vor. - Wie schon kurz gemeldet, ist ein unerhörtes Verbrechen in der Nacht zum Sonntag an der Ruhestätte der ermordeten Schloßherrin von Kleppelsdorf verübt worden. Das frische Grab auf dem Friedhofe in Lähn wurde aufgegraben und der Sarg am Kopfende zertrümmert. Das Kissen, auf dem der Kopf der Ermordeten ruhte, fand man am Morgen auf dem Grabe vor. Der Steinsetzmeister, der am Grab der Verstorbenen die Steinfassung anbringen wollte, fand die Kränze vom Grab entfernt. Am Kopfende bemerkte er einen gegrabenen Schacht, durch den man das Sargkissen erblickte. Auch wurde festgestellt, daß das Kruzifix auf dem Sarge zertrümmert war. Das Leichenhaus wurde erbrochen und verschiedene Handwerkszeuge daraus gestohlen und zum Oeffnen des Grabes benutzt worden. Die Täter hatten den Deckel des schweren Eichensarges nicht öffnen können und ein großes Loch in den Sarg gestemmt. Darauf hatten sie der Toten das weißseidene Kleid, in dem sie beerdigt worden war, und die Schuhe ausgezogen, ferner vom Unterrock die wertvollen Spitzen abgetrennt und eine Steppdecke geraubt. Die Täter waren dann noch in eine andere Gruft gegangen, hatten dort aber offenbar nichts gestohlen.

 

 

 

Donnerstag, den 3. März 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Haseldorf, im März.

D i e   T r a g ö d i e   a u f   d e m   G u t e   K l e p p e l s d o r f   i n   S c h l e s i e n ,

an der Peter Grupen aus Haseldorf beteiligt ist, zieht immer weitere Kreise. Sie beschäftigt jetzt auch die Hamburger Kriminalpolizei, da der wegen Verdachts, den Doppelmord begangen zu haben, in Untersuchungshaft genommene Peter Grupen vor seiner Verheiratung mit der Apothekerswitwe Schade längere Zeit in Hamburg gewohnt hat und man das und man das Verschwinden der Frau Gr. nunmehr mit der Mordtat selber in Zusammenhang bringt. Grupen, der Kriegsbeschädigter ist - ihm fehlt der linke Unterarm - hatte in Hamburg Hasselbrookstraße 37, bei der Familie Rexhäuser und Angerstraße 15 bei der Familie Hintze gewohnt. Er verlobte sich mit der Tochter des Postbeamten Hintze im vergangenen Jahre, suchte aber trotzdem die Bekanntschaft der Witwe Schade und heiratete diese am 22. Dezember 1920 (Anm.: muss 1919 heißen), ohne vorher das Verlöbnis mit Fräulein H. zu lösen. Diese kam erst durch eine Photographie, die sie bei ihm fand, dahinter, daß ihr Bräutigam verheiratet war. Die sofortige Lösung des Verlöbnisses war natürlich die Folge. Während Frau Grupen, verwitwete Schade, plötzlich spurlos verschwand, erschien Grupen auf Kleppelsdorf, wo man eines Tages seine 13jährige Stieftochter und die 16jährige Gutsbesitzerin Rohrbeck erschossen auffand. Der Verdacht geht dahin, daß Grupen, dessen ganzes Streben nur darauf gerichtet war, schnell und mühelos reich zu werden, seine Frau getötet und die Leiche auf die Seite gebracht hat. Er heiratete die um 12 Jahre ältere Witwe nur wegen ihres Vermögens. Da aber die 13jährige Tochter bei einem Ableben der Frau mit als Erbin auftreten konnte, mußte auch sie beseitigt werden. Die 16jährige Dorothea Rohrbeck mußte ebenfalls als Opfer fallen, weil sie zuviel wußte. Es war nämlich kein Geheimnis mehr, daß der jung verheiratete Grupen inzwischen auch der jungen Gutsbesitzerin einen Heiratsantrag gemacht hatte. Da Grupen, der des Doppelmordes und nun auch des Gattenmordes Verdächtige, in Hamburg längere Zeit lebte, und seinen Angaben, seine vermißte Frau wäre nach Hamburg gefahren, um von hier aus nach Amerika auszuwandern, um einer artistischen Neigung nachzugehen, nicht geglaubt wird, vermutet man, daß Grupen in Hamburg oder in der Nähe Hamburgs seine Frau beseitigt hat. Die angestellten Nachforschungen haben ergeben, daß Frau Grupen hier keinen Ausreisepaß erhalten hat, während Grupen selber einen Paß nach Dänemark besitzt.

 

 

 

Dienstag, den 15. März 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Haseldorf, im März.

Peter Grupen dreifacher Mörder!

Die Tote von Wedel die vermißte Frau Grupen?

Der wegen der Kleppelsdorfer Doppelmordtat verhaftete, 26 Jahre alte Architekt   P e t e r   G r u p e n   ist jetzt stark verdächtig,   a u c h   s e i n e   F r a u ,   die frühere Apothekerswitwe   S c h a d e ,   e r m o r d e t   zu haben. Auf Ersuchen des Untersuchungsrichters von Hirschberg in Schlesien wurde in Hamburg jetzt das frühere Dienstmädchen Grupens,   K l ä s c h e n ,   vernommen. Ein Beamter der Oberinspektion D. ermittelte diese wichtige Zeugin im Eckhause Gluck- und von Essenstraße in Hamburg. Da man am 30. Dezember 1920 bei   W e d e l   die Leiche einer nur mit einem Strumpf, einem Schuh und einem (? unleserlich) bekleideten unbekannten Frau aus dem Wasser gezogen hatte, die verschiedene Verletzungen, die Messerschnitten sehr ähnlich schienen, am Hals und Rücken aufwies, war der Verdacht eines Mordes aufgetaucht. Inzwischen wurde das Verschwinden der Frau Grupen bekannt, und man kam auf den Gedanken, daß die   T o t e   v o n   W e d e l   d i e   v e r m i ß t e   F r a u   G r u p e n   sein könnte. Das nach Wedel gesandte Dienstmädchen Kläschen erklärte, daß die vorgelegten Sachen   n i c h t   die der Frau Grupen seien. Allem Anschein nach handelt es sich bei der Toten   d e n n o c h   um Frau Grupen, denn die Beschreibung, die man von der Vermißten gibt, stimmt   g e n a u   mit den Kennzeichen, die man an der Leiche fand, überein.

 

Das Verschwinden der Frau Grupen.

Ueber das Verschwinden der Frau Grupen weiß die Kläschen folgendes zu berichten: Am 19. September hat Gr. seine Frau mit eigenem Wagen zur Bahn nach   I t z e h o e   fahren wollen. Auch das Dienstmädchen fuhr mit, um einem Vereinsvergnügen beizuwohnen. Grupen erklärte bei der Hinfahrt, daß er das Mädchen nach Schluß des Vergnügens abholen wolle, was er aber nicht getan hat. Aufgefallen ist dem Mädchen, daß Grupen peinlichst bedacht war, über alle Vorkommnisse, selbst die geringsten, Zeugen zu haben, so z. B. als er die Kassette im Schreibtisch öffnete, aus dem seine Frau angeblich 60.000 Mark genommen haben soll. Hierbei mußten beide Dienstmädchen zugegen sein. Auf dem Klosett fand die Kläschen eine Briefabschrift, die man anscheinend extra hingelegt hatte, damit sie gefunden wird. Es sollte die Ansicht erweckt werden als ob es sich um eine Kladde eines Briefes, den Frau Grupen an ihre Mutter geschrieben hatte, handele. Die Hamburger Kriminalpolizei war davon unterrichtet, daß Grupen bei der Deutschen Bank am Adolfsplatz ein Bankfach hatte. Da dieses Fach nicht ohne die im Besitz des Fachinhabers befindlichen Schlüssel zu öffnen ist, wurde Grupen aufgefordert, vom Untersuchungsgefängnis aus die Vollmacht zur Oeffnung des Faches und die erforderlichen Schlüssel herzugeben. Da er erklärte, die Schlüssel verloren zu haben, verfügte die Bank die Oeffnung des …faches. Dieses wurde in Gegenwart eines Kriminalbeamten und Bankangestellten aufgebohrt -   e s   w a r   l e e r .   Nun steht man vor dem Rätsel, wohin das Geld und die Wertgegenstände gekommen sind. Vorläufig bemüht sich die Hamburger Kriminalpolizei weiter, das Dunkel des Verschwindens der Frau Grupen aufzuklären und ersucht alle Personen, die hierüber Angaben machen können, sich zu melden.

 

 

 

Mittwoch, den 30. November 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Die Tragödie einer Millionenerbin vor dem Schwurgericht.

Peter Grupen aus Oldenbüttel bei Itzehoe vor den Richtern.

In einer Sondertagung des Schwurgerichts in   H i r s c h b e r g   gelangt am kommenden Montag der rätselhafte Doppelmord auf   S c h l o ß   K l e p p e l s d o r f   bei Lähn (Riesengeb.) zur Verhandlung. Unter der Anklage, am 14. Februar die 16 Jahre alte Besitzerin des Rittergutes Kleppelsdorf,   D o r o t h e a   R o h r b e c k ,   und deren 12jährige Stiefbase   U r s u l a   S c h a d e   aus Berlin mit einem Revolver erschossen, an der Großmutter der beiden Mädchen, einer   F r a u   E c k h a r d t ,   einen Giftmordversuch, und an der 12jährigen Ursula Schade außerdem ein Sittlichkeitsverbrechen verübt zu haben, steht der Stiefvater der Ursula Schade und Onkel der Dorothea Rohrbeck, der aus Oldenbüttel bei Itzehoe stammende und auch in unserem Leserkreise bekannte Architekt Peter Grupen  vor den Geschworenen. - Die sensationellen und in ihren Einzelheiten bisher noch von einem dichten Schleier des Geheimnisses umgebenen Vorgänge auf Kleppelsdorf haben bei ihrem Bekanntwerden das größte Aufsehen hervorgerufen. Handelte es sich doch um den mysteriösen Tod einer Millionenerbin und den zunächst aufgetauchten Verdacht, daß diese von ihrer erst 12jährigen Base erschossen worden sei, sowie um die Behauptung. daß der jetzige Angeklagte seine Stieftochter zur Begehung dieses Verbrechens durch Hypnose oder Suggestion unter dem Druck sexueller Hörigkeit angestiftet habe.

 

Die Hauptperson des Dramas, die 16jährige Rittergutsbesitzerin Dorothea   R o h r b e c k ,   ist das Kind eines Bauerngutsbesitzers in Tempelhof bei Berlin, der durch glückliche Grundstücksspekulationen bei der Ausdehnung der südlichen Berliner Vororte zum mehrfachen Millionär geworden war. Er kaufte sich dann im Riesengebirge bei Gießhübel und Kuttenberg sowie in der Nähe des 17 Kilometer von Hirschberg gelegenen Kurorts Lähn am Bober an. Hier erwarb er das Luxusgut Kleppelsdorf, das einen großen, mit herrlichem Park, Scheunen und Bauernhäusern ausgestatteten Besitz darstellt. Frau Rohrbeck, eine geborene Eckhardt, war bei der Geburt ihrer Tochter 1905 gestorben, ihr Ehemann verschied während des Krieges. Beide wurden in dem Erbbegräbnis der Familie in Tempelhof beigesetzt, während die kleine Dorothea Rohrbeck 1919 als 14jährige Vollwaise die Alleinerbin der gesamten Güter und des ganzen Vermögens ihrer Familie wurde. Sie wohnte auf Kleppelsdorf in Gesellschaft einer von ihr als Aufsichtsdame engagierten jungen Frau namens Zahn. Die Gutsarbeiten leitete ein Direktor Bauer.

 

Anfang Februar d. J. traf die Großmutter der jungen Gutsherrin mit deren beiden Kusinen, der 12jährigen   U r s u l a   S c h a d e   und der 9jährigen   I r m a   S c h a d e   auf Kleppelsdorf zu Besuch ein. In der Gesellschaft der drei befand sich auch der jetzige Angeklagte,   P e t e r   G r u p e n ,   der ursprünglich Maurergeselle, später Kunstschütze war und zuletzt in Grundstücken spekulierte, wobei er sich des Deckmantels eines Architekten bediente. Er kam aus   K e l l i n g h u s e n ,   wo Grupen ein starkverschuldetes Besitztum hat. Seine Frau war eine Apothekerstochter, die ihm dieses Besitztum mit in die Ehe gebracht hatte, und die schon seit geraumer Zeit verschwunden ist. Ihr Aufenthalt konnte nicht festgestellt werden; der Angeklagte selbst gibt an, daß sie nach Amerika ausgewandert sei. Von anderer Seite wird dagegen behauptet, daß sie mit einer weiblichen Leiche identisch sei, die im Dezember v. J. an der Neuenbrocker Schleuse bei der Stör aufgefunden ist, aber nicht rekognosziert werden konnte. - In der Begleitung der vier Besucher befand sich ferner ein Hausmädchen des Angeklagten, das damals seine Geliebte war. Auch der ermordeten 12jährigen   S c h a d e ,   seiner Stieftochter, soll sich der Angeklagte genähert haben, sie mißbraucht und sogar geschlechtlich infiziert haben. Sie stand deshalb eine Zeitlang in ärztlicher Behandlung.

 

Der Besuch Grupens, der ein 26jähriger junger Mann von eleganter Aufmachung und guten Umgangsformen war, jedoch im Kriege den linken Arm verloren hat, verfolgte den Zweck, der Millionenerbin Dorothea Rohrbeck einen Heiratsantrag zu machen, der aber von dem jungen Mädchen abgelehnt worden sein soll. Am Morgen des 16. Februar vergnügte sich der Angeklagte im Park des Schlosses mit Spatzenschießen. Die Waffe legte er später auf den Speisezimmertisch und soll nunmehr dafür gesorgt haben, daß zunächst der Direktor Bauer eine Geschäftsreise nach Löwenberg unternahm und weiterhin die Großmutter, die Hausdame und die verschiedenen Dienstboten nach Lähn gingen. Auch Dorothea Rohrbeck war bis gegen 12 Uhr in Lähn und begab sich nach ihrer Heimkunft zusammen mit der kleinen Ursula Schade in ein an den Speisesaal anstoßendes Zimmer. Als um ½ 1 Uhr die Hausdame eine Auskunft von Fräulein Rohrbeck wünschte und sie durch ein Dienstmädchen zu sich bitten ließ, fand dieses die beiden jungen Mädchen mit mehreren Revolverschüssen in Kopf, Hals und Brust auf dem Fußboden liegend vor. Dorothea   R o h r b e c k   war bereits verschieden, während die kleine   S c h a d e   nach zwei Stunden ebenfalls ihren Geist aufgab, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. In ihren Kleidern befand sich ein Brief an die Großmutter, der sie darin mitteilte, daß sie zuerst ihre Kusine und dann sich selbst erschossen habe. Weiter hieß es in dem an die 74jährige Dame gerichtete Dame: „Du sollst dich nicht mehr über Dörthe ärgern.“ In dem Brief berichtet Ursula auch, daß sie die ihrem Stiefvater gehörige Pistole, aus der die tödlichen Schüsse abgegeben wurden, aus Ottenbüttel, wo sie bis zur Reise nach Kleppelsdorf gewohnt hat, mitgebracht habe. Hinsichtlich dieses Briefes wird von der Anklage der Vermutung Ausdruck gegeben, daß das Mädchen zu dessen Abfassung von ihrem Stiefvater auf hypnotischem Wege beeinflußt worden sei. Auf dem Tisch lag ein entsicherter Damenrevolver, aus dem zwei Schüsse abgegeben worden waren. Die Ermittelungen der Hirschberger Staatsanwaltschaft führten bald zu der Festnahme   G r u p e n s ,   der erklärte, seine Stieftochter müßte mit der Waffe gespielt und dabei die Dorothea   R o h r b e c k   versehentlich erschossen haben. Aus Verzweiflung über ihre Unvorsichtigkeit habe sie sich dann selbst entleibt. Belastend für ihn erschien jedoch der Sektionsbefund an der Stieftochter, dann aber vor allem die Auffindung einer Flasche vergifteten Cognacs, die   G r u p e n   der Großmutter   E c k h a r d t   zum Geschenk gemacht hatte. Daraus ging hervor, daß   G r u p e n   mit der Absicht umgegangen war, nicht nur die Schloßherrin von Kleppelsdorf, sondern auch deren Großmutter als ihre Alleinerbin zu beseitigen, da nach deren Tod ihrer zweiten Tochter, also der verschwundenen Ehefrau des   G r u p e n ,   das gesamte Vermögen zugeflossen wäre. Nach deren Verschwinden hätten demnach die Stiefkinder Grupens bezw. dieser selbst das alleinige Verfügungsrecht über den Millionenbesitz gehabt.

 

Man erwartet von den Verhandlungen, die ungefähr 10 Tage in Anspruch nehmen werden, übrigens auch die Aufklärung des Todes des ersten Ehemannes der Frau des Angeklagten, des Apothekenbesitzers Schade in Perleberg, der seinerzeit auf der Jagd angeschossen wurde und verblutete, ehe man ihn über den Täter hätte ausfragen können. - Der Doppelmord an den beiden jungen Mädchen hatte übrigens noch ein bezeichnendes Nachspiel, da wenige Tage nach der Beisetzung der Schloßherrin von Kleppelsdorf deren Sarg in der Gruft von Lähn erbrochen und die Leiche beraubt wurde. - Wir werden über die Verhandlungen berichten.

 

 

 

Dienstag, den 6. Dezember 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Das Kleppelsdorfer Drama.

1. Berichtstag

Ueber hundert Zeugen, darunter viele aus den Elbgemeinden. 

H i r s c h b e r g ,   das friedliche Städtchen am Bober, befindet sich infolge des Schwurgerichtsprozesses gegen den Architekten   P e t e r   G r u p e n   in heller Aufregung. Trotz scharfer Winterkälte sah man am gestrigen Montag schon stundenlang vor der festgesetzten Verhandlung das Publikum in dichten Scharen zu dem neuen Landgerichtsgebäude pilgern. Es wickelt sich alles sehr glatt, nicht in dem in Berlin und anderen Großstädten üblichen aufgeregten Ton ab. Man sah viele Frauen im Zuhörerraum. Das erklärt sich aus der Tatsache, daß die eine der Ermordeten, Dörthe Rohrbeck von Kleppelsdorf, das Schloßfräulein, in der ganzen Umgegend bekannt war. Man ist gespannt, zu hören, durch wessen Schuld Dörthe und ihre Kusine Ursula Schade sterben mußten. Der Angeklagte übt große suggestive Macht auf jedermann aus. - Nach Ablauf des üblichen akademischen Viertels ertönt das erste Klingelzeichen und der Vorsitzende begrüßt, zunächst noch in Abwesenheit des Angeklagten, die Geschworenen. Oberlandesgerichtsrat Krinke rechnet, wie er mitteilt, mit etwa acht- bis zehnstündiger Verhandlungsdauer. Er ermahnt die Geschworenen, in dieser aufsehenerregenden Mordasche, die weithin bekannt und in der Presse vielfach erörtert wurde, mit aller Gewissenhaftigkeit zu Werke zu gehen und dem Rechte zum Siege zu verhelfen. Hierauf wird der   A n g e k l a g t e ,   Architekt Peter Grupen, unter lebhafter Bewegung der Zuhörer hereingeführt. Grupen ist ein großer, blonder Mann von sehr gepflegter Erscheinung. Er trägt einen flotten Schnurrbart und erscheint im hellen Modeanzug. Er macht einen sehr energischen und sicheren Eindruck. Grupen wendet sich sofort von den Bänken der Zuhörer ab und blickt bei der üblichen umständlichen Bildung der Geschworenenbank unverändert auf den Präsidenten. Die Bank der Geschworenen setzt sich aus den verschiedenartigsten Berufskreisen zusammen. Beim Aufruf der Zeugen wird eine Dame in dem dichten Gedränge ohnmächtig. Einer der anwesenden Aerzte führt sie hinaus. Es sind im ganzen   w e i t   ü b e r   h u n d e r t   Z e u g e n ,   darunter eine recht große Anzahl   a u s   d e n   E l b g e m e i n d e n ,   und etwa zwölf Sachverständige.   G r u p e n   erklärt, daß er sich sehr eingehend auf die Anklage äußern werde.  Für den heutigen Dienstag plant der Vorsitzende die Vernehmung der ersten Zeugen. Insbesondere der in tiefer Trauer erschienenen Großmutter Frau Eckert und der Erzieherin, Fräulein Zahn. Für den Lokaltermin hat der jetzige Besitzer des Schlosses Kleppelsdorf, Rittergutsbesitzer Pinge (richtig: Pingel), ein Verwandter der Frau Eckert und des Angeklagten, geeignete Räume zur Verfügung gestellt. Als der Präsident Montag mittag mit der Vernehmung des Angeklagten beginnen will, erhebt sich Justizrat Dr. Ablaß und lehnt Gasanstaltsbesitzer Wrobel (Hirschberg) als Sachverständigen für Hypnotismus ab. Direktor Wrobel treibe hypnotische Studien sozusagen als Spielerei, nicht wissenschaftlich. Er sei ausserdem befangen. Oberlandesgerichtsrat Krinke will das später eingehend erörtern und vernimmt zunächst kurz den Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen. Grupen gibt an, aus Holstein zu stammen und nicht bestraft zu sein. Er ist 27 Jahre alt, hat im Kriege den linken Arm verloren und das Eiserne Kreuz erworben. Der Eröffnungsbeschluß legt ihm   D o p p e l m o r d   v o n   S t i e f t o c h t e r   u n d   N i c h t e   u n d   S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e n   a n   d e r   d r e i j ä h r i g e n   (richtig: dreizehnjährigen)   S t i e f t o c h t e r   zur Last. Grupen macht seine Angaben sehr klar. Er hat für seine große Figur einen auffallend hohen, jugendlichen, fast unmännlichen Ton beim Sprechen.

 

 

 

Mittwoch, den 7. Dezember 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Der Doppelmord in Kleppelsdorf.

Hirschberg, 5. Dezember.

Kurz vor Mittag bejaht Angeklagter   G r u p e n   die Frage des Vorsitzenden, des Oberlandesgerichtsrats   K r i n k e   aus Breslau, ob er bereit sei, sich auf die Anklage zu erklären. Sodann wird mit der

Vernehmung des Angeklagten

begonnen. Mit leiser, aber sicherer Stimme und spitzem Akzent schildert Grupen seinen Lebenslauf. Am 20. September 1894 in   H a s e l d o r f   bei Uetersen geboren, habe der dort die dreiklassige Volksschule besucht. Nach vollendeter Schulzeit sei er zunächst in einem landwirtschaftlichen Betriebe tätig gewesen und dann zu einem Maurermeister in die Lehre gegangen. Bei seiner Gesellenprüfung sei seine Arbeit als die beste anerkannt worden. Während seiner Ausbildungszeit habe er sich an Vergnügungen nicht beteiligt. Er habe die besten Zeugnisse aufzuweisen. 1914 sei er als Kriegsfreiwilliger bei den Königsulanen in Hannover eingetreten. Im Felde sei er an Typhus erkrankt und vor Verdun habe er den linken Unterarm verloren. Nach seiner Entlassung aus dem Lazarett habe er die staatliche Beugewerksschule in Hamburg besucht und im Sommer praktisch gearbeitet. Auch im Maschinenbaufach habe er sich Kenntnisse angeeignet: einige Monate sei er auf der   V u l k a n w e r f t   beschäftigt gewesen. Dort habe er freiwillig seine Entlassung genommen, um sich dann als Bauführer in Hamburg zu betätigen.

 

Zweimal verlobt.

Vors.: Es wird behauptet, daß Sie mehrmals verlobt gewesen seien. - Angekl.: Das ist richtig. - Vors.: Die erste Verlobung ist aufgehoben worden, von wem? - Angekl.: Von meiner Seite, weil mich die Aeußerung meiner Braut: „Was soll ich mit dem Kriegskrüppel?“ verletzt hatte. - Vors.: Auch Ihre zweite Verlobung ist auseinander gegangen? Und Sie sollen dem Mädchen gedroht, sollen sogar einmal einen Drohbrief geschrieben haben? - Angekl.: Ich habe niemals gedroht; ich habe nur geschrieben, daß ich die Verlobungsgeschenke zurückholen möchte, sonst müßte ich gerichtlich vorgehen. - Vors.: Sie sollen das Mädchen, nachdem es sich mit einem Anderen verlobt hatte, mit Erschießen gedroht haben. - Angekl.: Das ist frei erfunden. - Vors.: Hüten Sie sich etwas auszusprechen, das Ihnen dann von den Zeugen widerlegt werden könnte. - Oberstaatsanwalt   R e i f e n r a t h :   Als das Mädchen geheiratet hatte, ist der Angeklagte nicht dann zu dem Ehemann gegangen und hat ihm in die Hand versprochen, die Frau in Ruhe zu lassen? - Angekl.: Davon ist mir nichts bekannt. - Vors.: Warum ist nun die zweite Verlobung aufgelöst worden? In der Voruntersuchung haben Sie gesagt, das junge Mädchen sei viel gereist und nicht wirtschaftlich gewesen. - Angekl.: Nein, ich war selbst schul daran. - Vors.: Sind Sie damals nicht schon zu Frau Gertrud Schade in Beziehungen getreten? - Angekl.: Ich lernte Frau Schade im August 1919 kennen. Veranlassung dazu hat eine Zeitungsannonce gegeben, die ich aus Scherz hatte veröffentlichen lassen. - Vors. zu den Geschworenen: Frau Gertrud Schade war die Tochter der Frau Bankdirektor Eckert aus zweiter Ehe, Frau Rohrbeck die Tochter aus erster Ehe. Frau Rohrbecks Tochter ist die verstorbene Dorothea Rohrbeck, diese also eine Enkelin der Frau Eckert und eine Nichte der Frau Schade. Frau Schade soll ihren Ehemann, der Apothekenbesitzer in Perleberg war, durch einen Jagdunfall verloren haben, stand aber nicht allein, hatte vielmehr ihre beiden Kinder Ursula und Irma, sowie eine Pflegetochter Ruth bei sich. - Angekl.: Frau Schade wohnte in   I t z e h o e .   Während des Krieges hatte sie ein Verhältnis mit einem Stabsveterinär. - Vors.: Frau Schade war 13 Jahre älter. Das wußten Sie. Warum haben Sie sich mit ihr verlobt? Es ist doch selten, daß ein Mann von Ihren Lebensjahren eine um 13 Jahre ältere Witwe mit 3 Kindern heiratet. - Angekl.: Ich hatte die Ueberzeugung, daß es eine wirklich gute Frau sei; später bin ich anderer Ansicht geworden. - Vors.: Sie sind also zur Heirat geschritten aus Liebe, nicht aus Berechnung im Hinblick auf das vermögen der Frau Schade oder um Ihr gesellschaftliches Ansehen zu heben? - Angekl. verneint das letztere. Vors.: In dem Hause der Frau Schade wohnte auch deren Mutter, die Frau Eckert? War Frau Eckert mit der Heirat einverstanden? - Die Antwort des Angeklagten bleibt unverständlich. Der Tag der Hochzeit sei der 22. Dezember 1919 gewesen. Wir wohnten in Itzehoe im eigenen Hause, das ich einem Umbau unterzog.  Der   V o r s i t z e n d e   stellte fest, daß Grupen schon als Bräutigam Generalvollmacht sowohl von Frau Schade als auch von Frau Eckert erhalten habe. Auf Grund dieser Generalvollmacht hat er sich 17 000 Mark aus einer Hypothek abtreten lassen, das Geld aber, das den Kindern der Frau Schade gehörte, an sich genommen. - Angekl.: Ich habe auf der Quittung ausdrücklich vermerkt, daß ich diese Summe den Kindern zur Verfügung stellen will. Hierauf trat die Mittagspause ein.

 

Das Verschwinden der Frau des Angeklagten.

Nach Wiederaufnahme der Verhandlungen richtet der   V o r s i t z e n d e   an den Angeklagten die Frage, wie sich sein Eheleben gestaltet habe. - Angekl.: Wir haben anfangs glücklich miteinander gelegt. Das Verhältnis trübte sich, als meine Frau mit Forderungen auf ehelichem Gebiete kam, die ich nicht erfüllen konnte. Meine Frau beschäftigte sich auch wenig mit dem Haushalt; sie war bestrebt, viel herumzureisen. - Vors.: Sie haben in der Voruntersuchung gesagt, daß noch ein anderer Grund mitgewirkt hätte, das Verhältnis nicht zum Besten zu gestalten. - Angekl.: Meine Frau hatte mir gestanden, ein Verhältnis mit einem Fabrikbesitzer gehabt zu haben. Dieser Mann gehörte einer Freimaurerloge an, bei der auch der verunglückte Schade Mitglied war. Mit dem Fabrikbesitzer hatte meine Frau als Witwe eine Reise nach Köln gemacht und dort mit ihm mehrere Tage in einem Hotel gewohnt. Ich habe ihr dieses Verhältnis nicht besonders übel genommen. (Da der Angeklagte schwer verständlich wird, muß er auf Anordnung des Vorsitzenden in der Mitte des Saales Platz nehmen.) - Vors.: Was waren das für Forderungen, die Ihre Frau an Sie stellte? - Angekl.: Meine Frau hatte stets Bier, Wein und Liköre im Hause gehabt. Einmal hatte sie zu viel getrunken, und im Rausch stellte sie an mich Anforderungen, die kein Mensch erfüllen kann. Da sagte sie mir, was der Fabrikbesitzer konnte, mußt Du auch tun können. Weiter hat sie mir Angaben gemacht über das   J a g d u n g l ü c k   ihres Mannes, das gar kein Jagdunglück gewesen sei. - Vors.: Es wird behauptet, daß auf der Jagd auch jener Fabrikbesitzer zugegen gewesen sei. Darauf beziehen sich wohl die Andeutungen, daß es sich nicht um einen Unglücksfall, sondern um einen absichtlichen Mord handle. - Angekl.: Meine Frau hat, wie ich schon sagte, die Andeutungen im Rauschzustande gemacht. - Vors.: Sie sind später mit Ihrer Frau von Itzehoe nach Oldenbüttel gezogen. Die Anregung soll von Ihnen ausgegangen sein. - Angekl.: Ich habe den Umzug nicht angeregt. Der Umzug war aber notwendig geworden, weil das Wohnungsamt zur teilweisen Beschlagnahme der Räume in Oldenbüttel schreiten wollte und es unzulässig war, daß wir über zwei Wohnungen verfügten. - Vors.: Während Sie im Umzuge begriffen waren, traf der

erste Besuch von Fräulein Dorothea Rohrbeck

und Fräulein Zahn ein. - Angekl.: Wir hatten nach Kleppelsdorf unsere Verheiratung mitgeteilt, die Mitteilung ist aber kühl aufgenommen worden. Ich wollte daher anfangs den Besuch ablehnen. - Vors.: Der Besuch galt ja nicht Ihnen, sondern der Großmutter der Dorothea Rohrbeck, der Frau Eckert. - Angekl.: Fräulein Zahn sagte, sie mache eine Reise zu sämtlichen Verwandten, weil es deren Pflicht sei, ihr im Protest gegen den Vormund Vielhack beizustehen.  Der Vorsitzende vermerkt hierzu erklärend: Der Vater der Dorothea Rohrbeck hatte im Testament eine gewisse Summe zum Unterhalt seiner Tochter ausgesetzt, aber mit dieser Summe konnte Fräulein Zahn wegen der Teuerungsverhältnisse, die inzwischen eingetreten waren, nicht auskommen. Fräulein Zahn hat sich infolgedessen genötigt gesehen, die Hilfe der Verwandten in Anspruch zu nehmen. Der Vormund hatte Fräulein Zahn gekündigt und es war eine Anzahl Prozesse zwischen ihm und Fräulein Zahn entstanden. Fräulein Zahn bestand darauf, daß sie im Testament als Erzieherin der Dorothea Rohrbeck eingesetzt sei. - Angekl.: Fräulein Zahn hat mir gesagt, daß sie sich einschränken und Schulden machen müsse. Ich habe ihr erwidert, sie möchte sich an die Herren Pinge (richtig: Pingel) und Alfred Rohrbeck wenden, dann werde ich ihr ebenfalls aushelfen. - Vors.: Haben Sie sich nicht gleich angeboten, aus Ihrem überreichen Gehalt einen Zuschuß zu geben? - Angekl.: Nein. - Vors.: Sie sollen bei der Unterredung mit Frl. Zahn geäußert haben, daß Ihre Frau krebsleidend sei. - Angekl.: Das hat mir meine Frau selbst gesagt. Ob ich es Frl. Zahn gesagt habe, ist mir nicht erinnerlich. - Vors.: Sind nicht auch die Briefe zur Sprache gekommen, die Frau Eckert an das Vormundschaftsgericht in Lähn geschrieben hat? - Angekl.: Das mag sein. - Vors.: Ihre Schwiegermutter, die Frau Eckert hat in diesen Briefen gegen Frl. Zahn Stellung genommen, später aber widerrufen und schließlich den Widerruf ebenfalls widerrufen. - Vors.: Welchen Eindruck machten Frl. Dorothea Rohrbeck und Frl. Zahn auf Sie? - Angekl.: Dörtes Eindruck (Vors.: Sagen sie ruhig Frl. Dorothea Rohrbeck.) war gut, gegen Frl. Zahn hatte ich nichts einzuwenden. - Vors.: Wie lange haben sich die Damen in Itzehoe aufgehalten? - Angekl.: Vier bis fünf Tage. Wir haben dann einen Ausflug nach Oldenbüttel gemacht. - Vors.: Frl. Zahn behauptet, Sie hätten ihr auf dem Wege nach Oldenbüttel gesagt, Sie wollten sich von Ihrer Frau scheiden lassen und wollten sie heiraten. - Angekl.: Es ist möglich, daß ich über das Verhältnis zu meiner Frau gesprochen habe, bestreite aber, Frl. Zahn einen Heiratsantrag gemacht zu haben.

 

Grupen erzählt nun, daß er den Damen einen Gegenbesuch mit seiner Frau in Kleppelsdorf in Aussicht gestellt habe. Er sei aber allein dahin gefahren, weil es sich um Geldangelegenheiten handelte. Am 17. September sei er nach seiner Rückkehr mit seiner Frau und der Schwiegermutter zum Notar nach Itzehoe gefahren. Dort habe seine Frau Hypotheken auf seinen Namen abgetreten. Am 18. September seien sie wieder beim Notar gewesen, wo die Gütertrennung erklärt wurde. Am 19. September, einem Sonntage, trat die Frau die Reise nach Kleppelsdorf an. Grupen habe sie zum Bahnhof Itzehoe gebracht, aber nicht bis zum Bahnsteig begleitet, weil er bei den Pferden hätte bleiben müssen. Er selbst sei erstaunt gewesen, als er die telegraphische Nachricht erhielt, daß seine Frau in Kleppelsdorf nicht eingetroffen sei. Einige Tage später hätten die Hausangestellten auf dem Abort einen zerrissenen Zettel gefunden, der das Konzept eines von Frau Grupen an ihre Mutter gerichteten Abschiedsbrief darstellte. In dem Briefe hieß es, Frau Grupen reise nach Amerika, um sich der Bühne zu widmen. - Der Vorsitzende stellt fest, daß alle Nachforschungen nach dem Verbleiben der Frau des Angeklagten vergeblich gewesen seien. Wenn sie noch lebe, müßte sie durch Zeitungen Kenntnis erhalten haben von dem furchtbaren Tode ihrer Tochter Ursula.

Schluß des ersten Verhandlungstages.

 

 

 

Donnerstag, den 8. Dezember 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Der Doppelmord in Kleppelsdorf.

Im weiteren Verlaufe der Verhandlung vertieft der Vorsitzende den Abschiedsbrief der verschwundenen Frau Grupen an ihre Mutter, Frau Eckert. Er lautet:

Ottenbüttel, 12. September 20.

Meine liebe Mutter!

Wenn Du in den Besitz dieser Zeilen gelangst, bin ich auf dem Wege nach Amerika, den ich ja schon des öfteren in Gedanken zurückgelegt habe, wie Du aus meinen Bemerkungen entnehmen konntest. Lange genug habe ich die Fesseln in Deutschland getragen, und hat sich endlich mein Künstlerblut dagegen aufgelehnt, indem ich Deutschland den Rücken kehre. Du darfst nicht denken, daß Peter die Veranlassung zu diesem Schritt war, respective unser Zusammenleben. Denn den Plan hatte ich schon, bevor ich Peter kennen lernte, und waren mir nur durch die Verhältnisse und meinen Besitz die Hände gebunden. Peter wird für die Kinder sorgen und Dir helfen. Es küßt Dich in Liebe

Deine Tochter Trude.“

 

Vorsitzender zum Angeklagten: Haben Sie einen Abschiedsbrief Ihrer Frau bekommen. - Angeklagter: Nein.

 

Dann wird ein Besuch Grupens mit Frl. Rohrbeck und Frl. Zahn in Hamburg besprochen. Vors.: Auf dieser Reise haben Sie die beiden Damen auf dem Alsterbassin gerudert? Es wird Ihnen zum Vorwurf gemacht, daß Sie Dorothea Rohrbeck zweimal in Lebensgefahr gebracht haben. - Angekl.: Dörte hat schon immer für eine Alsterfahrt geschwärmt. Ich habe ihr daher den Vorschlag gemacht, nicht ins Theater zu gehen, sondern den Nachmittag zu einer Ruderpartie zu benutzen. - Vors.: Es wird Ihnen zur Last gelegt, daß Sie immer in die Wellen der Dampfer hineingefahren sind und dadurch das Boot in Gefahr gebracht haben, sodaß sogar einmal vom Dampfer aus gerufen wurde: Vorsicht! Es kommen zwei Vorfälle in Betracht, einmal war Frl. Zahn dabei. - Angekl.: Frl. Zahn war ängstlich, während die Dörte scherzte. - Vors.: Sie sollen einmal das Ruder weggeworfen und sich dann lang in das Boot hineingelegt haben, sodaß Frl. Rohrbeck um Hilfe gerufen habe. - Der Angeklagte bezeichnet den Vorfall als harmlos. Um das Ruder zu haschen, das dem Frl. Rohrbeck entfallen war, habe er sich stark nach vorn gelegt; sich lang hinzulegen, sei bei der Konstruktion des Bootes ganz unmöglich. - Vors.: Frl. Rohrbeck hat sich zu einer ganzen Anzahl von Personen ausgelassen, daß der Vorgang nicht so harmlos gewesen sei. Sie will das sichere Gefühl gehabt haben,   d a ß   S i e   I h r   n a c h   d e m   L e b e n   t r a c h t e t e n .   - Angekl.:  Ich kann nicht glauben, daß Frl. Rohrbeck so etwas gesagt hat. - Verteidiger Dr. Mamroth: Haben Sie etwa das Mädchen mit seiner Angst geneckt? - Der Angeklagte gibt dies als möglich zu. Ueberdies sei er ein guter Schwimmer, aber die Vorgänge seien ganz ungefährlich gewesen.

 

Zu einem zweiten Besuch nach Hamburg hatte Grupen die beiden Damen eingeladen. Er traf sie, wie verabredet in Berlin, fuhr mit ihnen aber nicht nach Hamburg, sondern nach Kiel, weil Frl. Zahn in Hamburg zu teure Einkäufe machte.

 

Der Vorsitzende ersucht den Angeklagten um nähere Angaben über die angeblichen großen Ansprüche des Frl. Zahn und ersucht ihn, sich dabei nicht in Widerspruch zu setzen mit den Aussagen, die Frl. Zahn beeiden werde. In der Voruntersuchung habe der Angeklagte auf viele Fragen die Antwort verweigert, auf andere Fragen erklärt, darüber erst Auskunft zu geben, wenn er sich mit seinem Verteidiger beraten habe. - Verteidiger Dr. Ablaß bemerkt, er habe in der Voruntersuchung dem Angeklagten gesagt, wenn er etwas nicht genau wisse, solle er angeben, sich darüber erst später erklären zu wollen, um sich nicht in Widersprüche zu verwickeln und dadurch einen ungünstigen Eindruck zu machen. - Vors.: Man kann aber aus dieser Erklärung andere Schlüsse ziehen. Welche Schlüsse die Geschworenen ziehen, unterliegt nicht meiner Beurteilung.

 

Vors.: Weiß der Angeklagte nicht anzugeben, wie groß die Ausgaben waren, die Frl. Zahn gemacht? - Staatsanwalt: Warum hat der Angeklagte die Damen überhaupt nach Berlin eingeladen, und warum ist er nach Kiel anstatt nach Hamburg gefahren? - Angekl.: Ich bin nach Kiel gefahren, weil mit der Aufenthalt mit den Damen in Hamburg zu teuer geworden wäre, außerdem wollte ich in Kiel meine kranke Mutter besuchten. - Vors.: In Hamburg sollen Sie mit den Damen in ein Absteigequartier gegangen sein. - Angekl.: Ich wußte nicht, daß es ein solches Quartier ist und ich glaube es auch nicht. - Vors.: Die Damen sollen sich hier aber gar nicht wohlgefühlt haben, auch das Zimmer gefiel ihnen nicht. Wohnte Sie übrigens in derselben Wohnung? - Angekl.: Jawohl, aber in einem anderen Zimmer. - Vors.: Sie sollen abends weggegangen sein und nachts an der Tür der Damen geklopft haben. - Angekl.: Ich sah noch Licht in ihrem Zimmer und wünschte ihnen „Gute Nacht“. Dabei habe ich an die Zimmertür geklopft. - Der Angeklagte bestreitet dann, daß er, wie man ihm zum Vorwurf macht, in Hamburg überhaupt ein Absteigequartier gehabt habe. - Vors.: Am anderen Morgen sollen Sie nun den Damen erklärt haben, daß Sie ihnen finanziell nicht helfen könnten. - Angekl.: Jawohl, ich schickte Frl. Zahn eine Visitenkarte. - Der Inhalt der Karte wird verlesen und lautet: „Liebe Berti. Ich werde um 10 Uhr nicht hier sein können, da ich zu meinem Bruder zu einer notwendigen Besprechung muß.“ - Vors.: Und zwei Stunden später schrieben Sie dann einen Brief, daß Sie in der ganzen Voruntersuchung nichts darüber geäußert, daß Sie Ihr ganzen Vermögen verloren hätten, und schickten Ihnen 200 Mark, damit sie nach Hause fahren konnten. - Der Angeklagte bejaht dies.

 

Nach seiner verschwundenen Frau hat Grupen keine Ermittelungen angestellt, weil er, wie er angibt, annahm, daß sie sich bei dem Fabrikbesitzer Schulz in Perleberg, mit dem sie ein Verhältnis hatte, aufhielt. - Vors.: Der Frau Eckert haben Sie gesagt, Ihre Frau sei nach Hamburg; bei Vielhack haben Sie gesagt, daß Sie mit Ihrer Frau schiedlich friedlich auseinander gegangen seien. Einer anderen Frau haben Sie gesagt, daß sie zu einer Freundin gefahren sei, und wieder einer anderen Frau, daß sie zur Bühne gegangen sei. - Verteidiger Dr. Ablaß fragt, ob es richtig sei, daß der   F a b r i k b e s i t z e r   den ehebrecherischen Verkehr mit   G r u p e n s   F r a u   auch nach dem Tode ihres ersten Mannes fortgesetzt habe, und ob Frau Grupen aus Perleberg gegangen sei, weil sie von der Gesellschaft gemieden wurde, und ob der Fabrikbesitzer deswegen aus der Loge austreten mußte, und ob ein Verfahren gegen den Fabrikbesitzer wegen des angeblichen Jagdunglücks des Schade geschwebt habe. - Der Angeklagte bejaht das erstere, ob aber ein Ermittelungsverfahren gegen den Fabrikbesitzer geschwebt hat, wisse er nicht. - Ein Geschworener: Wie ist es möglich, daß der Angeklagte innerhalb dreier Stunden sein ganzes Vermögen verloren hat? - Angekl.: Ich hatte einem Geschäftsfreund großes Vertrauen entgegengebracht. - Vors.: Wir groß war der Verlust? - Angekl.: Das weiß ich nicht genau.

 

Die Doppelzüngigkeit Grupens.

Vors.: Wir kommen jetzt zu einem anderen Kapitel. Nach dem, was Sie uns bisher erzählt, Angeklagter, haben Sie für Frl. Zahn und Frl. Rohrbeck sehr freundschaftliche Gefühle gehegt. Hinter deren Rücken haben Sie aber ganz anders gehandelt. Am 14. September haben Sie an   V i e l h a c k   geschrieben, daß Sie mit ihm in Verbindung treten wollen. Was erzählten Sie nun dem Vormund? - Angekl.: Ich mußte annehmen, daß die Sache mit dem Vormund nicht so schlimm sei. - Vors.: Haben sie dem Vormund nicht auch erzählt, daß Frl. Zahn für die Erziehung der Dörte nicht geeignet sei? - Angekl.: Jawohl, in einigen Punkten war ich auch der Ansicht. - Vors.: Wieso? - Angekl.: Frl. Zahn erzählte dem Kinde ihre Liebesgeschichten. - Vors.: Was war das für eine Liebesgeschichte? - Angekl.: Sie hätte zu Rohrbeck in näheren Beziehungen gestanden. - Vors.: Es ist richtig, daß Sie in sehr nahen Beziehungen zur Familie Rohrbeck gestanden hat, denn sie hat sich des Kindes nach dem Tode der Mutter angenommen, und Rohrbeck hat sie noch auf dem Sterbebett heiraten wollen. Angeklagter, Sie scheinen auch hier den Mund recht voll genommen zu haben. - Angekl.: Ich möchte hier keine weiteren Erklärungen abgeben. - Vors.: Sie haben weiter dem Vormund erklärt, daß Frl. Zahn zuviel ausgebe. Sie hätten ihr bereits 3000 Mark gegen Quittung gegeben, und nun wollte sie noch 8000 Mark haben. Eine Quittung ist aber tatsächlich nicht vorhanden. - Der Angeklagte erklärt hierzu, daß in der Tat eine solche Quittung nicht vorhanden sei, daß ihn aber der Vormund deshalb als Zeugen vorschlagen wollte in einem Prozeß, der zwischen dem Vormund und Frl. Zahn schwebte. Er habe aber gebeten, davon abzusehen, weil er erst nach Kleppelsdorf fahren und Erkundigungen einziehen wollte. - Vors.: Auf der einen Seite machen Sie also Geschenke, auf der anderen Seite stellen Sie sich dem Vormund zur Verfügung. Sie haben dann dem Vormund geschrieben, daß Sie kommen wollen, tatsächlich sind Sie aber erst am 12. Januar zu ihm gefahren und haben hier Frl. Zahn schlecht gemacht. U. a. haben Sie erzählt, daß Frl. Rohrbeck zuviel Zigaretten rauche usw. - Der Angeklagte erklärt hierzu, daß er es nicht für recht gehalten habe, daß Frl. Zahn es billige, daß Dörte sich von dem Taschengeld, daß er, Grupen, ihr gegeben, sich sofort eine Zigarettenspitze gekauft habe.

 

Die Reise nach Kleppelsdorf.

In dem Prozeß des Frl. Zahn gegen den Vormund Vielhack sollte der Angeklagte als Zeuge vernommen werden. Er wollte sich in dieser Sache mit dem Notar, Rechtsanwalt Dr. Pfeiffer in Hirschberg, besprechen und deshalb auf Aufforderung des Frl. Zahn nach Kleppelsdorf kommen. Er telegraphierte zurück, ob die Großmutter nicht vorübergehend mitkommen könne und erhielt die Antwort: Besuch willkommen! Darauf reiste der Angeklagte mit Frau Eckert, der Ursula und Irma Schade, sowie der Stütze Mohr nach Kleppelsdorf. Zum besseren Verständnis für die Geschworenen wurden zwei Tafeln aufgestellt, aus denen die Grundrisse des Schlosses aufgezeichnet waren. An Hand dieser Zeichnungen zeigte der Angeklagte dann, daß seiner (Stütze?) im … eine Wohnung angewiesen wurde, und zwar im sogenannten Schlafzimmer. Aus diesem führt eine Tür in die Plättstube, daran anstoßend war das sogenannte Amtszimmer. Der Angeklagte selbst schlief im zweiten Stock in einem anderen Flügel. Die Räumlichkeiten im ersten Stock bestanden in einem Schlafzimmer, einem Kinderzimmer, an das sich das sogenannte Winter-Wohnzimmer schloß. Dieses hatte einen Ausgang nach dem Kinderzimmer und einen durch ein Schrankzimmer auf dem Flur.


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Die Traurigkeit Ursula Schades.

Es wird festgestellt, daß   U r s u l a   S c h a d e   einen Brief an eine Frau Bartels geschrieben hat. In dem Brief teilt sie mit, daß sie sich   f r e u e ,   in Kleppelsdorf zu sein. Zum Schluß heißt es: „Es grüßt Sie Ihre Ursel.“  Darüber stand das offenbar erst später hineingeschriebene Wort:   „ t r a u r i g e “ .   Der Angeklagte weiß keine Erklärung dafür, warum Ursula geschrieben hat: „Ihre   t r a u r i g e   Ursel“. Dieser Brief ist aber nicht abgeschickt worden, sondern der Angeklagte hat ihn in seine Gesäßtasche gesteckt.

 

Der Angeklagte über den Mordtag.

Ueber die Ereignisse am 14. Februar, dem Mordtage, gibt der Angeklagte folgende Schilderung: Im Laufe des Vormittags ist Frl. Rohrbeck mit Irma in der Stadt gewesen, wo sie gegen ½ 12 Uhr zurückkamen. Frl. Rohrbeck ging in das Kinderspielzimmer, während der Angeklagte sich im Nebenzimmer befand. Die Verbindungstür zwischen den beiden Zimmern stand offen. - Der Angeklagte gibt an: Ich habe nicht gehört, daß Frl. Zahn das Dienstmädchen Mende mit einem Auftrage zur Stadt sandte. Ich habe Mühle gespielt mit Ursula, die aber sehr unaufmerksam dabei war, dann mit Irma. Ursula hat dann das Zimmer verlassen und soll Frl. Rohrbeck nach unten gerufen haben. Frl. Zahn hat sich aus dem Nebenzimmer mit mir über den Stand der Spielpartie der Mühle unterhalten. Kurze Zeit darauf habe Frl. Zahn Irma nach unten geschickt, um Dörte zu holen. Irma bat, erst die Mühlenpartie zu Ende spielen zu dürfen. Ich sagte darauf zu Frl. Zahn: „Irma wird gleich gehen, wir sind sofort fertig.“ Irma ging auch nach unten,   f a n d   a b e r   D ö r t e   n i c h t .   Sie kam zurück und wollte einen Apfel in den Ofen werfen, konnte aber die Tür des Ofens nicht aufbekommen. Irma ging dann nach dem Abort und warf den Apfel dort hinein, während ich mit der Stütze Mohr weiter Mühle spielte.

 

Der Angeklagte gibt also zu, zeitweilig mit Frau Eckert und Frl. Mohr   a l l e i n   im Zimmer gewesen zu sein. - Angekl.: Jawohl. Irma war zweimal kurze Zeit außerhalb des Zimmers, das zweitemal, nachdem die Mende uns zu Tisch gerufen hatte. - Vors.: Frl. Zahn wird bekunden, daß wiederholt die Tür geklinkt hat. - Angekl.: Ja, Irma hat zweimal das Zimmer verlassen und ist zweimal wieder hereingekommen. - Vors.: Das kann Frl. Zahn nicht gemeint haben. Sie selbst hatte ja das eine Mal Irma beauftragt, Frl. Rohrbeck zu suchen. Vors.: Sind Sie nicht auf im Zimmer hin- und hergegangen?  Angekl.: Ich habe Frl. Zahn gebeten, von den Apfelsinen, die ich im Mühlespiel verloren hatte, zwei zurückzugeben. Bloß zu diesem Zweck ging ich   i n   d a s   N e b e n z i m m e r .   Darauf habe ich gemeinschaftlich mit Irma und der Mohr weitergespielt. Das Dienstmädchen Mende kam herauf und sagte: „Es ist angerichtet.“ Als wir uns zum Essen begeben wollten, kam uns die Mende auf der Treppen entgegen mit den Worten:   „ D i e   K i n d e r   l i e g e n   u n t e n ! “   Der Angeklagte will nicht gehört haben, daß Frl. Rohrbeck zu Ursula, als diese sie, die Rohrbeck, aus dem Zimmer geholt hat, sagte: „Ursel, ich komme gleich mit.“  Er will auch das Aufstehen und Weggehen der Rohrbeck nicht gesehen haben. - Angekl.: Nachdem die Mende uns entgegenkam mit dem Schreckensruf, sind wir alle sofort nach unten gelaufen. Ich habe im ersten Moment das Bedürfnis gehabt, einen Arzt herbeizurufen, deshalb lief ich zum Telephon. Unterwegs traf ich Frl. Zahn und sagte dieser, sie solle einen Arzt rufen lassen. Ich ging dann in das Zimmer zurück und legte Dörte auf das Bett.

 

Die Sicherung der Mordwaffe.

Der Angeklagte gibt dann eine Beschreibung des Zimmers und seiner Einrichtungsgegenstände. Daß ich aufgeregt war, ist bei diesem Vorfall wohl verständlich. Als der Arzt kam, habe ich gebeten: „Herr Doktor, helfen Sie Ursel zuerst.“ - Vors.: Wo lag die Ursula? - Angekl.: Sie kauerte am Schrank. - Vors.: Haben Sie Verletzungen gesehen? - Angekl.: Ja. Von einem der Anwesenden wurde dann gesagt:   „ D a   l i e g t   d i e   P i s t o l e . „   - Vors.: Haben Sie die Pistole aufgehoben? - Angekl.: Ich glaube, daß ich sie aufgehoben und auf einen in der Nähe stehenden Rohrplattenkoffer gelegt habe. - Vors.:   H a b e n   S i e   d i e   P i s t o l e   g e -   o d e r   e n t s i c h e r t ?   - Angekl.: Das weiß ich nicht. - Vors.: Die Pistole soll gesichert gewesen sein! - Angekl.: Es ist möglich, daß ich die Pistole ganz mechanisch gesichert habe. Ich kann mich auf die Vorgänge nicht mehr so genau besinnen. - Vors.: Wissen Sie nicht mehr, ob Sie den Sicherungsflügel herumgelegt haben? - Angekl.: Das ist möglich, denn im Krieg ist uns ja immer und immer wieder gesagt worden, daß man die Waffe sichern soll. - Vors.: Haben Sie sofort erkannt, daß dies Ihre Waffe war? - Angekl.: Nein, weil ich die Pistole noch nicht lange hatte.

 

Der Brief „an Großmutti“.

Bei der Ursula wurde bekanntlich eine   S c h a c h t e l   m i t   1 9   P a t r o n e n   in einer   U n t e r b i n d e t a s c h e   und ein   B r i e f   gefunden. Der Brief kommt zur Verlesung. Er lautet:

Kleppelsdorf, 9.

Liebe Großmutti!

   Sei mir nicht böse, daß ich Vati den Revolver aus dem Schreibtisch genommen habe. Ich will Dir helfen, Du sollst Dich nie mehr an Dörte ärgern. Als Vati Onkel Wilhelm das zeigte, habe ich zugesehen, wie es gemacht wurde, da hab ich mir ihn nachher heimlich genommen. Es grüßt Dich und Vati

Ursel.“

 

Die Adresse des Briefes lautete:   „ A n   G r o ß m u t t i . “

 

Vors.: Es soll dies derselbe Brief sein, der schon mehrere Male von der Mohr der Großmutter gegeben werden sollte. Angeklagter, Sie sollen zu Frau Eckert gesagt haben:   „ D a   s o l l   e s   j a   m e i n e   P i s t o l e   s e i n . “   - Angekl.: Ich habe am Nachmittag zu Frau Eckert gesagt: „An der ganzen Sache bin ich schuld, weil ich die Pistole nicht eingeschlossen habe.“ Frau Eckert sagte mir darauf: „Beruhige Dich doch,   D u   w a r s t   d o c h   d i e   g a n z e   Z e i t   b e i   m i r . “   - Der Angeklagte gibt auf Befragen zu, daß er zu Sanitätsrat Dr. Scholz gesagt hat: „Können Sie Ursel nichts mehr geben, damit sie wenigstens aussagen kann, was sie dazu bewogen hat?“ - Vors.: Das soll geschehen sein,   n a c h d e m   Ihnen der Arzt gesagt hat, daß hier alle ärztliche Kunst vorüber sei. - Angekl.: Wenn schon ich auch wußte, daß Ursel vielleicht nicht mehr zu retten sei, so hatte ich den Arzt doch gebeten, ob er sie nicht doch wenigstens noch einmal zum Bewußtsein erwecken könne. - Ein Geschworener: Wie lange Zeit mag vergangen sein, bis der Arzt gekommen ist? - Angekl.: Das können ungefähr 20 Minuten gewesen sein. - Justizrat Ablaß: Ist die Wunde und das Gesicht der Ursula abgewischt worden? - Angekl.: Ja, die Schwester hat mit einem nassen Handtuch der Ursula das Gesicht abgerieben. - Vors.: Wie ist es möglich, daß die Pistole dahin gekommen ist? - Angekl.:   I c h   w e i ß   n i c h t ,   w e r   d e n   R e v o l v e r   m i t   n a c h   K l e p p e l s d o r f   g e n o m m e n   h a t .   Das Fach, in dem der Revolver in meinem Schreibtisch lag, hatte ich für meinen Bruder offen gelassen.   I c h   h a b e   U r s u l a   e i n m a l   b e i   d i e s e m   F a c h   g e s e h e n   und ihr einen Verweis erteilt und sie aus dem Zimmer gewiesen. Ich nehme an, daß sie   d e n   R e v o l v e r   a n   s i c h   g e n o m m e n   und mit nach Kleppelsdorf genommen hat. - Auf die Frage, ob der Angeklagte, als er abgeführt wurde, Frau Eckert und Frl. Mohr zugerufen:

„Bleibt bei Euerer Aussage!“

erwidert er,   d a s   s e i   w o h l   m ö g l i c h ,   bestreitet aber, ihnen zugerufen zu haben, sie sollten aussagen, er sei während der Erschießung im Zimmer gewesen und sei während der ganzen Zeit nicht vom Tische weggegangen.

 

Ein Heiratsantrag?

Mit aller Entschiedenheit verneint der Angeklagte die Frage, ob er jemals Frl. Dorothea Rohrbeck einen Heiratsantrag gemacht, obgleich der Vorsitzende ihm vorhält, verschiedene Zeugen würden das Gegenteil bekunden. Ueber das Temperament der Ursula Schade befragt, erklärt Grupen, sie habe zu Schwermut geneigt.

 

Die Oeffentlichkeit wird alsdann ausgeschlossen, weil die Verhandlung zu dem von Grupen an seiner Stieftochter verübten Sittenverbrechen übergeht.

 

Am Mittwoch begab sich das gesamte Gericht nach Schloß Kleppelsdorf, um die genauen Räume des Schlosses kennen zu lernen. Einen Riß dieser Räume bringen wir in unserer heutigen Nummer.

 

 

 

Freitag, den 9. Dezember 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Ueberraschende Wende im Kleppelsdorfer Prozeß.

Der gestrige Tag brachte im Kleppelsdorfer Prozeß eine überraschende Wende zu ungunsten des Angeklagten. Die jetzt 12jährige Irma Schade bekundete, daß Grupen das Zimmer im ersten Stock, das er die ganze kritische Zeit über nicht verlassen haben will, doch verlassen habe. Diese Aussage ist für den Angeklagten, der bisher mit einer geradezu imponierenden Kaltblütigkeit und Ruhe den Verhandlungen folgte, bei den stundenlangen Erörterungen am frischesten von allen war, und Nerven von Stahl zu haben scheint, von verhängnisvoller Schwere, denn seine ganze Verteidigung basierte auf der Behauptung, daß er während der im Erdgeschoß verübten Mordtat das Zimmer im ersten Stock nicht verlassen habe.

 

Diese Behauptung konnte bisher nicht widerlegt werden. Anscheinend unter einer Art Suggestion hatte seine Stieftochter Irma bisher erklärt, er sei mit ihr im ersten Stock gewesen und habe das Zimmer nicht verlassen. Ihre jetzige gegenteilige Aussage ist umso verhängnisvoller für Grupen, als im Lokaltermin festgestellt wurde, daß man von dem Zimmer im ersten Stock die Treppe hinunter bis zum Mordzimmer und zurück eine knappe Minute gebraucht, Grupen sich also nur auf ganz wenige Augenblicke aus dem Zimmer entfernen brauchte, um die beiden Mädchen zu erschießen.

 

 

 

Freitag, den 9. Dezember 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

D e r   K l e p p e l s d o r f e r   P r o z e ß   wird in unserer Bevölkerung mit gespanntester Aufmerksamkeit verfolgt, da der in   H a s e l d o r f   geborene, unter dem Verdacht des dreifachen Mordes stehende Angeklagte seine Lehrzeit bei dem Maurermeister   H a t j e   in   S ü l l d o r f   durchgemacht und die   F o r t b i l d u n g s s c h u l e   i n   D o c k e n h u b e n   besucht hat. Herr   R e k t o r   G r a b k e   ist als Leumundszeuge nach Hirschberg berufen worden.

 

 

 

Freitag, den 9. Dezember 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Der Doppelmord in Kleppelsdorf.

Hirschberg, 7. Dezember.

In der unter Ausschluß der Oeffentlichkeit geführten Verhandlung bestritt Grupen entschieden, das ihm zur Last gelegte Sittlichkeitsverbrechen an seiner dreizehnjährigen Stieftochter Ursula Schade begangen zu haben.

 

Grupens Vermögensverhältnisse

werden nach Wiederherstellung der Oeffentlichkeit erörtert. Der Angeklagte, der bekanntlich das Maurerhandwerk gelernt hat, macht folgende Angaben: er habe damals sparsam gelebt und etwas zurückgelegt. 19191 erhielt er das väterliche Grundstück in   H a s e l d o r f   zum Geschenk, wogegen er sich zur Zahlung einer jährlichen Rente von 1000 Mark an seine Eltern verpflichtete. Auf der Vulkanwerft hat er sich insofern gut gestanden, alt er sich die Lebensmittel zum Teil von Hause kommen lassen konnte. Dann ist er einige Zeit in der Bootsbauerei seines Vaters tätig gewesen. In jener Zeit sind ihm vom Reiche 9000 Mark für den im Kriege verlorenen Unterarm ausgezahlt worden. Später hat er durch Gutachten bei Grundstücksverkäufen Nebenverdienste gehabt. Als er Frau Schade heiratete, hatte er ungefähr 20 000 Mark Vermögen.

 

Vors.: Sie haben Wertpapiere Ihrer Frau verkauft. - Angekl.: Ich habe mich dafür für berechtigt gehalten, weil meine Frau mein Vermögen mitgenommen hat. - Vors.: Haben Sie nicht auch den   B r i l l a n t s c h m u c k   I h r e r   S c h w i e g e r m u t t e r   verkauft? - Der Angeklagte setzt auseinander, daß er den Schmuck bei einem Pfandleiher in Hamburg nach seiner Meinung für 5000 Mark verpfändete; er wollte den Schmuck wieder abholen und dann auf der Bank deponieren. - Vors.: Nachdem Ihre Frau fort war, haben Sie auch ihr Pelzjackett und ihren Regenmantel in Hamburg verpfändet. - Der Angeklagte bestätigt dies. - Staatsanwalt: Ich werde auch unter Beweis stellen, daß der Angeklagte auch die   R i n g e   seiner verschwundenen Frau verkauft hat. - Auf die Frage des Vorsitzenden gibt der Angeklagte zu, das   S i l b e r   seiner Frau, etwa 5-8 Kilogramm, verkauft zu haben.

 

In der   B e w e i s a u f n a h m e   wird als erste Zeugin

die Erzieherin Fräulein Bertha Zahn

aufgerufen. Die 42jährige Dame erscheint in Trauerkleidung. Sie bekundet: Im Frühjahr 1905 kam ich als Hausdame und gleichzeitig als Erzieherin der Dorothea Rohrbeck, die 1 ¼ Jahre alt war, nach Kleppelsdorf. Damals lebte Herr Rohrbeck noch. Dörtes Mutter war ein Vierteljahr nach der Geburt ihres Töchterchens gestorben. Vorher war Frau Eckert ein Jahr im Hause. Ich hatte das Gefühl, daß Frau Eckert mich nicht gern kommen sah. 1914 erkrankte Herr Rohrbeck. Wir begleiteten ihn nach Schandau in ein Sanatorium, wo ich seine Pflege übernahm. Als er starb, hinterließ er als Erbin seine einzige Tochter.

 

Das Erbe

bestand aus dem Rittergut Kleppelsdorf nebst Vorwerken sowie einer Besitzung in Tempelhof. Etwa 1 300 000 Mark Barvermögen waren vorhanden. Herr Rohrbeck hatte in seinem Testament vom März 1912 Herrn   V i e l h a c k   a l s   V o r m u n d   seiner Tochter eingesetzt. Das Testament erhielt auch einen Nachtrag ungefähr folgenden Inhalts: „Ich bestimme hierdurch, daß über die Ausbildung, Erziehung und den Aufenthalt meiner Tochter Dorothea lediglich Frl. Zahn zu bestimmen hat und zwar im Einverständnis mit dem Vormund.“ - Die Zeugin bestätigt, daß der verstorbene Rohrbeck ihr während seiner Krankheit einen Heiratsantrag gemacht habe, daß es aber nicht zur Heirat gekommen sei. Mit dem Vormund Vielhack sei sie in Differenzen gekommen. Er setzte

das Haushaltsgeld

auf   m o n a t l i c h   1 0 0 0   M a r k   fest. Davon mußte ich sämtliche Ausgaben des Haushaltes, der Erziehung, des Unterrichts und die Gehälter der Hausangestellten, die Kleidung, die Reisen usw. bezahlen. Die Lehrerin bekam damals - es war im Sommer 1916 - 100 Mark monatlich. Die Gehälter machten die Hälfte meiner sämtlichen Ausgaben aus. Obwohl die Lebensmittelpreise stiegen, wurden meine Ausgaben auf   w ö c h e n t l i c h   1 2 0   M a r k   festgesetzt. Davon brauchte ich allerdings die Gehälter nicht zu bezahlen. Vom 1. Oktober 1920 ab erhielten wir   w ö c h e n t l i c h   s o g a r   n u r   1 0 0   M a r k ! -   Vors.: Die Millionenerbin von Kleppelsdorf erhielt also wöchentlich 100 Mark für den Haushalt, und es wurde von Ihnen verlangt, davon noch die Wirtschafterin und zwei Mädchen zu bezahlen! - Frl. Zahn: Die Gehälter machten monatlich 250 Mark aus, sodaß mir ganze 150 Mark für den Haushalt übrig blieben. - Vors.: Wie kam der Vormund dazu, zu sagen, daß Sie verschwenderisch gelebt hätten. - Frl. Zahn: Das weiß ich nicht. Wir hatten den Vormund gebeten um Mittel zur Anschaffung eines Konfirmationskleides. Das hat er zurückgewiesen. Da gingen wir aufs Vormundschaftsgericht und es wurde mit gesagt,   i c h   s o l l t e   a u s   d e n   a l t e n   G e s e l l s c h a f t s a n z ü g e n   d e s   V a t e r s   e i n   K o n f i r m a t i o n s k l e i d   m a c h e n .   - Vors. (erstaunt): Aus den alten Gesellschaftsanzügen des Vaters? Wer hat Ihnen das gesagt? Der Vormundschaftsrichter? - Frl. Zahn: Ja. Ich habe nun einen Antrag gestellt, und mit Unterstützung des Vormundschaftsrichters haben wir schließlich 800 Mark erhalten. Mit den 800 Mark habe ich nicht gereicht, denn Dörte brauchte außer dem Konfirmationskleid ein Paar Stiefel und einige Wäschestücke. Leibwäsche hatte ich ihr selbst aus Kinderbettwäsche genäht. Dann wollten wir auch dem Geistlichen etwas geben, aber das Vormundschaftsgericht schrieb, das sollte ich alles von dem Hausstandsgeld nehmen. Ich habe die noch notwendigen Sachen zum Teil aus eigenen Mitteln bestritten. - Vors.: Haben Sie sich in Ihrer Not nicht an Verwandte gewendet? - Frl. Zahn: Ja, ich hatte an Herrn   P i n g e l   geschrieben. Der hat es nicht für richtig gefunden, daß ich mir Geld borge. Aber ich wußte nicht, was ich machen sollte. Er hat mir auch einmal Geld geschickt. - Die Frage eines Geschworenen, ob Frl. Zahn in ihrer Not und Bedrängnis sich auch an einen ehemaligen Offizier in Lähn gewandt habe, ihr ein Darlehen gegen Bürgschaft zu verschaffen, bejaht die Zeugin, und fährt fort: Im Juli 1920 wollten wir eine Verwandtenreise antreten, weil Dörte noch niemals zu ihren Verwandten gekommen war, außer zu ihrer Großmutter in Berlin.   W i r   b a t e n   d e n   V o r m u n d   u m   R e i s e g e l d .   D a s   l e h n t e   e r   a b .   Da wandten wir uns an den jungen Herrn Pingel, der uns 2000 Mark sandte. Am Tage vor der Beerdigung Dörtes hat sich der junge Herr Pingel, der aktiver Offizier in Hannover war, erschossen.

 

In Itzehoe und Ottenbüttel.

Wir fuhren am 27. oder 29. Juli zunächst zur Großmutter nach Itzehoe. Wir wurden sehr herzlich, ganz gegen mein Erwarten, aufgenommen. Am nächsten Tage entschloß sich   G r u p e n ,   mit uns einige Tage nach Hamburg zu fahren, um uns die Stadt zu zeigen. Auch damit waren wir gern einverstanden. Ich hatte den Eindruck von Grupen, daß an Geld nicht gespart zu werden brauchte. Dörte bekam gleich am ersten Morgen in Itzehoe ein Paar Stiefel. Ich sollte mir auch Geschenke wünschen. Als ich mir in Hamburg eine Bluse kaufte und sie an der Kasse bezahlen wollte, bat mich Grupen, ihm die Freude zu bereiten, die Bluse bezahlen zu dürfen. - Vors.: Hat Ihnen der Angeklagte oder seine Frau nicht einen Gegenbesuch versprochen? - Frl. Zahn: Ja, beide wollten im September kommen. Anfang September kam aber nur Grupen. Er sagte, seine Frau wäre mit dem Umzug nach Ottenbüttel noch nicht fertig. In Kleppelsdorf gab er mir 1000 Mark zur Bezahlung von zwei dringenden Rechnungen. Später habe ich Geld in Raten von ihm erhalten, zusammen 4200 oder 4800 Mark. Grupen wollte sich als Sommerfrischler in Kleppelsdorf niederlassen, um die Verhältnisse der beiden Vormünder zu erkunden. Nach zwei Tagen fuhr er aber wieder weg. Er sagte, in nächster Zeit würde seine Frau kommen. Am 20. September erhielt ich auch die Nachricht:   „ T r u d e   g e s t e r n   a b g e r e i s t . “   Wir erwarteten Frau Grupen am 20., nachmittags 4 Uhr, in Hirschberg. Da sie aber nicht eintraf, nahmen wir an, daß sie sich in Berlin verweilt habe und später kommen würde. Auf unsere Mitteilung an Grupen, daß seine Frau nicht gekommen sei, erhielten wir von ihm die telegraphische Antwort:   „ K o f f e r   n o c h   h i e r . “   Einige Tage später erschien Grupen wieder in Kleppelsdorf und erzählte mir, daß seine Frau häufig von Amerika gesprochen habe und wahrscheinlich nach Amerika gegangen sei. Er brachte Abschiedsbriefe seiner Frau zum Vorschein, darunter ein an Dörte gerichtetes Schreiben. - Der Vorsitzende ordnet die Verlesung des Briefes an, welcher lautet:

 

„Ottenbüttel, 12. 9. 1920.

Liebe Dörte!

Ich sende Dir vor meiner Abreise nach Amerika noch einen Abschiedsgruß und wünsche Dir, daß sich Dein Leben in Zukunft sonnig gestalten möge. Es wäre wohl das beste, ein lieber, guter Mann, der Dir mit Rat und Tat zur Seite steht.   N i m m   D i r   O n k e l   P e t e r   a l s   g u t e s   B e i s p i e l ,  der sehr viel verloren hat und jetzt viel verlieren wird und dennoch alle Lebensstürme überwindet.

       Die herzlichsten Grüße von Deiner

Tante Gertrud.“     

 

Es werden dann die Abschiedsbriefe der Frau Grupen verlesen, die in der Kassette des Angeklagten gefunden wurden. Sie sprechen sämtlich von der Absicht der Frau, nach Amerika zu gehen. Diese Schriftstücke sollen den Schreibsachverständigen zur Begutachtung vorgelegt werden, ob sie von der Hand der Frau Grupen herrühren.

 

Die Zeugin schildert dann die Fahrt mit Grupen und Dörte von Berlin aus nach Hamburg und die gestern eingehend geschilderte Fahrt auf dem Alsterbassin. Sie hat zunächst den Eindruck gehabt, daß sie der Angeklagte mit dem Rudern gegen die Dampferwellen ängstigen wollte. Deshalb habe sie auch Dörte das zweite Mal allein mit Grupen fahren lassen. Nach dieser zweiten Fahrt habe ihr allerdings Dörte gesagt,

daß sie eine furchtbare Angst gehabt und Grupen

ein ganz merkwürdiges Wesen gezeigt habe.

 

Aber damals sei auch Dörte noch der Ansicht gewesen, daß Grupen diese Gefahr nicht absichtlich herbeigeführt habe. Im November hat allerdings dann Dörte gesagt:

„Paß auf, Grupen trachtet uns nach dem Leben.“

In Hamburg erklärte plötzlich Grupen, er müsse nach Kiel zu seiner kranken Mutter fahren, er werde das Geld, das er den Damen versprochen habe, mit der Post senden. Dieses Geld ist aber nie angekommen, denn Grupen hat es, wie er auch gestern zugegeben hat, gar nicht abgesandt. Trotzdem hat er dann noch immer behauptet, er habe den Betrag auf der Bank erhoben und bei der Post eingezahlt, er müsse also auf der Post verloren gegangen sein.

 

Wie die Zeugin weiter behauptet, sandte Grupen am 1. November telegraphisch 500 Mark mit der Aufforderung, am nächsten Tage nach Berlin zu kommen. Auf dem Görlitzer Bahnhof kam Grupen sehr spät an, als die Damen schon in der Stadt Quartier suchen wollten. Er war im Auto und nötigte die Damen fast gewaltsam   s o f o r t   m i t   n a c h   H a m b u r g   und von dort nach   I t z e h o e   zu fahren, da der dortige Rechtsanwalt für ihn eine „Vollmacht zu einem Familienrat“ ausstellen solle, was aber „nur in ihrer Gegenwart“ geschehen könne. Auf dem Lehrter Bahnhof stiegen sie in ein Abteil, das   v e r s c h l o s s e n   war, das Grupen aber öffnete, sodaß die drei in einem Abteil allein waren, was der Zeugin nicht gefiel. Als Grupen mit Dörte allein reiste, hat er dasselbe getan, er wurde aber damals von dem Schaffner aus dem Abteil gewiesen. In Hamburg erklärte Grupen, daß er in geschäftlicher Angelegenheit   n a c h   K i e l   fahren müsse, und er forderte sie zur Mitfahrt auf, damit sie sich allein in Hamburg nicht zu sehr langweilten.

 

Der Angeklagte blieb dabei, die Damen nach Hamburg nur deshalb mitgenommen zu haben, weil er nun dort das Geld flüssig machen konnte und die Damen nicht die Zusendung des Geldes durch die Post oder die Bank gewünscht hätten.

 

Vors.: Der Angeklagte hat behauptet, daß er deshalb mit Ihnen nach Kiel gefahren ist, weil ihm der Aufenthalt mit Ihnen in Hamburg zu teuer gewesen, da Sie zu hohe Ansprüche stellten. - Die Zeugin bestreitet dies entschieden.

 

Auf der Fahrt nach Kiel waren die Drei in vergnügter Stimmung.

 

Frl. Zahn erzählt dann weiter: Als wir von Kiel nach Hamburg zurückgekehrt waren,   f ü h r t e n   u n s   G r u p e n   i n   s e i n e   P r i v a t w o h n u n g ,   was Dörte und mir nicht gefiel, aber wir fürchteten, daß wir die Hotelrechnung nicht würden bezahlen können, wenn wir seiner Einladung nicht folgten. Die Pension   H a s s e l b r o o k s t r a ß e   3 7   machte auf die Damen einen sehr befremdenden und unheimlichen Eindruck. Als Grupen dort in der Nacht nach Hause kam, klopfte er an unsere Zimmertür; wir haben aber nicht geantwortet. Am nächsten Morgen sandte er mir eine Visitenkarte, auf der stand, daß er zu einer wichtigen Besprechung müsse. Später erhielt dann Dörte einen Brief von ihm, in dem er mitteilte, daß er   s e i n   g a n z e s   V e r m ö g e n   v e r l o r e n   habe, was sie veranlaßte, sofort nach Kleppelsdorf zurückzukehren. Sie hätten ihn sehr bedauert, trotzdem habe Dörte eine starke Antipathie gegen ihn gehabt, die zunahm, als sich herausstellte, daß er als Gegenzeuge in dem Erbschaftsprozeß gegen sie ernannt sei. Grupen sei Frl. Rohrbeck   d i r e k t   u n h e i m l i c h   gewesen, weil sie das Gefühl gehabt, daß er ihr   n a c h   d e m   L e b e n   t r a c h t e t e .

 

Der letzte Besuch auf Kleppelsdorf.

Frl. Zahn sagt weiter aus, daß Grupen, von dem man dann länger nichts gehört, plötzlich sich für den 9. Februar in Kleppelsdorf anmeldete, wider Erwarten aber auch die Großmutter, die Stütze Mohr und die beiden Kinder Irma und Ursula mitbrachte. Da sie so zahlreich eintrafen, wurden sie sehr kühl aufgenommen. Bis zum 14. Februar war Grupen ständig im Hause, blieb, trotzdem viele Gäste kamen, im Hintergrunde und kam nur auf besonderen Wunsch zum Vorschein. Er fragte gelegentlich, ob sie immer die Türen zuschlössen.   E r   k ö n n e   j e d e   T ü r   a u f m a c h e n .   D a s   A n g s t g e f ü h l   g e g e n   i h n   s e i   d a d u r c h   b e i   i h n e n   g e s t i e g e n .

 

Als der Angeklagte fragte, weshalb sie trotz dieses Unbehagens 1000 Mark von ihm annahmen, erwidert die Zeugin, Grupen habe es ihnen förmlich aufgedrängt, und man habe es schließlich genommen, weil die vielen Gäste größere Ausgaben verursachten.

 

Am Mittwoch war

Lokaltermin

auf Schloß Kleppelsdorf, zu dem sich die Teilnehmer in mehreren Automobilen begaben. Eine große Menschenmenge stürzte mit gellenden Rufen:

„Mörder“, „Schlagt den Halunken tot“,

auf Grupen zu und wollte die Fenster des Wagens, in den ihn die Beamten schnell hineinzogen, zertrümmern. Auch andere Prozessbeteiligte, Richter sowie die Pressevertreter, kamen durch die drohende Haltung der Menschenmenge in Gefahr. Es gelang dem Polizeiinspektor Ripke nur unter großer Mühe, die schweren Gebirgswagen in Bewegung setzen zu lassen. Grupen selbst verhielt sie   g a n z   k a l t ,   als ginge ihn das alles nichts an. Bei dem Eintreffen in das Schloß veränderte sich die Gesichtsfarbe des Angeklagten in ganz merklicher Weise.

 

Das im Parterre liegende

Mordzimmer,

das sogenannte Gästezimmer, wird betreten. Die Zeuginnen Mende und Hirsch müssen die Lage demonstrieren und angeben, wie sie die Leichen gefunden.

 

Der Sachverständige Dr. Peters erklärt, daß Dorothea Rohrbeck einen Schuß in die Brust, einen zweiten ins Genick und Ursula einen sogenannten Steckschuß über dem rechten Auge erhalten.

 

Die Mende hat als erste das Mordzimmer betreten, die am Boden liegende Rohrbeck am Arm gefaßt und bei Namen gerufen.

 

Frl. Zahn behauptet, Dörte habe noch geatmet. Von ganz besonderem Interesse ist die Aussage dieser Zeugin, daß die Tür die vom Mordzimmer ins Eßzimmer führt,   s t e t s   v e r s c h l o s s e n   g e h a l t e n   sei, die Fenster der Veranda jedoch von innen geöffnet werden können.

 

Der Vorsitzende bemerkt, die Anklage nehme an, Grupen habe vermutlich die Tür abgeschlossen,

um seinen Opfern eine Fluch unmöglich zu machen.

 

Grupen greift in die im Mordzimmer geführten Verhandlungen lebhaft ein und beantragt, daß die Entfernung zwischen der Lage der Leichen und den aufgefundenen Patronenhülsen gemessen wird.

 

Das Gericht begibt sich dann ins Obergeschoß, stellt fest, wo und an welchen Stellen sich zur Zeit der Bluttat Grupen, Frl. Zahn, Frau Eckert und Frl. Mohr sowie die kleine Irma Schade aufhielten, wobei   d i e   P e r s o n e n   g e n a u   s o   g e s e t z t   w e r d en ,   wie es zur Zeit der Tat der Fall gewesen. Auch die damals gewechselten Worte werden wiederholt und ferner die Zeit gemessen, die der Angeklagte gebraucht haben müßte, um aus dem oberen Stock zu dem Mordzimmer im Erdgeschoß hin und zurück zu gelangen. Auch   S c h i e ß v e r s u c h e   wurden im Mordzimmer noch vorgenommen.

 

Während einer kleinen Mittagspause wurden die am Prozeß beteiligten Personen von dem jetzigen Besitzer des Schlosses, Herrn Pingel, zu einer kleinen Mahlzeit eingeladen, an der auch Grupen teilnahm.

 

Nach dem Mittagsessen sagt der Postarbeiter Grimmig, der seit zehn Jahren im Rohrbeckschen Hause verkehrt und mit allen Verhältnissen vertraut war, aus, er sei am Mordtage mit der vorgefaßten Meinung nach Schloß Kleppelsdorf gekommen, daß Grupen der Mörder sei. Er habe sich daher auch seinen Browning mitgenommen, in der Absicht,

den Täter auf der Stelle niederzuknallen,

wenn er etwa wagen würde, ihm gegenüberzutreten. Wenn er nicht mit dieser vorgefaßten Meinung erschienen wäre, hätte er Grupen nicht für den Täter gehalten, denn der Angeklagte war auffallend ruhig. - Der Zeuge bestätigt dann noch, daß wiederholt davon gesprochen worden sei,   G r u p e n   t r a c h t e   d e r   D ö r t e   n a c h   d e m   L e b e n ,   und ebenfalls darüber, daß sich die Dame vor dem Angeklagten fürchte. - Bemerkenswert ist die Aussage Grimmigs über die   F r a u   E c k e r t   (Grupens Schwiegermutter), die an dem Schreckenstage in Kleppelsdorf gewesen. Zeuge erklärt, daß diese Frau beim Anblick der beiden niedergeschossenen Enkel von einer geradezu merkwürdigen   R u h e   gewesen sei. Das

merkwürdige Benehmen der Großmutter

ist auch dem Zeugen Oberwachtmeister Klapper aufgefallen. Aufgefallen ist ferner, daß er Grupen dreimal bitten mußte, er möge ihr helfen, die getötete Dorothea Rohrbeck auf das Bett zu legen. Zeuge hat das Gefühl gehabt, als ob es die   S c h e u   d e s   T ä t e r s   wäre vor dem Opfer, als ob der Täter   A n g s t   habe, das Opfer anzufassen.

 

 

 

Sonnabend, den 10. Dezember 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Die Zeugin Mohr auf Grupens Seite

Im   K l e p p e l s d o r f e r   M o r d p r o z e ß   wurde am Freitag die   S t ü t z e   M o h r   vernommen, die am 9. Februar mit Grupen, den beiden Kindern und der Großmutter nach Kleppelsdorf kam. Sie stand zu Grupen in einem   i n t i m e n   V e r h ä l t n i s   und wurde daher zunächst nicht vereidigt. Auf die Frage des Vorsitzenden, ob Grupen am Tage des Mordes zur kritischen Zeit das Zimmer verlassen habe, gibt die Zeugin eine   v e r n e i n e n d e   A n t w o r t   und bleibt auch dabei, als ihr vorgehalten wird, daß die kleine Irmgard Rohrbeck (richtig: Irmgard Schade!) in der gestrigen Verhandlung das Gegenteil aussagt. Sie erklärt weiter, Grupen habe ihr gesagt, sie solle die Wahrheit aussagen, dann werde er bald frei sein.

 

Dann wird der Vormund der ermordeten Dorothea Rohrbeck,   H a u p t m a n n   V i e l h a c k ,   Charlottenburg, vernommen. Er gibt an, wie es zu den Differenzen zwischen ihm und der Erzieherin gekommen ist, die seiner Ansicht nach   z u   v i e l   G e l d   verbraucht habe. Der Vorsitzende meint, daß ihr für die Wirtschaftsführung und die Erziehung der Dorothea Rohrbeck   n i c h t   g e n ü g e n d   M i t t e l   zur Verfügung gestellt wurden. Was der Zeuge sonst noch vorbringt, stellt sich als beweisloses Gerede heraus. Er gibt auch selbst zu, daß er gerne größere Geldmittel zur Verfügung gestellt hätte, wenn nicht Fräulein Zahn die Erziehung geleitet hätte.

 

 

 

Sonnabend, den 10. Dezember 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Der Doppelmord in Kleppelsdorf.

Im Laufe der Sitzung am Donnerstag ergab sich zunächst ein heiter wirkendes Zwischenspiel dadurch, daß bekannt wurde, in wie umfangreicher Weise sich der Angeklagte mit   H e i r a t s p l ä n e n   beschäftigt hat. Gelegentlich der Schlußvernehmung : „Was würdet Ihr eigentlich hier in Kleppelsdorf sagen,

wenn ich die alte Großmama heiraten würde?“

(Große Heiterkeit.) - Zeugin: Jawohl, das hat Herr Grupen tatsächlich gesagt. - Vors.: Wann war denn das? - Zeugin: Das war, wie ich mich genau erinnere,   a m   T a g e   v o r   d e r   T a t . -   Vors.: Wie war denn überhaupt das Verhältnis zwischen der siebzigjährigen Frau Eckert und ihrem jugendlichen Schwiegersohn? - Zeugin: Es war ein

besonders zärtliches Verhältnis.

Frau Eckert sprach sich sehr oft anerkennend über Herrn Grupen aus, und er hat sie seinerseits mehrfach auf das   h e r z l i c h s t e   g e s t r e i c h e l t . -   Vors.: Und außer dem Plan mit der Großmama, den Sie wohl nicht ernst genommen haben, hat er auch zu Ihnen eine Art Heiratsantrag gemacht? - Zeugin: Einen direkten Antrag nicht, aber er sprach so darüber weg in ähnlichem Sinne. Aber ich habe auch das nicht ernst genommen. - Oberstaatsanwalt: Hielten sie das ganze Verhältnis zwischen Grupen und der Großmutter für ein ungewöhnliches? - Zeugin (nach längerem Besinnen): Ich weiß nicht, wie ich mich darauf kurz äußern soll, aber das kann ich wohl sagen, ein solches Verhältnis zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn habe ich   n o c h   n i c h t   g e s e h e n . -   Vors.: Der Angeklagte soll auch mal an die kleine Ursula in Bezug auf Heiratspläne seinerseits gedacht haben. - Zeugin: Jawohl, das ist auch richtig. (Erneute große Heiterkeit.) - Justizrat Dr. Mamroth: Fräulein Zahn, Sie nahmen wohl aber den Ausspruch, die alte Großmama heiraten zu wollen, die mehr als 70 Jahre alt ist, nicht ernst. - Zeugin: Nein, das habe ich allerdings nicht ernst aufgefaßt. - Vors.: Außer diesen Heiratsgeschichten haben auch religiöse Gespräche stattgefunden. Sie sollen religiös sein, und an Gott glauben, Grupen dagegen nicht. - Zeugin: So genau weiß ich das nicht, was Grupen eigentlich denkt und woran er glaubt, aber als höchste Macht erkannte er, wie er einmal im Gespräch äußerte,   n u r   d i e   L i e b e   an. - Vors.: War Ihnen eigentlich bekannt, daß die kleine Ursula krank war? - Zeugin: Jawohl. Die Großmutter äußerte übrigens: „Es ist doch sehr schön, daß Peter (der Angeklagte) das Kind selbst behandelt.“ - Oberstaatsanwalt: Faßten Sie den Plan, die Kinder zusammenzulassen, weil sie so gut standen? - Zeugin: Nein, nicht direkt deshalb: ich wollte, daß Ursula, deren ganzer Zustand mir als nicht günstig auffiel, lebhafter, freier werden sollte. Ihr Bedrücktsein sollte weichen. Jedenfalls standen die beiden aber durchaus gut, und Ursulas Sorgen müssen andere Ursachen, als etwa aus dem Verkehr mit Dörte herrührend, gehabt haben. - Die

Vorgänge am Mordtage

schildert Frl. Zahn folgendermaßen: Als Ursula rief: „Dörte, komm doch mal runter!“ sei ihr das aufgefallen, weil das in der ganzen Art und um diese Mittagsstunde   e t w a s   u n g e w ö h n l i c h   war. Sie hat dann im Nebenzimmer Türen hören gehen, aber keine Schritte vernommen. Da sie Dörte gebraucht habe, so rief sie in das Nebenzimmer, wo   G r u p e n   mit den übrigen Personen am Mühlebrett saß: „Irma, sieh doch mal nach, wo Dörte ist.“ Grupen habe darauf gerufen: „Dörte wird gleich kommen.“ Darauf erschien Irma wieder und erklärte, sie könne Dörte nicht finden. Bald darauf kam das Dienstmädchen Mende und bat um eine Schüssel. Ich ging daher durch das Winterwohnzimmer in den Saal.   G r u p e n   s a h   m i c h   b e i   d i e s e r   G e l e g e n h e i t   d u r c h d r i n g e n d   a n ,   was mir sofort auffiel. Ich gab dem Mädchen die Schüssel und arbeitete dann weiter. Bald darauf kam das Mädchen zurück und sagte: das Essen sei fertig. Ich erteilte ihr darauf den Auftrag, Dörte zu rufen. Gleich darauf hörte ich Schritte und Schreien. Luise rief:

„Die Kinder liegen ja im Blut.“

Leider kam ich erst als Letzte in das Mordzimmer, da ich verstanden hatte, sie liegen in dem entfernten Herrenzimmer und mich dorthin begab. Als ich hinauslief, um in das richtige Zimmer zu gelangen, kam mir   G r u p e n   entgegen und schrie:   „ A c h   B e r t i ,   d i e   K i n d e r ! “ -   Vors.: Hat der Angeklagte, während Irma nach unten ging, mit Ihnen gesprochen? - Zeugin: Ja, das fiel mir gerade besonders auf, daß er   s o   s e h r   a n r e g e n d   s p r a c h   u n d   l e b h a f t   w a r ,   da es sich doch um ganz belanglose Sachen handelte. So fragte er mich unter anderem, ob ich wüßte, was auf Hamburgisch „Küßchen" heißt. - Vors.: Als nun die Türen gingen, haben Sie aber nicht gesehen, wer hinausging? - Zeugin: Nein. - Vors.: Da es außerordentlich wesentlich ist,   i n   w e l c h e r   R e i h e n f o l g e   sich die Dinge abgespielt haben, so wiederhole ich alle Ihre Aussagen wie folgt: Dörte wurde gerufen, dann gingen Türen, es folgte der Ausspruch an Irma, die Dörte zu suchen, und hierauf kam das auffallende Gespräch von Grupen. - Die Zeugin bestätigt das. - Oberstaatsanwalt: Ist es richtig, daß Dörte zu einer Hochzeit wollte und sich auf ihr erstes weißes Kleid bei dieser Gelegenheit freute? Dieses Kleid haben Sie ihr dann als   T o t e n k l e i d   in das Grab gegeben? - Zeugin: Jawohl. Zeugin schildert dann

Grupens Aufregung bei den Leichen

und seine immer wiederholte Bitte, Ursula zu retten, damit sie erklären könne, wer der Täter sei. Sie habe schließlich   G r u p e n s   W e i n e n   u n d   d a s   d e r   G r o ß m u t t e r   nicht länger ansehen können und beide in das Nebenzimmer gehen lassen, wobei ihr Grupen die Hände lebhaft entgegenstreckte, die sie aber nicht annahm. - Auf eine Frage des Professors Schneidemühl, ob Ursula ein launenhaftes Kind war, meint die Zeugin, daß dies nicht der Fall war. Sie war leicht umzustimmen, nicht vorlaut und noch recht kindlich.

 

Es wurde sodann beschlossen, die   B r i e f e   d e s   A n g e k l a g t e n   dem Geheimrat Dr. Moll-Berlin und dem Professor Schneidemühl zur Prüfung zu überreichen, weil der Verdacht besteht, daß der Angeklagte   d i e   A b s c h i e d s b r i e f e   s e i n e r   F r a u   v i e l l e i c h t   s e l b s t   g e s c h r i e b e n   haben könnte, oder sie beeinflußt habe. Es wird bei dieser Gelegenheit bekannt, daß Grupen im Untersuchungsgefängnis sich auch mit dem Anfertigen von   G e d i c h t e n   befaßt habe. - Der Angeklagte will diese Sachen mit überreichen, was jedoch als überflüssig bezeichnet wurde.

 

Die Vernehmung der elfjährigen Irmgard.

Es soll jetzt die mit großer Spannung erwartete Vernehmung der   I r m g a r d   S c h a d e   folgen. Der Oberstaatsanwalt bittet, während dieser Aussage den Angeklagten abführen zu lassen. - Justizrat Dr. Ablaß sieht dazu keinen Grund. - Vors.: Wir haben gestern auf dem Lokaltermin gesehen, wie Irmgard   ä n g s t l i c h   w e i n t e ,   als sie den Angeklagten sah, sodaß ich ihn deshalb vorübergehend abtreten ließ. - Der Gerichtshof beschließt darauf, die Vernehmung   i n   A b w e s e n h e i t   d e s   A n g e k l a g t e n   vorzunehmen, der darauf abgeführt wird. Hierauf betritt Grupens Stieftochter den Saal. Die Kleine macht einen sehr ungezwungenen Eindruck, und sie tritt recht munter auf den Vorsitzenden zu, nachdem sie sich allerdings vergewissert hatte, daß der Stiefvater nicht zugegen war. Bevor noch der Vorsitzende in die eigentliche Verhandlung eintritt, sagt sie ziemlich   l a u t   z u m   R i c h t e r t i s c h   hinüber:

Er kam hinter mir her!

Vors.: Klein-Irmgard, nicht so hastig, darauf kommen wir noch. Sage mal zunächst: Hatte euch der Stiefvater eigentlich lieb? - Zeugin: Manchmal war er recht gut, manchmal aber schlug er uns auch. - Vors.: Wen hatte er denn besonders lieb? - Zeugin: Die Ursel, denn sie half ihm immer wegen seines Armes. - Vors.: Eure Mama fuhr doch eines Tages mal fort und ist dann nicht wiedergekommen. Wie war denn eigentlich der Abschied? - Zeugin: Na so, als wenn sie ein paar Tage fort wollte. - Vors.: Hat sie euch geküßt? - Zeugin: Ja, sie sagte beim Kaffee: „Ich muß schnell fort.“ - Vors.: Hat denn euer Stiefvater immer mit euch gebetet? - Zeugin: Ja, das hat er getan, und als Mutti weg war, schlief Vater bei uns mit. (Die Zeugin gebraucht übrigens   n u r   e i n m a l   an dieser Stelle das Wort   „ V a t e r “   in Bezug auf den Angeklagten; im übrigen nennt sie ihn ausschließlich   „ e r “ ) -   Vors.: Hast Du überhaupt einmal einen Revolver gesehen? - Zeugin: Nein. - Vors.: Als ihr nun nach Kleppelsdorf fuhrt, da hast du doch in der Eisenbahn auf Ursulas Schoß geschlafen.   H a s t   d u   d i c h   d a   i r g e n d w o   a n   e i n e r   P a t r o n e n t a s c h e   g e d r ü c k t ? -   Zeugin (nach langem Besinnen):   N e i n .   (Eine nicht unbedeutende Bekundung, weil Grupen erklärt hatte, Ursula müsse den Revolver und die Patronen heimlich in ihren Kleidern verborgen mit nach Kleppelsdorf gebracht haben.) - Vors.: Oder hast du mal im Schubfach in Kleppelsdorf, wo ihr eure Sachen beieinander hattet, Patronen oder einen Revolver gesehen? - Die kleine Zeugin guckt mit großen, fragenden Augen in den Saal und sagt dann fest:   N e i n ,   n i e m a l s . -   Sie schildert dann die bekannten Vorgänge am Mordtage und meint:   G r o ß m u t t i   h a t ,   w ä h r e n d   w i r   M ü h l e   s p i e l t e n ,   e i n   N i c k e r c h e n   g e m a c h t.

 

Eine Bekundung von außerordentlicher Bedeutung.

Es folgt nun eine Bekundung der Irmgard Schade, die von außerordentlicher Bedeutung ist und im Saal die größte Erregung hervorrief. Obwohl einige der Prozeßbeteiligten sehr nahe an das Kind herantraten, um jedes Wort deutlich aufzunehmen und sie der Vorsitzende mit väterlichen Worten immer wieder zur strengen Wahrheit ermahnte, blieb Irmgard bei ihrer Behauptung, die auf folgendes hinauslief:

 

Der Vater habe sie von dem Zimmer, in dem Mühle gespielt wurde (also kurz vor der Tat), zur Toilette hinausgeschickt, damit sie einen Apfel, der schlecht war, wegwerfe. Als sie aus dem Zimmer heraustrat, „ging er“, sagt die Zeugin frei und bestimmt, „hinter mir her“.

 

Im Zuhörerraum und auch auf den Bänken der Geschworenen macht sich bei diesen Bekundungen deutlich   g r o ß e   E r r e g u n g   bemerkbar. Man folgt den weiteren Erzählungen der Kleinen in atemloser Spannung. Nachdem sich die erste Erregung etwas gelegt hat, erklärt Justizrat Dr. Mamroth: Ich stelle fest, daß die kleine Zeugin, obwohl sie doch schon mehrfach vernommen wurde, so auch auf Schloß Kleppelsdorf,   b i s h e r   e i n e   d e r a r t i g e   A u s s a g e   n i c h t   g e m a c h t   hat. Die Erzählung von dem Nachkommen des Vaters ist   v o l l k o m m e n   n e u . -   Justizrat Dr. Ablaß: Als die kleine heute morgen in den Saal trat, rief sie instinktiv: „Er kam hinter mir her“, das ist uns allen ja aufgefallen. Offenbar legte sie besonderen Wert darauf, dies heute zu bekunden. - Vors.: Es ist allerdings vollkommen neu, erklärt sich vielleicht aber daraus, daß die Kleine beim Lokaltermin auf Schloß Kleppelsdorf sich schärfer an die damaligen Vorgänge erinnert hat. - Vors. (zur Zeugin): Klein-Irmgard, du sagst uns doch auch die volle Wahrheit? Du weißt doch, daß es eine große Sünde vor Gott und den Menschen ist, zu lügen! Hat dir irgend jemand gesagt, daß du das bekunden sollst? - Die Zeugin erklärt schließlich, daß sie sich in der Tat auf Kleppelsdorf an die damaligen Vorgänge erinnert habe, auch schon im Sommer, als sie schon einmal da war. Sie wohnt jetzt bei Frau Rittmeister Lux, und diese habe ich gestern gesagt:   „ W e n n   d u   d a s   g e n a u   w e i ß t ,   m u ß t   d u   e s   a u c h   s a g e n . “ -   Auf alle Vorhaltungen seitens der Verteidigung und des Oberstaatsanwalts

 

bleibt die Zeugin fest bei ihrer Bekundung, wonach der

Vater ihr in dem kritischen Augenblick gefolgt sei.

 

Der Gerichtshof beschließt nach längerer Beratung, den Antrag, daß die Irmgard Schade dem Vater so gegenüber gestellt werden soll, daß sie ihm in das zu sehen hat, abzulehnen. Eine solche Art der Vernehmung sei in der Strafprozeßordnung nicht vorgeschrieben und nach dem Gutachten des Geheimen Medizinalrats Dr. Moll nicht angebracht. Dagegen werde der Gerichtshof der Anregung des Justizrats Dr. Mamroth nachgeben und die Großeltern über die Glaubwürdigkeit des Kindes und den angeblichen Diebstahl als Zeugen vernehmen.

 

Hierauf wurde Frau Rittmeister   L u x ,   bei der die Kleine eine Zeitlang untergebracht war, als Zeugin aufgerufen.

 

Zunächst wird der   A n g e k l a g t e   wieder hereingerufen. Der Vorsitzende liest ihm die Aussage vor. Der Angeklagte folgt   m i t   e i s e r n e r   R u h e   und erklärt, er habe Irmgard die Tür geöffnet, sei aber   n i c h t   g e f o l g t . -   Irmgard bleibt bei ihrer Bekundung, wobei sie dem Angeklagten den Rücken zudreht.  Angeklagter (in Erregung): Irmgard ist schon vor Jahren ein lügenhaftes und verstocktes Kind gewesen und hat der Großmutter 50 Mark gestohlen.

 

Nach der den Angeklagten Grupen belastenden Aussage seiner Stieftochter Irmgard wurde der   V o r m u n d s c h a f t s r i c h t e r   Amtsgerichtsrat Thomas als Zeuge vernommen. Dabei kam es zwischen dem Zeugen und der Erzieherin Frl. Zahn zu einer

erregten Szene,

die durch das Eingreifen der Geschworenen ein ungewöhnliches prozessuales Nachspiel hatte. Der Zeuge erzählt: Kurz vor der Tat hatte der Vormund beantragt, einige alte morsche Kastanienbäume vor dem Herrenhause niederhauen zu lassen, wogegen Frl. Dorothea Rohrbeck, die die alten Bäume liebte, Einspruch erhob. Der Vormund bestand darauf, weil er die Verantwortung für einen Unglücksfall nicht übernehmen konnte. Fräulein Rohrbeck hatte am Tage vor der Mordtat die Entscheidung des Vormundschaftsgerichts zugestellt erhalten. Als ich dann am Tage der Tat um 3 Uhr mit der Eisenbahn aus Hirschberg in Lähn ankam, wurde ich von Sanitätsrat Dr. Scholz und anderen abgeholt, die mich von dem Geschehenen in Kenntnis setzten. Ich eilte sofort nach dem Herrenhause, wo mir Frl. Zahn entgegentrat. Ich fragte: „Dorothea wird sich doch die Geschichte mit den Bäumen nicht zu Herzen genommen haben?“ Ich zitterte an allen Gliedern, während Fräulein Zahn eine unglaubliche Ruhe bewahrte. Ich konnte ihr keine Erregung anmerken.   S i e   h a t   g e l a c h t . -   Hierauf ruft Frl. Zahn unter Schluchzen:

 

„Das ist zu viel, Herr Vorsitzender, das ist zu viel, das kann ich nicht ertragen.“

 

Auf Zureden des Vorsitzenden verläßt Frl. Zahn den Saal in tiefer Erregung. - Vors. (zum Zeugen): Wollten Sie vorher wirklich sagen, daß Fräulein Zahn gelacht hat, oder wollten Sie nur sagen, daß Fräulein Zahn eine bewundernswürdige Ruhe zeigte. - Zeuge: Ich wollte sagen, daß ich nie ein Fräulein gesehen habe, die in einer solchen furchtbaren Situation eine solche Ruhe gezeigt hat. - Vors.: So - ich habe vorher nach dem Ton Ihrer Aussage die Empfindung gehabt, als wollten Sie an Fräulein Zahn   e i n e   ü b l e   K r i t i k   üben. - Da erhebt sich ein Geschworener: Ich möchte im Namen der Geschworenen eine Erklärung abgeben. (Große Bewegung im Saale)   I m   N a m e n   d e r   G e s c h w o r e n e n   erkläre ich, daß wir uns dem Urteil des Herrn Vorsitzenden über die Aussage des Zeugen anschließen. - Justizrat Dr. Ablaß: Ich bitte Herrn Oberlandesgerichtsrat, diesen Beschluß der Geschworenen zu   p r o t o k o l l i e r e n . -   Oberstaatsanwalt Dr. Reifenrath: Aber meine Herren, das ist doch kein richtiger Beschluß der Geschworenen. Im übrigen erscheint es mir sehr zweifelhaft, ob sich die Herren Geschworenen untereinander   ü b e r h a u p t   v e r s t ä n d i g e n   k o n n t e n ,   daß Herr Bankdirektor Beckert in ihrer aller Namen eine derartige Erklärung abzugeben überhaupt in der Lage war. Mir scheint es, daß es sich mehr   u m   d e n   A u s d r u c k   d e r   M e i n u n g   der Herren handelt. - Der Gerichtshof beschließt nach weiteren Erörterungen hierüber die Protokollierung des Vorfalles.

 

Aus der

Vernehmung des Zeugen Amtsrichters Thomas

über die amteriellen und sonstigen Verhältnisse auf Schloß Kleppelsdorf und der Leidensgeschichte der Dorothea Rohrbeck muß noch folgendes hervorgehoben werden: Der Zeuge war mit einigen Unterbrechungen   V o r m u n d s c h a f t s r i c h t e r   in der Angelegenheit. In Uebereinstimmung mit dem Vormund Vielhack war er der Meinung, daß in Kleppelsdorf unter der Leitung des Fräulein Zahn zu viel Ausgaben gemacht wurden. Unter lebhafter Bewegung im Saale und zum größten Erstaunen auch des Vorsitzenden gibt der Zeuge zu, er sei tatsächlich der Meinung gewesen, daß sich aus den Sachen des verstorbenen Herrn Rohrbeck Kleider auch für seine Tochter hätten machen lassen. - Vors.: Aber wie denken Sie sich dies eigentlich, Herr Zeuge? - Zeuge (nach einer kurzen Pause): Ich habe daran gedacht, daß sich vielleicht   a u s   s e i d e n e n   S p o r t h e m d e n   e i n e s   H e r r n   B l u s e n   f ü r   d i e   K o n f i r m a t i o n s f e i e r   e i n e s   j u n g e n   M ä d c h e n s   herstellen lassen. (Stürmische Heiterkeit.) Dagegen bestreitet der Zeuge, daß er jemals der Meinung gewesen sei, daß das Konfirmationskleid selbst aus Kleidern des Herrn Rohrbeck anzufertigen wäre. Vielmehr seien hierfür ausdrücklich 800 Mark ausgeworfen worden. - Vors.: Was bekam der Vormund für seine Mühewaltung? - Zeuge: Zunächst jährlich 2000 Mark und Erlaß der Reisekosten sowie 15 Mark Tagegelder bei Reisen. Später stellte der Vormund den Antrag, seine Entschädigung auf 4000 Mark zu erhöhen, was aber zu hoch erschien, sodaß ich die Festsetzung auf nur 3000 Mark durchsetzte. Der Gegenvormund Bauer war schließlich Verwalter des Gutes. - Vors.: Dann ist noch merkwürdig, daß, je größer die Teuerung wurde, umso niedriger die Mittel, die dem Mündel bewilligt wurden. So erhielt Fräulein Zahn im Jahre 1921-21 in der   W o c h e   1 2 0   M a r k ,   und damit sollten die beiden Damen auskommen? - Zeuge: Sie erhielten aber auch Naturalien. Außerdem hat Herr Rohrbeck 10 000 Mark für die   E r z i e h u n g   seiner Tochter ausgesetzt. - Vors.: Aber offenbar wurde doch damit die Ausgabe für die Erziehung gemeint und nicht die gesamten Unterhaltskosten? - Zeuge: Der Vormund und ich waren der Ansicht, Herr Rohrbeck habe damit den   g e s a m t e n   U n t e r h a l t   gemeint.

 

Amtsrichter Thomas führt dann noch aus, daß nach seiner Meinung Dörte Rohrbeck und Fräulein Zahn etwas über ihre Verhältnisse gelebt hätten, kann das aber nicht durch bestimmte Tatsachen belegen. Seine weitere Vernehmung gestaltet sich zu einem sehr

peinlich wirkenden Zwiegespräch

zwischen dem Vorsitzenden und ihm, wobei der Vorsitzende bei vielen Punkten sehr deutlich zu verstehen gibt, daß das Verhalten des Zeugen die   K r i t k   g e r a d e z u   h e r a u s f o r d e r e .

 

Es folgt die Vernehmung der Frau Rittmeister   L u x ,   bei der sich jetzt die kleine   I r m g a r d   S c h a d e   aufhält. Die Zeugin betont, daß sie das Kind keinesfalls veranlaßt habe, auch nur ein Wort mehr oder weniger zu sagen, als die reine Wahrheit. Als Irmgard jetzt erzählte, daß der Vater ihr kurz vor der Tat auf die Toilette nachgekommen sei, habe sie ihr gesagt: „Dann mußt Du dies dem Herrn Richter mitteilen.“ Ueber den Charakter des Kindes meint die Zeugin, daß die Irmgard ein recht   g u t a r t i g e s   Kind sei, sie habe sie bisweilen bei kleinen Lügen ertappt, aber niemals bei schlimmen Dingen.

 

 

 

Montag, den 12. Dezember 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Der Doppelmord in Kleppelsdorf.

Vernehmung der Marie Mohr.

Die Sitzung am Freitag wird mit der Vernehmung der Stütze   M a r i e   M o h r   eingeleitet. Die 21 Jahre alte Zeugin wird unter Aussetzung der Vereidigung vernommen. Vors.: Sie haben in der Voruntersuchung gesagt, Sie glaubten alles, was der Angeklagte sage. Vor dem Untersuchungsrichter haben Sie auch erklärt, daß Sie gar nicht wüßten, warum alles niedergeschrieben werde, Sie hielten das für eine große Papierverschwendung. Mit Rücksicht auf diese Aeußerungen und auf Ihr Verhältnis zu dem Angeklagten muß ich Sie ganz besonders darauf aufmerksam machen, daß Sie hier die reine Wahrheit zu sagen haben. - Oberstaatsanwalt Dr. Reifenrath beantragt, währen der Vernehmung der Zeugin den Angeklagten aus dem Saal zu entfernen. - Die Verteidiger erheben Einspruch. Sie befürchten keine Beeinflussung der Zeugin durch den Angeklagten. - Geheimrat Dr. Moll hält die Besorgnis einer Beeinflussung für begründet. Es handle sich um ein junges Mädchen, das zu dem Angeklagten in sehr intimen Beziehungen gestanden habe. - Das Gericht lehnt den Antrag des Staatsanwalts ab, es behält sich aber vor, den Angeklagten abführen zu lassen, sobald die Befürchtung begründet erscheint. Geheimrat Moll wird gebeten, dem Gerichtshof mitzuteilen, wann etwa dieser Zeitpunkt eintreten sollte. - Der Vorsitzende ersucht die Zeugin, zu den Geschworenen gewendet zu sprechen. - Frl. Mohr, die an einer Mandelentzündung erkrankt ist und daher schwer verständlich ist, bekundet: Am 9. oder 10. Februar hat mir Ursula einen   B r i e f   a n   G r o ß m u t t e r   übergeben und gesagt: „Das wird

eine große Ueberraschung für Großmutti

sein.“ Ursula forderte aber den Brief zurück und sagte, Großmutter solle ihn erst übermorgen erhalten. Am nächsten Tage wollte Ursula, daß ich den Brief noch nicht abgebe, weshalb ich ihn ihr wieder zurückgab. - Staatsanwalt: Was hatten Sie für einen Eindruck, als die Ursel sagte: „Das soll eine Ueberraschung für Großmutter sein“? - Zeugin: Ursula war   s e h r   v e r g n ü g t   d a b e i . -   Vors.: Hat damals der Angeklagte von dem Brief etwas gehört? - Zeugin: Nein. - Verteidiger Dr. Ablaß: Ist die Ursula einmal nachts an das Bett der Großmutter gegangen und hat sie dabei geweint? - Der Staatsanwalt weist darauf hin, daß dieser Vorgang im Zusammenhang stehe mit Dingen, die in geheimer Sitzung beraten seien. - Der Verteidiger ist damit einverstanden. - Die Zeugin bestreitet, die Rollstube jemals verschlossen zu haben.

 

Hat Grupen das Zimmer verlassen?

Justizrat Mamroth: Ich möchte noch einmal, weil wir hier in der Tat an einem   a u ß e r o r d e n t l i c h   w i c h t i g e n   P u n k t   angelangt sind, in aller Schärfe fragen (mit erhobener Stimme):   K ö n n e n   S i e ,   F r ä u l e i n   M o h r ,   u n d   w o l l e n   S i e   h e u t e   b e s c h w ö r e n ,   d a ß   G r u p e n   n a c h   I h r e r   b e s t e n   E r i n n e r u n g   d a s   Z i m m e r ,   i n   d e m   M ü h l e   g e s p i e l t   w u r d e ,   b i s   z u m   A u g e n b l i c k   d e r   T a t   n i c h t   v e r l a s s e n   h a t ?  -   Zeugin:   J a w o h l ,   d a s   k a n n   i c h . -   Vors.: Ist Grupen aber nicht aufgestanden und hat er der Irma nicht die Tür zum Schrankzimmer aufgemacht? - Zeugin:   N e i n . -   Vors.: Der Angeklagte hat es gestern selbst gesagt! Ist Grupen im Zimmer hin und her gegangen? - Zeugin:   N e i n ,   wir haben Mühle gespielt. - Verteidiger Dr. Mamroth: Sie haben schon in der Voruntersuchung erklärt, jederzeit zu beschwören, daß Grupen das Zimmer nicht verlassen habe. - Ein Beisitzer macht die Zeugin darauf aufmerksam, daß sie in ihrem heutigen Verhör verschiedene Fragen nicht mit derselben Genauigkeit beantwortet habe, wie die, ob Grupen das Zimmer verlassen habe. - Die Zeugin erwidert, sie habe andere Sachen vergessen, weil sie unwichtig seien. - Vors.: Hat der Angeklagte später nicht gesagt:   „ E s   i s t   g u t ,   d a ß   w i r   a l l e   g e s a g t   h a b e n ,   d a ß   i c h   i n   m e i n e m   Z i m m e r   w a r ? “ -   Zeugin: Ich kann mich darauf nicht erinnern. - Vors.: Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie in der Voruntersuchung erklärt haben, alles zu glauben, was der Angeklagte sage. Ueberlegen Sie sich Ihre Aussagen. - Angeklagter: Ich bitte darum, daß die Zeugin jede Nachsicht auf mich fallen läßt. - Vors.: Das ist ganz selbstverständlich. Die Zeugin hat gar keine Rücksicht auf Sie zu nehmen. (Zur Zeugin): Hat der Angeklagte nicht gesagt: „Es ist doch gut, daß wir zusammen waren, da wird meine Unschuld bald an den Tag kommen“? - Zeugin: Kann sein, daß er es gesagt hat. - Auf wiederholtes Befragen erklärt die Zeugin:   I c h   w e i ß   e s   n i c h t . -   Vors.: Was hat Grupen zu Ihnen gesagt, als er abgeführt wurde? - Zeugin: Ich sollte die Wahrheit sagen, dann wird sich seine Unschuld bald herausstellen. - Vors.: Hat er nicht gesagt, daß er, wenn Sie bekunden, daß er oben war, bald wieder frei sein werde? - Zeugin: Das weiß ich nicht. - Vors.: Aber überlegen Sie es sich genau. Ein anderer Zeuge bekundet diese Aeußerung. - Zeugin: Ich weiß es nicht.

 

Plattdeutsch.

Vors.: Was sagte Grupen zu Ihnen, als er am nächsten Tage nach einer nochmaligen Vernehmung im Schloß nach Hirschberg abgeführt wurde? - Zeugin: Das weiß ich nicht. - Auf wiederholtes Befragen erklärt die Zeugin: Grupen sagte, ich solle die Wahrheit sagen, daß wir oben im Zimmer zusammen waren. - Vors.: Als der Landjägermeister Klopsch dem Angeklagten das weitere Sprechen verbot, hat da der Angeklagte nicht   p l a t t d e u t s c h   g e s p r o c h e n ,   und was? - Zeugin: Ich weiß es nicht. - Auf wiederholtes Befragen des Vorsitzenden sagt die Zeugin schließlich: Der Angeklagte wird seine Ermahnung, die Wahrheit zu sagen, wiederholt haben. - Vors.: Da brauchte doch der Angeklagte nicht plattdeutsch zu sprechen. Hat er wirklich das gesagt? - Zeugin: Es kann sein. - Die Zeugin muß dann die Worte: „Sag´ die Wahrheit, dann komme ich bald heraus“ in Plattdeutsch sprechen. Sie spricht dies aber so aus, daß alle Anwesenden die Worte verstehen, während der Landjägermeister Klopsch die Worte des Angeklagten damals nicht verstanden hat. - Der Angeklagte spricht die Worte plattdeutsch aus, die er damals gesagt haben will:

„Segg de Wohrheit un gif man tau, dat wi tunsamen verkert hebbt.“

D i e s e   W o r t e   k a n n ,   b e s o n d e r s   b e i   d e m   T o n f a l l   d e s   D i a l e k t e s ,   n i e m a n d   i m   G e r i c h t s s a a l   v e r s t e h e n . -   Sachverständiger Dr. Peters: Ich verstehe auch plattdeutsch. Diese Worte lauten: „Sag´ die Wahrheit und gib nur zu, daß wir zusammen verkehrt haben.“ - Zeugin: Ja, das hat er gesagt. - Vors.: Es ist doch merkwürdig, vorhin habe ich Sie so eingehend gefragt, was der Angeklagte gesagt hat, und Sie haben immer und immer wieder versichert, daß Sie es nicht mehr wüßten, und jetzt wissen Sie es auf einmal. - Weiter gibt die Zeugin an, daß Frau Eckert das Gepäck für Kleppelsdorf eingepackt hat. Sie hat nicht bemerkt, daß die Ursula etwas unter ihrer Kleidung versteckt hatte. - Auf Befragen des Schießsachverständigen gibt die Zeugin an, daß der Angeklagte in Ottenbüttel   S c h i e ß ü b u n g e n   m i t   e i n e m   R e v o l v e r   angestellt hat. - Als wieder nach einer Aussage eine Bewegung im Zuschauerraum entsteht, bittet der Verteidiger Dr. Ablaß den Vorsitzenden, gegen solche Kundgebungen einzuschreiten. - Vors.: Ich habe schon wiederholt solche Kundgebungen gerügt und werde unnachsichtlich bei jeder Kundgebung des Beifalls oder Mißfallens den Zuschauerraum räumen lassen.

 

Der   A n g e k l a g t e   b e a n t r a g t   s e l b s t   kurz vor 1 Uhr den   A u s s c h l u ß   d e r   O e f f e n t l i c h k e i t ,   der auch erfolgt.

 

*

Bemerkenswert ist noch die Aussage des Vormundschaftsrichters   T h o m a s ,   eines Jagdfreundes des verstorbenen Rohrbeck, daß der Vater Dorotheas bestimmt habe, seine Tochter solle einfach erzogen werden. Als dem Zeugen vorgehalten wird, warum er nicht eingeschritten sei gegen die unzulänglichen Mittel, die für die Haushaltung ausgesetzt wurden, so unzulänglich, daß selbst der Waisenrat sich beschwerte, erwidert er, er habe blindlings dem Vormund, dem Hauptmann a. D.   E r i c h   V i e l h a c k   (Berlin) vertraut. Dieser, also

der Vormund der Dörte Rohrbeck,

gibt an, daß sein Verkehr mit Rohrbeck lediglich jagdfreundlichen Beziehungen entsproß. Er hat sich selbst gewundert, daß er zum Vormund ernannt worden sei. Er selbst habe Herrn Rohrbeck ersucht, einen Nachtrag im Testament aufzunehmen, daß Frl. Zahn die Erziehung Dörtes übernehmen sollte, so lange der Vormund glaubt, die Verantwortung dafür übernehmen zu können. 1914 trat er die Vormundschaft an. Nach dem Testament sollte Dörte erhalten, wenn sie sich verheiratet, 50 000 Mark, sonst bis zur Großjährigkeit 12 000 Mark jährlich. Der Vormundschaftsrichter erhöhte diese Summe auf 18 000 Mark, zuletzt auf 29 000 Mark, wofür der gesamte Haushalt des Schlosses bestritten, Gärtner, Köchin, die beiden Dienstmädchen und die Erziehung beglichen werden mußten! Mit diesem Gelde sollte Frl. Zahn auf alle Fälle auskommen und sich nach der Decke strecken. - Vors.: In den letzten Jahren reichte dieses Geld doch aber nicht mehr. - Zeuge: Wir haben uns alle einschränken müssen (Bewegung im Zuschauerraum. Der Vorsitzende rügt das Verhalten) und ich fühlte mich als Vormund nicht berechtigt, mehr zu geben, umso mehr, als   d i e   Z i n s e n   n i c h t   m e h r   a u s r e i c h t e n .   D i e   V e r h ä l t n i s s e   w a r e n   n i c h t   s o   g l ä n z e n d .   D i e   G ü t e r   w a r e n   n i c h t   s o   e r t r a g r e i c h .   Das Kapital hatte sich durch die Steuern und das Reichsnotopfer (621 000 Mark) verringert.

 

Das Barkapital betrug anderthalb Millionen.

Er hatte den Eindruck, daß Frl. Zahn schlecht gewirtschaftet hat: sie hatte den großen Garten zur Verfügung und das Federvieh und hätte sehr viel herauswirtschaften können. Er hatte weiter die Ueberzeugung, daß Frl. Zahn ihm das Kind entfremden wollte. Direkt hat er über die Seele und den Charakter des Kindes nichts erfahren können, sodaß er sich   h i n t e n h e r u m   darnach erkundigen mußte. In dieser Beziehung will er manches von der Lehrerin der Dörte erfahren haben. Darnach soll in Kleppelsdorf   s e h r   s c h l e c h t   g e g e s s e n   worden sein, während Frl. Zahn zentnerweise Speisen einweckte und Lebensmittel auf Vorrat kaufte. Er fand es auch für unpassend, daß Frl. Zahn die 14jährige Dorothea

in eine Liebesaffäre

mit einem Leutnant verwickelte. Das Bild dieses Herrn habe noch nach seinem Tode auf ihrem Schreibtisch gestanden. (Bei diesen Ausführungen werden wieder einige Zurufe aus dem Zuhörerraum laut, sodaß der Vorsitzende droht, den Saal räumen zu lassen, wenn sich die Störungen wiederholen.) Der Zeuge hatte Frl. Zahn zum 1. April 1921 gekündigt und Dorothea sollte von da ab in eine Pension. - Vors.: Warum haben Sie sich nicht bei den anderen Leuten erkundigt? Als Vormund hätten Sie sich doch nicht einseitig informieren lassen dürfen. - Zeuge: Ich bin immer davor gewarnt worden, kannte auch niemanden in Lähn. - Der Vormund gibt dann Aufklärung über die Differenzen mit Frl. Zahn, die sich daraus ergaben, daß Frl. Zahn stets selbständig handelte und ihn nicht befragte. - Der Vorsitzende erörtert dann die Sache der Konfirmation der Dorothea: er kam deshalb nicht, weil ihm ja die Erziehung abgenommen war, er war lediglich Vermögensverwalter. - Sodann berichtet der Vormund: Ich habe mich immer auf den Standpunkt gestellt, daß Fräulein Zahn mit den 18 000 Mark jährlich auskommen müßte. - Vorsitzender: Es war doch alles enorm teurer geworden? - Zeuge: Da muß man sich eben einschränken (Bewegung im Zuschauerraum). Meine Ueberzeugung war, daß das Gut allmählich aufgebraucht worden wäre, wenn man so weiter gewirtschaftet hätte. Frl. Zahn hat übrigens zuletzt gegen 30 000 Mark bekommen, d. h. einschließlich der Naturalien, denn sie hat allein 1919-20 über 1 300 Liter Milch und zwei Schweine zusammen 5 Zentner. Jedenfalls   h a b e n   d i e   A u s g a b e n   f ü r   d i e   G ü t e r   d i e   E i n n a h m e n   w e i t   ü b e r s c h r i t t e n ,   s o   d a ß   v o m   K a p i t a l   g e n o m m e n   w e r d e n   m u ß t e . -   Der Zeuge erörtert dann sein   V  e r h ä l t n i s   z u   G r u p e n ,   der sich anbot, in den Prozeßsachen, die zwischen ihm und Frl. Zahn schwebten, zur Verfügung stehen zu wollen. Aus den weiteren Angaben des Zeugen, der anscheinend allen Gerüchten Glauben schenkte, ging hervor, daß Grupen ihm dem Vormund gesagt hatte, er hielt es für seine Pflicht als Verwandter, gegen die Erziehung des Frl. Zahn einzuschreiten. Grupen sprach auch davon, sagt der Zeuge weiter, daß

Fräulein Zahn Verkehrungen zu verheirateten Leuten unterhalte;

Namen wollte er aber nicht nennen. (Die Zeugin Zahn kann sich bei diesen Ausführungen vor Erregung kaum halten und wird von den Umsitzenden beruhigt.) Auch von   b ö s e n   B ü c h e r n ,   die auf Kleppelsdorf gehalten wurden, hatte Grupen gesprochen, ebenso darüber, daß er ein reicher Mann sei. Vor allem aber habe er immer wieder die schlechte Erziehung durch Frl. Zahn hervorgehoben. - Der Zeuge glaubt das alles, obgleich er anderseits hörte, daß Frl. Zahn eine   V e r l o b u n g   z u r ü c k g e w i e s e n ,   um bei den Kindern zu bleiben. Der Zeuge berichtet dann noch, daß Grupen von seiner Frau behauptet habe, sie sei mit seiner Einwilligung fortgegangen; er habe sie außerdem als   v i e h i s c h - l e i d e n s c h a f t l i c h   bezeichnet. - Der Vorsitzende fragt den Vormund, ob er denn dem Angeklagten geglaubt habe, der seiner gesellschaftlichen Stellung nach - er war Maurerpolier - doch nicht unbedingt ohne weiteres glaubwürdig war. - Angeklagter:

Ich bin nicht Maurerpolier,

denn ich habe die Staatliche Baugewerkschule absolviert und kann, wenn ich selbständig bin, ohne weiteres den Titel Architekt führen. - Zeuge: Grupen selbst hat sich als reicher Mann aufgespielt. Er war dann noch einmal bei mir und erzählte mir, daß Dörte Zigaretten rauche und tanze trotz seines Verbots.

 

Die Kognakflasche.

Im weiteren Verlauf der Zeugenaussage wird festgestellt, daß das Gerücht von einem vergifteten Kognak, den Grupen seiner Schwiegermutter geben wollte, ein Gerede war, die Flasche mit dem angeblichen Gift in Wirklichkeit Bittermandel war.

 

Ein Fräulein   S e i d e l   aus Berlin sagt aus, Grupen habe sie als Privatsekretärin mit einem Monatsgehalt von 750 Mark mit nach Hamburg nehmen wollen. - Die Schwester der Geliebten des Angeklagten,   M a g d a   M o h r ,   weiß nichts davon, daß Grupen allen bei ihm in Stellung befindlichen Mädchen einen Heiratsantrag machte.

 

Hypnose.

In der Frage der Hypnose bekundet die Lyzeallehrerin   K i e f e r t   aus Itzehoe, Ursula Schade, die im Winterhalbjahr 1920-21 bei ihr zur Schule gegangen, habe einmal geäußert, als in der Stunde von Hypnose die Rede war: „Mutter kennt einen Mann, wenn der jemand fest ansieht, so müßte der machen, was der Mann will. Wenn er aber die Augen wegwendet, dann ist es vorbei.“ - Zeugin hält es bei dem fröhlichen Charakter des Kindes für ganz unmöglich, daß dieses Kind jemand niedergeschossen, oder auch nur die Handhabung des Revolvers kennt.

 

Frau Eckert als Zeugin.

Unter großer Spannung erfolgt die Vernehmung der 77 Jahre alten Frau   A g n e s   E c k e r t ,   der Schwiegermutter des Angeklagten und der Großmutter der erschossenen Ursula und Dorothea. Ihre Vereidigung wird ausgesetzt. Sie bekundet, daß Grupens Frau zunächst mit einem Herrn Schade verheiratet war, der   ä h n l i c h   w i e   R o h r b e c k   a u f   d e r   J a g d   v e r u n g l ü c k t e ,   was man anfänglich mit dem Seifenfabrikanten Schulz aus Perleberg in Verbindung brachte, der die Frau Schade „in der Buchführung“ unterrichtet und Reisen mit ihr gemacht, obwohl sie schon verheiratet war. Zeugin sagt weiter aus, daß Frau Schade nach dem Tod ihres Mannes die Braut Rohrbecks wurde, der das Verlobungsverhältnis aber löste und die andere Schwester heiratete (Anm.: das kann so zeitlich nicht passen). Grupen hat auf die Zeugin von vornherein einen sehr guten Eindruck gemacht, und sie hat es ihm hoch angerechnet, daß er eine Witwe mit drei Kindern heiratete. Zu den Kindern sei er stets gut gewesen.

 

Das Verschwinden der Frau Schade.

Vors.: Wir kommen jetzt zu dem Verschwinden Ihrer Tochter. Was ereignete sich am 19. September? - Zeugin: Meine Tochter schrieb mir an diesem Tage, sie führe nach Kleppelsdorf. - Vors.: Hat Ihre Tochter einmal davon gesprochen, daß sie eine größere Reise unternehmen wollte? - Zeugin: Ja, sie sagte öfter: „Deutschland gefällt mir nicht mehr, ich gehe nach Amerika, dann hole ich euch nach.“ Ich habe das aber für Scherz gehalten. Die Reise nach Kleppelsdorf war mir ganz unklar. Meine Tochter verabschiedete sich auch nur ganz flüchtig, so, als ob sie nur ein paar Tage weg wollte. - Vors.: Haben Sie keine Nachforschungen nach dem Verbleib Ihrer Tochter angestellt? - Zeugin: Grupen sagte mir, er habe einen Detektiv damit beauftragt. Auch erzählte er mir so viele Schlechtigkeiten von meiner Tochter, zeigte mir solch häßliche Photographien von ihr, daß ich selbst schon gar nicht mehr nachforschen wollte und ausrief: „Ach Gott, was ist aus meiner Tochter geworden?“ Einmal schrieb ich, wo meine Tochter wohl sein kann. Grupen verbot mir aber, den Brief abzuschicken, mit der Bemerkung:

 

„Wenn Du diesen Brief abschickst, sind wir beide fertig.“

 

Grupens Februarfahrt nach Kleppelsdorf kam der Frau Eckert überraschend. Die Koffer hat sie selbst gepackt und nicht gesehen, daß Ursula etwa einen Revolver in der Unterbindetasche hatte. - Vors.: Haben Sie vor der Reise gesagt: In Kleppelsdorf werde es einmal ein Ende mit Schrecken geben? - Zeugin: Nicht, daß ich wüßte. Die Zeugin entsinnt sich dessen nicht, auch nachdem Frl. Mohr und Frau Mohr bekunden, daß diese Aeußerung gefallen. Weiter erklärt die Zeugin auf Befragen, Ursula sei traurig gewesen, wenn sie nicht mit Grupen zusammen war. Ursula habe mit großer Liebe an ihm gehangen, sie war gebannt an den Mann.

 

Ein Geschworener fragt nach den unzüchtigen Photographien. Die Frage soll in nichtöffentlicher Sitzung beantwortet werden.

 

Die Vorgänge am Mordtage.

Frau   E c k e r t :   Am 14. Februar saß ich im sogenannten Winterwohnzimmer und häkelte. Grupen spielte mit der Mohr Mühle, Ursula saß auf dem Sofa und las. Dann war Ursula weg, ich habe ihr Weggehen nicht beobachtet. Dann spielte Frl. Mohr mit der Irma, während der Angeklagte mehrmals im Zimmer auf und ab ging. Er sprach auch mit dem im Nebenzimmer befindlichen Frl. Zahn. Irmgard stand dann auf, um die Reste von einem Apfel, den sie gegessen hatte, wegzubringen. Auch der Angeklagte war aufgestanden, und ich habe angenommen, daß er vielleicht der Irma den Ofen zeigen wollte, in den sie die Apfelreste werfen wollte.

 

Dann habe ich einige Zeit den Angeklagten nicht im Zimmer gesehen, vielleicht bin ich auch etwas eingenickt. Ich habe ihn nicht das Zimmer verlassen sehen oder hören. Die Zeit, in der ich den Angeklagten nicht beobachtet habe, würde dann meiner Ansicht genügen, die Tat unten zu verüben. Ursula traue ich auf keinen Fall die Tat zu.

 

Ich halte es sogar für vollständig ausgeschlossen, daß die körperlich sehr schwache Ursel, die nicht einmal eine schwere Kanne heben konnte, die Tat überhaupt ausführen konnte. - Vors.: Aber bei Ihren früheren Vernehmungen, besonders in Kleppelsdorf, haben Sie noch erklärt, daß Sie beschwören könnten, der Angeklagte habe überhaupt nicht das Zimmer oben verlassen, auch nicht auf Minuten. - Zeugin: Damals glaubte ich noch nicht, daß die furchtbare Tat, wie ich beim Lokaltermin erfahren, in so wenigen Minuten ausgeführt sein kann. Ich nahm an, daß es sich um eine Viertelstunde handeln müßte. Nachträglich bin ich an der Zuverlässigkeit meiner Wahrnehmungen in Zweifel geraten und halte jetzt die Behauptung aufrecht,   d a ß   i c h   G r u p e n   e i n   p a a r   M i n u t e n   a u s   d e n   A u g e n   v e r l o r e n   h a t t e .

 

Auf Antrag des Verteidigers Dr. Ablaß wird ein von der Zeugin an Wilhelm Grupen gerichteter   B r i e f   vom 15. Februar verlesen, in dem es u. a. heißt:

 

„Ein furchtbares Unglück kam über uns. Ursel hat aus Peters Schreibtisch den Revolver mitgenommen und gestern nachmittag die Dörte und sich selbst erschossen. Ist das nicht entsetzlich? Damit nicht genug, man hat Peter verhaftet, da man der Ursel das nicht zutraut. In der Zeit des Unglücks waren wir mit Irma oben im Wohnzimmer, was wir beide beschwören können. Also muß sich ja seine Unschuld herausstellen.“

 

Die Zeugin verneint die Frage des Verteidigers Dr. Ablaß, ob sie sich in den kritischen Momenten in einem hypnotisierten Zustandes befunden hätte, und fügte hinzu, sie sei überhaupt nicht zu hypnotisieren.

 

Der von der verschwundenen Frau Grupen zurückgelassene Koffer, der nach einem an den Knecht Roske gerichteten Zettel schmutzige Wäsche enthielt und nach Hamburg in eine Waschanstalt geschafft werden sollte, ist von der Zeugin vierzehn Tage nach der Abreise der Frau Grupen geöffnet worden. In dem Koffer befanden sich die Kleider, die sich Frau Grupen hatte umändern lassen, sehr schönes Schuhzeug, ein alter Schmuckkasten ohne wesentlichen Inhalt und saubere Wäsche. - Vorsitzender: Hat der Angeklagte zu Ihnen gesagt, seine Frau habe sich nach Lübeck abgemeldet? - Zeugin: Das hat er mir erzählt. - Vorsitzender: Ich muß eine Zwischenfrage stellen: Was ist die kleine Irma für ein Kind? Liebt es die Wahrheit? Ist sonst mal etwas vorgekommen? - Zeugin: Irma ist wie jedes Kind. Sie hatte mir einmal beim Staubwischen fünf Mark entwendet und sich dafür Verschiedenes gekauft. Sie hat wegen dieser Unredlichkeit fürchterliche Hiebe bekommen, sowohl von ihrem Vater wie von mir. Seitdem ist nichts mehr vorgekommen. - Angeklagter: Irma hat oft gesagt, sie habe keine Schularbeiten auf. - Zeugin: Davon ist mir nichts bekannt.

 

Der nächste Zeuge, Schneidermeister   A u g u s t   W a r n i n g   aus Hamburg, soll u. a. Aussagen über das Verschwinden der Frau Grupen machen können. Vorsitzender: In Hamburg wurde einmal die Leiche einer Frau angeschwemmt, die einen schweren Schnitt durch den Hals hatte. Ein Dienstmädchen soll Ihnen gesagt haben, daß es die Leiche kenne. - Zeuge: Ich weiß davon nichts, kenne auch den Namen des Dienstmädchens nicht. Ich weiß nur, daß Grupen in meinem Hause sein Absteigequartier hatte. - Vorsitzender: Wissen Sie, ob Grupen einmal einen langen Gummischlauch in sein Absteigequartier mitgebracht haben soll und es wird behauptet, daß er damit die Damen vergiften wollte. - Zeuge: Davon ist mir nichts bekannt. - Der Staatsanwalt behauptet, Grupen habe noch andere Wohnungen in Hamburg gehabt. - Angeklagter: Das bestreite ich entschieden. - Staatsanwalt: Wir werden die Zeugen darüber hören.

 

 

 

Mittwoch, den 14. Dezember 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Der Doppelmord in Kleppelsdorf.

S. Hirschberg, 12. Dezember

Am 7. Verhandlungstage wird zunächst die Zeugin Frau   O b e r s t   S e m m e r e k   vernommen. Auch ihr hat Dörte erzählt, daß sie bei der Alsterfahrt das Gefühl gehabt habe, daß

Grupen ihr nach dem Leben trachte.

 

Sie stellt Dörte in bezug auf Ihre Erziehung ein sehr gutes Zeugnis aus. Die Liebesgeschichte mit dem Leutnant hält sie für eine Mädchenschwärmerei. - Rittmeister   K a r l   L u x   hat Versuche angestellt, um festzustellen, ob Grupen ohne Wissen der Frau Eckert das Zimmer verlassen konnte. Er glaubt, daß dies leicht möglich war. Ueber den Raub, der an der Leiche der Dörte begangen worden ist, konnte er nichts in Erfahrung bringen. Der Zeuge hat die kleine Irma zu sich genommen und hat sehr viel Freude an dem Kinde. Von der Mutter der kleinen Irma hatte er den Eindruck, daß sie eine tüchtige Hausfrau war und sehr an ihren Kindern hing. - Die nächste Zeugin, Frau Hotelbesitzer   M e i s t e r - E r n s t   aus   H a m b u r g ,   erzählt, daß der Angeklagte bei ihr immer dasselbe Zimmer mit zwei Betten bestellt habe, weil es ihm so gut gefiel. Auch habe er einmal ein Zimmer für sich und seine Nichte bestellt, sei aber nicht eingezogen. - Dem nächsten Zeugen, Gutsverwalter   S c h ü r p k e ,   hat der Angeklagte erzählt, daß er ein sehr   g u t e r   S c h ü t z e   sei. Als der Zeuge ihn fragte: „Da schießen Sie wohl wie der Kaiser mit einem Arme?“, hat der Zeuge erwidert: „Vielleicht noch besser!“ Auch ihm habe Dörte erzählt, daß sie sich   v o r   G r u p e n   f ü r c h t e .   - Es folgt die Vernehmung des Zeugen Gasanstaltsdirektors   W r o b e l ,   der auf Wunsch der Staatsanwaltschaft nach dem Morde

zu hypnotischen Versuchen nach Kleppelsdorf gefahren.

 

Er schilderte, wie er Versuche angestellt hat, um festzustellen, ob die drei leicht zu beeinflussen seien und ob sie merken konnten, daß der Angeklagte das Zimmer verließ. Die kleine Irma und Frau Eckert hätten sich von dem Zeugen leicht beeinflussen lassen, die Mohr hätte ihm Widerstand entgegengesetzt. Die Zeugin Eckert habe nach kurzer Beeinflussung nicht mehr bemerkt, daß jemand das Zimmer verließ.

 

Im Gegensatz zu den neuerlichen Bekundungen der Frau   E c k e r t ,   wonach sie sich für nicht hypnotisierbar hält, bekundet   W r o b e l ,   d a ß   g e r a d e   F r a u   E c k e r t   s e h r   l e i c h t   z u   h y p n o t i s i e r e n   s e i ,   sie habe auch bei den versuchen in Kleppelsdorf nicht bemerkt, daß sich jemand aus dem Zimmer entfernte. - Es erschienen dann noch zwei Richter, Geheimrat   D u b i e l   und Landgerichtsrat   P i e t s c h ,   von denen der eine von einem starren Blick des Angeklagten erzählt, sodaß der das Gefühl hatte,   e r   w o l l e   i h m   a n   d i e   K e h l e ,   als er nach seiner Frau fragte. Der andere Zeuge erzählt, daß er das Gefühl hatte, Grupen halte in dieser Beziehung hinter dem Berge. Geheimrat   D u b i e l   will dann eingehend

den Verlauf der Tat schildern,

wie er sich ihn vorstelle, er wird jedoch vom Vorsitzenden darauf aufmerksam gemacht, daß das ein   G u t a c h t e n   und in dieser Form nicht zulässig sei. - Es erscheint dann ein damals 16 Jahre altes   D i e n s t m ä d c h e n   des Angeklagten. Ihr hat Grupen die Ehe versprochen, schon wie seine Frau noch bei ihm war. Die Zeugin hatte den Angeklagten gern und trat in engere Beziehungen zu ihm. Von einem Vergehen Grupens an seiner Stieftochter oder einer anormalen Handlung der Mutter der Ursula gegenüber weiß die Zeugin nichts anzusagen. - Zu Beginn der Nachmittagssitzung wird nochmals über die Briefe verhandelt, die die kleine Ursula geschrieben haben soll. Es sollen dann die Sittlichkeitssachen zur Sprache kommen, und es wird dabei die Oeffentlichkeit ausgeschlossen. Der Presse ist der Zutritt gestattet.

 

Soweit sich die Dinge bisher übersehen lassen, werden am   M i t t w o c h   d i e   l e t z t e n   Z e u g e n ,   namentlich Leumundszeugen aus Ottenbüttel, die die Verteidigung gestellt hat, vernommen werden. Am   D o n n e r s t a g   sollen die   S a c h v e r s t ä n d i g e n   zu Worte kommen. Die Erörterungen werden wohl den ganzen Tag ausfüllen, da eine Fülle schwieriger Fragen - Fern- oder Nachschuß, sexuelle Dinge, Hypnose, Suggestion usw. - zu klären ist. Nach dem „Programm“ des Vorsitzenden, Oberlandesgerichtsrat   K r i n k e ,   ist immerhin damit zu rechnen, daß

Sonnabend das Urteil gesprochen wird.

 

In den Abendstunden gab es auf der Promenade des sonst nur stillen Städtchens helle Aufregung. Eine Dame, die in einem Gespräch über den Prozeß verwickelt war, wurde für die verschwundene Frau des Angeklagten gehalten und bedrängt. Es stellte sich dann heraus, daß es sich um die Gattin eines höheren Breslauer Beamten handelte.

 

 

 

Donnerstag, den 15. Dezember 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Der Doppelmord in Kleppelsdorf.

Die Nachmittagssitzung gestaltete sich wieder äußerst lebhaft. Es wurde namentlich das Verschwinden der Frau des Angeklagten erörtert. Grupen geriet wiederholt in   f l a m m e n d e   E r r e g u n g :   er

 

s c h l u g   m i t   d e r   F a u s t   a u f   d i e   A n k l a g e b a n k .

 

Es kam schließlich zu einem Zusammenstoß zwischen dem Oberstaatsanwalt und dem Dr. Reifenrath und Justizrat Dr. Ablaß, der dem öffentlichen Ankläger vorwarf, daß in der Voruntersuchung die Formen nicht immer gewahrt worden seien. Der diplomatischen Sicherheit des Vorsitzenden gelang es abermals, die Herren zu beschwichtigen.

 

Eingangs der Nachmittagssitzung wird noch kurze Zeit unter Ausschluß der Oeffentlichkeit verhandelt. Es werden noch einige Mädchen vernommen, die sich durch   E h e v e r s p r e c h e n   des Angeklagten verleiten ließen, mit ihm in nähere Beziehungen zu treten. Einige dieser Mädchen waren in ähnlicher Art, wie die kleine Ursula, erkrankt. Ueber den Zusammenhang dieser Erkrankungen wurden gutachtliche Aeußerungen nicht abgegeben.

 

Eine   i n t i m e   F r e u n d i n   der verschwundenen Frau   G r u p e n   bekundet, daß der Angeklagte einmal zu seiner Frau gesagt habe: Durch Scheidung gehen wir nicht auseinander,

n u r   d i e   W a f f e   k a n n   u n s   t r e n n e n .

 

Der Angeklagte habe damit einen Selbstmord durch Erschießen gemeint, die Zeugin sei aber überzeugt, daß er Komödie spielte. Das Verhältnis zwischen den Eheleuten sei überhaupt nicht so gewesen, wie es nach außen hin schien und wie es hätte sein sollen. Hinter verschlossenen Türen wird auch   W i l h e l m   G r u p e n ,   der Bruder des Angeklagten, vernommen, der einen anormalen Vorgang zwischen der Frau des Angeklagten und der Ursula beobachtet haben will.

 

Die medizinischen Sachverständigen sprachen sich in ihrem Gutachten sehr zurückhaltend über die Wahrscheinlichkeit des dem Angeklagten zur Last gelegten Sittlichkeitsverbrechens aus. Die Möglichkeit eines intimen Verkehrs der Ursula im Rahmen der Diagnose könne immerhin vorliegen. Der Angeklagte erklärte sich mit dem Antrage eines Sachverständigen, von ihm eine Blutprobe zur Feststellung einer gewissen Krankheit zu entnehmen, einverstanden.

 

S p i r i t i s t i s c h e   G e r ü c h t e   ü b e r   F r a u   G r u p e n .

Im weiteren Verlauf der Sitzung gab der Vorsitzende Aufklärung über den Ursprung der seit Sonnabend in der Stadt umlaufenden Gerüchte, daß   d i e   v e r s c h w u n d e n e   F r a u   G r u p e n   s i c h   i n   d e r   W e s t s c h w e i z   a u f h a l t e .   Nach der Mitteilung des Vorsitzenden befand sich unter den vielen Zuschriften, die bei ihm täglich eingehen, auch ein Schreiben der Breslauer Staatsanwaltschaft, wonach sich bei ihr ein Herr Eichler gemeldet habe, der Auskunft über den Aufenthalt der vermißten Frau Grupen geben könne. Frau Grupen soll sich in   T u r n i   (Westschweiz) aufhalten. Auf Veranlassung der Hirschberger Staatsanwaltschaft ist Eichler in Breslau polizeilich vernommen worden, wobei sich herausstellte, daß das Gerücht über den Aufenthalt der Frau Grupen   d a s   E r g e b n i s   e i n e r   s p i r i t i s t i s c h e n   S i t z u n g   ist. Der Gerichtshof hat unter diesen Umständen davon abgesehen, Herrn Eichler als Zeugen nach Hirschberg zu laden.

 

Als erster Zeuge wird Apothekenbesitzer Schade (Berlin), der Vater des ersten Mannes der Frau Grupen, vernommen. Der Zeuge gibt an, daß er zunächst das Gefühl hatte, Grupen sei ein rechter Mensch. Der Angeklagte war nochmals bei ihm, als seine Frau bereits fort war.

 

E r   e r z ä h l t e   d a n n ,   d a ß   „ T r u d e “   i h m   6 0 . 0 0 0   M a r k   f o r t g e n o m m e n   h a b e ,   und nach Amerika gegangen sei. Sein Haushalt hat etwa 50.000 Mark in 9 Monaten verschlungen; trotzdem habe er noch 80.000 Mark zur Bank gebracht. Grupen erklärte jetzt, er habe damals lediglich gesagt, sein Grundstück wäre jetzt 80.000 Mark mehr wert. Es war der Eindruck dieses Zeugen, daß der Angeklagte damals andeuten wollte, seine Frau hätte nicht aus Not etwa fortzugehen brauchen. Als dem Zeugen der Abschiedsbrief übergeben wurde, habe er sofort geäußert:

 

„ D a s   h a t   d i e   T r u d e   u n m ö g l i c h   g e s c h r i e b e n “

und zwar, da der Briefstil ihrer ganzen Natur zuwider schien. Herr Schade meint, es müsse ein ganz   f a n a t i s c h e r   E i n f l u ß   hinter seiner Schwiegertochter gestanden haben. Von dem hier schon erörterten kleinen Diebstahl der Irmgard hat er von der Frau Eckert gehört. Er selbst weiß darüber nichts Näheres.

 

Hierauf wird die Gattin des Zeugen, Frau Schade, vernommen. Vors.: Sie sind die Schwiegermutter der Frau Grupen?

 

Zeugin (nach einer Pause): Was, ich die Schwiegermutter? Ach so, ja, ja natürlich, Sie haben ganz recht. (Heiterkeit.)

 

Die Zeugin schildert dann folgendes: Grupen war sehr zurückhaltend. Von einer Amerikareise und einer Bühnenlaufbahn weiß sie nichts. Nach dem Verschwinden der Frau Grupen telegraphierte der Angeklagte und bestellte ihren Mann nach dem Fürstenhof in Berlin. Sie sei dann mit ihrem Mann hingegangen. Grupen war auffallend freundlich und herzlich, reichte ihr sofort den Arm und sprach immer wieder davon, wie gut er seine Frau behandelt habe. Er habe im Begriff gestanden, ihr ein Reitpferd zu kaufen, und verstehe umsoweniger ihr Verschwinden. Sie habe schließlich an eine geistige Umnachtung geglaubt, weil Grupen so viel auf sie eingeredet habe.

 

Vors.: Fiel es Ihnen nicht auf, daß er nicht zu Ihnen kam, sondern Sie in den Fürstenhof bestellte?

 

Zeugin: Allerdings! Ich habe ihn auch gefragt, warum kamst Du nicht gleich, warum müssen wir uns hier treffen? Er ist dann schließlich bei uns gewesen. Ihre Schwiegertochter, die verschwundene Frau Grupen, habe sehr an den Kindern gehangen. Sie halte einen freiwilligen Fortgang gar nicht für möglich. Es war schließlich der Plan der Zeugin, da ihr auffallende Veränderungen im Verhalten der Kinder vorkamen, einmal nach dem Rechten zu sehen. Sie bekam aber keine Antwort, als sie sich meldete.

 

Hierauf wird Bürovorsteher Geiß aus Itzehoe vernommen, der im Büro des Rechtsanwalts Reinicke beschäftigt ist. Im September 1920 kam Grupen zu ihm und gab ihm einen

v e r s i e g e l t e n   B r i e f

seiner Frau. Es war dies ein Brief an Rechtsanwalt Reinicke, in dem von der Amerikareise die Rede war, und außerdem einen Brief an einen Apotheker, wahrscheinlich Schade. An den Angeklagten war kein Brief dabei. Grupen war außerordentlich niedergeschlagen und aufgeregt. Von dem Inhalt der Briefe hatte er angeblich keine Kenntnis, und er, der Zeuge, habe dem Angeklagten auch nichts mitgeteilt. Ueber den Ruf Grupens in Itzehoe und Ottenbüttel ist ihm Ungünstiges nicht bekannt. Grupen sprach davon, er habe in Hamburg ein Büro. Wo dies aber war und was er dort getrieben hat, weiß der Zeuge nicht.

 

B e k u n d u n g e n   ü b e r   e i n e n   N o t a r i a t s a k t .

Notar Paul Reinicke, Rechtsanwalt in Itzehoe, wird durch den Angeklagten von seiner Schweigepflicht entbunden und bekundet: Ich kannte den Angeklagten durch einige Notariatsakten. Am 17. September erschien nachmittags Grupen mit Frau Eckert und seiner Frau. Frau Eckert und Frau Grupen traten Hypotheken im Gesamtbetrage von 72.000 Mk. ab. Es fiel mir auf, daß Grupen sagte, seine Frau bekäme Gegenwerte in bar. Ich dachte zunächst an Steuerschiebungen und erklärte: Was soll denn der Unsinn? Grupen betonte aber immer wieder, seine Frau bekomme wirklich Gegenwerte. Ich riet dann zur Gütertrennung. Am 18. in aller Frühe kam Grupen mit seiner Frau, um die Gütertrennung zu erledigen, wieder zu mir. Am nächsten Tage ist Frau Grupen verschwunden. Einige Tage später kam mein Bürovorsteher und schilderte das soeben von mit Bekundete. In dem einen Briefe der Frau Grupen stand, ihre

k ü n s t l e r i s c h e   S e h n s u c h t   t r e i b e   s i e   n a c h   A m e r i k a ,

ihre Spur zu verfolgen, habe keinen Zweck. Grupen machte den Eindruck eines geknickten Ehemannes. „Was soll geschehen?“ fragte er. Grupen nahm an, daß das Verhältnis seiner Frau zu dem Fabrikbesitzer Schulz in Perleberg noch fortbestehe. Mir ging der Fall sehr nahe, und ich sagte zu dem Angeklagten: „Es handelt sich immerhin um Ihre Frau. Was soll sie mit 72.000 Mark bei heutiger Valuta in Amerika anfangen? Damit kommt sie ja kaum in Deutschland fort. Lassen Sie die Frau nicht untergehen. Wenden Sie sich zunächst an Schulz.“ Da dies dem Angeklagten wider den Strich zu gehen schien, riet ich ihm, dies durch Bekannte tun zu lassen. Passageverkehr war damals kaum möglich, ich riet ihm daher weiter, nach Hamburg und Bremen zu fahren, zumal ja nur alle paar Wochen Schiffe abgingen. Nach 14 Tagen kam der Angeklagte wieder und sagte mir, er habe dies getan, seine Frau sei aber nicht zu finden. Schließlich kamen wir überein, die

E h e s c h e i d u n g   e i n z u l e i t e n .

 

Diese Klage habe ich dann auch eingereicht. Die öffentliche Zustellung wurde bewilligt. Einen Tag später las ich aber von dem Morde in Kleppelsdorf. Das stimmte mich natürlich bedenklich. Außerdem erschien ein Bankdirektor bei mir, der ja auch hier als Zeuge geladen ist, und sagte, in Ottenbüttel halte man die Sache mit dem Verschwinden der Frau Grupen für faul. Ich habe dann das Mandat niedergelegt.

 

Vors. (mit erhobener Stimme): Angeklagter, haben Sie Ihre Recherchen in Hamburg und Bremen angestellt?

 

Angekl.: Also, ich war in Berlin …

 

Vors.(unterbrechend): Antworten Sie mir doch nicht so ausschweifend! Ich frage nochmals, waren Sie in Hamburg und Bremen um Recherchen anzustellen?

 

Angekl. (mit der Faust auf die Anklagebank schlagend): Ich werde das also jetzt erklären. Bei den Dampfergesellschaften war ich nicht, weil die Nachricht kam, meine Frau sei nach Lübeck abgemeldet. In dieser Beziehung habe ich also den Rat des Herrn Rechtsanwalt nicht befolgt.

 

Vors.: Warum nicht? Wollten Sie mit Ihrer Frau endgültig brechen und nichts mehr mit ihr zu tun haben?

 

Angekl.:   J a w o h l ,   d a s   w a r   d e r   G r u n d !   (Lebhafte Bewegung.)

 

Rechtsanwalt Reinicke teilt noch mit, er habe immer wieder nach den Gründen für die Amerikareise gefragt, auch Einzelheiten des Ehelebens wissen wollen, Grupen habe aber von irgendwelchen Perversitäten nichts erzählt.

 

Vors.: Ich bitte, mir den Widerspruch aufzuklären. Wir hören, der Angeklagte spielte die Rolle des geknickten Ehemannes, hat sogar geweint, stellt aber dann keine Recherchen bei den Schiffsgesellschaften an.

 

Angekl. (wird sehr erregt): Dann bleibt der Widerspruch eben meinetwegen bestehen!

 

Oberstaatsanwalt: Mich interessiert noch zu wissen, was aus dem stattlichen Vermögen der Frau Eckert geworden ist?

 

Rechtsanwalt Reinicke: Mir sagte Frau Eckert, es sei nicht mehr da.

 

Oberstaatsanwalt: Und wo ist es?

 

Vors.:   W e g !   (Große Heiterkeit.) Aber ich wiederhole doch nur, was wir eben gehört haben.

 

Der Angeklagte, mit funkelnden Augen,   s c h r e i t   zum Staatsanwalt hinüber:   I c h   h a b e   n i c h t s   v e r t a n   v o n   d e m   G e l d e !   Wenn hier immer von einem Vermögen der Frau Eckert gesprochen wird, so setzen Sie gefälligst X = 0. Ich habe auch nie von der Generalvollmacht Gebrauch gemacht, auch die Hypothek der Frau Eckert vom Gefängnis aus, als mir ein veränderter Standpunkt bekannt wurde, zurückgegeben.

 

Es erfolgt jetzt, wie schon eingangs erwähnt, ein Zusammenstoß zwischen Staatsanwalt und Verteidigung, als der Oberstaatsanwalt bemerkt, daß Grupen noch vom Gefängnis aus manches an sich reißen wollte.

 

Amtsgerichtsrat   L e m m e n   (Itzehoe): Es ist nach meiner Auffassung   g a n z   a u s g e s c h l o s s e n ,   daß die Ursel, die ein sehr zartes Kind war,   m i t   e i n e m   R e v o l v e r   u m z u g e h e n   verstanden hat. Vom Hörensagen ist mir bekannt, daß Ursula einmal geäußert hat, sie kenne einen Mann, vor dem habe sie Angst bekommen, wenn er sie   s c h a r f   a n b l i c k e .   Ebenso ist mir vom Hörensagen bekannt, daß sie damals   i h r e n   V a t e r   g e m e i n t   hat.

 

Justizrat Dr.   A b l a ß :   Ist Ihnen etwas von Gesprächen in Itzehoe bekannt, wonach Grupen

seine Frau eingemauert

haben soll?

 

Zeuge: Man erzählt dort, Grupen habe sich auf seinem Grundstück viel mit Mauerarbeiten beschäftigt, und es   w ä r e   s e h r   l e i c h t   m ö g l i c h ,   d a ß   F r a u   G r u p e n   e i n g e m a u e r t   worden sei. Ueber einen viel erörterten   V o r f a l l   m i t   e i n e m   S c h r a n k   ist mir folgendes bekannt geworden: Frau Haffner erzählte, bei dem Umzug nach Itzehoe habe sie mitgeholfen. Als sie im Zimmer war, habe sie plötzlich den   S c h r e i   e i n e r   w e i b l i c h e n   P e r s o n   von der Straße aus gehört. Sie stürzte dann an die Tür, habe sie aber verschlossen gefunden, vorauf sie an das Fenster eilte und dann bemerkt habe, daß von dem vor dem Hause stehenden Möbelwagen   e i n   S c h r a n k   h e r u n t e r g e f a l l e n   war. Durch das Herunterfallen des Schrankes hätte Frau Grupen schwer verletzt werden können. Es sei der Frau jedenfalls, als sie zu Hilfe eilte, aufgefallen, die Tür   v e r s c h l o s s e n   zu finden.

 

Unter großer Unruhe im Zuschauerraum teilt hierauf der Vorsitzende mit, ihm sei soeben ein Schreiben zugegangen, dem er doch nachgehen müsse. Er ließ Frl. Zahn noch einmal vortreten und fragte sie, ob schon einmal durch ein Fenster des Schlosses

auf Dorothea Rohrbeck geschossen

worden sei.

 

Frl.   Z a h n   berichtet, daß im Oktober 1919, als der Angeklagte in Kleppelsdorf war, abends um ½ 10 Uhr   d u r c h   d i e   o f f e n e   T ü r   d e s   H e r r e n z i m m e r s   g e s c h o s s e n   wurde. Es handelte sich um einen Schrotschuß. Man habe sich damals das nicht erklären können und angenommen, daß der Schuß wohl dem Gegenvormund Bauer gelten sollte.

 

Vors.: Ist es richtig, daß Fräulein Dörthe durch den Schuß verletzt wurde?

 

Zeugin: Die Dörthe saß nicht in dem Zimmer, sondern zwei Zimmer davon entfernt am Klavier.

 

Hierauf wandte sich die Beweisaufnahme wieder dem Verschwinden der Frau Grupen zu, und es wird der Knecht   O t t o   M o s k e   aus Ottenbüttel vernommen. Er sagt aus, er habe am 19. September in Itzehoe das Gespann mit Grupen, seiner Frau und dem Dienstmädchen Klaeschen geführt. Grupen habe ihm, als er um ½ 12 Uhr nachts nach Hause kam, das Tor geöffnet. Am nächsten Tage habe er den Zettel mit dem Auftrage der Frau Grupen bekommen, den im Schlafzimmer mit der schmutzigen Wäsche stehenden Korb zur Bahn zu befördern, Grupen sagte aber,   d e r   K o f f e r   s o l l e   n i c h t   f o r t g e b r a c h t   werden. Es sei andere Beschäftigung notwendiger.

 

Oberstaatsanwalt: Ich stelle also fest, daß der Angeklagte   k e i n e n   A u f t r a g   gegeben hat, den Koffer fortzubringen.

 

Justizrat Dr.   A b l a ß :   Das konnte nicht geschehen, weil der Wagen, auf dem die Kinder zur Schule fuhren, zu klein war und für ein anderes Gespann ein anderer Weg vorgesehen war.

 

Das Dienstmädchen   K l a e s c h e n   schildert, daß bei der   A b f a h r t   d e r   E h e l e u t e   n a c h   I t z e h o e ,   also an dem Tage, an dem Frau Grupen verschwand,   b e i d e   s e h r   f r ö h l i c h   g e w e s e n   seien. Frau Grupen hatte einen Zeltbahnmantel an. Nachdem ich dem Angeklagten den in der Toilette gefundenen Abschiedsbrief gegeben hatte, fuhr er mit dem aus der Kassette genommenen Kuvert zum Notar und bei seiner Rückkehr äußerte er:

„ M e i n e   F r a u   i s t   w e g ,   i c h   b i n   j e t z t   f r e i !

 

Die Eheleute hatten sich bisweilen auch gestritten. Einmal habe Grupen seine Frau „Frauenzimmer“ genannt. Als die Großmutter zu Frau Grupen äußerte, es sei ihr so ängstlich zumute, weil sie reise, habe Frau Grupen erwidert: „Habe nur keine Bange.   I c h   k o m m e   b a l d   w i e d e r .   Du weißt ja, daß ich nicht lange ohne meinen Mann leben kann.“ Zu seiner Frau hätte Grupen einmal in ihrer Gegenwart gesagt: „Spukt dir Amerika schon wieder im Kopfe?“

 

Die Vernehmungen am Mittwoch bewegten sich in der Hauptsache noch um das Verschwinden der Frau des Angeklagten. Verschiedene Zeugen wurden vernommen, mit denen der Angeklagte in näheren Beziehungen gestanden und denen der Geschenke gemacht hat. Großes Aufsehen erregte eine Zeugin, die von Grupen eine goldene Uhr geschenkt erhielt, von der der Angeklagte selbst zugibt, daß es   d i e   U h r   s e i n e r   F r a u   gewesen ist.

 

 

 

Freitag, den 16. Dezember 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Der Kleppelsdorfer Prozeß.

Am Donnerstag wurde der Bruder des Angeklagten,   W i l h e l m   G r u p e n ,   über das Verschwinden der Frau des Angeklagten weiter vernommen. Er erklärte, er selbst habe erst fünf Monate nach dem Verschwinden der Frau Ermittlungen angestellt. Sein Bruder habe ihm gesagt, die Frau sei   t o t . -   Der Zeuge   M a a s   aus Mehlbeck bei Ottenbüttel, ein Geschäftsfreund Grupens, sagt, Grupen habe ihm erklärt, seine Frau sei nach   A m e r i k a   gegangen und habe 60.000 Mark mitgenommen. - Der   P r ä s i d e n t   teilt mit, ein Kolporteur habe telegraphisch gemeldet, er könne bekunden, daß   G r u p e n   v o r   d e m   T a g e   d e s   V e r s c h w i n d e n s   s e i n e r   F r a u   d i e s e   g e w ü r g t .   Der Kolporteur soll am Sonnabend vernommen werden. - Es werden dann verschiedene Leumundszeugen vernommen. Der Kunstgewerbelehrer   S c h w i n g l e r   aus Hamburg bezeichnet den Angeklagten als bescheidenen und strebsamen Menschen. Auch andere Leumundszeugen sagen sehr günstig aus, nennen Grupen aber sehr ehrgeizig. Der Strafanstaltsinspektor bekundet, Grupen habe sich stets ruhig und zuverlässig benommen. - Die Verhandlungen dürften erst am   M o n t a g   beendet werden, da die Gutachten der Sachverständigen einen ganzen Tag in Anspruch nehmen werden. Auch soll den Geschworenen ein genaues photographisches Bild über die Lage der Leichen im Mordzimmer gegeben werden.

 

 

 

Freitag, den 16. Dezember 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Der Doppelmord in Kleppelsdorf.

 

Leidenschaftlich in der Liebe - aber reinen Herzens.

Dr.   B ü n z   aus Itzehoe: Zwischen Frau Grupen und ihren Kindern hat ein herzliches Verhältnis geherrscht. Frau Grupen ist eine gebildete, liebenswürdige Frau gewesen, die ihren Haushalt sehr in Ordnung gehalten hat und selbst schwere Arbeit nicht scheute. Sie hat sogar im Garten Bäume gefällt. Um ihre Kinder war sie sehr besorgt, besonders um die Ursel, die ein langaufgeschossenes, mageres, blutarmes Kind war. Die Kinder hingen mit gleicher Liebe an ihrer Mutter. Sie waren stets fröhlich und artig. Ich halte es für ganz ausgeschlossen, daß Frau Schade ihre Kinder länger als höchstens 14 Tage hätte verlassen können.

 

Geheimrat   M o l l   (zum Zeugen): Können Sie aus Ihrer Erfahrung bestätigen, daß Frauen, die in ihrem Liebesleben sehr temperamentvoll sind, doch brave Frauen und gute Mütter sein können? - Zeuge: Das möchte ich voll unterschreiben. Eine Frau kann heftig in ihren Liebesbeteuerungen, aber trotzdem reinen Herzens sein.

 

Vert. Dr.   M a m r o t h :   Können Sie aus Ihrer Erfahrung bestätigen, daß Männer zwischen 25 und 27 Jahren von gesunder Konstitution und sinnlicher Veranlagung, vor denen sozusagen kein Mädchen sicher ist, doch recht brave und nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft sein können? - Zeuge: Das möchte ich nicht ohne weiteres unterschreiben. Wenn es sich um jüngere Männer unter 25 Jahren handelt, möchte ich auch diese Frage bejahen. Im allgemeinen sind die Männer ja polygam veranlagt.

 

Der Vorsitzende läßt den Direktor der landwirtschaftlichen Schule in Perleberg,   v .   T o b o l t ,   aufrufen. Der Zeuge gehörte zu dem Freundeskreise des Apothekenbesitzers Schade und dessen Frau, der späteren Frau Grupen. Als Schade auf der Jagd tödlich verunglückte, nahm sich Schulz der Frau Schade an, führte ihr die Bücher und gewann ihr Vertrauen offenbar mehr als erlaubt war. Mehrere Perleberger Familien brachen infolgedessen den Verkehr mit beiden ab, und es wurde Schulz schließlich nahegelegt, aus der Loge auszutreten.

 

Zeuge Heinrich   S c h m i d t - Ottenbüttel: Grupen war mein Nachbar. Er sagte mir, er könne mal mein Schwiegersohn werden. Da habe ich ihm geantwortet: „Dazu gehört erstens die Ehescheidung von Ihrer Frau, zweitens die Zuneigung meiner Tochter, drittens Klarheit über Ihre Gegenwart und Zukunft.“ - Vors.: „Da haben Sie ihm die richtige Antwort gegeben.“ - Zeuge (fortfahrend): Frau Grupen, mit der ich viel verkehrt habe, kann ich nichts Schlimmes nachsagen. Aber auch der Angeklagte ist in Ottenbüttel gut beleumdet.

 

Was Grupen für Geschäfte machte.

Frau   W o l g a r t - Hamburg, eine frühere Verlobte des Angeklagten: Grupen hatte ein unruhiges Leben. Heute wollte er dies, morgen das. Einmal wollte er ein Luftschaukelgeschäft errichten. Zu diesem Zweck hatte er sich mit der Uhr in der Hand vor eine Luftschaukel gestellt, um festzustellen, wieviel der Besitzer in zwei Minuten einnehme. Auch einen Mittagstisch wollte er anfangen. Er kaufte alte Räder durch Zeitungsinserate und verkaufte sie wieder. Von der Kleiderverwertungsstelle bezog er Kleider und veräußerte sie ebenfalls. Er sagte, er wolle den Doktor mache und eine Villa kaufen. Auch ein Pferdegeschäft hat er einmal gemacht, und als ihm sein Vater sagte, daß man dabei leicht hereinfallen könne, antwortete er: Da müßte ich nicht Peter Grupen heißen. Einen Revolver hatte er ja in der Schublade verwahrt. - Staatsanwalt: Wie kam denn der Angeklagte zu den Kleidern aus der Kleiderverwertungsstelle, das muß doch ein unlauteres Geschäft gewesen sein?

 

Zeugin: Unter falschen Tatsachen und   m i t   S c h o k o l a d e   hat er in der Kleiderverwertungsstelle von der Verkäuferin bekommen, was man sonst nur gegen Bezugsschein erhält. Eines Tages überraschte er mich durch die Mitteilung, daß er sich mit Frau Schade verlobt hätte. Da habe ich ihm den Ring zurückgegeben, und da er ihn nicht annehmen wollte, den Ring in seines Vaters Mantel gesteckt.

 

Vors.: Hatte er nicht einen eigenen Mantel? - Zeugin: Nein! Er kam im Mantel seines Vaters. Seinen eigenen Mantel hatte er im Pfandhaus versetzt. - Staatsanwalt: Die Verlobung mit Ihnen machte er also im Paletot seines Vaters. - Zeugin: Ja. - Vors.: Also, als Sie noch seine Verlobte waren, teilte Ihnen Grupen mit, daß er sich mit Frau Schade verlobt habe? - Zeugin: Ja, er sagte mir, das Verhältnis mit Frau Schade sei nicht ohne Folgen geblieben. Er müsse die Dame heiraten. Und ich solle zurückstehen. Er wollte monatlich eine Entschädigung für die Anschaffungen zahlen, die ich in Erwartung der Heirat gemacht hatte, ich erhielt aber nur einmal 100 Mk. Nach einigen Monaten telephonierte er mich an und sagte, ich solle noch zu ihm halten, denn seine Frau sei krank und   w e r d e   n i c h t   l a n g e   l e b e n .

 

Vors. (zum Angeklagten): Bestätigt es sich, daß Sie mit Frau Schade sich verlobten, während Sie mit der Zeugin noch verlobt waren? - Angekl.: Darüber will ich keine Angaben machen. - Vors.: Wollen Sie nicht der Wahrheit die Ehre geben und den Grund sagen, warum Sie sich mit der Frau Schade verlobten? - Angekl.: Im Interesse der Zeugin und im Interesse meiner Frau gebe ich darüber keine Erklärung ab.

 

Der von der Verteidigung geladene Zeuge,   K a r l   F r i t z l a r ,   soll darüber Auskunft geben, ob Frau Eckert zu ihm gesagt habe, Grupen sei unschuldig an dem Kleppelsdorfer Morde. Eher halte es Frau Eckert für möglich, daß ihn bei dem Verschwinden seiner Frau eine Schuld treffe. - Zeuge: Darauf kann ich mich nicht entsinnen.

 

In der Nachmittagssitzung am Mittwoch wurde die Beweisaufnahme mir der Vernehmung des Kriminal-Oberwachtmeisters   J a r g o w - Hamburg fortgesetzt. Der Zeuge hat sich an den Nachforschungen nach Frau Grupen beteiligt und festgestellt, daß Frau Grupen Pässe oder sonstige Auswandererpapiere nirgends ausgefertigt worden sind. Die Auswanderung nach Nordamerika ist noch heute sehr schwierig und auch Auswanderer nach Südamerika unterliegen einer sehr strengen Kontrolle. Der Zeuge hält es für ausgeschlossen, daß Frau Grupen auf normale Weise nach Amerika gekommen ist. 

 

Zerbrochene Ringe.

Den Verkauf der Ringe von Frau Grupen hat dem Zeugen der Angeklagte anfangs verschwiegen, dann aber zugegeben, daß er sie einem Goldarbeiter, von dem er 5000 Mk. geliehen hatte für 1000 Mk. Restschuld verkauft habe.   Z w e i   R i n g e   w a r e n   z e r b r o c h e n ,   so daß der Verdacht bestand, die Ringe wären gewaltsam vom Finger gezogen worden. Nach dieser Richtung konnten Feststellungen nicht getroffen werden.

 

Kriminal-Oberwachtmeister   G i e s e - Itzehoe: Die Möglichkeit, daß Frau Grupen mit einem gefälschten Paß nach Amerika gelangt ist, kann nicht von der Hand gewiesen werden, eine Wahrscheinlichkeit liegt aber nicht vor. Nach dem Verschwinden der Frau Grupen hatte Zeuge zunächst Ermittlungen bei Frau Mohr angestellt, die über den Angeklagten sehr günstig urteilte, bezüglich der Frau aber behauptete, daß sie sittlich nicht einwandfrei sei. Der Gemeindevorsteher von Oldenbüttel hat über beide Eheleute günstig geurteilt.

 

F r a u   W i l h e l m i n e   K r u s e ,   H a s e l d o r f ,

 schildert sehr lebhaft und anschaulich in unverfälschter Hamburger Mundart, wie Grupen eine Braut gegen die andere ausspielte. Frau Kruse sagt aus: Ich war mit Grupen verlobt und habe ihn sehr viel mit Lebensmitteln unterstützt. Da Grupen mit einem anderen Mädchen ein Verhältnis anknüpfte, hob ich die Verlobung auf. Als ich mit meinem jetzigen Manne verlobt war, kam Grupen nach   H a s e l d o r f   geradelt und traf mich auf der Straße. Er fragte mich, ob ich Verkehr habe. Ich sagte, daß ich mit Kruse, meinem jetzigen Manne, verkehrte. Da erwiderte er: „Den bekommst Du nicht. Du machst mich unglücklich, ohne Dich kann ich nicht leben,“ zog einen Revolver aus der Tasche und setzte ihn mir auf die Brust. Ich dachte, er wollte mich erschießen, fiel ihm um den Hals und sagte aus Angst, daß ich wieder mit ihm verkehren wolle. - Vors.: Warum taten Sie das, wenn er Sie so bedrohte? - Zeugin (verlegen): Na, ich dachte, dann gibt er vielleicht etwas nach und tut mir nichts. - Vors.: Ach so! (Heiterkeit) -   G r u p e n   b e s t ä t i g t   diese Darstellung, die er mit heiterster Miene begleitet. In das Lachen der Zuschauer stimmt er selbstgefällig ein. - Grupen verlangte, daß wir alle Wochen zusammenkämen; er würde für mich sorgen, ich solle nach Berlin, denn ich müßte mehr gebildet werden. Ich verkehrte aber nicht mit ihm, denn ich hatte Angst vor ihm und wollte auch Kruse treu bleiben. Grupen hat auch gewollt, daß ich   m e i n e   A u s s t e u e r   nach seiner Wohnung schaffe, auch fragte er   n a c h   m e i n e m   S p a r k a s s e n b u c h .   Da ich nicht mit ihm zusammenkam, schrieb er mir einen Brief, der meinen Mann veranlaßte, der Sache ein Ende zu machen. Ich gab Grupen seine Geschenke zurück und mein Mann legte noch 60 Mk. dazu. Grupen besuchte uns darauf und versprach meinem Mann in die Hand, daß er von mir lassen wolle.

 

Angeklagter: Ich bitte die Zeugin zu fragen, ob es nicht richtig ist, daß ich ihr bei Stellenwechsel und zur Bestreitung anderer Ausgaben Mittel gegeben habe.

 

Zeugin: Zeuge Peter   K r u s e ,   der Ehemann der Zeugin, macht im Wesentlichen dieselbe Aussage. Die 60 Mk. waren für Grupens Auslagen für eine Bluse, Theater, Bahnfahrt usw. Grupen habe ihm gesagt, seine Braut könne jeden anderen heiraten, nur ihn, den Angeklagten, nicht.

 

Der   S t a a t s a n w a l t   stellt fest, daß der Angeklagte bisher das Vorkommnis mit dem Revolver bestritten hat, es jetzt aber zugibt.

 

Dr.   B e i e r - Lähn: Am Tage nach dem Morde hat mir Frau Eckert die Mitteilung von dem Verschwinden der Frau Grupen gemacht. Ich sagte zu Frau Eckert: „Wie konnten Sie sich, als Sie von dem Verschwinden Ihrer Tochter erfuhren, so ohne weiteres mit der Nachricht Ihres Schwiegersohnes zufrieden geben? Sie hätten doch selbst Nachforschungen anstellen sollen.“ Frau Eckert erklärte mir darauf, ihr Schwiegersohn Detektiv festgestellt, daß seine Frau auf ein Schiff gegangen und nach Amerika gefahren sei, und daß es ihr gut gehe. Frau Eckert erzählte, ihr Schwiegersohn hätte ihr häßliche Briefe und Photographien von seiner Frau gezeigt, worauf sie ausgerufen habe: „Wenn das alles wahr ist, dann habe ich keine Tochter mehr!“

 

Sachverständiger Prof.   M o l l :   Sind es die Bilder, von denen behauptet wird, sie wären   d u r c h s   S c h l ü s s e l l o c h   aufgenommen worden?

 

Angeklagter: Es sind die Bilder, die ich im Schreibtisch meiner Frau gefunden habe.

 

Eine besondere Bewegung ruft die Vernehmung einer weiteren jungen Holsteinerin hervor, und zwar handelt es sich um die Aussagen der Zeugin

M a r g a r e t h e   H a t j e   a u s   S ü l l d o r f.

 

Diese hat von dem Angeklagten eine Uhr bekommen, die der verschwundenen Frau Grupen gehört. Sie gibt an: Der Angeklagte kam anfangs Oktober zu meinem Vater und sagte, daß seine Frau   t o t   sei, und ich möchte ihm den Hausstand führen. Ich wollte anfangs nicht hin, aber auf Ueberredung des Angeklagten bin ich doch hingefahren. Der Angeklagte hat dann später gesagt, daß seine Frau ihn   v e r l a s s e n   habe, und zwar über Holland nach Amerika, wo sie   a n   S y p h i l i s   v e r s t o r b e n   sei. Ich fragte den Angeklagten, ob eine solche Krankheit so schnell um sich greifen könnte. Er sagte: Ja, in ein paar Tagen kann man tot sein. Ich fragte ihn, ob er keine Todesurkunde bekommen könnte, um Gewißheit zu haben. Er erwiderte, das ginge nicht, weil

seine Frau unter falschem Namen gereist

sei. Auf meine Frage, woher er dies alles wisse, erwiderte er, er hätte einen Privatdetektiv mit Nachforschungen beauftragt.

 

Vorsitzender (zum Angeklagten): Was sagen Sie   d a z u ?

 

Angeklagter: Meine Frau hatte Beziehungen zu einer Bekannten nach Holland, und ich habe es deshalb für möglich gehalten, daß sie über Holland nach Amerika gefahren sei.

 

Vorsitzender: Wie kamen Sie darauf, daß Ihre Frau an einer Krankheit gestorben sei?

 

Angeklagter: Meine Frau war bereits krank.

 

Verteidiger (zur Zeugin): Wie konnte Sie der Angeklagte dazu bestimmen, daß Sie nun doch zu ihm gingen?

 

Zeugin: Durch diese Erzählungen über seine Frau.

 

Eine Szene von äußerster Spannung,

deren Endergebnis sich im Augenblick noch gar nicht übersehen läßt, war die Vernehmung des   W i l h e l m   G r u p e n ,   eines älteren Bruders des Angeklagten. Man wird sich erinnern, daß über ihn die tollsten Gerüchte herumspuken. Hieß es doch sogar, daß er mit Zustimmung des Angeklagten sich an das Schloß geschlichen und   d i e   T a t   v e r ü b t   habe.  Es kommt hinzu, daß er von seinem Bruder Generalvollmacht erhalten hat und der einzige Zeuge in dem ganzen Prozeß ist, der bekunden will, den   R e v o l v e r ,   mit dem die furchtbare Tragödie vollzogen worden ist,   b e i   d e r   k l e i n e n   U r s u l a   gesehen zu haben. Wilhelm Grupen wurde dann auch vom Oberstaatsanwalt und dem Vorsitzenden in scharfes Kreuzverhör genommen. Da übrigens auch diesem Zeugen ein

d ä m o n i s c h e r   B l i c k

nachgesagt wird, so mußte er auf Antrag des Justizrats Dr. Mamroth sich unmittelbar vor die Geschworenen stellen, damit die Volksrichter ihm ihrerseits scharf in die Augen sehen konnten. - Wilhelm Grupen, von Beruf Zimmermeister, ist von untersetzter Figur, und im Gegensatz zu seinem angeklagten Bruder, den man wohl einen ganz hübschen Mann nennen kann, bietet er nichts Fesselndes. Richtig ist, daß beide Brüder etwas stark Funkeln des in ihrem Blick haben. Beiden ist das, was man den   h o l s t e i n i s c h e n   E i g e n s i n n   nennt, Trotziges, Herrisches, eigen.

 

Aus der Vernehmung Wilhelm Grupens, der seine Aussagen trotz eindringlicher Bemühungen des Vorsitzenden und des Oberstaatsanwaltes vielfach sehr unbestimmt, stockend und sehr unklar macht, ist folgendes bemerkenswert: Der Angeklagte habe ihm vor seiner Abreise nach Kleppelsbüttel (Anm.: muss „Kleppelsdorf“ heißen) in Ottenbüttel

einen Revolver zu seiner Sicherheit

übergeben, damit er das einsame Gehöft besser überwachen könne und der Angeklagte habe ihm die Einrichtung der Waffe erklärt.

 

Der   V o r s i t z e n d e   läßt den Revolver dem Zeugen in die Hand geben. Die Prozeßbeteiligten treten dicht an ihn heran, und er muß zeigen, in welcher Weise der Revolver geladen und gesichert wird. Es stellt sich dabei heraus, daß Wilhelm Grupen zunächst mit der Waffe gar nichts anzufangen weiß, was den Vorsitzenden schließlich zu der Bemerkung veranlaßt: „Dann muß man sich sehr wundern, daß, wenn es einem alten Soldaten unmöglich ist, den Revolver zu behandeln, die kleine Ursula selbst dies verstanden haben soll.“

 

Der   Z e u g e   erwiderte dann, daß, wenn er sich jetzt die Waffe noch einmal genauer ansehen könne, er natürlich auch damit umzugehen wisse.

 

Der Vorsitzende läßt den Angeklagten herantreten, um dem Bruder bei der Handhabung der Waffe zu helfen. Ohne mit der Wimper zu zucken,

tritt Grupen auf den Bruder zu

und nimmt die Mordwaffe, mit der er die tödlichen Schüsse abgegeben haben soll, in die Hand. Mit derselben Ruhe, die ihn auch bei dieser, von den Zuhörern mit höchster Spannung verfolgten Szene nicht verläßt, gibt der Angeklagte auf Befragen einem Geschworenen, der, wie er selbst, einarmig ist, zu, daß er, wenn auch schwer, ganz allein die Waffe handhaben kann. Er sagt wörtlich so: Wenn Sie dies, Herr Geschworener, können, will ich auch gar nicht leugnen, daß mir das auch möglich sein kann.“

 

Wenn man nun diese überaus packende Gegenüberstellung der beiden Brüder überdenkt, so fällt deutlich wieder die besonnene, große Ruhe auf, mit der der Angeklagte hier wieder vorgeht. Diese Ruhe ist umso unerschütterlicher, wenn es sich um die Erörterung der Kleppelsdorfer Vorgänge handelt, wo den Angeklagten außer einer Kette von Indizien direkt nur die Großmutter und die kleine Irmgard belasten. Nachdem aber beide jetzt erst bekanntlich damit herausgekommen sind, daß Grupen unmittelbar vor der Tat das Zimmer verlassen beziehungsweise   v i e l l e i c h t   verlassen habe, ist Grupen doch heftiger und lange nicht so sicher, wenn Dinge erörtert werden, die mit dem   V e r s c h w i n d e n   s e i n e r   F r a u   zusammenhängen, zumal diese Erörterungen offenbar in der Hauptverhandlung einen viel größeren Raum einnehmen, als es in der Voruntersuchung der Fall war.

 

Aus der Vernehmung Wilhelm Grupens ist noch von Wichtigkeit, daß er in Ottenbüttel am Tage der Abreise der Familie nach Kleppelsdorf   d i e   k l e i n e   U r s u l a   a m   S c h r e i b t i s c h   s e i n e s   B r u d e r s   m i t   d e r   W a f f e   g e s e h e n   haben will. 

 

Auf eindringliche Fragen des Vorsitzenden, weshalb man die gefährlich Waffe habe unverschlossen liegen lassen und somit das ganze Haus in schwere Gefahr gebracht hätte, erwiderten beide Brüder wie aus einem Munde, daß dies allerdings ein großer Leichtsinn gewesen sei.

 

 

 

Sonnabend, den 17. Dezember 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Schluß der Beweisaufnahme im Kleppelsdorf Prozeß

Am Freitag wurden die Sachverständigen über die Abschiedsbriefe der Frau Grupen weiter vernommen. Der Sachverständige ist der festen Ueberzeugung, daß die Briefe durchaus   e c h t   sind. Sie können   u n m ö g l i c h   n a c h g e a h m t   s e i n .   Das Gutachten über die Briefe der kleinen Ursula geht dahin, daß sie das Kind wohl selbst geschrieben haben könne. Es bestehe aber die Möglichkeit, daß sie diese   u n t e r   d e m   E i n f l u ß   d e s   A n g e k l a g t e n   geschrieben habe und der Inhalt dem Kinde gar nicht zum Bewußtsein gekommen ist. Der Brief könne der Ursula diktiert worden sein. Eine suggestive Einwirkung sei auch bei dem Abschiedsbriefe der Frau Grupen nicht von der Hand zu weisen. - Die Schieß-Sachverständigen halten es für ausgeschlossen, daß Ursula sich selbst erschossen hat. Es müsse vielmehr eine   f r e m d e   H a n d   die Waffe auf sie gerichtet haben. Der Täter habe in der Mitte des Zimmers gestanden. Auch Dörte Rohrbeck habe   z w e i f e l l o s   von   f r e m d e r   H a n d   die Schüsse erhalten. Der 2. Schuß sei ein sogenannter Fangschuß gewesen, der sie getötet.   A u s g e s c h l o s s e n   sei es, daß die kleine Ursula technisch imstande gewesen sei, die komplizierte Waffe zu handhaben. - Der   A n g e k l a g t e   kam mit den Schieß-Sachverständigen in große Auseinandersetzungen und geriet in heftige Erregung. Er erklärte, er werde   k ü n f t i g   j e d e   A e u ß e r u n g   a b l e h n e n .   Der 2. Schieß-Sachverständige schloß sein Urteil mit der Erklärung, ein   S e l b s t m o r d   der   K i n d e r   i s t   a u s g e s c h l o s s e n !   Auch Geheimrat Dr.   P e t e r   hat nicht den geringsten Zweifel, daß der Tod von   f r e m d e r   H a n d    gekommen ist. Die Annahme eines Selbstmordes hält auch Geheimrat   L e s s e r   für   u n h a l t b a r .   Professor Dr.   M o l l   erklärt, der Angeklagte übe einen großen suggestiven Einfluß aus. Eine Hypnose brauche gar nicht in Frage zu kommen. Es könne eine sog.   W a c h - S u g g e s t i o n   vorliegen. Auch die Frage der sog. sexuellen Hörigkeit komme dabei in Betracht.

 

Sowohl Frau Grupen als auch die kleine Ursula hätten wahrscheinlich die Briefe unter   s u g g e s t i v e m   E i n f l u ß   des Angeklagten geschrieben. Eine Frau, die nach Amerika wolle, schreibe nicht in der Art, wie es der Abschiedsbrief der Frau Grupen zeigt. Durch   S u g g e s t i o n   oder   T ä u s c h u n g e n   konnte der Angeklagte diese leidenschaftliche Frau durchaus zur Abfassung eines solchen Briefes bestimmen. - Dann wurden noch Lichtbilder vorgeführt, an denen die Verletzungen der beiden Mädchen im Modell gezeigt werden. - Die Verhandlung wurde auf Montag vertagt. Der Sonnabend bleibt zur Vorbereitung der Plädoyers …Wort nicht lesbar). Der Vorsitzende erklärte, der wolle die Verhandlungen am Montag zu Ende führen. Dann dürften sie allerdings bis in die Nachtstunden oder frühen Morgenstunden dauern.

 

(Siehe auch 2. Seite).

 

 

 

Sonnabend, den 17. Dezember 1921, „Norddeutsche Nachrichten“ - 2. Seite

Der Doppelmord in Kleppelsdorf.

Grupens Charakter.

Postbeamter Diedrich   V o ß - Ottenbüttel: Der Angeklagte hat sehr viel Telegramme bekommen und aufgegeben, er schien also viel Geschäftsverbindungen zu haben. In unserer Ortswehr sollte er als Ehrenmitglied aufgenommen werden, weil er Invalide ist. Der Beschluß hierüber ist aber nicht gefaßt worden. Beim Preisschießen mit der Bolzenbüchse hat er sich erste und zweite Preise geholt. Er war stolz darauf, ein guter Schütze zu sein. Ueber den Ruf der Familie Mohr äußert sich der Zeuge sehr günstig. Marie Mohr gelte als tüchtiges und fleißiges Mädchen.

 

Tischler Heinrich   M ö l l e r   kann nichts Nachteiliges über den Angeklagten, den er schon als Lehrling gekannt hat, aussagen. Mit 18 Jahren hat Grupen eine größere Villa gebaut. - Angeklagter: Ich habe als Bauführer den Bau geleitet und noch dabei selbst gearbeitet.

 

Rektor Hermann Grabke aus Blankenese

hat dem Angeklagten im Sommer 1913 Unterricht gegeben, um ihn auf die Baugewerksschule vorzubereiten. Grupen hat sich sehr gut geführt. Er war sehr strebsam, arbeitete am Tage praktisch, kam abends in den Unterricht und erklärte wiederholt, daß ihm die Hausarbeiten nicht zu viel wären. Er hat den Fachbildungskursus benutzt, Grupen kam mir etwas ehrgeizig vor. Er fragte mich einmal, ob er nicht das Einjährige machen könne.

 

Auch Gemeindevorsteher   H a r d e r t -   Ottenbüttel stellt dem Angeklagten ein gutes Leumundszeugnis aus.

 

Strafanstaltsinspektor   T s c h e n  t k e - Hirschberg: Der Angeklagte hat sich nach seiner Einlieferung in das Untersuchungsgefängnis ruhig und zuversichtlich benommen. Bei Gesprächen über die Tat, der er beschuldigt wird, hat Grupen stets seine Unschuld beteuert. Verbotene Mittel, sich mit der Außenwelt in Verbindung zu setzen, hat er nicht angewendet. Alle Gefängnisbeamten sind mit seinem Verhalten zufrieden gewesen. - Verteidiger Dr.   A b l a ß :   Haben Sie die Ueberzeugung, daß Sie es mit einem Menschen zu tun haben, dem die Tat zuzutrauen ist? - Zeuge: Mich hierüber zu äußern, fühle ich mich nicht berufen. - Ein Geschworener: Haben Sie gehört, ob der Angeklagte während der Sprechzeit mit seinem Bruder Plattdeutsch gesprochen hat? - Zeuge: Ja, er hat Plattdeutsch gesprochen, aber in einer Ausdrucksweise, die wir unbedingt verstehen konnten.

 

Gefängniswachtmeister   F u r c h e - Hirschberg macht über das Verhalten Grupens in der Untersuchungshaft die gleichen Aussagen wie der Vorzeuge. Grupen habe sich den Beamten gegenüber zuvorkommend und bescheiden gezeigt. Zeuge habe mit Grupen in seiner Zelle über seine Jugend und Heimat gesprochen. Das sei Grupen manchmal so nahe gegangen, daß er weinte. - Vorsitzender: Der Angeklagte hat geweint, tun das andere Gefangene nicht auch? Zeuge: Ja. Wenn ich Grupen sagte, er solle, falls er sich schuldig fühle, so vernünftig seine Schuld zugeben, beteuerte er jedesmal seine Unschuld. - Ueber die Besuche der Brüder Grupens im Gefängnis befragt, erklärte der Zeuge, daß er aus Menschlichkeit die Brüder über Nacht in seiner Wohnung aufgenommen habe, weil sie schlecht Unterkommen finden konnten. - Vorsitzender (erstaunt): Den Bruder eines unter schwerem Verdacht stehenden Untersuchungsgefangenen haben Sie als Justizbeamter über Nacht bei sich behalten? Das ist doch recht eigenartig! - Kennen Sie die Stütze Mohr? - Zeuge: Ich kenne sie nur von ihrem Aufenthalt als Zeugin im Gerichtsgebäude. - Ein Geschworener: Hat irgendein Mitglied der Familie Mohr in dem Hause, in dem Sie wohnen, Unterkunft gefunden? - Zeuge: Nein.

 

Staatsanwalt: Ueber Grupens Vermögensstand bitte ich, den Zeugen später als Sachverständigen zu hören. Nach meinen Feststellungen betrug das Vermögen, über das der Angeklagte als Generalbevollmächtigter seiner Schwiegermutter und seiner Frau verfügte und einschließlich seines eigenen Vermögens, am Tage nach seiner Verhaftung 110.000 Mk. - Angeklagter: Ich werde nachweisen, daß ich über eine Viertelmillion verfüge und nichts von meiner Frau und meiner Schwiegermutter ihren Vermögen verschleudert habe.

 

Marie Mohr

wird darauf eingehend auf Zahl und Inhalt der auf die Reise mitgenommenen Koffer vernommen. Ihre Aussagen sind sehr leise, oft gar nicht zu verstehen, und unsicher. In dem einen waren Lebensmittel für die Reise und dieser Koffer ist auch geöffnet worden. Die Zeugin hat hinausgesehen, hat aber weder Revolver noch Patronen darin gesehen, was sie, wie sie zugibt, hätte sehen müssen, wenn sie darin gewesen wären. (Anfänglich sagt die Zeuge auf die Frage des Vorsitzenden, sie wisse nicht, ob sie die Waffe hätte sehen müssen, wenn sie darin gewesen wäre.)

 

Verteidiger Dr.   A b l a ß :  Ist es richtig, daß Sie jetzt mit jemand anderen versprochen sind? - Marie   M o h r :   Ja. - Die Zeugin will insbesondere nicht wissen, wer die Koffer gepackt hat. Auch auf die Frage, wer die Koffer vom Bahnhof nach dem Schlosse getragen und wo sie hingeschafft worden sind, gibt die Zeugin nur unsichere Auskunft.

 

Oberstaatsanwalt: Sind nicht häufiger größere Bewirtungen in Ottenbüttel vorgekommen? - Zeugin (sehr treuherzig): Ja, ja, gewiß, das das ist öfters gewesen, einmal ging es dir ganze Nacht durch, da trank man immer Punsch und tanzte darauf los, daß ich gar nicht schlafen konnte.

 

Oberstaatsanwalt: Ich bitte, noch Herrn Geheimrat Dubiel zu befragen, ob in der Voruntersuchung die Mohr auf ihn in sittlicher Beziehung einen unnatürlich unbefangenen Eindruck machte.

 

Geh. Justizrat   D u b i e l :

 

Die diskreten Vorgänge in der Nacht Morde

schilderte die Zeugin so unbefangen, daß ich fragte, ob sie denn gar   k e i n   S c h a m g e f ü h l   habe. Die Mohr antwortete mit einem Nein. Als ich das dann protokollieren wollte, besann sie sich eines besseren und meinte, sie habe sich doch geschämt.

 

Oberstaatsanwalt: Ich will dem noch hinzufügen, daß die Mohr dem Angeklagten so blindlings vertraute, daß sie ihm beispielsweise auch glaubte, sie könne gar keine Kinder bekommen.

 

Es meldet sich noch einmal

Fräulein Hatje aus Sülldorf

zum Wort, die bei dem Angeklagten in Stellung war, und meint, sie habe noch etwas   W i c h t i g e s   vergessen. Nach ihrer Vereidigung erzählt die Zeugin, die Dörthe hätte, wie Grupen ihr erzählt habe, ihm mehrfach   H e i r a t s a n t r ä g e   gemacht. Grupen sei aber angeblich nicht darauf eingegangen. Er habe ihr dies damit erklärt, daß er die Dörthe nicht leiden könne. Ueber den Bruder Wilhelm meint die Zeugin, daß er früher tadellos arbeitete und einen guten Ruf gehabt habe. Das sei jetzt nicht mehr so der Fall.

 

Es folgen die

Gutachten der Sachverständigen,

und zwar zuerst des Bücherrevisors   S c h ä r f f .   Der Sachverständige erklärt: Bis zu seiner Verheiratung mit Frau Schade besaß der Angeklagte nichts. Ostern 1920 erfolgte der Verkauf des väterlichen Grundstücks in Haseldorf, wodurch er 17.000 Mark erübrigt haben soll. Das sind Kleine Beträge. Ich will die Frage, ob in der Kassette 60.000 Mark oder 72.000 Mark oder gar nichts war, nicht selbst entscheiden. Das überlasse ich den Herren Geschworenen.

 

Professor Dr.   J e s e r i c h   (Berlin) hat die Aufgabe, erstens einen Brief an die „Großmutti“ zu vergleichen mit   H a n d s c h r i f t e n   d e r   U r s u l a   S c h a d e ,   um festzustellen, ob dieser Brief von ihr herrührt oder von einem anderen, besonders von dem Angeklagte, geschrieben sein kann. Weiter ist festzustellen, ob das Wort   „ t r a u r i g e “   in dem Brief an frau Barthel von Ursula selbst nachträglich hinzugefügt ist. Der Großmuttibrief ist mit Bleistift geschrieben. Vergleiche mit einem anderen Briefe der kleinen Ursula führten zu dem Schluß: Abweichungen irgendwelcher wesentlicher Art wurden zwischen beiden Briefen nicht gefunden. Ursulas Handschrift weist einige charakteristische Züge auf, die man sonst bei Kindern nicht findet. In zwei Punkten konnte auch

eine Aehnlichkeit mit Grupens Schriftzügen

festgestellt werden. Der Sachverständige hat trotz eingehendster Untersuchung keine Spur eines Unterschiedes in den Unterschriften der beiden Briefe, sondern alles übereinstimmend gefunden.   D e r   G r o ß m u t t i b r i e f   k a n n   a l s o   n u r   d u r c h   U r s  u l a   g e s c h r i e b e n   s e i n .   Ob an dem Brief an Frau Bartel bei der Unterschrift Ursels das Wort „traurige“ von anderer Hand hinzugefügt ist, ließe sich bei so wenig Buchstaben nicht mit Sicherheit feststellen. Festgestellt konnte werden, daß das Wort „traurige“   n a c h t r ä g l i c h   zugesetzt worden ist, und zwar mit gleichartiger Tinte und nachdem die ursprüngliche Schrift getrocknet war.

 

 

 

Dienstag, den 20. Dezember 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Der Staatsanwalt beantragt die Todesstrafe im Kleppelsdorfer Prozeß. 

Im Kleppelsdorfer Mordprozeß wurde am Montag noch einmal in die Verhandlung eingetreten, wobei die Aufstellung von Puppen mit einem Kleid und einer Schürze der erschossenen Dörte im Saal sowie die Vorführungen der Verletzungen durch Lichtbilder und die von Sachverständigen an bereit gestellten Schädeln gezeigten Verwundungen der Verhandlung einen fast schaurigen Hintergrund gaben. Am Ende der Beweisaufnahme, die sich zuletzt noch einmal auf das Sittlichkeitsverbrechen erstreckte, wurde Frau   E c k e r t   vereidigt.

 

Der Vorsitzende verliest sodann die Schuldfrage, die auf Mord und Sittlichkeitsverbrechen an einer Minderjährigen, die zugleich Verwandte ist, lautet. Unterfragen auf Totschlag sind nicht gestellt worden. Die Frage auf Mord ist aber in Vorsatz (Totschlag) und Ueberlegung (Mord) geteilt.

 

Die öffentlichen Ankläger und Verteidiger machen hierzu keine Ausführungen.

 

Dann nimmt unter lautloser Stille Oberstaatsanwalt Dr. Reifenrath das Wort: Der Staatsanwalt geht gleich zur Ankunft   G r u p e n s   in Kleppelsdorf über, der wider Erwarten so viel Personen mitbrachte. Grupen hat ein Doppelspiel getrieben, oder, wie er sich ausdrückte, er saß mit seinem Vorgehen in der Vormundschaftssache in einer Zwickmühle. Schon bald nach seinem Eintreffen kam Dörte zu der Oberschwester Kube mit der Mitteilung, sie sei sehr unruhig. Grupen döhse unstet im Hause umher, er habe ihr einen Heiratsantrag gemacht und sich in auffallender Weise danach erkundigt, warum das Schloß abends in allen seinen Teilen immer so fest verschlossen sei. Zwei Tage vor der Tat erschien der Angeklagte schon sehr unruhig, und nicht nur der Dörte, sondern auch anderen Personen gegenüber. Warum war dieser Mann so unruhig? Und warum reiste er nicht sofort wieder ab? Weil der schaurige Zweck seines Besuches noch nicht erledigt war. Er hatte seine Opfer noch nicht auf der Strecke.

 

Der Oberstaatsanwalt beantragte gegen   d e n   A n g e k l a g t e n   d a s   T o d e s u r t e i l .

 

Die Verteidiger plaidierten auf   F r e i s p r e c h u n g . -   Das Urteil ist heute nachmittag zu erwarten.

 

 

 

Dienstag, den 20. Dezember 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Wedel, im Dezember.

Frau Grupen in Wedel beerdigt?

Der Grupenprozeß wird von der hiesigen Bevölkerung mit großer Spannung verfolgt, denn Grupen war in Wedel eine stattbekannte Persönlichkeit. Er hat seinerzeit viel bei einer hiesigen Einwohnerin verkehrt und hat sich auch um die Hand einer hiesigen Landwirtstochter beworben. Das ist es aber nicht allein, was das große Interesse rechtfertigt, das man dem Prozeß entgegenbringt. Bekanntlich ist neben der Erschießung der beiden Kinder das unaufgeklärte Verschwinden der Frau Peter Grupens ein Hauptgegenstand der Verhandlungen gewesen. Jedoch war es nicht möglich, irgendeine Erklärung in das Dunkel dieser Angelegenheit zu bringen. In Wedel wollen die Gerüchte nicht verstimmen, daß die am 31. Januar 1920 in der Wedeler Aue gefundene Frauenleiche identisch ist mit der verschwundenen Frau Grupens. Diese Leiche wies, wie man sich erinnern wird, eine Schnittwunde am Halse auf, auch fehlte ein Bein. Während letztes zurückzuführen sein mag auf die Einwirkung des Eisganges, hat der Polizeiarzt Dr.   K a r e h n k e   die Schnittwunde, die nach Ansicht der Gerichtskommission durch eine Schiffsschraube herbeigeführt wurde, von vornherein für nicht unbedenklich gehalten und die Möglichkeit nicht von der Hand gewiesen, daß diese   v o n   f r e m d e r   H a n d   herbeigeführt worden ist. Die Leiche, die bereits auf dem hiesigen Friedhof beigesetzt war, wurde denn auch wieder ausgegraben, um den Fall näher zu untersuchen. Alle Körpermerkmale ließen darauf schließen, daß es sich tatsächlich um die Frau Grupens handle, wurden doch auch das graue Haar und die charakteristischen Sorgenfalten festgestellt. Die gerichtliche Kommission kam dennoch zu der Ansicht, daß   d i e   L e i c h e   n i c h t   i d e n t i s c h   sei, und zwar ausschließlich auf die Aussage eines Itzehoer Zahnarztes hin, der s. Zt. Frau Grupen behandelt hat, und der aussagte, daß Frau Grupen einen Goldzahn gehabt habe, während die Leiche keinerlei künstliche Zähne aufwies. Die Leiche wurde dann wieder der Erde übergeben.

 

Die Sachverständigen-Gutachten über die Einwirkung von Suggestion und Hypnose, die vor dem Geschworenengericht gegeben worden sind, haben jetzt   d e n   V e r d a c h t   b e s t ä r k t ,   d a ß   d i e   a u f   d e m   F r i e d h o f   i n   W e d e l   r u h e n d e   L e i c h e   d e n n o c h   d i e j e n i g e   d e r   F r a u   G r u p e n   s e i .   War es schon der mit den hiesigen Verhältnissen vertrauten Bevölkerung unerklärlich, daß von der Elbe aus eine Leiche bis in die obere Aue hineintreiben könnte, so haben die Sachverständigen-Gutachten die Vermutung verstärkt, daß das Gutachten des Zahnarztes nicht stichhaltig sein kann. Es herrscht die Ansicht vor, daß auch der Zahnarzt unter dem suggestiven Einfluß des Anageklagten gestanden haben kann; ist doch vor dem Geschworenengericht nachgewiesen worden, daß der Angeklagte auf seine Umgebung einen außergewöhnlichen suggestiven Einfluß ausübte, daß er die Fähigkeit besessen hat,   f a s t   j e d e r m a n n   s k l a v i s c h   i n   s e i n e n   B a n n   z u   t u n ,   daß er eine ganz seltene Willensstärke besessen hat und über Mittel verfügt, seinen Willen auch auf andere wirken zu lassen. Wenn es schon für einen normalen Menschen keine Kleinigkeit gewesen ist, Frau und Schwiegermutter zu veranlassen, ihm Generalvollmacht zu erteilen und ihm ohne jede Gegenleistung ihr ganzes Geld abzutreten, wenn er es fertig gebracht hat, ein Mädchen nach dem anderen zu verführen, wenn er außer seiner Frau zu gleicher Zeit drei Geliebte im Hause hatte, so ist das - so argumentiert man - doch ein gewagtes und seltenes Stück von Willensbeeinflussung, sodaß die Vermutung nicht von der Hand gewiesen werden kann,   a u c h   d e r   Z a h n a r z t   habe unter der suggestiven Beeinflussung des Angeklagten gestanden. Jedenfalls läßt sich die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß man trotz des Gutachtens des Zahnarztes mehr denn je überzeugt ist von der Identität der auf dem hiesigen Friedhof ruhenden Leiche mit der Frau Grupen.

 

 

 

Mittwoch, den 21. Dezember 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Das Ende der Tragödie von Kleppelsdorf.

Der Angeklagte Peter Grupen wurde wegen Mordes in zwei Fällen zwei Mal zum Tode verurteilt, wegen Sittlichkeitsverbrechens zu 5 Jahren Zuchthaus und dauerndem Ehrverlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Er erklärte, auf jede Revision und Begnadigung verzichten zu wollen.

 

Die hinreißende Beredsamkeit seines Verteidigers, Justizrat Dr. Ablaß, eines alten Parlamentariers und erprobten Redners, hat Grupen nicht zu retten vermocht. Die Geschworenen schlossen sich dem Staatsanwalt an, der den Kopf des Angeklagten forderte, nachdem er das Charakterbild Grupens in den kräftigsten Farben gemalt und daran erinnert hatte, daß der Angeklagte noch am Mordtage sich nicht gescheut hatte, sogar zum Tanze aufzufordern, daß er an diesem schrecklichen Tage mit allen getanzt hat, selbst mit der alten, beinahe 80jährigen Großmutter. Der Staatsanwalt hatte weiter gesagt: Als das Verbrechen entdeckt wurde, ist Grupen einer der ersten im Mordzimmer. Aber, wie bei allen großen Blutverbrechen, kann auch hier der Mörder seine Opfer nicht anfassen. Er tut das erst nach dreimaliger Aufforderung und sichtlich unter großer Ueberwindung. Er hebt die Pistole auf, die zur Linken der Ursula liegt, während sie auf der rechten Seite liegen müßte. Als dann der erste Arzt erscheint, begeht Grupen die Ungeheuerlichkeit, zu ihm zu sagen: „Kann man denn der Ursel nicht etwas eingeben, daß sie leben bleibt und wenigstens noch berichtet, wer der Täter ist?“ Die dicken Mauern des Mordzimmers sind dem Angeklagten das größte Verhängnis geworden. Man kann wohl sagen, daß sich auch in diesem Fall das Wort bewahrheitet hat, daß, wenn Menschen schweigen, die Steine reden werden.   D i e   S t e i n e   h a b e n   g e s p r o c h e n   und uns gesagt, daß die Patronenhülsen gar nicht anders bei einem Morde durch Grupen fallen konnten und daß von einem Selbstmord der Ursula und einem Morde ihrerseits an Dörthe gar keine Rede sein kann. Die Gutachten der Sachverständigen und die Lage der Patronen sind die größten Keulenschläge, die die Anklage dem Angeklagten zufügt. Und diese Keulenschläge zerschmetterten Grupen. Der Angeklagte hat Blut fließen lassen, rücksichtslos, gewissenlos und so unmenschlich, wie kaum ein anderer vor ihm. Dafür muß er schwer sühnen und ich fordere von den Geschworenen den Kopf des Angeklagten.

 

Alle Gegengründe des Verteidigers blieben wirkungslos.

 

Das Todesurteil gegen Grupen wurde in dem dicht gefüllten Saale mit tiefer Bewegung aufgenommen. Nur ganz vereinzelt konnte man Bravorufe hören, die der Vorsitzende rügte. Als ihm der Wahrspruch verkündet wurde, zuckte Grupen etwas zusammen, fand aber bald seine Sicherheit wieder und sprach während der Beratungen des Gerichtshofes durchaus ruhig mit seinem Anwalt. Dann verkündete er bewegt, aber mit fester Stimme folgendes: „Ich werde gegen das Urteil weder Revision einlegen noch um Gnade bitten. Ich versichere noch einmal, daß ich vollkommen unschuldig bin, und hoffe bestimmt, daß der Tag kommen wird, an dem das Verbrechen eine andere Aufklärung finden wird. Den Herren Geschworenen nehme ich Ihre Entscheidung durchaus nicht übel. Sie konnten nach der Form der gegen mich gerichteten Anklage kaum anders entscheiden.“ Nach Verkündigung des Urteils wurde der Angeklagte abgeführt und die Sitzung durch den Vorsitzenden geschlossen.

 

 

 

Donnerstag, den 22. Dezember 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Die Aufnahme des Urteils im Kleppelsdorfer Prozeß.

Das Urteil im Kleppelsdorfer Prozeß wird überall lebhaft kommentiert und entspricht der Volksmeinung, die von Anfang an gegen den Angeklagten war. Der Spruch, der mit eherner Notwendigkeit das doppelte Todesurteil nach sich zog, soll und darf nicht im geringsten gescholten werden. Die zwölf Männer, die ihn, wenn auch nach kurzer Beratung, so doch nach langer Verhandlung, an der sie regsten Anteil nahmen, gefällt haben, haben ihn zweifelsohne gefällt aus tiefster Ueberzeugung von der Schuld Grupens, und da war es ihr Recht und ihre heilige Pflicht, das Schuldig auszusprechen. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß, falls der Prozeß in einer anderen Gegend verhandelt worden wäre, in einer Umgebung, die nicht so unmittelbar unter dem Eindrucke der Tat stand, nicht durch die verschiedensten Beziehungen mit ihren Opfern und den Hauptbelastungszeugen verknüpft war, es ist durchaus wahrscheinlich, daß auch dann das Verfahren mit einem zweifachen Todesurteil geendet hätte.

 

Und doch, und doch … Der unbefangene Beobachter, der nur in den, allerdings sehr ausführlichen Berichten den Prozeß verfolgt hat, ist froh, daß er die Last, eine Entscheidung treffen zu müssen, nicht zu tragen brauchte. Es ist das ein Gefühl, das man bei jeder, nur auf Indizien aufgebauten Anklage haben wird. Man verlangt von einem Beweise, der einem Menschen den Kopf kostet, daß er -- um das amerikanische Wort zu variieren -- hundertprozentig sei, und das wird ein Indizienbeweis nie sein. Auch der in diesem Falle geführte ist es nicht. Kommt nun dazu die Tatsache, daß in der Voruntersuchung die Stimmung des ganzen Kreises gegen den Angeklagten voreingenommen wurde, so verstärkt sich die Befriedigung, daß man nicht selbst die Verantwortung für den Endspruch auf sich zu nehmen hatte.

 

Immerhin zeigt sich, so sehr man auch rein gefühlsmäßig an Grupens Schuld glaubt, daß sich auch die Ueberzeugung Bahn bricht. Hier haben Indizien zu einem „Schuldig“ geführt, von denen man wünschen möchte, daß sie noch einmal einer Nachprüfung unterzogen werden. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch die Art, in der Grupen in seinem   S c h l u ß w o r t   auf Revision und Gnade verzichtete. Wenn man den Angeklagten das bestimmt, wenn auch dem Ernst des Augenblicks entsprechend mit etwas bewegter Stimme sagen hörte, so konnte man sich des Gefühls nicht erwehren, hier spricht nicht unbedingt ein Mann, der sich schuldig fühlt, sondern vielleicht jemand, der Schluß machen will. Uebrigens muß darauf hingewiesen werden, daß Grupen nicht   o f f i z i e l l   auf Rechtsmittel verzichtet hat. Das konnte nur geschehen,   n a c h d e m   das Todesurteil verkündet war. Man sagt sich mit Recht, wenn jemand um seinen Kopf zu kämpfen hat, kann man ihm nicht zumuten, sich darüber innerhalb weniger Sekunden zu entscheiden. Es kann also keine Rede davon sein, daß die erwähnte Erklärung als offizieller Bericht protokolliert wurde und das Urteil damit schon rechtskräftig ist, ganz abgesehen von der Tatsache, daß Justizrat Dr. Ablaß den Angeklagten sofort unterbrach, indem er ergänzte:   d a r ü b e r   (nämlich über das Einlegen von Rechtsmitteln) werden wir noch reden! Grupens Erklärung, in dem Augenblick abgegeben, ist also lediglich sozusagen eine private Mitteilung an den Gerichtshof über seine Pläne, die gar keine Rechtsverbindlichkeit hat. Was den Gnadenweg betrifft, so ist der Verurteilte darauf überhaupt ohne jeden Einfluß, denn   j e d e s   Todesurteil bedarf der Bestätigung, früher durch den Landesherrn, jetzt durch das Staatsministerium. Daß es zur Bestätigung des Urteils, also zur Vollstreckung, kommt, ist kaum anzunehmen, denn schon unter dem alten Regime wurden Todesurteile fast nie bestätigt, wenn die Beweisführung sich in der Hauptsache auf Indizien stützte. Es ist ferner angenommen worden, daß Grupen auf das Vermögen von Kleppelsdorf machtgierig lossteuerte. Er war aber gar nicht Erbe, sondern zu einem Teile Frau Eckert (nach deren Ableben die kleine Irmgard) und andererseits die Rohrbecks. Also nur auf Umwegen durch die Generalvollmacht, diese aber auch nur schwer, oder Beseitigung der Frau Eckert und der Irmgard konnte Grupen zu dem vermeintlichen Ziele gelangen. Anderes, wie sein ausschweifendes Liebesleben, wobei nicht vergessen werden darf, daß es ihm die Schönen von Ottenbüttel offenbar nicht sehr schwer gemacht haben, sie zu erobern, lief nur nebenher. Also Indizien, und als ihr Fundament seien gefühlsmäßige Erwägungen, daß ein   a n d e r e r   als der Täter nicht in Frage komme. Da aber ein Angeschuldigter nicht seine Unschuld zu beweisen hat, sondern ihm lückenlos seine Schuld dargetan werden muß, hier aber sicherlich die rein gefühlsmäßige Seite ausschlaggebend war, woraus an sich den Geschworenen kein Vorwurf gemacht werden soll, so würde es nützlich sein, wenn das Reichsgericht, an das Justizrat Dr. Ablaß bestimmt appelieren wird, eine erneute Prüfung des blutigen Dramas anordnen sollte.

 

 

 

Sonnabend, 31. Dezember 1921, „Norddeutsche Nachrichten“

Lokaler Jahres-Rückblick

15. März:            P e t e r   G r u p e n ,   in Haseldorf geboren, wird unter dem Verdacht des dreifachen Mordes verhaftet

20. Dezember:   Das Schwurgericht in Hirschberg verurteilt nach 14 tägiger Verhandlung      P e t e r   G r u p e n   zweimal zum Tode und zu 5 Jahren Zuchthaus

 

 

 

Montag, den 9. Januar 1922, „Norddeutsche Nachrichten“

Haseldorf, im Januar.

G r u p e n   h a t   k e i n e   R e v i s i o n   e i n g e l e g t !  

Aus Hirschberg wird gemeldet: Der wegen Doppelmordes auf Schloß Kleppelsdorf vom Hirschberger Schwurgericht zum Tode verurteilte Peter Grupen hat keine Revision eingelegt. Die Frist zur Einlegung der Revision ist am 30. Dezember ergebnislos verstrichen. Die Strafe ist mithin rechtskräftig geworden und würde vollzogen werden können. 

 

 

 

Donnerstag, den 26. Januar 1922, „Norddeutsche Nachrichten“

P e t e r   G r u p e n   u n t e r   d e m   V e r d a c h t   d e s   G a t t e n m o r d e s .  

Wegen Verdachtes der Ermordung seiner Ehefrau hat die Staatsanwaltschaft in Altona nunmehr die Voruntersuchung gegen Peter Grupen eingeleitet, der bekanntlich in Hirschberg wegen Doppelmordes zweimal zum Tode verurteilt ist. Dieses Urteil hat noch keine Rechtskraft erlangt, weil Grupen beim Reichsgericht Revision angemeldet hat. Die Ehefrau Grupen verschwand plötzlich, und sollte heimlich nach Amerika gereist sein. Die vor längerer Zeit im Schulauer Hafen gefundene weibliche Leiche kommt als die der Frau Grupen nicht in Frage, da diese Leiche inzwischen von den Angehörigen identifiziert worden ist.

 

 

 

Freitag, den 27. Januar 1922, „Norddeutsche Nachrichten“

Die Tragödie von Kleppelsdorf wird von der Filmschauspielerin Martha Orlanda für den Film bearbeitet.

 

 

 

Sonnabend, den 28. Januar 1922, „Norddeutsche Nachrichten“

Haseldorf, im Januar

Selbstmordversuch des Doppelmörders Grupen.

Der in der Kleppelsdorfer Mordaffäre zweimal zum Tode verurteilte Architekt Grupen unternahm in Gerichtsgefängnis in Hirschberg einen Selbstmordversuch. Er versuchte sich zu erhängen, konnte aber durch das rechtzeitige Hinzukommen der Gefängnisbeamten gerettet werden.

 

 

 

Montag, den 30. Januar 1922, „Norddeutsche Nachrichten“

Haseldorf, im Januar.

D e r   v e r h i n d e r t e   P e t e r   G r u p e n .

Peter Grupen, der Doppelmörder von Kleppelsdorf, hat sich im Gefängnis aufgeknüpft, und der Gefängniswärter ist gerade noch rechtzeitig dazugekommen, um ihn abzuschneiden. Darauf wurde diese Meldung (wörtlich) durch die Presse gejagt: Peter Grupen konnte gerettet werden. Wozu konnte er gerettet werden? fragt die „N. H. Ztg.“. Er ist zweimal zum Tode verurteilt und hat das Urteil soeben selbst an sich vollziehen wollen. Aber solcher Prozeß muß ordnungsgemäß mit Henkersmahlzeit, dem Herrn Scharfrichter mit Beil, Zinderhut und dem sonstigen Zubehör vollzogen werden. Ein Glück also, daß Peter „gerettet“ werden konnte! Man wäre sonst in die größte Verlegenheit gekommen. Nun wird Peter Grupen wohl noch behutsamer konserviert werden, damit er nicht ein zweites Mal die hochnotpeinliche Prozeßordnung in Schwierigkeiten bringt. Ob sich Peter Grupen zu dieser „Lebensrettung“ wird gratulieren lassen? Das dürfte immerhin fraglich sein! - Kurz nach jenem Selbstmordversuch ist Grupen übrigens in einen Hungerstreik eingetreten, den er jedoch bald aufgab. Sein Verhalten zu den Beamten, die ihn früher lobten, ist jetzt ein sehr übles.

 

 

 

Freitag, den 24. Februar 1922, „Norddeutsche Nachrichten“

Peter Grupen entflohen.

Aus Hirschberg kommt die sensationelle Nachricht, daß der zweimal zum Tode verurteilte Peter Grupen, dessen Revision vom Reichsgericht verworfen worden ist, aus dem Gefängnis entflohen und noch nicht wieder ergriffen ist.

 

 

 

Sonnabend, den 25. Februar 1922, „Norddeutsche Nachrichten“

Haseldorf, im Februar.

G r u p e n   h a t   s i c h   w i e d e r   g e s t e l l t .

Der Kleppelsdorfer Doppelmörder, der am Donnerstag aus dem Gefängnis in Hirschberg geflohen war, stellte sich abends im Gefängnis selbst. - Der „Bote aus dem Riesengebirge“ meldet noch zu der Flucht Grupens aus dem Hirschberger Gerichtsgefängnis: Grupen schläferte einen seiner beiden Zellengenossen am Donnerstag mit Schlafpulver ein und eignete sich dessen Zivilkleider an. Aus der Zelle, in der Grupen untergebracht war, ist bereits früher ein Gefangener ausgebrochen, nachdem er die Querstange des vergitterten Fensters durchsägt hatte. Diese Querstange wurde mit Hilfe zweier Laschen repariert. Die Köpfe der Nieten, womit diese Laschen an der Querstange angebracht waren, durchsägte Grupen und die Mitgefangenen mit einem zur Säge umgewandelten Brotmesser und bogen daraufhin das Gitterwerk auseinander, zwängten sich durch die Oeffnung hindurch und ließen sich dann en einem Strick hinunter. Die beiden Gefangenen, die Grupen beim Ausbruch behilflich waren, stellten sich Freitag früh wieder und erklärten, unter einem unbegreiflichen Zwange gehandelt zu haben, den Grupen auf sie ausübte. Wie das zur Säge umgewandelte Brotmesser und das Schlafpulver in den Besitz Grupens gelangte, ist bis jetzt ungeklärt.

 

 

 

Montag, den 27. Februar 1922, „Norddeutsche Nachrichten“

Haseldorf, im Februar.

W a r u m   G r u p e n   a u s g e b r o c h e n   s e i n   w i l l .

Aus Hirschberg wird berichtet: Grupen, der zunächst nach seiner Gestellung jede Auskunft verweigerte, erklärte später, daß er ausgebrochen sei, um zu beweisen, daß er aus eigener Kraft seine Freiheit zu erlangen vermochte, und zurückgekehrt sei, um seine Unschuld darzutun. Diese Erklärung findet keinen Glauben, man ist der Ueberzeugung, daß es ihm aus irgend einem Grunde unmöglich geworden ist, sich in Sicherheit zu bringen. Bei seiner Rückkehr ins Gefängnis will Grupen die Mauer mit Hilfe zweier Personen überklettert haben. Diese Personen zu nennen, lehnt Grupen ab. Es fanden umfangreiche Nachforschungen nach Grupens Helfershelfer und auch Haussuchungen statt, sie hatten jedoch keinerlei positives Ergebnis. Die in Berlin verbreiteten Gerüchte, daß zwei Gefängnisbeamte in Untersuchungshaft genommen seine, entbehren jeder Begründung. - Das Verfahren wegen Mordes an Grupens Frau kann noch nicht gegen Grupen eröffnet werden, da von Altona aus noch keine Mitteilung darüber nach Hirschberg gelangt ist. Dagegen wird gegen die durch Grupens Fluchtversuch belasteten Beamten ein Verfahren eingeleitet, zu dem Grupen als Zeuge zu erscheinen hat. Nach seiner Wiedergestellung spielt Grupen die Rolle des Märtyrers. Er verweigert immer noch jede Auskunft über seine Flucht und hofft auf dem Wege des in Altona anzuberaumenden Verfahrens wegen Mordverdachts an seiner Frau eine Wiederaufnahme des Kleppelsdorfer Doppelmordprozesses zu erreichen.

 

 

 

Donnerstag, den 2. März 1922, „Norddeutsche Nachrichten“

Haseldorf, im März.

D i e   F l u c h t a f f ä r e   P e t e r   G r u p e n s .

Im Laufe der Untersuchung verwickelt sich die Fluchtaffäre Peter Grupens immer mehr. Während Grupen bisher immer behauptet hatte, er habe sich während seiner Abwesenheit aus dem Gefängnis in einer Privatwohnung in der Wilhelmstraße aufgehalten, tritt er jetzt mit der Behauptung hervor, daß er das Gefängnisgrundstück gar nicht verlassen, sondern sich vielmehr im Blitzableiterschacht im Holzhofe verborgen gehalten habe. Ob diese Angaben nun richtig sind, läßt sich natürlich noch nicht sagen. Es ist aber nicht zu verkennen, daß für diese Angaben verschiedenen Momente sprechen. So war Grupen, als er sich abends stellte, ausgehungert, er hatte auch keine Schuhe an, und die Beschaffenheit seiner Strümpfe sprach nicht dafür, daß er den ganzen Tag ohne Fußbekleidung umhergelaufen sei. Es herrscht wohl aber kein Zweifel, daß er die Flucht seit längerer Zeit sorgfältig vorbereitet hat. Seine Behauptung, er habe damit eine leere Kundgebung für seine Unschuld veranstalten wollen, ist unglaubwürdig. Uebrigens sei erwähnt, daß an Grupen sehr viele Zuschriften von Damen ankommen. Blumen und Schokolade gehen für Grupen sehr viel ein, werden ihm indessen nicht ausgeliefert. Die Untersuchung wegen des Verschwindens der Frau Grupen ist noch nicht so weit vorgeschritten, daß schon ein Termin für die Verhandlungen vor dem Altonaer Schwurgericht festgesetzt werden konnte.

 

 

 

Freitag, den 3. März 1922, „Norddeutsche Nachrichten“

Haseldorf, im März.

G r u p e n   h a t   S e l b s t m o r d   v e r ü b t .

Der wegen des Kleppelsdorfer Doppelmordes zweimal zum Tode verurteilte Peter Grupen verübte in seiner Zelle Selbstmord. Gestern nachmittag wurde er von den revidierenden Beamten am Hosenträger hängend in der Zelle tot aufgefunden. Grupen war seit der Flucht in der vergangenen Woche in Einzelhaft. Er hatte vor dem Selbstmorde keinerlei Anzeichen der Erregung gezeigt und sein Mittagessen in voller Ruhe verzehrt. Um 4 Uhr nachmittags wurde die Zelle revidiert und alles in Ordnung gefunden. Als um 4 ¾ Uhr eine weitere Revision stattfand, fand man Grupen an der Zentralheizung erhängt vor. Sofort wurden Wiederbelebungsversuche unternommen, die erfolglos blieben. Grupen hatte schriftliche Aufzeichnungen nicht hinterlassen und auch zu niemandem eine Aeußerung getan, die auf sein Vorhaben schließen ließ. Grupen hat schon einen Selbstmordversuch verübt, der aber infolge der Achtsamkeit des Gefängnispersonals mißlang. Er scheint die Tat in einem seelischen Zusammenbruch verübt zu haben.

 

 

 

Sonnabend, den 4. März 1922, „Norddeutsche Nachrichten“

Die Affäre Grupen.

Bei einer nicht gerade ernstgeführten Diskussion über die Begnadigung von Schwerverbrechern hat Bismarck einmal auf die Mühe und Anstrengungen verwiesen, die das Einfangen eines Mörders, sein Festhalten bis zur Verurteilung und die Ueberwachung der lebenslänglichen Haft verursachten. Die Hirschberger Gefängnisleitung muß ihre Aufgabe entweder nicht sonderlich ernst oder nicht bemerkenswert intelligent aufgefaßt haben. Daß da etwas faul war, beweisen die Beurlaubungen und Entlassungen mehrerer leitender Strafanstaltsbeamter im letzten Vierteljahr. Schon der erste Selbstmordversuch Grupens warf ein bedenkliches Schlaglicht auf die Ueberwachung im Hirschberger Gefängnis. Man hätte annehmen müssen, daß der beliebteste Strickersatz, nämlich der Hosenträger, dem Delinquenten abgenommen wurde. Die Gefängnisleitung wußte einen anderen Ausweg, sie gesellte Grupen zwei Zellengenossen bei, die ihn überwachen sollten. Die Wirkung war der gemeinsame Ausbruch aller drei, bei dem, wie das Strohtau beweist, von außen Beihilfe geleistet wurde. Noch ist es nicht aufgeklärt, wo sich Grupen an dem Freitag, an dem er entwichen war, aufgehalten hatte. Am glaubhaftesten ist die Lesart, daß er sich im Holzhof des Gefängnisses verborgen gehalten hatte und wieder zum Vorschein kam, weil der von langer Hand vorbereitete Plan der Flucht an dem Versagen der Beihilfe, die höchstwahrscheinlich von Gefängnisbeamten erwartet wurde, scheiterte. Nun glaubte die neue Leitung der Strafanstalt etwas besonders Gescheites zu tun, als sie den gefährlichen Häftling wieder in eine Isolierzelle steckte. In ihr fand er die alte, mangelhafte Ueberwachung, sah die Rohre der Zentralheizung und knüpfte an sie die Schlinge seines Hosenträgers. Er nahm dem Scharfrichter die Arbeit ab und ersparte der arg blamierten Gefängnisleitung weitere Mühen.

 

Die Affäre Grupen wäre somit restlos erledigt, wenn nicht dieser Selbstmord es verhinderte, daß Licht in ein anderes dunkles Verbrechen gebracht würde, in dem sehr wahrscheinlich Grupen auch der Mörder war. Die   A l t o n a e r   Strafbehörde hatte bereits die Akten aus dem Hirschberger Prozeß gegen den Doppelmörder von Kleppelsdorf eingefordert, um gegen Grupen wegen des geheimnisvollen   V e r s c h w i n d e n   s e i n e r   E h e f r a u   zu verhandeln. Grupen, der die Mittel besaß, die beiden berühmtesten Anwälte Schlesiens für die Verteidigung in der Kleppelsdorfer Mordaffäre zu gewinnen, hatte auch für den Prozeß in Altona bereits einen Hirschberger Anwalt genommen, der zunächst Schritte für die Hinausschiebung der Todesstrafe unternahm. Gleichzeitig erfolgte das Gnadengesuch an den Justizminister, in dem Grupen wieder seine Unschuld an dem Kleppelsdorfer Doppelmord beteuerte. Wie der Altonaer Prozeß geführt werden sollte, war noch nicht ganz klar, weil Frau Grupen spurlos verschwunden ist. Die bei Schulau gefundene Leiche, in der anfänglich die Vermißte vermutet wurde, kam nach der Aussage des Zahnarztes der Frau Grupen nicht in Betracht. Bisher ist von preußischen Gerichten noch kein Strafurteil gefällt worden, wenn Ueberreste der ermordeten Person nicht vorhanden waren. Das Geheimnis der verschwundenen Ehefrau nimmt Grupen mit ins Grab. Ob sein Bruder, der im Hirschberger Prozeß auftrat, darum weiß, wie manche vermuten, bleibt die nächste Frage, die nun die Altonaer Staatsanwaltschaft beschäftigen wird. Peter Grupen und sein neuer Hirschberger Anwalt verkündeten in den letzten Tagen, der Altonaer Prozeß würde neues Licht in die Kleppelsdorfer Mordaffäre bringen, es würden sich neue Momente ergeben, die den Wahrspruch der Hirschberger Geschworenen ins Wanken bringen könnten. Mit seinem Selbstmord hat sich Peter Grupen selbst dementiert, und die unfähige Leitung des Hirschberger Gefängnisses hat ihr Teil dazu beigetragen, daß der Verbleib der Ehefrau ungeklärt bleibt.

 

Der Schauerroman Grupen ist erledigt. Er hat die Oeffentlichkeit über Gebühr beschäftigt und doch nicht volle Klarheit erbracht. Ein Abschluß war schon deshalb zu ersehnen, weil gewisse Begleitumstände des Prozesses einen moralischen Tiefstand offenbarten, dessen wir uns vor aller Welt zu schämen hätten. Solange dieser kaltblütige Abschlächter zweier Kinder nämlich noch nicht als Strafgefangener zu beachten war, also bis zu der rechtskräftigen Mitteilung des Urteils und der Verwerfung der Revision in den letztvergangenen Tagen, war er der Gegenstand entgleister Sympathien moralisch schwachsinniger Weiber. Erst kurz vor seinem Selbstmord wurden die an Peter Grupen gerichteten Schokoladensendungen, Blumengrüße und hysterischen Briefe zurückgehalten. Bis dahin hatte sich das zarte Gemüt des schwachen Geschlechts an diesem Scheusal ausrasen können. Es ist eine Unterlassungssünde, daß die Absenderinnen nicht beim Namen aufgerufen wurden, sondern daß man nur erfährt, wie stark Berlin W. an diesen perversen Huldigungen beteiligt war. Eine öffentliche Anprangerung wäre doch für kommende Fälle heilsam gewesen. Kann sie nicht noch nachgeholt werden?

 

 

 

Donnerstag, den 9. März 1922, „Norddeutsche Nachrichten“

Peter Grupens verschwundene Frau.

Der vom Schwurgericht in Hirschberg wegen zweifachen Mordes verurteilte   P e t e r   G r u p e n ,   der sich inzwischen erhängt hat, sollte noch einmal vor das Schwurgericht Altona kommen, um sich wegen des Verschwindens seiner Frau zu verantworten. Dieser Prozeß ist durch den Tod Peter Grupens verhindert worden. Wie jetzt aus   H i r s c h b e r g   gemeldet wird, hat sich dort ein   Z e u g e   gemeldet, der erklärte, am 29. September 1920 habe er als diensttuender Wächter auf der Mole in   N o r d e n h a m   gestanden und einen   a m e r i k a n i s c h e n   D a m p f e r   nach Südamerika auslaufen sehen. An Bord sei ihm eine   F r a u   aufgefallen, auf welche   g a n z   g e n a u   d i e   B e s c h r e i b u n g   p a s s e ,   welche Frau Schade von ihrer Tochter gab.

 

 

 

Sonnabend, den 11. März 1922, „Norddeutsche Nachrichten“

P e t e r   G r u p e n

wurde am Dienstag auf dem Hirschberger Kommunalfriedhof begraben. Seine Verwandten, von denen niemand bei der Beerdigung erschienen war, hatten sich geweigert, die Begräbniskosten zu tragen, die deshalb von der Hirschberger Armenverwaltung übernommen werden mußten. - Der Gefängnisinspektor Schentke in Hirschberg hat sich Donnerstag abend in seiner Wohnung erschossen. Er gehörte zu denjenigen Gefängnisbeamten, die Grupen im Gefängnis unerlaubte Gefälligkeiten erwiesen haben. Auf dieses dunkle Treiben jener Beamten hat die Staatsanwaltschaft bei der Flucht Grupens selbst hingewiesen. Allerdings war Schentke, der in einem besonderen freundschaftlichen Verhältnis zu Grupen gestanden haben muß, schon im Januar, weil er mit einer Strafgefangenen ein zärtliches Verhältnis angeknüpft hatte, vom Dienst suspendiert und das Disziplinarverfahren gegen ihn eröffnet worden. Trotzdem hat Schentke auch nachher mit Grupen die Verbindung aufrecht zu erhalten gewußt. Grupen hat auch vor der Flucht zu Mitgefangenen geäußert, daß er sich in die in die Nähe des Gefängnisses in der Wilhelmstraße gelegene Wohnung des Gefängnisinspektors begeben wolle. Es unterliegt also keinem Zweifel mehr, daß der Gefängnisinspektor bei der Beschaffung von Hilfsmitteln zu der Flucht behilflich gewesen ist. Da gegen andere Gefängnisbeamte noch das Disziplinarverfahren schwebt, kann über Einzelheiten aus dieser Untersuchung vorläufig nichts mitgeteilt werden.

 

 

 

Mittwoch, den 22. März 1922, „Norddeutsche Nachrichten“

D e r   G e i s t   d e r   F r a u   G r u p e n   s o l l   z i t i e r t   w e r d e n .

Die Familie des Selbstmörders Grupen hat beschlossen, die Wiederaufnahme des Prozesses zu betreiben und allen Ernstes wird in der nächsten Woche eine spiritistische Sitzung abgehalten werden, um den Geist der Frau Grupen, die bekanntlich nach Amerika ausgewandert sein soll, zu zitieren und sie über ihren Aufenthaltsort zu befragen. Die Veranstalter berufen sich darauf, daß auch in dem Prozeß der Ermordung der beiden Heidelberger Bürgermeister die Spur durch eine Hellseherin gefunden worden sei.


 

 

 

 

 

Hannoverscher Kurier

 

- In erster Linie Suche nach Todesanzeige für den jungen Herrn Pingel; nicht gefunden -

 

Freitag, 18. Februar 1921, „Hannoverscher Kurier“, Abend-Ausgabe

Doppelmord im Riesengebirge.

Ein   s c h w e r e s   V e r b r e c h e n   ist auf dem Schlosse   K l ö p p e l s d o r f   i m   R i e s e n g e b i r g e   verübt worden. Dort wurde die Besitzerin des Rittergutes, die elternlose 16 Jahre alte Dorothea   R o h r b e c k ,   in ihrem Zimmer tot aufgefunden. Sie war durch mehrere Schüsse in Hals und Brust getötet worden. Neben ihr lag mit einer Schußwunde über dem rechten Auge ihre 12jährige Kusine Ursula   S c h a d e   aus Berlin, die vor einiger Zeit mit ihrer 9jährigen Schwester auf Besuch gekommen war. Sie starb zwei Stunden nach Entdeckung der Tat, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. In ihrer Tasche fand man einen Brief an ihre Großmutter in Berlin, in dem sie mitteilt, daß sie zuerst ihre Kusine und dann sich selbst erschießen werde. Unter dem dringenden Verdacht der Täterschaft ist der Architekt Peter   G r u p e n   aus Oldenbüttel bei Itzehoe   v e r h a f t e t   worden; er ist der Stiefvater der Ursula Schade, von dem man annimmt, daß er danach trachtete, sich in den Besitz des großen Vermögens der Dorothea Rohrbeck zu setzen. Man glaubt, daß Grupen seine Stieftochter Ursula hypnotisiert und ihr in diesem Zustande befohlen hat, den Abschiedsbrief an die Großmutter zu schreiben und dann die beiden Schüsse auf ihre Kusine und schließlich auf sich selbst abzugeben. Schwer belastet erscheint auch der Vormund der Dorothea Rohrbeck, dessen Aufenthalt nicht ermittelt werden kann.

 

 

 

Mittwoch, 21. Dezember 1921, „Hannoverscher Kurier“, Morgen-Ausgabe

Todesurteil gegen einen Doppelmörder.

Drahtmeldung.

Hirschberg, 20. Dezember

 

Der des Doppelmordes angeklagte Peter   G r u p e n   wurde vom hiesigen Schwurgericht wegen   M o r d e s   i n   z w e i   F ä l l e n   zweimal   z u m   T o d e   und wegen Sittlichkeitsverbrechens zu fünf Jahren Zuchthaus und dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt. Der Angeklagte erklärte, auf jede   R e v i s i o n   u n d   B e g n a d i g u n g   v e r z i c h t e n   zu wollen.

 

*

Der Mordprozeß auf Kleppelsdorf hat über zwei Wochen lang den S e n s a t i o n s h u n g e r   mancher Deutschen gestillt. Mehr aber nicht. diese Aufgabe erschien uns zu gering, als daß wir sie durch eingehende Prozeßberichterstattung zu der unserigen hätten machen sollen. Wir haben deshalb in einer Zeit, in der der Raum jeder einzelnen Zeile in der Zeitung für Wichtigeres gespart werden muß, von einer solchen eingehenden Berichterstattung über den täglichen Gang der Gerichtsverhandlung abgesehen. Bei Lichte besehen war der Mirdprozeß von Kleppelsdorf ja auch nur ein Mordprozeß, wie sie unsere Zeit leider nur allzu oft miterleben muß als die Ausgeburt von trüben Verhältnissen, die der Strom der Ereignisse über das deutsche Volk mit hinweggeschwemmt hat. Jedenfalls ist dieser Mordprozeß ganz und gar nicht mit den großen politischen Prozessen zu vergleichen, die auch in letzter Zeit die Beachtung des deutschen Volkes fanden und verdienten, wie dem Hölzprozeß, dem Jagowprozeß, dem Reigenprozeß oder gar den Prozessen gegen die deutschen Kriegsbeschuldigten. Allenfalls könnte noch der Hölzprozeß und der Reigenprozeß zu gewissen Vergleichen mit dem Kleppelsdorfer Prozeß herausfordern, denn auch sie beide sind Zeugen für eine Moral, gegen die die Besseren im deutschen Volke in unser Zeit einen unsäglich schweren Kampf führen müssen. Dennoch spielte in diese beiden Prozesse soviel des Plitischen und Kulturellen hinein, daß sie ganz anders denn ein Mordprozeß gewertet werden mußten.

 

Nachdem nun das Urteil in dem Mordprozeß auf Kleppelsdorf, der in Hirschberg seit dem 5. d. Mts. verhandelt wurde, gefällt worden ist, sei nur kurz   d i e   V o r g e s c h i c h t e   d i e s e s   P r o z e s s e s   hier wiedergegeben. Angeklagt war der sechsundzwanzigjährige Peter   G r u p e n ,   und zwar angeklagt des Doppelmordes an seiner 13jährigen Stieftochter Ursula   S c h a d e   und deren 16jährige Kusine Dorothea   R o h r b e c k ,   der jugendlichen Besitzerin des Gutes Kleppelsdorf. Die beiden jungen Mädchen wurden am 14. Februar 1921 mittags in einem Zimmer des Gutes mit Kopfschüssen tot aufgefunden. Durch eine kleine Pistole, die neben Ursula Schade lag, konnte der Anschein erweckt werden, als hätte diese ihre Kusine und dann sich selbst erschossen. Der Verdacht fiel aber noch an demselben Nachmittag auf Peter Grupen und führte zu dessen sofortiger Verhaftung.

 

Die jetzigen Prozeßtage haben natürlich vieles Erregende hervorgebracht. Der Angeklagte hat kalt und hartnäckig jede Schuld bestritten. Besondere Beachtung verdienten auch die Aussagen über die Frau des Angeklagten, die im Herbst vorigen Jahres plötzlich verschwunden ist und sich in Amerika aufhalten soll, ohne daß bisher Bestimmtes über ihr Dasein bekannt geworden ist. Die Verhandlungen über den Lebenswandel des Angeklagten erforderten wiederholt ganze Tage den Ausschluß der Oeffentlichkeit. Die Beweisführung stützte sich im wesentlichen auf Indizien und auf das Urteil der Sachverständigen, während die Vermutung, daß hypnotische Absonderlichkeiten zutage gefördert werden würden, unerfüllt geblieben ist.

 

 

 

Mittwoch, 21. Februar 1922, „Hannoverscher Kurier“, Abend-Ausgabe

Das Todesurteil gegen Grupen.

Drahtmeldung unserer Berliner Schriftleitung.

Berlin, 21. Dezember.

 

Durch den   V e r z i c h t   d e s   D o p p e l m ö r d e r s   G r u p e n   a u f   R e v i s i o n ,   den er vor dem zuständigen Gericht - vermutlich ohne sich über die Tragweite klar zu sein - ausgesprochen hat, ist   d a s   T o d e s u r t e i l   u n w i d e r r u f l i c h   u n d   r e c h t s k r ä f t i g   geworden. Anders steht es mit dem Verzicht auf die   G n a d e n m i t t e l ,   deren Anwendung   v o n   G r u p e n s   W i l l e n   u n a b h ä n g i g   i s t .   Nach der Strafprozeßordnung darf ein Todesurteil erst vollstreckt werden, wenn das Staatsoberhaupt die Begnadigung abgelehnt hat. Es wird also in jedem Fall geprüft, ob vom Begnadigungsrecht Gebrauch gemacht wird oder nicht. Nach der Preußischen Verfassung übt das preußische Staatsministerium im Namen des Volkes das Begnadigungsrecht aus. Für diese Ausübung gelten die Grundsätze des alten preußischen Staates, nämlich, daß in keinem Fall eine Todesstrafe vollstreckt wird, wo nicht ein völlig lückenloser, jeden Justizirrtum ausschließender Beweis vorliegt.

 

- Nicht weiter durchgesehen! -

 

 

 

 

 

Vossische Zeitung

Achtung: Der Anfang der Berichterstattung ist voller Fehler!

 

Mittwoch, 16. Februar 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Der Raubmord auf Schloß Kleppelsdorf.

Vor einigen Tagen wurde die 16jährige Besitzerin des Schlosses Kleppelsdorf bei Lähn im Riesengebirge, Dorothea   R o h r b e c k ,   in ihrem Zimmer erschossen aufgefunden. Neben ihr lag ihre zu Besuch auf dem Schlosse weilende Cousine Ursula   S c h a d e   aus Berlin mit einer schweren Schußverletzung über dem Auge. Das zwölfjährige Mädchen hatte in seiner Tasche einen Brief an seine Großmutter in Berlin, in dem es schreibt, daß es seine Cousine Rohrbeck und sich selbst erschießen werde. Die Polizei stand diesem Briefe ungläubig gegenüber. Unter dem dringenden Verdachte der Täterschaft wurde jetzt der auf dem Schlosse weilende Onkel der Besitzerin, Peter Grupen aus Berlin, verhaftet.

 

 

 

Mittwoch, 16. Februar 1921, “Vossische Zeitung” Abend-Ausgabe

Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.

Der mysteriöse Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf bei Lähn in Schlesien, bei dem die 16jährige Schloßherrin Dorothea   R o h r b e c k   sowie ihre Berliner Kusine Ursula   S c h a d e   von einem unbekannten Täter umgebracht wurden, ist bisher noch nicht geklärt worden. Auch beim Berliner Polizeipräsidium ist, obgleich der wegen Mordverdachts verhaftete Stiefvater der Ursula Schade, der Grundstücksspekulant Peter Gruppe aus Berlin-Tempelhof stammt, über die dunkle Tat nichts bekannt. Wie wir von anderer Seite erfahren, leugnet G., mit der Tat in irgendeinem Zusammenhang zu stehen. Es wird vermutet, daß der Täter einen Selbstmord der beiden jungen Mädchen dadurch vorzutäuschen suchte, daß er der 12jährigen Ursula Schade einen gefälschten Brief an ihre Berliner Verwandten, in dem sie schreibt, daß sie sich und ihre Kusine erschießen wolle, in die Tasche steckte. Die beiden jungen Mädchen lebten mit einer zahlreichen Dienerschaft allein auf dem Schlosse, da Dorothea Rohrbeck Waise und alleinige Besitzerin des Rittergutes Kleppelsdorf sowie zweier anderer großer Güter war. Der verhaftete Stiefvater G. hatte in Berlin viel Geld durch Grundstücksspekulationen verdient. Er war in zweiter Ehe mit der Frau des verstorbenen Apothekers Schade in Berlin verheiratet. Frau G. verließ jedoch ihren Mann nach kurzer Zeit und lebt jetzt in Amerika.

 

 

 

Donnerstag, 17. Februar 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe, 1. Beilage

Der Mord auf Schloß Kleppelsdorf.

Drahtmeldung unseres Sonderberichterstatters.

Lähn, 16. Februar.

 

Das Verbrechen an der 16 Jahre alten Rittergutsbesitzerin Dorothea   R o h r b e c k   und ihrer 12 Jahre alten Base Ursula   S c h a d e ,   die beide am Montag Mittag auf ihrem   S c h l o s s e   K l e p p e l s d o r f   erschossen aufgefunden wurden, befindet sich durch die Verhaftung des 41 Jahre alten Architekten Peter   G r u p e n   aus Oldenbüttel bei Itzehoe vor der völligen Aufklärung. Es steht fest, daß der noch immer leugnende Verbrecher seit zwei Jahren ununterbrochen nur das eine Ziel vor Augen gehabt hat, alle Erben der Rohrbeckschen Güter und des Rohrbeckschen Vermögens zu beseitigen, um sich selbst in den Besitz des Eigentums zu begeben.

 

Der Hirschberger Staatsanwalt ist heute mit mehreren Kriminalbeamten, dem Obduktionsarzt und Photographen in Schloß Kleppelsdorf eingetroffen, um nach den ersten Voruntersuchungen die weiteren Nachforschungen selbst zu leiten. Das Schloß Kleppelsdorf ist ein villenartiges, zweistöckiges Gebäude in der Nähe des Städtchens   L ä h n   an der Bober, 17 Kilometer von Hirschberg entfernt. Es ist von Scheunen und Bauernhäusern auf der einen Seite und von einem großen Park auf der anderen Seite umgeben, so daß es völlig abseits liegt. Es gehört seit Jahrzehnten der begüterten Rittergutsbesitzersfamilie Rohrbeck, die außerdem noch Güter in Gießhübel und Kuttenberg ihr eigen nannte. Frau Rohrbeck, geborene Eckhardt, war bei der Geburt ihrer Tochter Dorothea im Jahre 1905 gestorben. Ihr Ehemann verschied während des Krieges. So wurde Dorothea Rohrbeck im Jahre 1919 bereits als 14jährige Vollwaise die Alleinerbin der gesamten Güter und des ganzen Vermögens ihrer Familie. Als Aufsichtsdame und Gesellschafterin engagierte sie sich ein junges Fräulein. Das Gut wird von einem alten, bewährten und bejahrten Direktor geleitet.

 

Vor acht Tagen erhielt sie den Besuch ihrer beiden Cousinen, der zwölfjährigen Ursula Schade und der neun Jahre alten Irma Schade, die mit ihrem Stiefvater, dem Architekten Peter Grupen aus Oldenbüttel, auf dem Schloß ankamen. In ihrer Begleitung befand sich auch die gemeinsame Großmutter der beiden Schades und der Dorothea Rohrbeck, eine Frau Eckhardt. Mit seiner Frau lebte Grupen, der selbst unter großen Mühen mit dunklen Schiebergeschäften seinen Lebensunterhalt verdienen konnte, längst nicht mehr zusammen. Aus Briefen, die man bei der ermordeten jugendlichen Gutsbesitzerin vorfand, ergab sich, daß Grupen die 16jährige Dorothea mit   H e i r a t s a n t r ä g e n   v e r f o l g t   hatte, aber stets von dem Mädchen abgewiesen worden war. Weitere Briefe, die man bei ihm beschlagnahmt hat, wiesen auf eine Spur zu seinen Helfershelfern und Mitwissern in der Nähe von Berlin. Um sich nun nach den hartnäckigen Abweisungen des jungen Mädchens doch in den Besitz der Güter und des Vermögens zu bringen, hat Grupen aller Wahrscheinlichkeit nach den Mord und Selbstmord inszeniert. Allerdings ist man von der Ansicht der ersten Tage abgekommen, wonach Grupen den beiden Kindern im Esszimmer aufgelauert und sie dort selbst erschossen hat. Man neigt jetzt zu der Annahme, daß der Architekt, ein einarmiger Mann mit einer romanhaft bewegten Vergangenheit, seine Stieftochter durch Hypnose zur Niederschrift des vorgefundenen Abschiedsbriefes an die Großmutter Eckhardt gezwungen und dem Mädchen ferner mit Hilfe seiner hypnotischen Macht befohlen hat, daß es erst die Base und dann sich selber erschießen solle. Denn es ist nicht denkbar, daß ein zwölf Jahre altes kleines Mädchen bei klarem Bewußtsein ohne die geringste Veranlassung und mit bewundernswerter Sicherheit zunächst ihre zwölf Schritte von ihr entfernt stehende Cousine erschossen und dann noch einen Schuß in ihre eigene Schläfe abgedrückt hat. Es steht fest, daß das Kind kurz vorher noch mit einem Gutsangestellten über einen in den nächsten Tagen beabsichtigen Ausflug geplaudert hatte. Sachverständige der Hypnose und Telepathie sind bereits zur Begutachtung aufgefordert worden.

 

Die   V e r n e h m u n g   der Hausangestellten hat ergeben, daß der Architekt Grupen die Bedienung zu der fraglichen Zeit aus der Küche nahe dem Mordzimmer mit Aufträgen fortgelockt hat. Darum nimmt es nicht wunder, daß niemand der zahlreichen Mitbewohner des Schlosses die abgefeuerten Schüsse vernommen hat. Am Tage des Mordes um 12 Uhr mittags war Dorothea wie immer zur Post gegangen, um dort Briefschaften abzuholen. Auf dem Heimwege hat sich ihr die jüngere Cousine angeschlossen und ist mit ihr in den Vorraum des Eßzimmers gegangen, wo kurz darauf ein Mädchen die ältere tot und die jüngere sterbend auf dem Fußboden liegend auffand. Grupen bleibt bei seiner ersten Behauptung, wonach er mit dem Verbrechen in   k e i n e r l e i   Beziehung steht. Nach seinen Angaben habe er am Montag in aller Frühe mit seinem Revolver im Park Spatzen geschossen, er habe die Waffe aber nach Abgabe von drei Schüssen wieder gesichert und sie auf dem Speisezimmertisch niedergelegt. Dort habe er sie vergessen. Sein Stiefkind - die Kinder stammen aus der Ehe mit dem Apothekersohn Schade aus Berlin, Großgörschenstraße - müsse dann wohl den Revolver gefunden haben und aus Spaß auf ihre Cousine Dorothea gezielt und losgedrückt haben. Als sich die Waffe entlud und Dorothea tot umgefallen war, müsse sie, die kleine Schade, nach den Kombinationen des Architekten aus Furcht vor der Toten und vor dem angerichteten Unheil einen Abschiedsbrief an die Großmutter geschrieben und dann sich selbst das Leben genommen haben. Diese Erklärung ist nachgewiesenermaßen   f a l s c h .   Als eine Hausuntersuchung unter anderem belastenden Material eine   F l a s c h e   K o g n a k   im Zimmer der Großmutter Eckhardt zutage brachte, die ihr von ihrem Schwiegersohn Grupen geschenkt worden war, deren Inhalt aber, wie festgestellt wurde,   v e r g i f t e t   war, schritt man zur sofortigen Verhaftung des 41 Jahre alten Architekten, weil er in dem dringenden Verdacht steht, allen Erben der Rohrbeckschen Güter und Vermögen nach dem Leben getrachtet zu haben und an dem Tode der Nichte und Stieftochter Schuld zu haben.

 

Der verhaftete Architekt wurde gestern nach dem Hirschberger Gefängnis gebracht. Auf dem Wege vom Mordhaus zum Bahnhof Lähn versuchten ihn die Einwohner zu lynchen. Die Polizeibeamten hatten die allergrößte Mühe, um den Gefangenen lebend aus dem Bereich der Steinwürfe der überaus erregten Menge zu schaffen. Die Erbitterung der ganzen Bevölkerung der Gegend, die in Scharen nach Lähn kommen, ist um so größer, als die kleine Dorothea Rohrbeck ein überall beliebtes, bescheidenes, bildhübsches Mädchen war, das in aller Stille der notleidenden Bevölkerung viel Wohltätigkeitsspenden zukommen ließ. Man nannte die Getötete im ganzen Bezirke nur die schöne Dorothea.

 

 

 

Donnerstag, 17. Februar 1921, “Vossische Zeitung” Abend-Ausgabe

Der Mord auf Schloß Kleppelsdorf.

Drahtmeldung unseres Sonderberichtserstatters.

Lähn, 17. Februar.

 

Die entsetzliche Bluttat auf Schloß Kleppelsdorf harrt noch immer ihrer völligen Aufklärung. Nach dem Ergebnis de Obduktion der Leichen der beiden ermordeten Mädchen neigt man zu der Annahme, daß die tödlichen Schüsse von der 12 Jahre alten Ursula   S c h a d e   abgegeben worden sind.

 

Die Staatsanwaltschaft, die die Untersuchung weiterführt, scheint der Ansicht zu sein, daß der unter dem dringenden Verdacht der Täterschaft verhaftete Architekt Peter Grupen aus Oldenbüttel bei Itzehoe seine Stieftochter Ursula   h y p n o t i s i e r t   und ihr in diesem Zustande   b e f o h l e n   hat, den aufgefundenen Abschiedsbrief an ihre Großmutter zu schreiben, und dann die beiden Schüsse auf ihre Kusine abzugeben und sich dann selbst zu erschießen.

 

Der Vormund der erschossenen Dorothea Rohrbeck, dessen Aufenthalt von der Staatsanwaltschaft noch nicht ermittelt werden konnte, der sich aber vermutlich auf einem Rittergut in der Nähe Berlins aufhält, wird von der Staatsbehörde gesucht, da Briefschaften bei dem Architekten gefunden wurden, die ihn schwer belasten. Die Kriminalpolizei von Itzehoe ist heute früh von der Hirschberger Staatsanwaltschaft aufgefordert worden, in der Wohnung des verhafteten Architekten in Oldenbüttel eine Durchsuchung vorzunehmen. Die Nachforschungen der Staatsanwaltschaft nach der Vergangenheit Grupens sind noch nicht beendet, da noch immer romantischere Einzelheiten aus seinem Vorleben bekannt werden. Grupen hat ein besonders bewegtes Leben hinter sich, das ihn auch mehrere Male vor die Gerichte brachte. In den acht Tagen seines Besuches auf dem Schloß Kleppelsdorf lebte er absichtlich so zurückgezogen, daß ihn selbst die Gutsarbeiter nie gesehen haben.

 

In der Gegend um Schloß Kleppelsdorf war das Gerücht verbreitet, daß auch der Gutsverwalter, Direktor   B a u e r ,   ein alter bewährter Beamter, verhaftet worden sei. Es hat sich herausgestellt, daß Bauer in keine Verbindung mit dem Mord zu bringen ist. Bauer mußte nach Hirschberg fahren, um dort in einem Prozeß als Zeuge aufzutreten. Vor einigen Wochen war dem Rittergut von einer bewaffneten Bande Vieh gestohlen worden. Dabei kam es zu einem nächtlichen Feuergefecht mit den überraschten Dieben. Diese Viehräuber stehen heute vor Gericht. Die Reise nach Hirschberg ließ aber bei der überaus erregten Bevölkerung die Vermutung aufkommen, als wenn der nicht sonderlich im Dorf beliebte Gutsverwalter wegen des Mordes festgehalten worden sei.

 

Die beiden Leichen der jungen Mädchen sind gestern abend zur Bestattung freigegeben worden. Die noch mit der überlebenden sieben Jahre alten Irma auf dem Schloß wohnende Großmutter, Frau Eckard aus Oldenbüttel, kommt jetzt als Erbin des gesamten Vermögens und der drei Güter in Frage. Die alte Frau, die völlig gebrochen ist, beabsichtigt, das gesamte Besitztum zu verkaufen. Frau Eckart ist die Mutter der von ihrem Manne in Scheidung lebenden Frau Grupen, verw. Schade, und der bei der Geburt der jetzt ermordeten Tochter Dorothea gestorbenen Rittergutsbesitzerin Frau Rohrbeck.

 

 

 

Freitag, 18. Februar 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Der Mord in Kleppelsdorf.

Wie uns aus   B r e s l a u   gedrahtet wird, wird die Untersuchung über den Kleppelsdorfer Mord von dem Untersuchungsrichter, Landgerichtsrat   D u b i e l   fortgesetzt. Gestern Nachmittag fand auf dem Kirchhof in   L ä h n   die Sektion der Leichen der beiden Mädchen statt. Nach dem bisherigen Ergebnis kann die von vornherein unwahrscheinliche Annahme, die kleine Schade habe zuerst ihre Kusine und dann sich selbst erschossen, als   w i d e r l e g t   gelten. Ebenso hat sich der bei ihr gefundene Brief als  o f f e n b a r e   F ä l s c h u n g   herausgestellt. Der verhaftete   P e t e r   G r u p e n   leugnete bei der heutigen Vernehmung im Hirschberger Gefängnis noch jede Mitschuld an der Tat. 

 

 

 

Dienstag, 22. Februar 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.

Zu der Kleppelsdorfer Mordaffäre wird uns aus Breslau gedrahtet, daß nach dem Ergebnis der Untersuchung als ausgeschlossen bezeichnet werden muß, daß außer Grupen noch irgend eine andere Person an der Ausführung des Mordes beteiligt war. Die bei der kleinen Schade festgestellte Erkrankung ist, wie festgestellt wurde, auf Grupen zurückzuführen. Ueber Grupens Vorleben herrscht noch immer völliges Dunkel. Sehr eingehend wird nach seiner Frau, die nach seiner Angabe nach Amerika ausgewandert sein soll, geforscht. Auf das Schloß brachte Grupen außer seiner Schwiegermutter und den beiden Stiefkindern noch ein Kindermädchen mit, das seine Geliebte ist. Das Mädchen kann oder will aber nichts über seine Tat aussagen.

 

 

 

Freitag, 2. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf

Die Ermordung der Gutsbesitzerin Rohrbeck.

Eines der seltsamsten, an Rätseln aller Art überreichen Verbrechen wird in den nächsten Tagen das Schwurgericht der schlesischen Stadt Hirschberg beschäftigen. Angeklagt ist der 27jährige Architekt Peter   G r u p e n ,   die 16jährige Besitzerin des Schlosses Kleppelsdorf,   D ö r t h e   R o h r b e c k ,   und ihre 13jährige Kusine   U r s u l a   S c h a d e ,   letztere seine eigene Stieftochter, ermordet zu haben. Ein außerordentlicher Apparat an Zeugen und Sachverständigen ist aufgeboten, um Peter Grupen der Tat zu überführen. In der ganzen Gegend des Riesengebirges, wo die 16jährige Schlossbesitzerin und Millionärin eine sehr bekannte Persönlichkeit war, sieht man mit großer Spannung dem Prozesse entgegen, der das Dunkel aufklären soll, das über dem Tode der beiden genannten jungen Mädchen liegt. Dem   S a c h v e r h a l t ,   der der Anklage zugrunde liegt, ist folgendes zu entnehmen:

 

Am 14. Februar wurden im Schlosse Kleppelsdorf die Schloßherrin Dörthe Rohrbeck und ihre Kusine Ursula Schade erschossen aufgefunden. Dieses letztere junge Mädchen weilte mit ihrer Großmutter, Frau Eckert, die zugleich die Großmutter Dörthe Rohrbecks ist, mit ihrer jüngeren Schwester Irmgard und mit ihrem Stiefvater Peter Grupen zu Besuch auf Schloß Kleppelsdorf. An dem genannten Tage vormittags befanden sich die beiden Mädchen, deren Großmutter, der Angeklagte, Peter Grupen, die Erzieherin des Fräuleins Dörthe Rohrbeck, Fräulein Zahn, und die Wirtschafterin Fräulein Mohr in zwei nebeneinander liegenden, durch eine geöffnete Tür verbundenen Zimmern des Schlosses zusammen. Die Frauen beschäftigten sich mit Handarbeiten, während Peter Grupen mit den Kindern Mühle spielte. Dann rief Ursula Schade ihre Kusine Dörthe aus dem Zimmer, und beide Mädchen begaben sich in ein anderes, im Schloß gelegenes Zimmer. Sie waren etwa 20 Minuten abwesend, als das Dienstmädchen zum Essen rief. Die in den beiden Wohnzimmern zurückgebliebenen Personen begaben sich nach dem Eßzimmer, das im oberen Stockwerk des Schlosses lag, und gaben dem Dienstmädchen den Auftrag, auch Dörthe und Ursula zu Tisch zu rufen.

 

Als sich die Gesellschaft auf dem Weg nach dem Eßzimmer befand, warf sich ihnen das Dienstmädchen mit der Schreckensnachricht entgegen, daß die beiden Mädchen „unten im Blute lägen“. Peter Grupen eilte nach dem Parterrezimmer. Dörthe war, als er das Zimmer betrat, schon tot, Ursula lebte noch, sie blutete aus einer Kopfwunde. Ein rasch herbeigerufener Arzt konnte durch eine Kamphereinspritzung den Puls der Bewußtlosen noch ein wenig beleben, bald darauf aber war auch Ursula gestorben. Neben ihrer Leiche lag ein Revolver, aus dem zwei Schüsse abgegeben waren. Es lag mithin zunächst nahe, daß Ursula zuerst Dörthe und dann sich selbst erschossen habe. Doch wurde Peter Grupen bald darauf unter dem Verdacht, die beiden Mädchen ermordet zu haben, verhaftet, obwohl zunächst alle genannten Personen erklärt hatten, daß er im Laufe des Vormittags und insbesondere in der Zeit, in der der Mord begangen sein mußte, das Zimmer   n i c h t   verlassen habe. Das Motiv für den Mord sollte sein, daß durch den Tod der Dörthe Rohrbeck, deren Großmutter, die 74 Jahre alte Frau Eckert, die Erbin des mehrere Millionen betragenden Vermögens geworden wäre. Diese alte Frau soll ganz unter dem Einflusse des Angeklagten stehen, der daher hoffen konnte,   s e l b s t   in absehbarer Zeit der   E r b e   des großen Vermögens   z u   w e r d e n .

 

Der Angeklagte bestreitet mit größter Entschiedenheit, die Tat begangen zu haben und gibt der Vermutung Raum, daß Ursula, die er hysterisch und psychopathisch nennt, zuerst die Kusine und dann sich selbst erschossen habe. Das exaltierte Mädchen soll dies getan haben, weil Dörthe mit der von Ursula sehr geliebten Großmutter auf schlechtem Fuße stand und die Großmutter sich deshalb sehr grämte. Bei Ursulas Leiche wurde ein Brief an die Großmutter gefunden, in dem es heißt: „Du sollst dich nimmer an Dörthe ärgern.“ Außerdem teilte Ursula in diesem Briefe mit, daß sie den Revolver aus dem Schreibtisch des Vaters genommen habe. Erwiesen ist, daß der Angeklagte Grupen diesen Revolver, bevor er, einige Tage vor dem Drama in Kleppelsdorf, von seinem in der Nähe von Hamburg gelegenen kleinen Landgute Ottenbüttel nach Schloß Kleppelsdorf hatte, weil in der letzten Zeit in der Umgegend vielfach Einbrüche vorgekommen waren. Er hat auch in Gegenwart Ursulas dem Bruder die Handhabung des Revolvers gezeigt und die Waffe in eine unverschlossene Schublade gelegt. Wie der Bruder Grupens angibt, hat er kurze Zeit darauf Ursula bei der Schublade angetroffen und ihr ausdrücklich verboten, den Revolver anzurühren. Als er dann aber am Abend nach der Abreise Grupens mit Ursula sich den Revolver holen wollte, war dieser verschwunden.

 

Ursprünglich war auch die Vermutung aufgestellt worden, daß Grupen durch   H y p n o s e   die 13jährige Ursula veranlaßt habe, erst Dörthe, und dann sich selbst zu erschießen. Die   A n k l a g e   hat aber diesen Gesichtspunkt   f a l l e n   lassen, da sich kein Anhaltspunkt dafür ergeben hat, daß der Angeklagte sich jemals mit hypnotischen Experimenten oder Versuchen befaßt habe. Zu der Verhandlung sind außer den sachverständigen Aerzten, die sich insbesondere darüber auszulassen haben werden, ob die Art der geistigen Verfassung Ursulas eine Möglichkeit des Selbstmordes zulasse oder ausschließe, auch Sachverständige über den Gebrauch des Revolvers und etwa 70 Zeugen geladen. Im Laufe der Verhandlungen dürfte das gesamte Schwurgericht sich nach Schloß Kleppelsdorf zu einem Lokaltermin begeben.

 

Peter Grupen ist ein 27jähriger stattlicher junger Mann, der im Felde den linken Arm verloren hat. Er hatte ursprünglich das Maurerhandwerk erlernt, war eine Zeitlang Maurerpolier, besuchte aber dann die Baugewerkschule in Eckernförde. Bei Ausbruch des Krieges trat er in das Heer ein und wurde 1916, nachdem er durch einen Granatsplitter den linken Arm verloren hatte, entlassen. Nachher war er eine Zeitlang Zeichner auf den Vulkanwerken in Hamburg, heiratete dann die verwitwete Frau Schade und zog mit ihr zunächst nach Itzehoe und erwarb später das Grundstück in Ottenbüttel. Er ist seit acht Monaten in Haft. Der Prozeß dürfte acht bis zehn Tage dauern.

 

 

 

Montag, 5. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Abend-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf

Drahtmeldung der „Vossischen Zeitung“

Hirschberg, 5. Dezember

 

Der Schwurgerichtssaal in Hirschberg, in dem heute der Prozeß gegen Peter Grupen begonnen hat, der des Doppelmordes an den beiden jungen Mädchen Dörte Rohrbeck und Ursula Schade auf Schloß Kleppelsdorf angeklagt ist, ist ein freundlicher, heller Raum, in den hohe Glasfenster das volle Licht eines sonnigen Wintertages senden. Hell fällt dieses Licht auf Peter Grupen, den Angeklagten. Ein hochgewachsener, junger Mann mit blondem Haar, kleinem blonden Schnurrbart und breiten Schultern. Doch reicht der linke Aermel seines leichten sommerlichen Touristenanzuges nur bis zum Ellbogen. Grupen hat dem Arm im Kriege verloren. Trotzdem macht seine Gestalt einen besonderen Eindruck gedrungener Kraft. Die gleiche Stärke ist auch auf dem vollen Gesicht zu lesen, dem es jedoch an Geistigkeit nicht fehlt. Besonders die Augen, die mit gespannter Aufmerksamkeit allen einleitenden Vorgängen der Schwurgerichtsverhandlung folgen, haben einen nicht gewöhnlichen Ausdruck durchdringenden Scharfblicks. Seine Erscheinung hat nichts von einer ausgesprochenen Sinnlichkeit. Seine Stimme zeigt einen hohen Tenor von fast weiblicher Klangfarbe. An gewinnenden Formen fehlt es dem Angeklagten augenscheinlich nicht. Das sieht man schon an der leichten, höflichen Verbeugung gegen das Publikum, mit der er den Saal betritt, an der vornehmen, verbindlichen Art, wie er sich mit seinen Verteidigern unterhält.

 

Bald darauf ist der Saal dicht gefüllt. Der Andrang zu dem Prozesse, der die ganze Bevölkerung Schlesiens in Atem hält, ist außerordentlich. Eine ganze Schar von Polizeikräften ist zu Absperrungsmaßnahmen aufgeboten. Dann strömen an die 100 Zeugen in den Saal, wobei sich noch vor Beginn der Verhandlung eine aufregende Episode abspielt. Eine Zeugin sinkt an Herzkrämpfen nieder und muß aus dem Saal getragen werden. Die Zeugen sind fast vollzählig erschienen, vor allem die ehemaligen Hausgenossen des ermordeten Schlossfräuleins von Kleppelsdorf, die Großmutter Frau Bankdirektor Eckert, eine magere, weißhaarige Dame, die Erzieherin des Fräulein Rohrbeck, Fräulein Zahn, in tiefe Trauer gekleidet, und die Bonne der Ursula Schade und ihrer Schwester Fräulein Mohr, der die Anklage Beziehungen zu Grupen vorwirft.

 

Der Aufruf der Zeugen dauert eine volle halbe Stunde. Es sind auch zahlreiche Aerzte und Sachverständige geladen, darunter Geheimrat Lesser-Breslau, Chemiker Jeserich und der Psychiatiker Dr. Moll aus Berlin, ferner eine Anzahl waffenkundiger Sachverständiger. Nach dem Aufruf der Zeugen verkündet der Vorsitzende den Plan für die Verhandlung. Danach wird der heutige Tag mit dem Verhör des Angeklagten ausgefüllt sein. Am Mittwoch wird in Kleppelsdorf der in diesem Prozeß besonders wichtige Augenscheintermin stattfinden. Verteidiger Ablaß lehnt den Sachverständigen Gasanstaltsdirektor Wrobel, der für Hypnose bestellt ist, ab, da er bei seinem Gutachten vollständig unter dem Einfluß der Staatsanwaltschaft gestanden hat.

 

 

 

Dienstag, 6. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Die Vernehmung des Angeklagten.

Der erste Tag des großen Hirschberger Prozesses hat bloß einen Teil des breit angelegten Verhörs mit dem Angeklagten Peter Grupen gebracht. Noch hat er allein das Wort, und man muß sagen, er hat es bisher nicht ohne Geschick gebraucht. Er ist ein äußerst beherrschter Mensch, der sich zweifellos der Situation, in der er sich befindet, voll bewußt ist. Der Vorsitzende hat bei diesem Verhör den Weg eingeschlagen, daß zunächst Klarheit über die Vorbedingungen geschaffen werden soll, unter denen Peter Grupen, wenn er den Mord begangen hat, in Kleppelsdorf zur Tat geschritten wäre. Zunächst nimmt einen breiten Raum das Verschwinden der Frau Grupen ein. Obwohl Briefe von der Handschrift der Frau existieren, in denen sie von ihren Angehörigen Abschied nimmt, um angeblich nach Amerika zu gehen, sind doch verschiedene Umstände, unter denen sie ihr Heim verlassen hat, sehr bedenklich und der Aufklärung bedürftig. Ein weiteres Moment, das zur Aufklärung der Tat in Kleppelsdorf dienen soll, ist die Betrachtung der Beziehungen zwischen Peter Grupen und den Bewohnern von Kleppelsdorf, der jungen Dörte Rohrbeck und ihrer Erzieherin Frl. Zahn; mit dieser letzteren scheint er sich in letzter Zeit sehr schlecht gestanden zu haben. Er beschuldigte sie einer besonderen Verschwendungssucht und einer sehr geringen Eignung zur Erziehung eines jungen Mädchens. Heute dürfte die Gegenüberstellung mit dieser Zeugin, die in den Prozeß eine große Rolle spielt, erfolgen und man erwartet heftige Zusammenstöße zwischen ihr und dem Angeklagten.

 

Hirschberg, 5. Dezember

Bei der Vernehmung des Angeklagten Peter Grupen kam gestern zunächst die Ehe mit Frau Trude, verw. Schade zur Sprache.

 

Vors.: Wie gestaltete sich diese Ehe? Angekl.: Wir waren zunächst sehr glücklich miteinander; doch hatte meine Frau eine unwiderstehliche Neigung zum Reisen und hatte auch weniger Interesse für den Haushalt. Auch besaß sie leider die Gewohnheit, gegen Abend Wein und Likör zu trinken, die sie in dieser Menge nicht vertrug. In einem dieser Fälle, als meine Frau berauscht war, machte sie mir Geständnisse über ein Verhältnis, das sie mit einem Herrn Schulz in Perleberg schon zu Lebzeiten des Herrn Schade, dessen Logenbruder er war, und auch nach seinem Tode noch gehabt hat.

 

Vors.: Sie soll sich auch über den Tod ihres ersten Gatten, der auf der Jagd verunglückte, geäußert haben, wenigstens behaupten Sie das? Angekl.: Sie machte Aeußerungen, aus denen ich glaube schließen zu können, daß dieser Tod kein zufälliger war. Vors.: Wollen Sie damit sagen, daß Schade einem Morde zu Opfer gefallen ist? Angekl.: Ich möchte das nicht gerade sagen, aber die Aeußerungen meiner Frau ließen mich Aehnliches vermuten. Vors.: Sie sind dann von Itzehoe nach Ottenbüttel gezogen. Auf Ihre Veranlassung? Angekl.: Wir zogen nach Ottenbüttel, weil uns das Wohnungsamt unser Haus größtenteils beschlagnahmt hatte. Vors.: Im Juli traf Dorothea Rohrbeck mit ihrer Erzieherin Frl. Zahn bei Ihnen ein. Was war der Zweck dieser Reise? Angekl.: Frl. Dörthe Rohrbeck hat sich aus sich selbst heraus zum Besuch bei uns angemeldet. Die Großmutter war anfangs dagegen, doch ließ sie es geschehen.

 

Die Kleppelsdorfer Schloßherrin und ihre Erzieherin kamen dann, wie der Angeklagte weiter erzählt, in Ottenbüttel an und da erfuhr man den Zweck der Reise. Frl. Dörthe und ihre Erzieherin standen im Streit mit dem Vormund der Erbin Vielhack, der sie äußerst knapp hielt. Ihre Reise hatte den Zweck, in einem Prozeß, den Frl. Zahn, die im Testament des verstorbenen Rohrbeck als Erzieherin Dörthes eingesetzt und der durch den Vormund gekündigt war, gegen den Vormund angestrengt hatte, die übrigen Verwandten aus ihre Seite zu bringen.

 

Vors.: Frl. Zahn erzählt, Sie hätten ihr damals gesagt, Sie wollten sich von Ihrer Frau scheiden lassen und sie heiraten. Angekl.: Das habe ich ihr nicht gesagt, doch ist es möglich, daß die Spannung mit meiner Frau dabei zum Ausdruck gekommen ist. Vors.: Nun sagen Sie, welchen Eindruck Frl. Dorothea Rohrbeck und Frl. Zahn auf Sie gemacht haben? Angekl.: Frl. Dorothea Rohrbeck machte einen guten Eindruck, dagegen war der Eindruck, den Frl. Zahn machte, ein solcher, daß mir ihr gegenüber Vorsicht am Platze erschien.

 

Vors.: Sie machten dann einen Gegenbesuch in Kleppelsdorf? Angekl.: Ja, am 6. September. Vors.: Aber nicht mit Ihrer Frau, das ist doch sonderbar! Angekl.: Ich fuhr nicht zu Besuchszwecken nach Kleppelsdorf, sondern um den Damen materielle Hilfe zu bringen, damit sie ihre dringendsten Schulden bezahlen konnten. Ich brachte ihnen etwas über zweitausend Mark mit.

 

Vors.: Hatten Sie nicht den Besuch Ihrer Frau in Kleppelsdorf in Aussicht gestellt? Angekl.: Ja, sie wollte weiteres Geld dahin mitbringen. Ich bin dann aber nach Hause gefahren. Ich muß erwähnen, daß meine Frau schon früher einmal geäußert hatte, daß sie nach Amerika wolle. Vors.: Das ist doch merkwürdig, daß eine Frau nach sechsmonatiger Ehe schon von ihrem Mann und ihren Kindern weg will. Angekl.: Wir haben das damals für einen Scherz gehalten.

 

Der Vorsitzende stellt fest, daß am 17. September der Angeklagte mit seiner Frau bei einem Notar in Itzehoe war. Dort überschrieb seine Frau auf den Mann eine Hypothek im Betrage von 52 000 M. Der Angeklagte meint, daß seine Frau schon damals die Absicht hatte. ihn für das Geld zu entschädigen, das sie dann bei ihrer angeblichen Flucht nach Amerika mitgenommen hatte.

 

Vors.: Am 18. September, also am nächsten Tage, fuhren Sie zu demselben Notar, wo Sie die Gütertrennung verlangten? Angekl.: Die Gütertrennung wurde von meiner Frau gewünscht. --- Am 19. September, sagt der Vorsitzende weiter, sind Sie mit Ihrer Frau und zwei Dienstmädchen in einem Wagen nach Itzehoe gefahren. Seit diesem Tage hat bekanntlich niemand mehr Ihre Frau gesehen. Wie war sie an diesem Tage angezogen? Angekl.: Ich weiß nur, daß sie einen grünen Hut und einen Pelzkragen hatte. Vors.: Den Pelzkragen hat sie im Wagen liegen lassen, was allgemeine verwundern mußte, da die Frau daran gewöhnt war, den Pelz zu tragen.

 

Der Angeklagte erzählt, daß ihm auf dem Wege zum Bahnhof, von wo Frau Grupen nach Kleppelsdorf fahren wollte, nichts im Benehmen der Frau aufgefallen sei. Auf dem Wege setzte Grupen die beiden Dienstmädchen in der Stadt ab und sei dann zum Bahnhof weitergefahren. Auf der Fahrt übergab die Frau einem der Mädchen einen Brief an den Knecht, der den Auftrag erhielt, einen Wäschekoffer nach Hamburg zu bringen. - Vors.: Sie sind also zum Bahnhof gekommen. Mit welchem Zug ist Ihre Frau weggefahren? - Angekl.: Ich vermute mit dem nächsten Zuge. Ich selbst konnte nicht auf den Bahnsteig gehen, da ich die Pferde nicht allein lassen konnte. Grupen behauptet, er sei vom Bahnhof geradewegs nach Hause gefahren. De Vorsitzende findet es auffallend, daß de Angeklagte die beiden Mädchen, denen er versprochen hatte, sie auf dem Rückwege mitzunehmen, und ebenso den Knecht, der gerade Urlaub nach der Stadt hatte, dort sitzen gelassen hat, obwohl sie 8km. laufen mußten, um in später Nacht nach Hause zu kommen. Grupen wird wiederholt gefragt, warum er die Leute nicht mitgenommen habe, obwohl er doch zu der von ihm berichteten Zeit vom Bahnhof abgefahren sein will. Er sagt immer nur, daß er fürchtete, sich doch allzu sehr zu verspäten.

 

Der Vorsitzende bringt dann einen zweiten, ziemlich merkwürdigen Vorfall zur Sprache. Grupen besaß eine eiserne Kassette, zu der der Schlüssel fehlte. Er ließ eines der Mädchen rufen, das die Kassette in die Höhe halten mußte, worauf er durch einen Schlag gegen den Boden die Kassette öffnete. Wie er behauptet, war kein Geld darin, sondern nur ein Kuvert mit mehreren Schriftstücken und kleinen Rechnungen. Er erklärt, er hätte vordem in der Kassette eine Summe von ungefähr 60 000 M. gehabt, die die Frau mitgenommen hätte.

 

Staatsanw.: Warum haben Sie den Koffer mit den Kleidern und der Wäsche, den die Frau in Ottenbüttel zurückgelassen hatte, erst 14 Tage nach der Abreise der Frau nach Kleppelsdorf geschickt? Angekl.: Einmal wollte ich selbst nach Kleppelsdorf fahren, da konnte ich ihn mitnehmen, und dann wußte ich nicht, daß meine Frau, wenn sie bemerkte, daß ihr Koffer fehle, von der Reise darüber verfügen würde. Vors.: Sie telegraphierten aber nach Kleppelsdorf „Koffer noch hier“. Was hat das für einen Zweck gehabt? Angekl.: Ich nahm an, daß meine Frau zu dieser Zeit schon längst in Kleppelsdorf sei. - Die Unterhaltung über den Koffer und über die Frage, warum der Angeklagte ihn nicht weggeschickt habe, wird im weiteren Verlauf sehr erregt. Grupen weiß allerlei Gründe anzuführen, so daß der Wagen, mit dem die Kinder täglich zur Schule fuhren, zu klein war, um auch den Koffer mitzunehmen, und daß ein  Lastwagen erforderlich gewesen wäre, für den die Pferde nicht zu haben waren. Der Vorsitzende erklärt schließlich, über diese Frage später die Zeugen vernehmen zu wollen.

Grupen veranlaßte nunmehr Dörte Rohrbeck, mit ihm nach Itzehoe zu fahren. Vors.: Sie fuhren über Berlin? Wo sind Sie dort abgestiegen? Angekl.: Im christlichen Hospiz. Ich wollte auch dabei, daß Dörte ihren Vormund besuchte. Ich sagte, ich würde selbst zu ihm gehen. Das tat ich auch. Als ich ins Hospiz zurückkam, war Dörte nicht da. Sie war mit einer Freundin ausgegangen und kam erst später zurück. Vors.: Jedenfalls scheinen Sie Frl. Rohrbeck auf dieser Reise starke Antipathien eingeflößt zu haben, denn sie telegraphierte sofort nach der Ankunft in Ottenbüttel an Frl. Zahn, sie möge sofort kommen, da sie sich sehr unglücklich fühle. Tatsächlich kam auch Frl. nach Itzehoe, von wo sie mit Grupen und Dörte nach Hamburg fuhr. Hier machte er mit ihnen unter anderem eine Kahnfahrt auf der Alster und es wird dabei erzählt, er habe die Damen bei dem Kahnfahren wiederholt in Lebensgefahr gebracht, indem er sie in die Strömung der großen Dampfer hineinbrachte.

 

Einmal habe er sich auch plötzlich auf den Boden des Kahnes niederfallen lassen, so daß Dörte um Hilfe rief. Der Angeklagte sucht diese kleinen Abenteuer als Scherze auszulegen. Eine Gefahr habe für ein so großes Boot auf der Alster überhaupt nicht bestanden. Von Hamburg fuhr er mit den Damen nach Kiel. Auf die Frage des Staatsanwalts, warum er denn nicht in Hamburg geblieben sei und kostspielige überflüssige Reisen unternommen hätte, erklärt Grupen, diese Reisen seien viel billiger gewesen, als ein Aufenthalt in Hamburg, wo die beiden Damen, namentlich Frl. Zahn, durch sehr große kostspielige Wünsche ihm außerordentliche Kosten verursachten.

 

Vors.: Sie sind dann mit den Damen zu einer Frau Barry gegangen, wie man durch Auskunft der Polizei erfahren hat, ein übelberüchtigtes Absteigequartier. Angekl.: Das habe ich nicht gewußt. Ich hatte auf telephonische Erkundigung kein Zimmer in einem Hotel bekommen. Vors.: Sie haben auch in der Nacht an die Tür der Damen geklopft, und jedenfalls haben sie diese sehr gefürchtet. Angekl.: Ich wollte mich nur, da ich am Abend fortgegangen war, nach dem Befinden der Damen erkundigen. Ich klopfte an, aber ich erhielt keine Antwort. Staatsanw.: War das Ihr einziges Absteigequartier in Hamburg? Angekl.: Ich hatte überhaupt kein Absteigequartier. Staatsanw.: Wir werden ja Zeugen darüber hören.

 

Der Angeklagte wird dann gefragt, was er getan habe, um den Aufenthalt seiner Frau zu erfahren. Er sagt, er sei nach Berlin gereist, um sich mit dem Schwager seiner Frau, einem Herrn Schade, zu beraten.

 

Es kommt nun ein Schritt zur Erörterung, der ihn in den Verdacht einer gewissen Doppelrolle bringt. Während er Dörte Rohrbeck und Frl. Zahn gegen ihren Vormund immer unterstützt hatte, wandte er sich jetzt, ehe er zum letzten Mal nach Kleppelsdorf ging, selbst an den Vormund, indem er diesem sagte, daß Dörte Rohrbeck bei Frl. Zahn in schlechten Händen sei. Er behauptet, daß er dies nur aus Pflichtgefühl als Verwandter getan habe, da tatsächlich die Erziehung Dörte Rohrbecks bei Frl. Zahn in sehr schlechten Händen gelegen habe. Sie habe sie nur zum Zigarettenrauchen und zum Lesen schlechter Romane angehalten. Die Erörterung ergab, daß offenbar zwischen Grupen und Frl. Zahn ein Gefühl gegenseitigen Hasses geherrscht hat.

 

Am 8. Februar kam Grupen, der seinen und den Besuch der Großmutter in Kleppelsdorf angekündigt hatte, auch mit den beiden Kindern Ursula und Irma sowie der Gouvernante Fräulein Mohr nach Schlosse. Vors.: Der Empfang war wohl etwas kühl, denn die Damen hatten ja auf so großen Besuch nicht gerechnet. Angekl.: Ja, indessen hatte ich nicht die Absicht, länger als zwei bis drei Tage zu bleiben. Nur die Kinder sollten bleiben, bis eine Wohnung gefunden wäre, da ich meine Besitzung in Ottenbüttel verkauft hatte.

 

Darauf wird die Verhandlung auf heute vertagt.

 

 

 

Dienstag, 6. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Abend-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Die Ereignisse am Mordtage.

Drahtmeldung der „Vossischen Zeitung“.

Hirschberg, 6. Dezember.

 

Das Verhör mit dem Angeklagten Grupen ist nunmehr bis zum Schlußakt von Kleppelsdorf gediehen. Ueber die Ankunft auf dem Schloß erzählt der Angeklagte noch: „Als wir ankamen, mußten wir so lange draußen warten, ehe man uns ein Zimmer anwies, daß Frau Eckert und auch Ursula sehr ärgerlich wurden. Frau Eckert wurde so erregt, daß sie sagte: Ich werde das der Kleppelsdorfer Gesellschaft schon abgewöhnen. Hier in  Kleppelsdorf wird es noch einmal ein Ende mit Schrecken nehmen. Das hat mir neulich erst der Vormund gesagt.“

 

Zum besseren Verständnis für die Geschworenen werden zwei Tafeln im Saale aufgestellt, auf denen die Grundrisse der Schloßräume aufgezeichnet sind. An der Hand dieser Zeichnungen zeigt der Angeklagte, wo die einzelnen Familienmitglieder gewohnt haben.

 

Vorsitzender: „Wie vertrieben Sie sich in Kleppelsdorf die Zeit?“ Angeklagter: „Ich habe zumeist gelesen. Dabei hielt ich mich gewöhnlich in den Räumen des ersten Stockes auf. Diese Räume bestanden aus einem Schlafzimmer, einem Kinderzimmer und einem sogenannten Winterwohnzimmer. Dieses hatte noch einen Ausgang durch das sogenannte Schrankzimmer auf den Flur."

 

Es kommen nun die Ereignisse am Mordtage selbst zur Erörterung. Darüber erzählt Grupen: Im Laufe des Vormittags ist Fräulein Rohrbeck mit Irma in der Stadt gewesen, von wo sie um ½ 12 Uhr zurückgekommen sind. Fräulein Rohrbeck ging in das Kinderspielzimmer, während Grupen sich im Nebenzimmer befand. Die Verbindungstür zwischen beiden Zimmer stand offen. „Ich habe nicht gehört,“ sagt der Angeklagte, „daß Fräulein Zahn das Dienstmädchen Mende mit einem Brief zur Stadt geschickt hat, wie sie sagt. Ich habe mit Ursula, die aber sehr unaufmerksam war, Mühle gespielt, dann mit Irma. Ursula hat dann das Zimmer verlassen. Fräulein Zahn hat sich sodann mit mir aus dem Nebenzimmer über den Stand des Mühlenspiels unterhalten. Kurze Zeit darauf hat Fräulein Zahn Irma nach unten geschickt, um Dörte zu holen. Irma wollte erst die Partie zu Ende spielen. Ich selbst sagte, Irma wird sofort gehen, ich bin gleich fertig. Irma ging auch dann nach unten, fand aber Dörte nicht. Sie kam zurück und wollte dann einen Apfel in den Ofen werfen, konnte aber die Tür des Ofens nicht aufbekommen. Irma ging dann mit dem Apfel in den Abort und warf ihn hinein, während ich mit der Stütze Mohr Mühle spielte.“

 

Vorsitzender: Sind Sie nicht auch im Zimmer hin und her gegangen? Angeklagter: Ich habe Fräulein Zahn gebeten, von den Apfelsinen, die ich im Mühlespiel verloren hatte, zwei zurückzugeben. Nur zu diesem Zweck ging ich in das Wohnzimmer. Darauf habe ich mit Irma und Frl. Mohr weitergespielt. Das Dienstmädchen Mende kam dann nach oben und sagte: „Es ist angerichtet!“ Sowie wir uns zum Essen begeben wollten, kam uns die Mende auf der Treppe entgegen mit den Worten:

 

„ D i e   K i n d e r   l i e g e n   u n t e n . “

 

Der Angeklagte will nicht gehört haben, daß Fräulein Rohrbeck zu Ursula, als sie diese aus dem Zimmer geholt hatte, sagte: „Ursula, ich komme gleich.“ Er will auch das Aufstehen und Weggehen Frl. Rohrbecks nicht gesehen haben. In höchster Erregung ruft der Angeklagte: „Der Anklagevertreter glaubt, daß vor diesen Vorgängen das Unglück schon passiert ist, und jetzt behauptet er das Gegenteil.“

 

Der Angeklagte fährt dann in seiner Erzählung fort: „Nachdem die Mende uns mit dem Schreckensruf entgegengekommen war, sind wir alle sofort nach unten gelaufen. Ich habe im ersten Moment das Bedürfnis gehabt, einen Arzt herbeizurufen, deshalb lief ich zum Telephon. Unterwegs traf ich Frl. Zahn und sagte dieser, sie solle einen Arzt rufen. Ich ging dann ins Zimmer zurück und legte Dörte aufs Bett.“

 

Vorsitzender: Sie sollen damals sehr erregt gewesen sein. Angekl.: Daß ich erregt war, ist wohl sehr verständlich. Als der Arzt kam, sagte ich zu ihm: Herr Doktor, helfen Sie Ursel zuerst. Vors.: Wo lag die Ursula? Angekl.: Sie kauerte am Schrank. Vors.: Haben Sie Verletzungen gesehen? Angekl.: Ja, ich sah sie. Von einem der Anwesenden wurde dann gesagt: Da liegt die Pistole. Vors.: Haben Sie die Pistole aufgehoben? Angekl.: Ich glaube, daß ich sie aufgehoben und daß ich sie auf den in der Nähe stehenden Rohrplattenkoffer gelegt habe.

 

Vorsitzender: Haben Sie die Pistole gesichert oder entsichert? Angekl.: Das weiß ich nicht. Vors.: Die Pistole soll gesichert gewesen sein. Angekl.: Das ist möglich. Ich kann mich an diese Vorgänge so genau nicht mehr erinnern. Vors.: Wissen Sie nicht mehr, ob Sie den Sicherungsflügel herumgelegt haben? Angekl.: Es ist möglich, denn man hat uns im Felde immer und immer wieder gesagt, daß man die Waffen sicher soll, so daß das zur Gewohnheit wurde. Vors.: Haben Sie sofort erkannt, daß es Ihre Waffe war? Angekl.: Nein, weil ich die Pistole noch nicht lange hatte.

 

G r u p e n s   P i s t o l e .

Bei Ursula wurde eine Schachtel mit 19 Patronen und ein Brief gefunden, der lautete: Kleppelsdorf, 19. (Anmerkung: muss „9.“ heißen) Liebe Großmutti! Sei mir nicht böse, daß ich Vati den Revolver aus dem Schreibtisch genommen habe. Ich will Dir helfen, Du sollst Dich nie mehr über Dörte ärgern. Als Vati Onkel Wilhelm das zeigte, habe ich das gesehen und ihn mitgenommen. Die Adresse lautete: An Großmutti. Vors.: Das soll dieser Brief sein, der schon mehrere Male von der Mohr der Großmutter gegeben werden sollte? Angekl.: Jawohl.

 

Vorsitzender: „Sie sollen dann zur Frau Eckert gesagt haben: Das soll ja meine Pistole sein.“ Angeklagter: „Ich habe am Nachmittag zu Frau Eckert gesagt, an der ganzen Sache bin ich schuld, weil ich die Pistole nicht eingeschlossen habe. Frau Eckert sagte mir darauf: Beruhige Dich, Du warst doch die ganze Zeit bei mir.“ Grupen gibt auf Befragen zu, daß er zu dem Arzt Dr. Scholz gesagt habe: Können Sie Ursel nichts mehr geben, damit sie wenigstens aussagen kann, was sie dazu bewogen hat? Vorsitzender: „Das soll aber geschehen sein, nachdem Ihnen der Arzt gesagt hatte, daß hier alle ärztliche Kunst vergebens sei.“ Angeklagter: „Wenn ich auch wußte, daß Ursel vielleicht nicht mehr zu retten sei, so hatte ich den Arzt doch gebeten, ob er sie nicht wenigstens noch einmal zum Bewußtsein bringen könnte.“

 

Ein Geschworener: Wie lange Zeit mag vergangen sein, bis der Arzt gekommen ist? Angeklagter: Das können ungefähr 20 Minuten gewesen sein. Vorsitzender: Wie ist es möglich, daß die Pistole dahin gekommen ist? Angeklagter: Ich habe mir den Revolver gekauft, weil meine alte Pistole kaputt war. Ich habe die Pistole im Schreibtisch in Ottenbüttel aufbewahrt und habe sie meinem Bruder übergeben, der mich während meiner Abwesenheit vertreten sollte. Ich weiß nicht, wer den Revolver mit nach Kleppelsdorf genommen hat. Das Fach, in dem der Revolver lag, habe ich für meinen Bruder offen gelassen. Ich habe Ursula einmal bei diesem Fach gesehen, ihr einen Verweis erteilt und sie aus dem Zimmer gewiesen. Ich nehme an, daß sie den Revolver an sich genommen und mit nach Kleppelsdorf gebracht hat.

 

Vorsitzender: Wie kann sie den Revolver transportiert haben? Angeklagter: Ich weiß es nicht. Ich vermute, daß sie ihn im Mantel getragen hat und schließe das daraus, daß sie sich in der Eisenbahn nicht hinlegen wollte. Die Frage eines Sachverständigen, ob die Waffe geladen war, als er sie dem Bruder übergab, bejaht der Angeklagte.

 

Vorsitzender: Sie sollen zu Frau Eckert unmittelbar nach der Tat gesagt haben: „Weißt Du auch, daß Du die Erbin von Kleppelsdorf bist?“ Wie kamen Sie dazu, in diesem Augenblick daran zu denken? Angeklagter: Ich habe diese Aeußerung nicht getan. Erst am Abend kam das Gespräch u. a. auf die Erbschaft. Vorsitzender: Waren Sie mit den Erbschaftsverhältnissen vertraut? Angeklagter: Ich nahm allerdings an, daß die Großmutter eine Miterbin sei. Der Vorsitzende stellt fest, daß der Untersuchungsrichter, Amtsrichter Thomas, gesagt habe, der Angeklagte sei am Bette der sterbenden Ursula gesessen und habe „gejammert“. Der Angeklagte weist dieses Wort sehr erregt zurück. Ich habe nicht gejammert, sagt er, sondern ich habe bis zum Einschlafen Ursulas an ihrem Bette gesessen und habe geweint, denn ich habe mit tatsächlich die Schuld an ihrem Tode gegeben, da ich den Revolver offen liegengelassen hatte.“

 

Grupen erzählt dann weiter: Nachdem ich am Abend vernommen worden war, wurde ich nach Mitternacht wieder nach oben gerufen und für verhaftet erklärt. Ich sagte: Wie ist diese Verhaftung möglich, da drei Zeugen da sind, die aussagen, daß ich im Zimmer war? Darauf hat der Untersuchungsrichter die drei Personen wieder nach oben kommen lassen. Ich stand auf dem Flur und ich sagte bei dieser Gelegenheit zur Großmutter: Man hat mich verhaftet, worauf sie sagte: Das ist doch nicht möglich, Du bist doch ganz unschuldig. Vorsitzender: Beim Abführen durch den Untersuchungsrichter haben Sie gesagt: Wenn Ihr aussagt, daß ihr wißt, ich war oben, so bin ich morgen wieder frei. Angeklagter: Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt: Meine Unschuld wird sich in einigen Tagen sicherlich herausstellen, Ihr wißt doch selbst, daß ich oben gewesen bin. Vorsitzender: Sie sollen beim endgültigen Abschied aber doch wieder gesagt haben: Bleibt bei Eurer Aussage! Angeklagter: Das ist möglich, da ich ja tatsächlich oben gewesen war.

 

Vorsitzender: Wie kommt es, daß Sie zu dem Fräulein Mohr, das Ihnen verboten war, mit den Hausgenossen zu reden, Plattdeutsch etwas gesprochen haben. Was haben Sie denn gesagt? Angeklagter: Wenn ich mich recht erinnere, habe ich ihr gesagt, sie solle auch angeben, daß wir Beziehungen zueinander gehabt hatten. Ich wollte nämlich vollkommene Klarheit schaffen. Vorsitzender: Warum aber Plattdeutsch? Angeklagter: Das war gar keine Absicht. Ich bin es gewohnt, mit den Hausgenossen plattdeutsch zu sprechen.

 

D e r   H e i r a t s a n t r a g   a n   D ö r t e   R o h r b e c k .

Der Vorsitzende fragt nun den Angeklagten, ob er jemals der Dörte Rohrbeck einen Heiratsantrag gemacht habe. Der Angeklagte verneint das. Vorsitzender: Aber Fräulein Rohrbeck hat es wiederholt erzählt und auch geschrieben. Angeklagter: Wenn Dörte Rohrbeck das geschrieben hat, so bitte ich die Zeugen zu befragen, wo diese Briefe sind. Der Vorsitzende erklärt, daß Fräulein Rohrbeck sowohl Fräulein Zahn als auch einer Oberschwester und einem Arzt Dr. Beyer erzählt habe, daß ihr Grupen einen Heiratsantrag gemacht habe. Angeklagter: „Jedenfalls habe ich ihr einen feststehenden Heiratsantrag nicht gemacht.“ Vorsitzender: Was heißt feststehend? Sie wollen sagen, es sei möglich, daß Sie irgend so etwas nur angedeutet haben? Angeklagter: Das wäre möglich.

 

Auf nähere Fragen des Sachverständigen, Geh. Sanitätsrats Lesser über die Gemütsveranlagung von Ursula Schade sagt der Angeklagte, daß sie schon als 12jähriges Mädchen an Schwermut gelitten habe, also schon ein Jahr vor der Tat. Diese Zustände waren später sogar noch heftiger aufgetreten. Vors.: Den vermutlichen Grund werde ich Ihnen dann sagen, nach Ausschluß der Oeffentlichkeit.

 

Das sehr kühle Verhältnis zwischen Dörte Rohrbeck und ihrer Großmutter erklärt der Angeklagte mit dem Einfluß des Fräulein Zahn und dem aufgeregten Temperament der alten Frau. Die Großmutter hätte überhaupt kein rechtes Verhältnis zu den Kleppelsdorfern gehabt; sie war ihnen vollkommen entfremdet. Staatsanwalt: Ist es richtig, daß es Ursula in Kleppelsdorf so gut gefallen habe, daß am Abend vor dem Mord davon gesprochen wurde, daß Ursula in Kleppelsdorf bleiben und dort zur Schuler gehen sollte? Angekl.: Es wurde gesagt, daß Ursula in Kleppelsdorf bleiben könne. Fräulein Zahn sagte dies aus dem Grunde, weil dann ein Mitglied der Familie auf dem Gute geblieben wäre, so daß man kaum hätte den Haushalt auflösen können.

 

Vert. J.-R. Ablaß: Haben Sie sich jemals mit Hypnose beschäftigt? Angekl.: Nein. -  Vors.: Sind Sie ein guter Schütze? - Angekl.: Vor meiner Militärzeit kannte ich kein Gewehr. Ich habe später in Itzehoe einen Revolver gehabt. Man kann aber annehmen, daß ich ein verhältnismäßig guter Schütze bin. - Vors.: Sie sollen sogar Preise bekommen haben. - Angekl.: Ja, ich habe tatsächlich einmal bei einem Schützenverein zwei Preise bekommen.

 

Es soll nunmehr über die Frage des Sittlichkeitsverbrechens gesprochen werden. - Auf Antrag des Staatsanwalts wird vom Gerichtshof die Oeffentlichkeit ausgeschlossen. Obwohl der Staatsanwalt das Verbleiben der Presse im Saal beantragt hatte, entscheidet sich der Gerichtshof doch für den vollständigen Ausschluß der Oeffentlichkeit.

 

 

 

Mittwoch, 7. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Die Aussagen der Erzieherin.

Hirschberg, 6. Dezember.

 

Nach Wiederherstellung der Oeffentlichkeit und Erörterung einiger unwesentlicher Dinge, wie die Verpfändung von Ringen usw., wird in die Beweisaufnahme eingetreten und unter allgemeiner Spannung die Erzieherin des Frl. Dörte Rohrbeck, Frl.   Z a h n ,   in den Saal gerufen. Sie ist in tiefe Trauer gekleidet und eine hübsche, elegante Frau von offenbar sehr guten Manieren.

 

Vorsitzender: Erzählen Sie uns, Frl. Zahn, wann Sie nach Kleppelsdorf kamen und die Erziehung Dörte Rohrbecks übernommen und geleitet haben. In sehr gewählter Sprache erzählt die Zeugin:

 

Im Frühjahr 1905 kam ich als Hausdame und Erzieherin nach Kleppelsdorf. Dörte war damals anderthalb Jahre alt. Vor mir war die Großmutter, Frau Eckert, ein Jahr im Hause gewesen, nachdem Frau Rohrbeck kurze Zeit nach der Geburt des Kindes gestorben war. Frau Eckert verblieb nur noch eine Woche im Hause. Ich hatte das Gefühl, daß mich Frau Eckert nicht gern sah. Ich leitete den Haushalt, bis Dörte zur Schule ging. Dann kam eine Lehrerin ins Haus. 1914 wurde Herr Rohrbeck schwer krank. ich übernahm die Pflege, er starb aber einige Monate später in einem Sanatorium in Berlin. Er hinterließ ein bedeutendes Vermögen, nämlich das Gut Kleppelsdorf mit den kleineren Gütern Tempelhof und Gießhübel im Werte von damals 1 ½ Millionen Mark. In einem Testament, das von R. 1912 aufgesetzt worden war, hatte er Herrn Vielhack zum Vormund eingesetzt, und in einem Nachtrag zum Testament bestimmt, daß die Ausbildung und Erziehung Dörtes lediglich mir übertragen werden sollte.

 

Es kommen dann die Streitigkeiten zwischen Frl. Zahn und dem Vormund zur Sprache. Dieser hatte seit 1916 für den Haushalt, die Erziehung, das Personal und die Kleidung monatlich 1000 M. festgesetzt. Die Gehälter allein machten nicht weniger als die Hälfte aus. Ueberdies war Dörte Rohrbeck nicht ganz gesund und sollte viel Fettstoffe bekommen. Das Geld reichte daher nicht aus. Nun stiegen die Lebensmittel von Tag zu Tag. Da setzte der Vormund am 1. April 1919 fest, daß alle diese Ausgaben wöchentlich nur 120 M. betragen sollten, und zwar für Haushalt, Erziehung und Kleidung, während einige Dienstboten auf das Gutskonto übernommen wurden. Am 1. Oktober 1920 wurde die Summe auf wöchentlich bloß 100 M. herabgesetzt, erzählt Frl. Zahn weiter, da mir Verschwendung vorgeworfen wurde. Die Gehälter der Mädchen allein machten 250 M., die übrigen Gehälter 200 M., so daß nur 150 M. verblieben.

 

Vorsitzender: Es kam dann zu einem Konflikt mit dem Vormund? - Zeugin: Ja, der Vormund kündigte mir, das Landgericht erklärte aber die Kündigung auf Grund des Testaments für ungültig, da ich nicht die Angestellte des Vormundes war.

 

Vorsitzender: Wie entstanden Ihre Beziehungen zur Familie Grupen?

 

Zeugin: Dörte wurde Ostern 1920 konfirmiert. Ich hatte die Verwandten gebeten, zur Konfirmation zu kommen. Sie kamen aber nicht. Ich hatte auch den Vormund gebeten, das Geld für die Konfirmation, Kleider usw. zu geben. Das hat er zurückgewiesen. Ich ging zum Gericht, dort wurde mir gesagt, ob ich denn nicht das Konfirmationskleid für Dörte aus alten Gesellschaftsanzügen des verstorbenen Herrn Rohrbeck machen könnte (Bewegung im Publikum). Ich erklärte, ich könnte das nicht. Schließlich wurde der Vormund auf meine Vorstellungen zur Zahlung von 800 M. für diese Kosten verhalten.

 

Vorsitzender: Haben Sie da ausgereicht? Zeugin: Ich kaufte für das Geld Kleider, Stiefel und einige Wäschestücke. Leibwäsche hatte ich ja selbst aus der Kinderwäsche gearbeitet. Dann wollten wir dem Geistlichen das übliche Geschenk machen. Wie sollte ich das alles bestreiten? So mußte ich das Notwendigste aus anderen Mitteln besorgen. Da wir kein Geld hatten, beschlossen wir, uns an die Verwandten zu wenden.

 

Die Zeugin erzählt weiter, wie sie erst lange Zeit brauchte, ehe sie die 3000 M., die der Vormund für eine Verwandtenreise nicht geben wollte, aufbrachte.

 

Vorsitzender: Hat er nicht einmal über seine Frau mit Ihnen gesprochen?

 

Zeugin: Einmal fragte er mich, ob ich wüßte, daß seine Frau krank sei. Er sagte, sie wäre krebskrank. Wenn er das gewußt hätte, hätte er sie nicht geheiratet. Es wurde auch sehr viel von der Wirtschaft in Kleppelsdorf gesprochen. Wir wussten, daß der Vormund sich mit dem Gedanken trug, Kleppelsdorf zu verkaufen. Da Dörte ihre Heimat sehr liebte, so fragte sie natürlich, was da zu tun wäre. Ich dachte an einen Familienrat, der uns gegen den Vormund helfen sollte.

 

Vorsitzender: Wie sah denn Frau Grupen aus? Zeugin: Frau Grupen war eine sehr elegante Frau, indessen schien es mir, als ob sie in ihrem Aeußeren nicht mehr so sorgsam wie früher war. Auch wunderte ich mich, daß Frau Grupen auf dem einsamen Gütchen, das am Ende des Dorfes lag, sich wohlfühlen sollte.

 

Vorsitzender: Hat Ihnen Grupen nicht manches erzählt? Zeugin: Er sagte einmal, daß er bedauere, mich nicht früher kennen gelernt zu haben. Vorsitzender: Was wollte er damit sagen? Zeugin: Vielleicht wollte er sein Gefallen an mir damit ausdrücken. Vorsitzender: Hat er Ihnen gesagt, Sie sollten seine Frau werden? Zeugin: Ja, doch weiß ich nicht, ob das damals oder erst später war. Er hat auch erzählt, daß er in Amerika einen reichen Onkel besitze, den er besuchen müsse. Es wäre schön, sagte er, wenn wir mit ihm nach Amerika gingen.

 

Vorsitzender zu Grupen: Haben Sie einen Onkel in Amerika? Angeklagter: Ja, er heißt Joseph Polk. Fräulein Zahn hat mich übrigens mißverstanden. Beim Anblick eines vorüberfahrenden Dampfers sagte ich damals, es wäre schön, nach Amerika zu fahren. Einen weiteren Vorschlag habe ich nicht gemacht.

 

Die Kleppelsdorfer haben - nach Fräulein Zahn - von Grupen in verschiedenen Zahlungen im ganzen 4200 M. erhalten. Die Zeugin gibt dann noch an, daß sie Frau Grupen vergeblich zu Besuch auf dem Gute erwartete, bis ihr Mann selbst kam und erzählte, seien Frau sei nach Amerika gegangen. Er wisse, daß sie sich einen Auslandspaß besorgt habe. Er brachte noch mehrere Briefe mit an Dörte, an einen Verwandten namens Schade und an andere Personen.

 

Es werden nun diese Briefe der Frau Grupen, die sie an verschiedenen Personen geschrieben hat, verlesen. Sie sind alle in demselben, in seiner Art charakteristischen Stil gehalten. In einem der Briefe heißt es, daß ihr den Gedanken der Trennung das Bewußtsein erleichtert habe, daß ihr Mann später doch bestrebt sei, allen Menschen, die sie liebe, das Leben so angenehm wie möglich zu machen. In einem zweiten Briefe heißt es: Du wirst wohl staunen, wenn Du erfährst, daß ich nach Amerika fahre. Ich werde hoffentlich Gelegenheit haben, Euch vor der Reise noch einmal zu schreiben.

 

In einem dritten Brief an eine Verwandte endlich schreibt sie: Ich fahre jetzt zur Abwechslung einmal nach Amerika, das war schon lange mein Wunsch, ich tue das, weil ich der Sorge um Mann und Kinder enthoben bin, da ich das Gut verkauft habe und Peter den Kindern sicher ein guter Vater sein wird.

 

Die Frage eines Geschworenen führt endlich zu einer merkwürdigen   E n t d e c k u n g :   Der Geschworene fragt: Ist festgestellt, daß Frau Grupen die Schreiberin dieser Briefe ist? Unter großer Bewegung des Publikums erklärt der Vorsitzende: Das ist nicht festgestellt. Ein   S a c h v e r s t ä n d i g e r   darüber ist wenigstens   n i c h t   v e r n o m m e n   worden. Es wurden bloß Schriftsachverständige über die Briefe der Ursula Schade vernommen. Ich will übrigens im Laufe des Verfahrens Sachverständige darüber vernehmen.

 

 

Mittwoch, 7. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Abend-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf

Das Tagebuch der Dörthe Rohrbeck.

Hirschberg, 7. Dezember.

 

Im weiteren Verlaufe des Verhörs der Erzieherin Fräulein   Z a h n   kommt die Rede auf den Aufenthalt Grupens in Kleppelsdorf, wo er von dem Verschwinden seiner Frau erzählte. Grupen habe dieses Verschwinden sehr gefaßt aufgenommen und Fräulein Zahn nur gebeten, ihm Dörthe nach Ottenbüttel mitzugeben, damit die Großmutter einen Trost für die verschwundene Tochter habe. Bei diesem Besuch äußerte Grupen den Wunsch, den Gewehrschrank des verstorbenen Rohrbeck zu sehen. Ein besonders gutes Jagdgewehr betrachtete er mit großem Interesse und sagte dabei: „Ich versichere Dir, daß diese Waffe noch einmal mir gehören wird.“ Angeklagter: Es hat sich damals um den Abgabezwang für Waffen gehandelt.

 

Vorsitzender: Sie sind von Dörthe, als sie mit Grupen fort war, gerufen worden, weil Dörthe sich fürchtete. Zeugin: Ich fuhr eigentlich nur hin, damit Dörthe nicht allein nach Hause fahre. An die Furcht glaube ich nicht.

 

Fräulein Zahnerzählt nun, was bisher unbekannt war, daß sie vor kurzer Zeit in den Büchern Dörthes eine Art Tagebuchzettel gefunden hat. Dieser Zettel kommt zur Verlesung. Es heißt darin: „Nun wollen sie mir Berti (Fräulein Zahn) nehmen, was habe ich noch? Soll ich jetzt ganz allein sein? Ich lasse sie mir nicht nehmen. Eben erreicht in wahnsinniger …“ Hier folgt eine Reihe von Strichen, dann das Datum: 29. September. - Ein anderer Zettel lautet: „Altona 1.10. Berti kommt, Gott lob, nun sind wir alle zusammen.“

 

Es wird dann nochmals ausführlich die Kahnfahrt auf der Alster und die Reise nach Kiel besprochen. Dörthe kam erst am 11., als Grupen für den Vormund Partei ergriffen hatte, auf den Zusammenhang und sagte: „Paß auf, er trachtet mir nach dem Leben.“ Auf der Fahrt nach Kiel, obwohl diese in guter Weise verging, hatte die Zeugin wegen der merkwürdigen Umstände zum ersten Mal die Empfindung: „Grupen ist gegen uns.“ Vorsitzender: Wie hat sich Dörthe über Grupen geäußert? Zeugin: Er war ihr entschieden unsympathisch. Angeklagter: Ich werde nachweisen, daß sie eine Karte geschrieben hat, in der sie sich besonders sympathisch über ihren Onkel Grupen ausgesprochen hat.

 

In den letzten Tagen in Kleppelsdorf war Grupen fast immer zu Hause. Er ging nicht einmal spazieren. Als ihn Fräulein Zahn fragte, sagte er: „Man wird mich für das Verschwinden meiner Frau verantwortlich machen.“ Wenn Besuch kam, trat er immer in den Hintergrund des Zimmers, ließ sich ungern vorstellen und ging aus dem Zimmer.

 

Der heutige Tag ist dem lokalen Augenschein auf Schloß Kleppelsdorf gewidmet. Um 9 ½ Uhr Vormittag begaben sich der Gerichtshof, der Angeklagte, einige Zeugen und Sachverständige sowie die Vertreter der Presse nach Kleppelsdorf.

 

 

 

Donnerstag, 8. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Lokaltermin in Schloß Kleppelsdorf.

Das Geheimnis des Tatortes.

Von unserem P. S.-Sonderberichterstatter.

Hirschberg, 7. Dezember.

 

Nach zwei Sitzungstagen sind die Beteiligten eines Prozesses Mitglieder einer sonderbaren, nur durch geistige Fäden verbundenen Familie. Richter, Geschworene, der Angeklagte Zeugen und Sachverständige sind wie die Figuren eines Schachbrettes mitten in der Entwicklung des Spiels voneinander abhängig geworden. Nichts vollzieht sich natürlicher als die Betrachtung einer solchen Familie in zwei Autoomnibussen, und friedlich sitzen einige Richter, Sachverständige, Leute der Presse mit den Angeklagten und seinen ihn bewachenden Polizisten zusammen. Man spricht nicht mit ihm, aber wir beobachten ihn in seiner merkwürdigen, nach keiner Seite ausdeutbaren Ruhe. Das frische, gesunde Gesicht, der hübsche, jugendlich energische Mund und die beiden scharfen, wachsamen Augen - alles trotzt von Leben und Geistesgegenwart und ist dennoch so gebändigt von einem Willen, dem es vielleicht nicht schwer wird, festzubleiben. Denn die Nerven dieses Mannes - schuldig oder nicht - sind eisern. Im zweiten Wagen folgen die Geschworenen, die übrigen Richter, die Staatsanwälte und einige Zeugen, darunter die noch heute eigentümlich schöne, tiefe Trauer tragende Hauptzeugin, Fräulein Zahn, klug und beherrscht wie der Angeklagte, dann die greise Großmutter, Frau Eckert, und Irmgard, die letzte Enkelin, ein blondes, heute etwas verängstigtes Kind.

 

Die Wagen rollen durch die hügelige, schöne freie Landschaft, die im Sommer sehr lieblich sein muß, heute im grauen Dezembertag nur feine zeichnerische Reize aufweist. Nach einer Stunde ist das Städtchen Lähn erreicht, an dessen Rande unmittelbar das „Schloß“ liegt - ein einfacher, anderthalbstöckiger Bau, der diesen Namen wohl nur den umfangreichen, um den Hof liegenden Wirtschaftsgebäuden und dem hübschen Park verdankt. Ein paar Dutzend Dorfbewohner erwarten die Gäste - dem Angeklagten wird das Wort „Mörder“ nachgerufen - wir treten in das Haus.

 

Der Schauplatz dieser sonderbaren, bis heute noch nicht aufgeklärten Tat ist trivial genug, und gerade das Alltägliche macht ihn in Verbindung mit einer Eiseskälte schaurig. Noch wird das verschlossene Mordzimmer nicht betreten; man begibt sich ihn den mit Rehgeweihen ausgestatteten Speisesaal des ersten Stocks, wo durch Tische und Stühle das Szenarium des Gerichtssaals hergestellt ist. Die Gerichtspersonen ziehen ihre schwarzen Talare über Pelze und Wintermäntel. Kurz konstituiert sich die Sitzung und man begibt sich wieder in das Erdgeschoß, zunächst in das „Wintereßzimmer", das heute anders als früher mit hübschen Biedermeiermöbeln ausgestattet ist und in dem zur Stunde der Tat der Mittagstisch gedeckt stand. Nun wird das Mordzimmer aufgeschlossen, das vom Tage der Tat bis heute unaufgeräumt geblieben ist. Es ist ein mit einfachen Schlafzimmermöbeln ausgestatteter Raum, zwei Betten, zwei Schränke, eine Waschkommode und ein Toilettentisch sind das einfache Mobiliar von hellem Holz. Noch liegen wirr durcheinander die Kissen auf den Betten, auf die man die jungen Leichen gelegt hatte, noch zeigt der Teppich große schwarze Flecke, die Blutlachen, noch ist der Stuhl umgestürzt.

 

Mit bewunderungswürdiger Ruhe hält der Vorsitzende auch in diesem enge Raume, wo Geschworene, Zeugen, Leute der Presse, der Angeklagte, Staatsanwälte wirr durcheinander stehen, die Leitung in der Hand, in steter Sorge, daß durch keinen Formfehler ein Revisionsgrund gegeben werde, und so ist er in jedem Gemach besorgt, ob auch einige Leute aus dem Publikum anwesend seien. Zunächst wird durch die Dienstmädchen Mende und Hirschdargestellt, wie die Körper gelegen haben. Es ergeben sich kleine Abweichungen, die aber der medizinische Sachverständige Medizinalrat Dr. Peters dadurch aufklärt, daß er sagt, daß es wohl möglich sei, daß sich Dörte Rohrbeck im Todeskampf bewegt habe.

 

Das Hauptinteresse wird nach, als es sich um die Frage handelt, wo die Patronenhülsen gefunden sind. Die Situation ist merkwürdig und für die Beweisversuche des Staatsanwalts ist hier der Schlüsselpunkt gegeben: Das Mordzimmer ist etwa sechs Meter lang und vier Meter breit. Die beiden einzigen Türen, die in dieses Zimmer führen, befinden sich an den beiden Schmalseiten. Etwa in der Mitte des Zimmers, der Länge nach, doch nah am Fenster, steht ein Tisch, nicht weit davon der umgestürzte Stuhl, neben dem Dörte liegend aufgefunden wurde. Ursulas Körper lag am äußersten Ende des Zimmers, direkt an der Tür, die sonst offen stand, in der Stunde der Tat, wie fast zweifellos feststeht, aber geschlossen war. Drei Schüsse wurden abgegeben, drei Patronen wurden gefunden, aber alle drei in dem entgegengesetzten Teile des Zimmers, in der Nähe jener anderen Tür, von der der Mörder, nach Annahme der Staatsanwaltschaft, aus geschossen haben muß. die Entfernung von Ursulas Körper bis zum Fundort der Patronen wird gemessen: Etwa fünf Meter 66 Zentimeter. Kann die Patronenhülse so weit gesprungen sein?

 

Nun begibt sich das Gericht in die Räume des oberen Stocks und es wird versucht, die Familienszene zu rekonstruieren, die sich hier in der Stunde der Tat abgespielt hat. Es ist in der Tat ein Regieversuch von merkwürdigem Stimmungsgehalt. Die Szene spielt in zwei Zimmern, die dazwischen liegende Tür ist halb offen. In dem kleinen, sogenannten Kinderspielzimmer, nimmt Fräulein Zahn wie damals an einem kleinen Tische Platz, wo sie mit Dörte rechnete. Im anderen Zimmer, in einer rückwärtigen, gemütlichen Ecke, setzt sich der Angeklagte auf das Sofa, wo er mit der kleinen Irma Mühle spielte, wobei ihr das Kinderfräulein Mohr half. Auch die Großmutter soll sich auf den Sessel setzen, wo sie damals bei ihrer Handarbeit saß - da geht eine Bewegung durch den Raum. Die kleine Zeugin Irma fängt an zu weinen - der Staatsanwalt bittet darum, den Angeklagten in seiner Stellung durch eine andere Person zu ersetzen. Auch die Großmutter bittet darum, und der Angeklagte steht schnell auf, seine eigentümlich helle Stimme flackert nicht, als er sagt: „Auch mir wäre es sehr angenehm, aufstehen zu dürfen.“ Immerhin dem Wortlaut nach eine geäußerte Empfindung dieses unerschütterlich ruhigen Menschen. Ein Polizeibeamter nimmt die Stellung des Angeklagten ein, und nun wird die behaglich harmlose Familienszene, die sich hier abspielte, kurz bevor und während ein Stockwerk tiefer zwei Kinder gewaltsamen Todes starben, dem Wortlaut nach wiederholt. Die Stimme der toten Ursula ruft von außen in das Kinderspielzimmer hinein: „Dörtel, komm doch mal runter - “ und es wird festgestellt, daß der Angeklagte von seinem Platz sehr gut sehen konnte, wie Dörtel sich erhob und das Zimmer verließ. Und die Stimme Fräulein Zahns erklingt so ruhig und sicher wie in jener Stunde: „Irma, sieh doch mal nach, wo Dörte ist …“ und Irma geht den Weg hinaus und kommt wieder zurück, während die Herren des Gerichts mit der Uhr in der Hand die Zeit des Entferntseins messen. Noch eine andere Zeitmessung wird vorgenommen: der Weg vom Wohnzimmer hinab zum Mordzimmer und zurück: 59 Sekunden. Die Szene des Mordes selbst wird nach ihrer Zeitdauer nicht rekonstruiert. „Wie lange man braucht, um zwei Menschen umzubringen, kann ich nicht feststellen,“ sagt der Vorsitzende.

 

Damit ist der eigentliche Lokaltermin beendet; es ist 2 ½ Uhr - sämtliche Parteien sind etwas schwach vor Hunger und Kälte. Der Vorsitzende verkündet, daß der gegenwärtige Besitzer des Hauses allen Anwesenden einen Teller Suppe anbietet - ein Mehr war angeboten, aber abgelehnt worden. Man nimmt dankend an und begibt sich zurück in den unteren Stock, in jenes hübsche Biedermeierzimmer, dicht neben dem Zimmer der Tat. Die Suppe wird gereicht.

 

Nach einer halben Stunde findet man sich im Gerichtsraum wieder zusammen, wo im Zeugenverhör die Feststellungen des Lokaltermins zunächst wiederholt werden. Neue Tatsachen hat der Lokaltermin nicht gefördert, aber sinnlich wahrnehmbar ist die Szene geworden, sonderbar belebt und kontrolliert durch Berta Zahn, die hohe, schlanke, ernste Frau, die vielleicht allein durch Dorotheas Tod in eine tiefe seelische Erschütterung geraten ist, und die nun in eigentümlich strenger Feierlichkeit als eine tragisch Handelnde erscheint, mit ihrem geraden, kühnen Profil, den hellgrauen sprechenden Augen in dem bleichen, harten, von dunklem Haar umrahmten Gesicht.

 

Noch immer ist das Rätsel ungelöst: Konnte die dreizehnjährige Ursula wirklich die Schüsse mit der schwierig zu handhabenden Browningpistole abfeuern? Hat sich der Angeklagte aus jenem Vorzimmer, wo er mit Irma Mühle spielte, wirklich nicht für Augenblicke entfernt? Weder die Großmutter, noch das Kinderfräulein haben sich auf diesen wichtigsten Umstand besinnen können. Ein psychologisches Experiment hat man in der Voruntersuchung gemacht: Da war für den Angeklagten eine andere Person zum Mühlespiel eingetreten und hatte sich während des Spiels für einige Minuten entfernt. Als man die Großmutter und das Kinderfräulein nach einigen Tagen fragte, konnte sich keine der beiden an die Entfernung dieser Person erinnern! Das Experiment war gelungen als ein Beweis für - Möglichkeiten.

 

 

 

Donnerstag, 8. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Das Drama von Kleppelsdorf.

Die heute erscheinende Nummer der „Berliner Illustrirten“ bringt Bilder zu dem großen Prozeß in Hirschberg; Aufnahmen von  Schloß Kleppelsdorf mit seinen Bewohnern, der ermordeten jugendlichen Schloßherrin Dörthe Rohrbeck und der verschwundenen Frau Grupen mit Ursula Schade.

 

 

 

Donnerstag, 8. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Abend-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Drahtbericht der „Vossischen Zeitung“.

Hirschberg, 8. Dezember.

 

Gestern Nachmittag wurde in dem Gerichtszimmer des Schlosses von Kleppelsdorf die Zeugenvernehmung fortgesetzt, während in dem Mordzimmer stundenlange Schießversuche de Sachverständigen stattfanden. In der weiteren Zeugenvernehmung sagte die Zeugin Mende über ihre Wahrnehmungen vom Eintreffen Grupens an bis zum Mordtage aus, daß der Empfang kühl gewesen sei und daß Grupen bei seiner Anwesenheit fast immer im Zimmer war, gelesen oder Mühle gespielt hat. Die kleine Ursel war bei Tisch meist traurig und aß sehr wenig, während sie draußen häufig lustig war und im Garten herumtollte. Von einer Verstimmung der Ursula gegen Dorothea Rohrbeck hat die Zeugin nichts gemerkt, auch nichts von einem Revolver oder Patronen.

 

Vorsitzender: War der Angeklagte nach dem Auffinden der Leiche sehr aufgeregt? Zeugin: Ja, er sagte gleich zur Großmutter: Da werde wohl ich die Schuld bekommen. Dann setzte er sich aufs Sofa. Verteidiger Dr. Ablaß: Diese Aeußerung ist neu. Ich bitte die Zeugin zu fragen, warum sie früher nie etwas davon gesagt hat.

 

Auf eingehende Ermahnung gibt sie die Möglichkeit zu, nicht mehr genau zu wissen, ob diese Worte vor oder nach Verlesung des Briefes an die Großmutter gefallen seien. Der Zeugin ist aufgefallen, daß als sie Grupen zu der Vernehmung durch den Amtsrichter rufen wollte, die Tür im Eßzimmer, wo sich Grupen und Frau Eckert befanden, verschlossen war und auch auf Klopfen nicht gleich geöffnet wurde. Sie will hinter der Tür Papiergeräusche gehört haben.

 

„ D a   b i n   i c h   a l s o   d o c h   s c h u l d i g . “

Zeuge Sanitätsrat Dr. Scholz macht Angaben über seine Wahrnehmungen bei seinem Erscheinen im Schlosse, in dem er etwa acht Minuten nach der Tat eingetroffen war. Er hörte, daß Grupen nach Verlesung des Briefes sagte: Da bin ich also doch schuldig. Die Großmutter beruhigte ihn, was dem Zeugen auffiel, da sie im Anblick ihrer erschossenen Enkel den Schwiegersohn tröstete. Der Zeuge bestätigt, daß Grupen ihn gebeten habe, der Ursel etwas zu geben, damit sie sagen könne, wer es gewesen sei.

 

Vorsitzender: Ist Ihnen das aufgefallen? - Zeuge: Ja. - Wie Dr. Scholz weiter bekundet, hat er sofort gesagt, hier liegt ein Mord vor. Kann mit niemand Aufschluß geben? Er hat dann Fräulein Zahn gefragt, was sie darüber denke. Diese sagte ihm: Ach Gott, es gibt so böse Menschen im Hause! Von diesem Augenblick an, sagt der Zeuge, hatte ich den Angeklagten in Verdacht.

 

Zeuge Postverwalter Grimmig: Ich verkehre seit zehn Jahren im Rohrbeckschen Hause und war in alle Verhältnisse eingeweiht. Ich bin mit der vorgefaßten Meinung am Mordtage in das Haus gekommen, daß der Angeklagte Grupen der Mörder ist. Ich habe mir meinen Browning in die Tasche gesteckt, mit der Absicht, den Täter niederzuschießen, wenn er mir entgegen getreten wäre. Dann hatte ich Grupen nicht für den Täter gehalten, denn er war ruhig. Dagegen konnte ich mir das Verhalten der Frau Eckert nicht erklären, die beim Anblick der beiden niedergeschossenen Enkel so ruhig war.

 

Vorsitzender: War Ihnen bekannt, daß der Angeklagte dem Fräulein Zahn und dem Fräulein Rohrbeck unsympathisch war?

 

Der Zeuge bejaht dies, ebenso die andere Frage, ob davon gesprochen worden sei, daß Grupen der Dörthe nach dem Leben getrachtet hat und daß sich die Damen vor ihm fürchteten.

 

Zeuge Justizoberwachtmeister Klapper aus Lähn ist auf Wunsch des Zeugen Grimmig mit ihm nach dem Schloß gegangen. Grimmig zeigte ihm dort den Revolver. Auf die Frage des Zeugen, wem die Waffe gehöre, hat der Angeklagte gesagt: Die Waffe gehört mir! Ich bin an allem schuld. Warum habe ich sie nicht in den Schreibtisch eingeschlossen? Dem Zeugen fiel auch das merkwürdige Benehmen der Großmutter auf, die den Angeklagten am Aermel streichelte und sagte: Aber Peter, wie kannst Du das sagen. Du kannst doch nichts dafür.

 

G r u p e n s   V e r h a l t e n   i m   M o r d z i m m e r .

Die Zeugin Zahn wird darüber befragt, wie sich der Angeklagte im Mordzimmer verhielt.

 

Zeugin: Er war sehr aufgeregt und hat geweint. Ich konnte nur nicht begreifen, daß ich erst dreimal habe Grupen bitten müssen, er möge mir helfen, Dörthe auf das Bett zu legen. Das machte auf mich einen merkwürdigen Eindruck, und ich hatte das Gefühl, daß der Täter sein Opfer wohl nicht anfassen wollte.

 

Angeklagter: Hat die Zeugin nicht zu Fräulein Hirsch gesagt, ich solle bei Dörthe nicht mithelfen?

 

Zeugin: Das habe ich nicht gesagt. Ich hatte den Eindruck, es wäre Grupen unangenehm, bei Dörthe zu sein, denn er kam nicht ein einziges Mal zur Leiche.

 

Sanitätsrat Dr. Scholz gibt dann noch Auskunft, wie die Wunde der Ursula behandelt worden ist. Es wurde der Verwundeten ein Umschlag auf den Kopf gelegt; daß die Wunde abgewaschen worden wäre, hat er nicht gesehen. Er hat es auch der Krankenschwester verboten. Wenn an der Wunde Pulverschleim gewesen wäre, hätte er ihn sehen müssen.

 

Bei der Abfahrt der Prozeßbeteiligten aus Kleppelsdorf nahm die Menge wieder eine drohende Haltung gegen den Angeklagten an. Man drängte gegen das Auto und wurden abermals viele Verwünschungen  gegen ihn laut.

 

 

 

Freitag, 9. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Eine belastende Aussage.

Drahtmeldung unseres Sonderberichterstatters.

Hirschberg, 8. Dezember.

 

In der fortgesetzten Vernehmung schildert die Zeugin Fräulein Zahn die Vorgänge am Tage vor der tat, der ein Sonntag war. Nach Tisch hatte Fräulein Zahn mit Dörte sich zur Ruhe ins Kinderzimmer zurückgezogen. Dabei fiel es ihnen auf, daß in dem benachbarten Wohnzimmer die Ofentüre oft geöffnet und geschlossen wurde. Der weitere Nachmittag verlief harmlos und heiter. Dörte spielte Klavier und es wurde gesungen. Nur Ursula stand scheu beiseite und war nicht zu bewegen, an dem Gesang teilzunehmen. Sie war so bedrückt, daß Dörte äußerte: Ich glaube, sie hat eine Sorge.

 

Vorsitzender: Wußten Sie, daß Ursula (geschlechtlich) erkrankt und in Behandlung war? Fräulein Zahn: Bei dem letzten Besuch in Hamburg sprach Grupen von Furunkeln. Ich wusste aber nicht, um was es sich handelt. Dann aber sprach auch die Großmutter davon und zwar deutlicher in Anwesenheit Dörtes, was dieser offensichtlich unangenehm war. Die Großmutter äußerte dabei, es sei doch sehr lieb, daß Peter die Behandlung selbst vornehme.

 

Ueber die Stunde während der Tat wird ein langes Kreuzverhör angestellt, das aber Neues nicht bringt.

 

In der Nachmittagssitzung wird Oberschwester Emma   K u b e   aus Lähn vernommen, die Dörte von der Geburt her kannte und eine besondere Vertraute Dörtes war. Sie hat seit 20 Jahren die Ereignisse in Kleppelsdorf verfolgt und hat auch an dem Engagement Fräulein Zahns mitgewirkt. Sie habe es für ihre Pflicht gehalten, das Wohlergehen Dörtes nach dem Tode des Vaters zu beobachten. Sie habe sogar immer ein bißchen spioniert, um zu sehen, ob Dörte gut versorgt sei, und sie müsse sagen, daß Fräulein Zahn in mustergültiger Weise Dörte versorgt habe. Der Vater Dorotheas habe sehr viel von Fräulein Zahn gehalten und auch gelegentlich geäußert, daß er sie ganz gerne heiraten würde. Dorothea hat Fräulein Zahn sehr geliebt und ihr einmal gesagt: Wenn ich mal majorenn bin, bekommt Fräulein Zahn von mir das Gut Tempelhof. Das Verhältnis zwischen Dorothea und der Großmutter sei immer ein kühleres gewesen, was vielleicht darauf zurückzuführen sei, daß Herr Rohrbeck für seine Schwiegermutter keine großen Sympathien hatte. Aber Dörte sei ein viel zu zartfühlendes und gutes Kind gewesen, als daß sie die Großmutter je verletzt hätte.

 

Besonders dramatisch gestaltete sich die Erzählung der Oberschwester von den letzten Besuchen Dörthes. Schon nach der Hamburger Reise hatte Dörthe erzählt, wie unheimlich ihr das Verhalten Grupens auf der Alsterfahrt war. Dörthe habe das deutliche Gefühl gehabt, daß Grupen ihr nach dem Leben trachtete. Insbesondere ängstigte sie sich vor seinen Heiratsanträgen. Dörthe sei auch zu ihr gekommen, als plötzlich Grupen mit der Großmutter und den Kindern eingetroffen wäre. Dörthe sei sehr erregt gewesen und sie selbst äußerte die größte Angst um Dörthe. Sie solle sich jeden Abend einschließen. Dörthe hatte den Wunsch, sich einen Revolver zu kaufen. Als Dörthe wegging, drehte sie sich noch einmal in der Tür nach ihr um und sagte: „Ach, Du liegst so geborgen, mich gruselt, wenn ich in mein Haus gehe.“ Als dann zwei Tage später der Zeugin die Nachricht von dem Unglück überbracht wurde, habe sie sofort gesagt: „Das ist kein Unglück - Dörthe ist ermordet worden.“

 

Zur eigentlichen Sensation des Tages gestaltet sich die Vernehmung der fast zwölfjährigen   I r m g a r d .   Auf Beschluß des Gerichts wird der Angeklagte während der Vernehmung abgeführt, weil befürchtet wird, daß Irmgard sich vor ihm fürchtet. Gleich zu beginn der Vernehmung erklärt Irmgard, sie müsse noch etwas aussagen, was sie bisher vergessen habe, In der Stunde vor der Tat, als sie einen schlechten Apfel auf die Toilette tragen wollte, sei der Stiefvater hinter ihr her gekommen. - Es entsteht sofort eine große Bewegung im Saal, weil hier zum ersten Mal bekundet wird, daß der Angeklagte in der kritischen Stunde das Wohnzimmer verlassen hat. Der Vorsitzende geht aber zunächst nicht auf diesen Punkt ein, sondern läßt sich von Irmgard die Vorgänge in der Reihenfolge erzählen. Die gutmütige, gewinnende Art des Vorsitzenden läßt nun Irmgard, die einen durchaus intelligenten Eindruck macht, frei und bestimmt ihre Aussage machen. Insbesondere bekundet sie, daß sie niemals in den Händen ihrer Schwester einen Revolver gesehen habe und auch nicht wußte, ob Ursula je geschossen hat. Am Vormittage des Mordtages habe sie mit Dörthe Post und Apfelsinen geholt und Ursel sei ihnen auf der Treppe mit dem Vorwurf entgegengekommen: „Wo bleibt Ihr denn so lange mit den Apfelsinen?“

 

Ursula hatte beim Mühlespielen eine Apfelsine gewonnen, die sie nun haben wollte. Ursula sei in guter Laune gewesen. Dann sei sie in das Zimmer getreten und habe nun auch Mühle gespielt. Die Großmutter habe dabeigesessen und war wohl etwas eingeschlummert. Nach einer Weile sei sie von Fräulein Zahn aufgefordert worden, Dörthe zu suchen. Sie habe dies auch getan, war auch unten im Eßzimmer, habe sie aber nicht gefunden. Dann sei sie zurückgekommen. Nach einer Weile habe sie einen Apfel essen wollen. Der sei schlecht gewesen. Der Stiefvater habe am Ofen gestanden und wollte den Apfel in den Ofen werfen, die Ofentür war aber zum Öffnen zu heiß. Dann habe der Stiefvater ihr gesagt, sie solle den Apfel auf die Toilette tragen. „Dabei“ - fährt sie wörtlich fort - „ging er hinter mir her und folgte mir ins Schrankzimmer, Als ich von der Toilette kam, sah ich ihn noch im Schrankzimmer. Wann er in das Wohnzimmer zurückkam, weiß ich nicht.“

 

Verteidiger Dr. Mamroth: Diese Aussage macht Irmgard zum ersten Male und hat sie in keiner früheren Vernehmung gesagt.

 

Vorsitzender: Sie ist vielleicht nicht so eingehend danach gefragt worden. (Zu Irmgard): Höre, kleine Irma, Du mußt uns aber die volle Wahrheit sagen. Wann ist Dir denn das alles eingefallen? Oder hat Dir jemand gesagt, Du sollst das aussagen? Zeugin (energisch): Nein . es ist mir im Sommer eingefallen. Auf wiederholtes Fragen erklärt die Zeugin: Ich habe das schon im Sommer der Tante Erna Lux erzählt, und sie hat mir gesagt, ich solle es nicht vergessen, heute zu sagen. Auf weitere Vorhaltungen bleibt Irmgard bei ihrer Aussage.

 

Der Angeklagte wird hereingerufen. Der Vorsitzende liest ihm die Aussage vor. Der Angeklagte folgt mit eiserner Ruhe und erklärt, er habe Irmgard die Tür geöffnet, sei aber nicht Irmgard gefolgt. Irmgard bleibt bei ihrer Bekundung, wobei sie dem Angeklagten den Rücken zudreht.

 

Angeklagter (in Erregung): Irmgard ist schon vor Jahren ein lügenhaftes und verstocktes Kind gewesen und hat der Großmutter 50 Mark gestohlen, die Tat erst nach einigen Tagen eingestanden.

 

Verteidiger Dr. Ablaß stellt nun den Antrag, das Gericht möge veranlassen, daß die Zeugin ihre Bekundung dem Angeklagten Aug´ in Auge wiederhole. Geheimrat Moll erklärt als Sachverständiger das größte Bedenken gegen eine solche Gegenüberstellung. Der Staatsanwalt bittet um Ablehnung des Antrages, da die Strafprozessordnung eine derartige Anforderung nicht stelle. Während dieser Gespräche bricht die kleine Irmgard in lebhaftes Weinen aus. Der Gerichtshof zieht sich zur Beratung zurück und verkündet, der Antrag der Verteidigung sei abgelehnt worden, da die Strafprozeßordnung zwar die Gegenüberstellung nicht verbiete, aber auch nicht anordne. Die Verteidigung beantragt Beweisführung für die Lügenhaftigkeit der Zeugin.

 

 

 

Freitag, 9. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Abend-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Die Geschworenen gegen den Vormundschaftsrichter.

Drahtmeldung unseres Sonderberichterstatters.

P. S. Hirschberg, 9. Dezember.

 

Die durch die Vernehmung der kleinen Irmgard Schade gestern hervorgerufene Ueberhitzung der Prozeßatmosphäre wird zunächst wieder etwas gemildert durch die Aussage der Frau Rittmeister Erna   L u x ,   die zugunsten ihrer kleinen Nichte aussagt. Sie habe das Kind jetzt in Pflege genommen und habe über keine Lügenhaftigkeit zu klagen. Die Angabe, daß Grupen hinter der Kleinen hergegangen und in das Schrankzimmer gefolgt sei, habe ihr Irmgard vor einigen Wochen gemacht, als die Ladung zum Prozeß eingegangen war. Sie habe darauf Irmgard gesagt, sie müsse das im Prozeß auch angeben.

 

Eben soll die zweite Teilnehmerin jener kritischen Szene  Fräulein   M o h r ,   vernommen werden, als - wie gewöhnlich in der Abendstunde - das elektrische Licht ausgeht. Lampen werden gebracht, und in dem kaum notdürftig erhellten Saale will man eine so wichtige Zeugin nicht vernehmen.

 

D e r   V o r m u n d s c h a f t s r i c h t e r   a l s   Z e u g e .

So wird als weiterer Zeuge der Amtsgerichtsrat   T h o m a s   aufgerufen, der als Vorsteher des Amtsgerichtes Lähn der Vormundschaftsrichter für Dorothea Rohrbeck war. Kaum betritt der kleine, noch jugendliche Herr den Raum, so ist die Luft wieder „dick“. Der Herr Amtsgerichtsrat mit dem blanken, nach hinten hochaufstrebenden Schädel, unter dem das Gesicht wie zusammengedrückt wirkt, findet eine Atmosphäre der lebhaftesten Antipathie. So wenig er mit der Tat in Beziehungen steht, so gilt er doch allgemein als in gewissem Sinne moralisch verantwortlich für die Verhältnisse, die die Tat ermöglichten. Denn ohne die Engherzigkeit des Vormundes, sagt man, hätte sich weder Fräulein Zahn noch Dorothea diesem Grupen anvertraut, der ihnen in ausgesprochener Notlage als einziger mit Geldmitteln zu Hilfe kam, und was der in Tempelhof wohnende Vormund engherzig vorschrieb, hat der in unmittelbarer Nachbarschaft wohnende Vormundschaftsrichter  stets gebilligt, ohne sich - was so leicht gewesen wäre - an Ort und Stelle von den Verhältnissen zu überzeugen.

 

Er muß das in seiner Vernehmung zugeben, wie er auch keinen Widerspruch erhebt, als Frl. Zahn ihm öfter vorhält, daß die Einkünfte der jungen Schloßherrin, die ein Vermögen von mehr als drei Millionen besaß, von anfangs 26 000 Mark (einschließlich der Gehälter und Naturalverpflegung) auf 1000 Mrk. monatlich und später auf 120 Mark, ja hundert Mark wöchentlich (ausschließlich der Gehälter und Naturalverpflegung) reduziert wurden. Als Fräulein Zahn anläßlich der Konfirmation bei ihm einen Zuschuß beantragte, gab er ihr den Rat, die Kleider für Dörthe aus den alten Anzügen des Vaters machen zu lassen und die seidenen Hemden des Verstorbenen zu Blusen zu verarbeiten, was ein Lachen der Entrüstung im Saale hervorruft.

 

Vors.: Der Vormund hat dann Frl. Zahn wiederholt gekündigt, obwohl in dem Testament stand, daß diese die Erziehung des Fräuleins bis zu ihrer Mündigkeit leiten soll. Glaubten denn der Vormund und Sie, daß Sie hierzu ein Recht hatten? - Zeuge: Das war jedenfalls die Ansicht des Vormundes und meine auch. - Vors.: Ihre Ansicht, aber die oberen Gerichte waren jedenfalls anderer Ansicht. (Heiterkeit, die der Vorsitzende rügt.) Weshalb wollte der Vormund Fräulein Zahn entlassen? - Zeuge: Er war der Ansicht, daß ihm Fräulein Zahn das Mündel entfremdete. - Vors.: Aber der Vormund hatte doch gar keine persönlichen Beziehungen zu Fräulein Rohrbeck. Er war doch nur ein früherer Jagdgast des Herrn Rohrbeck.

 

D i e   „ G e s c h i c h t e   m i t   d e n   d u m m e n   B ä u m e n “ .

Aber die Situation spitzt sich weiter zu, als der Zeuge erzählt: Kurz vor der Tat hatte der Vormund beantragt, einige alte morsche Kastanienbäume vor dem Herrenhause niederhauen zu lassen, wogegen Fräulein Dorothea Rohrbeck, die die alten Bäume liebte, Einspruch erhob. Der Vormund bestand darauf, weil er die Verantwortung für einen Unglücksfall nicht übernehmen konnte. Fräulein Rohrbeck hatte am Tage vor der Mordtat die Entscheidung des Vormundschaftsgerichts zugestellt erhalten. Als ich dann, sagt Zeuge, am Tage der Tat um 3 Uhr mit der Eisenbahn aus Hirschberg in Lähn ankam, wurde ich von Sanitätsrat Dr. Scholz und anderen abgeholt, die mich von dem Geschehenen unterrichteten. Ich eilte sofort zu dem Herrenhause, wo mir Fräulein Zahn entgegentrat. Ich fragte: Dörthe wird sich doch die Geschichte mit den dummen Bäumen nicht zu Herzen genommen haben? Ich zitterte an allen Gliedern, während Fräulein Zahn eine unglaubliche Ruhe bewahrte. Ich konnte ihr keine Erregung anmerken. Sie hat gelacht.

 

In diesem Augenblick geht eine allgemeine heftige Bewegung durch den ganzen Saal. Man sieht im Halbdämmer des Lampenlichts die schwarze Gestalt des Fräuleins Zahn sich erheben. Unter Schluchzen ruft sie aus: „Das ist zuviel, Herr Vorsitzender, das ist zuviel, das kann ich nicht ertragen!“

 

Auf Zureden des Vorsitzenden verläßt Fräulein Zahn in tiefer Erregung den Saal.

 

Ein Geschworener stellt die Frage: „Wie konnte der Zeuge glauben, Fräulein Dörthe habe sich wegen der Kastanienbäume das Leben genommen, wo er doch über den Tatbestand schon halbwegs unterrichtet war?“

 

Zeuge: Ich gebe zu, daß der Gedanke nicht sehr geistreiche war - er kam mir aber -

 

Verteidiger Dr.   A b l a ß :   Ich bedaure, daß Fräulein Zahn im Augenblick nicht anwesend ist, aber ich muß darauf zurückkommen, daß Fräulein Zahn von der Vormundschaft wegen ihres „taktlosen Verhaltens“ Vorwürfe gemacht worden sind. Der Ausdruck stammt nicht von mir. Er steht in den Akten.

 

Zeuge: Ich habe die Worte gebraucht. Ich hatte sie bei einem Zwischenfall angewandt, der sich nachher als ein Mißverständnis herausstellte. Taktlos fand ich es andererseits, daß Fräulein Zahn das Mündel über die vielfachen Differenzen, die zwischen Fräulein Zahn und den Vormündern bestanden, unterrichtete.

 

Vorsitzender (mit erhobenem Ton): Erlauben Sie, Herr Amtsgerichtsrat, Fräulein Zahn war die Vertraute Dorotheas. Mit wem sollte sie sich den aussprechen? Außerdem machte sie doch ihre Schritte bei den Vormündern im Interesse Dorotheas. Wollten Sie vorher wirklich sagen, daß Fräulein Zahn gelacht hat, oder wollten Sie nur sagen, daß Fräulein Zahn eine bewunderungswürdige Ruhe gezeigt hat?

 

Zeuge (zögert): Ich wollte sagen, daß ich nie eine Frau gesehen habe, die in einer solchen furchtbaren Situation eine solche Ruhe gezeigt hätte.

 

Vorsitzender: So - ich habe vorher nach dem Ton Ihrer Aussage die Empfindung gehabt, als wollten Sie an Fräulein Zahn eine üble Kritik üben.

 

E i n e   E r k l ä r u n g   d e r   G e s c h w o r e n e n .

Da geschieht das Außerordentliche: Ein Geschworener erhebt sich: Ich möchte im Namen der Geschworenen eine Erklärung abgegeben (große Bewegung im Saale): Im Namen der Geschworenen erkläre ich, daß wir uns dem Urteil des Herrn Vorsitzenden über die Aussage des Zeugen anschließen.

 

Kaum hat der Geschworene ausgeredet, so hat man das Gefühl, daß ein prozessuales Unglück passiert: Der Vorsitzende, sichtlich verlegen, will das Wort weiter an den Zeugen richten, da fällt ihm der Verteidiger Dr. Ablaß ins Wort: Ich stellen den Antrag, die Erklärung des Geschworenen zu Protokoll zu nehmen.

 

Der ganze Saal begreift: War die Erklärung des Geschworenen zulässig? Ist ein Revisionsgrund gegeben?

 

Der Präsident erhebt sich. Man sieht ihm an, welche Verantwortung in diesem Augenblick auf ihm liegt. Der Staatsanwalt, sonst oft ein Gegner des Vorsitzenden, sucht zwischen ihm und der Verteidigung zu vermitteln, die darauf besteht, daß die Erklärung zu Protokoll gegeben wird.

 

Der Gerichtshof erhebt sich, zieht sich zur Beratung zurück und hinterläßt den Saal in fieberhafter Aufregung.

 

Nach langer Beratung treten die Herren wieder ein. Der Vorsitzende richtet noch einmal das Wort an den Zeugen: Sie wollten, Herr Zeuge, nur ausdrücken, daß Sie eine Frau in einer so schweren Lage nie in so vollkommener Ruhe gesehen haben? Zeuge: Ja.

 

Vors.: Gut! Das Gericht hat zu Protokoll genommen: Einer der Geschworenen gibt eine Erklärung ab, die besagt, daß man auf der Geschworenenbank die Aussage des Zeugen als eine Kritik an dem Verhalten des Fräuleins Zahn angesehen habe. Der Zeuge hat wiederholt ausgesprochen, daß eine solche Kritik nicht in seiner Absicht lag. Die Geschworenen wurden nochmals von dieser Absicht des Zeugen unterrichtet.“

 

Damit ist wohl das Mißverständnis aufgehoben.

 

Man atmet auf in dem Gefühl, der Vorsitzende habe die Situation geschickt gerettet. Eine kurze, belanglose Zeugenvernehmung des Amtsvorstehers beschließt den aufregenden Akt.

 

 

 

Sonnabend, 10. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Fortsetzung der Beweisaufnahme.

P. S. Hirschberg, 9. Dezember.

 

Der heutige Vormittag war der Vernehmung der Zeugin Martha   M o h r   gewidmet, die im Dezember zu dem Angeklagten als Stütze nach Ottenbüttel gekommen war und zu ihm in intimen Beziehungen stand, auch die Nacht vor der Tat mit ihm verbrachte. Der Staatsanwalt beantragt, von einem Gutachten Molls unterstützt, die Entfernung des Angeklagten während der Vernehmung, da die Gefahr der Beeinflussung bestehe. Der Antrag wird abgelehnt. Die Vernehmung dieser neben der Schwiegermutter Frau Eckert wichtigsten Zeugin ergibt das Bild einer intellektuell beschränkten Person. Ihr Gedächtnis ist schwach, sie gerät oft in Widersprüche und erinnert sich erst nach wiederholten Vorhalten auf gewisse Einzelheiten. Nur an einem Punkt hält sie merkwürdigerweise sehr fest: daß der Angeklagte sich in der kritischen Stunde nicht aus dem Wohnzimmer entfernt habe. Es ist um so auffallender, als gerade in diesem Punkte vom Staatsanwalt eine Beeinflussung durch den Angeklagten angenommen wird.

 

Die Zeugin wird zunächst über die getötete Ursula befragt. Einen Revolver hat sie nie in Ursulas Händen gesehen. Ueber Frau Eckert sagt die Zeugin, Frau Eckert habe mal geäußert, Dorothea sei genauso verschwenderisch wir Fräulein Zahn, habe sich auch sonst gelegentlich über Dörthes mangelnde Liebe und über den kühlen Empfang beklagt. Frau Eckert hat auch gesagt, Herr Vielhack (der Vormund) hat recht gehabt, wenn er in einem Brief schrieb, die zwei Kleppelsdorfer würden ein Ende mit Schrecken nehmen, anders verdienten sie es nicht.

 

Vorsitzender: Fanden Sie diese Aeußerung nicht übertrieben - für den schlechten Empfang einer Großmutter gleich ein Ende mit Schrecken? Zeugin: Ich verstand die Aeußerung damals nicht. Vorsitzender: Hat Ihnen die kleine Ursula einen Brief an die Großmutter gegeben? Zeugin: Ja, aber am Abend kam sie und sagte, ich soll ihn erst am übernächsten Tage abgegeben. - Vorsitzender: Haben Sie dann das getan? - Zeugin: Nein, sie kam am Abend wieder und sagte, ich solle ihn erst am übernächsten Tage geben. Ich habe sie dann gefragt, warum sie ihn nicht selbst abgebe. Sie war ganz vergnügt und sagte, es sei eine Ueberraschung für Großmutter. Nach drei Tagen gab ich ihr den Brief zurück. Vorsitzender: Hat der Angeklagte was von dem Brief gewußt? Zeugin: Er hat den Brief in meiner Handtasche gesehen; ich sagte ihm, es sei ein Brief Ursulas, eine Ueberraschung für die Großmutter. Der Angeklagte hat den Brief sich nicht angesehen. Vorsitzender (den Brief zeigend): Ist dieser Brief, der bei Ursula gefunden wurde, derselbe - wie der, den Ursula Ihnen gegeben hat? Zeugin: Ja. - Die Besprechung der Vorgänge in der Nacht vor dem Mordtage, die der Angeklagte mit der Zeugin und Ursula verbrachte, wird bis zur Wiederausschließung der Oeffentlichkeit vertagt. 

 

Das Gespräch wendet sich jetzt dem Tage der Tat zu. Martha Mohr schildert zunächst die Vorgänge am Tage in der bekannten Weise. Ursula verließ, ohne ein Wort zu sagen und ohne vom Angeklagten aufgefordert zu sein, das Zimmer. Daß Ursula Dörthe herausgerufen hat, hat sie nicht bemerkt. Dann haben wir Mühle gespielt, Irmgard und ich gegen Grupen. Später haben wir Aepfel gegessen. Irmgard sollte die Ueberreste in die Toilette werfen. Vorsitzender: Ist der Angeklagte hinter ihr hergegangen? - Zeugin: Nein. - Vorsitzender: Hat er ihr die Tür geöffnet? - Zeugin: Nein. Er saß und spielte mit mir. - Vorsitzender: Aber der Angeklagte sagt doch selbst, daß er Irmgard die Tür geöffnet hat. - Zeugin: Davon weiß ich nichts. Irma brachte den verfaulten Apfel zurück, weil er zu groß für das Abflußrohr war. Darauf stand der Angeklagte auf und warf den Apfel in den Ofen.

 

Vorsitzender: Das ist vollkommen neu. Ist der Angeklagte im Zimmer auf und ab gegangen? - Zeugin: Nein. - Staatsanwalt: Hat der Angeklagte nicht auch das Nebenzimmer betreten? - Zeugin: Nein. - Staatsanwalt: Aber hat der Angeklagte nicht Apfelsinen ins Nebenzimmer gebracht? - Zeugin: Das kann sein. - Staatsanwalt: Dann muß er doch mal vom Spiel aufgestanden sein. - Verteidiger Dr. Ablaß: Hat Grupen während dieser Stunde das Zimmer verlassen? - Zeugin: Nein. - Vorsitzender: Können Sie das, was Sie bisher immer behauptet haben, auch heute beschwören. - Zeugin: Ja.

 

Dr. Moll: Haben Sie eine Unterhaltung von dem Angeklagten mit Frl. Zahn gehört? - Zeugin: Nein. - Sachverständiger: Erinnern Sie sich, daß der Angeklagte Frl. Zahn gefragt hat, was auf plattdeutsch „Küßchen“ heißt? - Zeugin: Ja. (Bewegung.)

 

Vorsitzender: Zeugin: Sie müssen hier die volle Wahrheit sagen. Sie haben in der Voruntersuchung gesagt: Sie glauben alles, was Grupen sagt. Sie müssen hier die volle Wahrheit sagen. Hat der Angeklagte nach der Auffindung der Leichen nicht gesagt: „Es war gut, daß wir oben zusammen waren?“ - Zeugin: Nein. - Vors.: Eine andere Zeugin kann es aber bestätigen. - Zeugin (zögernd): Es kann sein. - Vors.: Nach der Tat, als Sie mit dem Angeklagten und Frau Eckert zusammen waren, wurde da von der Erbschaft gesprochen? - Zeugin: Nein. - Vors.: Als der Angeklagte abgeführt wurde, hat er nicht gesagt: „Wenn Ihr aussagt, daß ich oben war, wird meine Unschuld bald herauskommen.“? - Zeugin: Nein, ich soll vor allen Dingen die Wahrheit sagen, dann werde sich seine Unschuld schon herausstellen.

 

Vorsitzender: Zeugin, überlegen Sie sich genau: Als der Angeklagte nach Hirschberg geschafft wurde, hat man da geweint? - Zeugin: Ja. - Vors.: Hat der Angeklagte mit Ihnen gesprochen? - Zeugin: Nein. - Vors.: Aber erinnern Sie sich nicht, daß der Landjäger die Unterhaltung verbot? - Zeugin: Nein. - Vors.: Hat er nicht etwas plattdeutsch zu Ihnen gesagt? - Zeugin (zögernd): Ja - es ist möglich, daß er da gesagt hat, ich solle bei der Wahrheit bleiben. - Vors.: Wie heißt denn das auf plattdeutsch? - Zeugin: Bliew bi die Wahrheit, dann wird sich meine Unschuld schon herausstellen. - Vors.: Das hätte der Landjäger und die Großmutter auch verstanden, die ausdrücklich sagen, sie hätten es nicht verstanden.

 

Staatsanwalt: Hat sich die Frau Eckert über die Erbschaft geäußert? Zeugin: Ja, Frau Eckert hat gesagt, sie sei jetzt Millionenerbin. Vorsitzender: Ist noch mehr über die Erbschaft gesprochen worden? Zeugin: Ich habe nicht alles gehört. Vorsitzender: Zeugin, ich habe Sie doch schon vorhin gefragt, ob Sie etwas über das Erbschaftsgespräch wüßten, und Sie haben geantwortet: Nein. - Zeugin: schweigt. - Der Staatsanwalt fragt den Angeklagten, was er damals plattdeutsch gesagt habe. - Der Angeklagte sagt etwas, was vollständig unverständlich bleibt.

 

Als Zeuge wird der Vormund Dörthes,   V i e l h a c k ,   ein stattlicher Herr von 65 Jahren, aufgerufen. Die Beziehungen zwischen dem Zeugen und Dörthes Vater waren nur jagdfreundlicher Natur. Ich selbst war sehr überrascht, daß Rohrbeck mich zum Vormund seiner Tochter gemacht hatte. Ich erfuhr es erst von Fräulein Zahn, als ich von ihr zu dem kranken Herrn Rohrbeck gerufen wurde. Ich wußte, Herr Rohrbeck wünschte nicht, daß seine Tochter von seinen Verwandten erzogen würde, insbesondere nicht von seiner Schwägerin Frau Schade (der späteren Frau des Angeklagten). Vor dem Besuch bat mich Fräulein Zahn, ich möchte bei Herrn Rohrbeck dafür sprechen, daß sie testamentarisch zur Erzieherin seiner Tochter bestellt würde. Ich selbst erkannte, daß es für mich praktisch war, wenn Fräulein Zahn die Erziehung behielte. In diesem Sinne sprach ich kurz vor dem Tode mit Rohrbeck, der einen entsprechenden Nachsatz in dem Testament machte. Der Zeuge gibt nun in militärischem Tone die Einzelheiten der Wirtschaftsführung an. Fräulein Zahn sei mit dem Gelde nichts ausgekommen.

 

Vorsitzender: Es ist doch aber alles so viel teurer geworden. - Zeuge: Wir müssen uns alle einschränken. Ich habe dann den Eindruck gehabt, daß es für Dörthe besser war, in eine Pension zu gehen. - Vorsitzender: Aber Fräulein Zahn war doch testamentarisch zur Erzieherin bestellt worden? - Zeuge: Ich hatte den Eindruck, daß Fräulein Zahn mir Dörthe fernhielt. Sie hielt es nicht für nötig, Dörthe meiner Frau vorzustellen. - Vorsitzender: Die Unterlassung der Vorstellung konnte doch kein Grund sein, Fräulein Zahn zu kündigen.

 

Zeuge: Ich habe auch sonst Ungünstiges über Fräulein Zahn gehört. Da ich direkt keine Nachricht bekam, verständigte ich mich mit einem Fräulein Christians, das ein Vierteljahr Lehrerin in Kleppelsdorf war. Sie hat mir gesagt, daß bei einem gemeinsamen Spaziergang das Kind hinterher gegangen sei, und als Fräulein Christians das rügte, habe Fräulein Zahn gesagt: „Lassen Sie doch - das Kind grübeln.“ - Vorsitzender: Und das machen Sie Fräulein Zahn zum Vorwurf! Das ist doch Klatsch. Was haben Sie weiter erfahren? - Zeuge: Dörthe Rohrbeck hat über den Tod des Leutnants Matthäi geweint - sie soll sogar mit ihm verlobt gewesen sein, und das war mir ein Beweis   g e g e n   die Erziehung des Fräuleins Zahn. Denn sie hätte es nicht zulassen dürfen, daß ein Kind einer so leidenschaftlichen Mutter, das eine so leidenschaftliche Tante hatte, sich verlobt.

 

 

 

Sonnabend, 10. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Abend-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Vernehmung der Großmutter, Frau Eckert.

Drahtmeldung unseres Sonderberichterstatters.

P. S. Hirschberg, 10. Dezember.

 

Vor der für den Prozeß so entscheidenden Vernehmung der Großmutter Eckert, die heute stattfinden soll, gab es gestern Abend wie zum Aufatmen noch einige Zeugenaussagen, über die zu lachen erlaubt war. Fräulein   S e i d e l   aus Berlin, die Altersgefährtin Dorotheas, steht hübsch und schlank vor dem Richter. Sie hat, während Dörthe sich mit Grupen in Berlin aufhielt, Dörthe Gesellschaft geleistet. Ein bißchen sehr fein und geziert im Ton: und dann gingen wir zu Dressel. Wir setzten uns in die Mitte des Restaurants. Plötzlich stand der Angeklagte auf und sagte, er habe seine Frau vorbeigehen sehen. Er gab uns 150 Mark und ging weg.

 

Vorsitzender: Und was machten Sie? Zeugin: Der Wein war eben eingegossen und wir hatten das Essen bestellt. Dann zahlten wir. Die Rechnung betrug 156 M. Ich hatte noch 6 Mark bei mir, und so konnten wir kein Trinkgeld geben. Rechtsanwalt Mamroth (vor sich hin): Rebbich. Vorsitzender: Der Angeklagte wollte Sie auch als Sekretärin engagieren. Zeugin: Ja, als Privatsekretärin für 750 Mark monatlich nach Hamburg. Vorsitzender (schüttelt den Kopf): Es ist doch sehr merkwürdig, daß er Sie engagieren wollte . . . Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten. Aber Sie sind doch ein junges Mädchen, und er kannte doch gar nicht Ihre Fähigkeiten. Zeugin (sehr selbstbewußt): Ich habe die Handelsschule absolviert, kann Französisch, Deutsch, Englisch, Schreibmaschine, Stenographie, Handelskorrespondenz, einfache Buchführung, doppelte Buchführung, amerikanische Buchführung (das Publikum bricht in helles Lachen aus). Vorsitzender (vergnügt lächelnd): Das genügt.

 

Es kommen die Schwester und Mutter der Martha Mohr, die die Geliebte des Angeklagten war, vor den Richtertisch. Beide geben ein sehr günstiges Zeugnis für den Angeklagten ab. Frau Mohr sagt, ihr Mann hätte nur ungern die Tochter zu Grupen in den Dienst gegeben, weil sie es eigentlich nicht nötig hatten. Vorsitzender: Hätten Sie denn Ihre Tochter dem Grupen, von dem Sie so viel halten, auch zur Frau gegeben? Frau Mohr (mit dem Selbstbewußtsein einer niedersächsischen Bäuerin): Nee, für die hatte ick schon wat anderst.

 

Der Bruder des verstorbenen Herrn   R o h r b e c k   wird nun als Zeuge vernommen. Dörthe war bei ihm zu Besuch, als sie zum ersten Male von Itzehoe zurückkam. Sie hatte neue Stiefel an und erzählte von Grupen: Der neue Onkel sei sehr gut, er habe ihr gleich ein Paar Stiefel gekauft. Vorsitzender: Was haben Sie darauf erwidert? Zeuge: Das ist ein sehr netter Onkel. Vorsitzender: Das sagen Sie in ironischem Tone. Hätten Sie Dörthe nicht auch ein Paar neue Stiefel gekauft? Zeuge: I wo, Dörthe war doch viel reicher als ich.

 

Der Vorsitzende fragt den Angeklagten, warum er in Kleppelsdorf geblieben sei, wo er doch gemerkt habe, daß der Empfang so kühl war. Warum sind Sie nicht abgereist? Angeklagter (in Erregung geratend): Aber ich war doch zu Besuch. Vorsitzender: Aber erlauben Sie, Sie haben sich doch selbst angemeldet. Wollten Sie denn warten, bis Sie rausgeschmissen werden? Angeklagter (mit erhobener Stimme): Ich wollte, ich wäre rausgeschmissen worden, dann säße ich heute nicht auf der Anklagebank. (Bewegung.)

 

Zum Schluß des gestrigen Abends wurde eine Lehrerin der getöteten Ursula vernommen, bei der diese von Ostern bis Michaelis 1920 in der Schule war. Sie hat Ursula immer als ein sehr nettes, zartes und gefügiges Kind kennengelernt. Nach der Mordtat sei ihr von Mitschülerinnen erzählt worden, daß Ursula einmal nach der Schule, in der von Hypnotisieren die Rede war, gesagt hatte, ihre Mutter kenne einen Mann, der einen so scharfen Blick habe, daß man alles tun müsse, was er wolle. Eine Adresse dieses Mannes hat Ursula nicht angegeben. Die Angaben der Mädchen über diesen Ausspruch sind ganz bestimmt, aber sie konnten des näheren nicht nachgeprüft werden. Die Lehrerin hält es für völlig ausgeschlossen, daß Ursula die Tat begangen haben kann.

 

Große Heiterkeit erweckte eine Zeugin, die sich freiwillig vor dem Untersuchungsrichter gemeldet hatte und die klein, dick und puterrot vor Gericht erschien. Da sie absolut nichts auszusagen wußte, bat sie schließlich den Vorsitzenden, ihr zu sagen, was sie denn in der Voruntersuchung angegeben habe. Als der Vorsitzende ihrem Gedächtnis nachhalf, begann sie immer mit: Man hat mir erzählt - ich hörte - man sagt -. Vorsitzender: Sie dürfen hier nicht sagen, was man Ihnen erzählt hat, sondern Sie sollen sagen, was Sie aus eigener Kenntnis wissen oder gesehen haben. Die Zeugin schweigt. Vorsitzender: Wissen Sie denn gar nichts aus eigener Kenntnis? Zeugin: Nein! Vorsitzender: Dann danken wir Ihnen, daß Sie erschienen sind. Wir können Sie, glaube ich, definitiv entlassen. Und (mit einem Rundblick auf den bewilligenden Staatsanwalt und die Verteidiger) ruft er ihr nach: Und Sie brauchen nicht wiederzukommen; was im Saale stürmische Heiterkeit erregte.

 

*

 

Der heutige sechste Verhandlungstag beginnt mit der Erklärung des Vorsitzenden, daß am Montag vermutlich während des ganzen Tages die Oeffentlichkeit ausgeschlossen werden würde. Dann erfolgt die Vernehmung der Großmutter, Frau   E c k e r t ,   einer kleinen, mageren Greisin von 75 Jahren, die ihre Aussagen klar und deutlich macht.

 

Vorsitzender: Sind Sie die Schwiegermutter des Angeklagten? Zeugin: Ja, leider. Vorsitzender: Sie brauchen nicht auszusagen, wenn Sie nicht wollen. Zeugin: Ich will aussagen. Nachdem Fräulein Zahn ins Haus gekommen war, ist mir die Liebe Dörthes entfremdet worden. Ich habe um ihre Liebe geworben, aber Fräulein Zahn hat Dörthe mehr ihren eigenen Verwandten zugeführt. Vorsitzender: Wie standen Sie denn mit Ihrer zweiten Tochter, der späteren Frau Grupen? Zeugin: Zuerst ganz gut. Nach dem Tode des ersten Mannes hatte sie ein Verhältnis mit dem Seifenfabrikanten Schulz aus Perleberg. Vorsitzender: Hatte sie nicht schon vor dem Tode ein Verhältnis mit ihm? Zeugin: Ich weiß nichts davon. Später zog sie nach Berlin, sie verlobte sich mit dem Staatsveterinär Reske, dessen Tochter aus erster Ehe sie sofort zu sich nahm. Der Reske wollte sich in Bosdorf eine Villa kaufen, wozu ich das Geld gegeben habe, und ich habe ein daneben liegendes Bauernhaus für mich gekauft.

 

Vorsitzender: Haben Sie nicht Ihr ganzes Vermögen Ihrer Tochter geben wollen? Zeugin: Ja. Aber Grupen sagte, es sei nicht zulässig. Vorsitzender: Dann starb Reske? Zeugin: Ja, nach vier Jahren und ich verkaufte die Grundstücke in Bosdorf und kaufte ein Grundstück in Itzehoe. Vorsitzender: Ihre Tochter hat doch den Angeklagten durch eine Heiratsannonce kennen gelernt? Zeugin: Ja, ich habe das aber nicht gewußt. Vorsitzender: Ist Ihnen das nicht aufgefallen, daß der Angeklagte viel jünger war als Ihre Tochter? Zeugin: Das ist mir nicht so aufgefallen. Vorsitzender: Aber war es nicht auffallend, daß er eine Frau mit drei Kindern heiratete? Zeugin: Das wurde ihm hoch angerechnet. Vorsitzender: Wie gefiel Ihnen der Angeklagte? Zeugin: Er war sehr nett. Ich zog zu ihm in den oberen Stock des Hauses. Das Verhältnis war zuerst sehr gut, später gab es Differenzen. Vorsitzender: Wie war das Verhältnis zu den Kindern, wie war die kleine Ursula? Zeugin: Ganz gut. Ursel war damals ein vergnügtes und normales Kind. Viel ausgesprochen hat sie sich nicht. Aber sie war gut und gefällig. Der Verlust des Vaters hat sie sehr mitgenommen.

 

Vorsitzender: Nach einer Weile kamen Frl. Zahn und Dörthe nach Itzehoe zu Besuch. - Zeugin: Ja, auf einer Familienreise. Ich war sehr erfreut, aber sie wollten am nächsten Tag nach Hamburg, um sich zu amüsieren. - Vorsitzender: Sie haben damals einen Brief an das Vormundschaftsgericht gerichtet, indem Sie sich ungünstig über die Erziehung von Frl. Zahn äußerten. - Zeugin: Ja, ich habe das tun sollen. Der Angeklagte hat mir das aufgetragen. - Vorsitzender: Aber Sie haben diese Beschwerde später widerrufen. - Zeugin: Ja.

 

Rechtsanwalt Ablaß: Haben Sie nun diesen Widerruf gegen Ihre Ueberzeugung auf Veranlassung des Angeklagten gemacht? - Zeugin: Ja, es ist mir nachher eingefallen, daß es unrecht war, und ich habe es bitter bereut.

 

Vorsitzender: Später hat der Angeklagte einen Gegenbesuch in Kleppelsdorf gemacht. Zeugin: Es handelte sich nicht um einen Gegenbesuch, er hatte Geld dorthin gebracht.

 

Vorsitzender: Dann kam er zurück. Ich komme nun zum Verschwinden Ihrer Tochter. Was geschah denn nun, nach seiner Rückkehr, beim Notar? Zeugin: Ich konnte doch nicht die Papiere, die ich hatte, selbst verwalten, und hatte ihm Generalvollmacht gegeben. Nun wollte Grupen, daß ich, wie meine Tochter es auch tat, meine Hypothek auf die Perleberger Apotheke auf sie übertragen. Vorsitzender: Warum taten Sie denn das? Zeugin: Ja, das war doch eben meine Dummheit. Zwei Tage später erklärte meine Tochter persönlich, sie wolle nach Kleppelsdorf. Ich verstand das gar nicht, weil die Kinder doch nicht in Ordnung waren. Sie verabschiedete sich dann gar nicht, als ob sie auf eine lange Reise gehen wollte, auch von den Kindern nicht sehr herzlich. Sie nahm nur einen Handkoffer mit, ihre Kleider waren auch nicht für eine weite Reise.

 

Vorsitzender: Der Angeklagte begleitete Ihre Tochter, und dann kam er zurück. Zeugin: Er sagte, in dem Koffer sei Wäsche, die nach Hamburg geschickt werden solle. Aber meine Tochter schickte die Wäsche immer nach Neumünster. Ich telephonierte und telegraphierte nach Kleppelsdorf, wo ich zu meinem Schrecken hörte, daß meine Tochter gar nicht angekommen sei. Dann fuhr der Angeklagte nach Kleppelsdorf. Vorsitzender: Sie wußten doch nicht, daß Ihre Tochter angeblich nach Amerika gegangen sei. Zeugin: Nein.

 

Vorsitzender (zum Angeklagten): Aber Sie hatten doch die Abschiedsbriefe Ihrer Frau schon gelesen. Angeklagter: Ja, ich wollte eben Dorothea als Trost für die Großmutter haben, wenn ich ihr die Abreise ihrer Tochter mitteilte.

 

Vorsitzender: Dann kam er mit Dorothea zurück? Zeugin: Ja, und dann las er mir die Abschiedsbriefe vor und ich glaubte wirklich, daß meine Tochter nach Amerika gegangen sei. Vorsitzender: Haben Sie denn nichts getan, um Ihre Tochter zu suchen? Zeugin: Der Angeklagte hat mir gesagt, er habe einen Hamburger Detektiv beauftragt. Der habe gemeldet, meine Tochter sei mit einem reichen Herrn durchgegangen und es gehe ihr sehr gut. Außerdem erzählte er mir sehr Schlechtes über meine Tochter.

 

Vorsitzender: Nun kommt die gemeinsame Reise nach Kleppelsdorf. Zeugin: Ich reiste erst nicht gerne, mitten im Winter, aber der Angeklagte überredete mich. Ich richtete mich auf acht Tage ein. Unterwegs sagte er mir: „Wir können ja sagen, wir kommen, weil wir von Ottenbüttel wegziehen.“ Vorsitzender: War die Möglichkeit vorhanden, daß Ursel den Revolver mitgenommen hat? Zeugin: Nein. Ich habe sie nie mit einer Waffe gesehen; sie konnte meines Wissens auch nicht schießen. Vorsitzender: Aber haben Sie den Revolver bei dem Angeklagten gesehen? Zeugin: Ja, er lag in der offenen Schreibtischschublade. Der Angeklagte hatte ihn kurz vorher angeblich für seinen Bruder gekauft.

 

Vorsitzender: Haben Sie einmal geäußert, es werde in Kleppelsdorf ein Ende mit Schrecken nehmen? Zeugin: Ich besinne mich nicht. - Ein Geschworener: Ich bitte den Angeklagten nach dem Namen des Detektivs zu befragen, bei dem er Schritte unternommen hat. Angeklagter: Ich habe keinen Detektiv beauftrag. Ich habe das nur so gesagt, um meine Schwiegermutter zu beruhigen.

 

 

 

Sonntag, 11. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Wichtige Aussagen der Zeugin Frau Eckert.

Drahtmeldung unseres Sonderberichterstatters.

P. S. Hirschberg, 10. Dezember.

 

In der weiteren Vernehmung der Frau   E c k e r t ,   der Großmutter der getöteten Kinder, entspinnt sich eine wichtige Debatte über den Brief, den Ursula an eine Frau Bartels in Itzehoe geschrieben hat. Ursula hatte den Brief ursprünglich auf Veranlassung der Großmutter verfaßt, weinte aber später, als sie den Brief noch einmal schreiben sollte. Das Konzept des Briefes ist später in der Hosentasche des Angeklagten gefunden worden; die Staatsanwaltschaft nimmt an, daß der Angeklagte den Brief noch einmal schreiben ließ, um für die Fälschung des Abschiedsbriefes an „Großmutti“ ein Modell zu haben. Der Angeklagte hatte bisher immer gesagt, Ursula habe auf Anordnung der   G r o ß m u t t e r   den Brief noch einmal geschrieben. Dies bestreitet heute Frau Eckert aufs entschiedenste. Ursula habe geweint, weil sie den Brief noch einmal schreiben mußte. Aber wer das angeordnet hat, weiß Frau Eckert nicht. Ueber das Verhältnis Ursulas zu dem Angeklagten sagt sie: „Sie liebte ihn sehr, sie war sehr anhänglich an ihn geworden, half ihm beim An- und Ausziehen und war sonderbar traurig, wenn er nicht anwesend war. Frau Eckert schildert dann die Vorgänge in der kritischen Stunde zunächst in der bekannten Weise.

 

Vorsitzender: Haben sie bemerkt, daß Irmgard mit den Apfelresten das Zimmer verlassen hat? Zeugin: Nein, ich habe nur gesehen, daß sie die Apfelreste in den Ofen geworfen hat, oder mir war doch so. Vorsitzender: Daß Irmgard aus dem Zimmer gegangen ist, wissen Sie nicht? Zeugin: Nein, das habe ich nicht bemerkt. (Bewegung im Publikum, weil ja Irmgard und der Angeklagte selbst angeben, daß Irmgard das Zimmer verlassen hat, und man erstaunt darüber ist, daß die Großmutter das nicht bemerkt haben soll.)

 

Vorsitzender: Waren Sie vielleicht ein bißchen eingeschlafen? Zeugin: Das ist wohl möglich. Ich saß da und häkelte, und dabei schläft man ja wohl mal ein, wenn man ein alter Mensch ist. Vorsitzender: Und wo war der Angeklagte? Zeugin: Er ging im Zimmer auf und ab. Während dieser Zeit, weiß ich, haben Irmgard und Martha Mühle gespielt. Dann glaubte ich, daß er Irmgard sagte, wohin sie die Apfelreste werfen sollte. Jedenfalls habe ich ihn dann eine Weile  nicht gesehen. Nachher saß er wieder auf seinem Stuhl. Vorsitzender: Kann er sich auch aus dem Zimmer entfernt haben? Zeugin: Ich habe es nicht gesehen, aber ich weiß genau, daß ich ihn für eine Weile aus den Augen verloren habe.

 

Vorsitzender: Wie lange kann er abwesend gewesen sein? Zeugin: Einige Minuten kann es gewesen sein. Ich weiß nur, daß inzwischen Irmgard und Fräulein Mohr zusammen Mühle spielten. Nachher saß er wieder da. Vorsitzender: Glauben Sie, daß die Zeit ausreichte, um bis zu dem Mordzimmer zu gelangen und vor dort zurückzukommen? Zeugin: Nachdem die Versuche neulich in Kleppelsdorf gemacht worden sind, und man festgestellt hat, daß zu dem Wege nur 59 Sekunden gebraucht werden, habe ich das Gefühl gehabt: ein paar Minuten kann er weg gewesen sein. (Bewegung.)

 

Vorsitzender: Wie Sie nun nach der Tat den Brief von Ursula in die Hand bekommen haben, was haben Sie gedacht? Zeugin: Ich war ganz sprachlos. Zuerst glaubte ich das, was in dem Brief stand, und hielt Ursula für die Mörderin. Aber ich bin dann zu der festen Ueberzeugung gekommen, daß es Ursula gar nicht gewesen sein kann. Sie war ja viel zu schwach, sie konnte keine Wasserkanne aufheben. Vorsitzender: Hat nicht der Angeklagte nachher gesagt, es sei seine Waffe? Zeugin: Ja. Vorsitzender: Haben Sie ihn dann getröstet? Zeugin: Er warf sich über die Ursel und rief: „Mach´ doch die Augen auf und sage, wer es gewesen ist!“ - Und da habe ich ihn vielleicht getröstet und gesagt: „Aber Du bist doch unschuldig!“

 

Verteidiger Mamroth hält der Zeugin vor, daß sie am Tage nach dem Mord bei ihrer Vernehmung angegeben habe, daß sie beschwören könne, Grupen habe am Vormittag das Zimmer nicht verlassen. Zeugin: Ja, ich war auch überzeugt. Aber jetzt glaube ich, daß ich mich damals einer Täuschung hingegeben habe. Es wird ein Brief verlesen, den Frau Eckert am nächsten Tage an den Bruder Grupens geschrieben hat, worin sie ihm von dem Unglück Miteilung machte und ihn zugleich um etwas Geld bat. In dem Brief schrieb sie: „Zum Glück war Peter (Grupen) die ganze Zeit bei uns oben, also muß sich doch seine Unschuld herausstellen.“ Es wird aber festgestellt, daß Frau Eckert bereits Ende Februar in einer Vernehmung von der Möglichkeit einer Entfernung des Angeklagten gesprochen hat.

 

Vorsitzender: Hat der Angeklagte, als er weggeführt wurde, gesagt: Bleibt bei Eurer Aussage! Zeugin: Er hat gesagt: Wenn Ihr bei Eurer Aussage bleibt, bin ich morgen wieder frei.

 

Dann wird versucht, die Vermögensverhältnisse des Angeklagten klarzumachen. Zeugin: Ich habe nicht darüber nachgedacht, wie er Geld verdiente. Angeblich hatte er einen Kompagnon, mit dem er Baugeschäfte machte. Im übrigen hatte er Verfügung über unser Vermögen. Einmal hat er meine Brillantbrosche nach Hamburg mit meiner Erlaubnis mitgenommen, sie zu verkaufen. Er tat das nicht. Später behauptete er, meine Tochter hätte die Brillanten mit nach Amerika genommen. In Wirklichkeit waren die Schmuckstücke in Hamburg versetzt worden. Außerdem soll meine Tochter 70.000 Mark mit nach Amerika genommen haben. Als ich in Sorge um meine Zukunft war, sagte er mir, er habe schon eine Viertel Million Mark vermögen, und er habe ein Testament zugunsten von mir und meinen Enkelkindern gemacht.

 

Staatsanwalt: Hat der Angeklagte je ein Testament gemacht? Angeklagter: Ja, zugunsten meiner Frau und meiner Kinder.

 

Die weitere Vernehmung der Zeugin Eckert wird Montag unter Ausschluß der Oeffentlichkeit fortgesetzt werden.

 

Mit dieser Vernehmung ist der Gipfelpunkte des Prozesses überschritten. Indes wird es vermutlich Freitag oder Sonnabend werden, bevor das Urteil gesprochen werden wird.

 

 

 

Montag, 12. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Abend-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Drahtbericht der „Vossischen Zeitung“.

P. S. Hirschberg, 12. Dezember.

 

Bei der heute fortgesetzten Zeugenvernehmung bekundet Frau Oberst   S e m m e r a c k ,   daß Dörthe das Muster eines wohlerzogenen Mädchens war. Die Neigung zu dem gefallenen Leutnant Matthai war lediglich eine Mädchenschwärmerei.

 

Rittmeister   L u x   berichtet von dem psychologischen Experiment, das er mit Frau Eckert nach dem Morde angestellt hat. Während Frau Eckert in dem gewohnte Stuhl im Wohnzimmer genau wie am Tage des Mordes halb häkelte, halb nickte, entfernte er sich aus dem Zimmer. Er brauchte zu dem Wege ins Mordzimmer 50 Sekunden. Seine Abwesenheit war von Frau Eckert nicht bemerkt worden. Von Frau Grupen gewann er aus persönlicher Beobachtung den Eindruck, daß sie an ihren Kindern sehr hing.

 

Dem Gutsverwalter   S c h ü p k e   hat der Angeklagte drei Tage vor der Tat erklärt, er interessiere sich für Schießsport und sei ein ausgezeichneter Schütze. Auf die Frage: Dann schieße er wohl wie der Kaiser mit einem Arm? hatte Grupen geantwortet: „Vielleicht noch besser.“

 

Gasanstaltsdirektor   W r o b e l   aus Hirschberg, der von der Staatsanwaltschaft zu hypnotischen Experimenten an den Prozeßbeteiligten herangezogen war, als Sachverständiger zu Beginn der Verhandlung aber abgelehnt wurde, bekundet als Zeuge, daß Frau Eckert und Irmgard leicht zu beeinflussen waren.

 

 

 

Dienstag, 12. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Drahtmeldung unseres Sonderberichterstatters.

P. S. Hirschberg, 12. Dezember.

 

Heute morgen flüsterte man sich zu, es sei ein Telegramm aus der Schweiz eingetroffen; Frau Grupen lebe dort als eine internationale Kokotte und versorge mit den Ueberflüssen ihrer Einkünfte - dank der Valuta - ihren Gatten. Man stürzte zum Staatsanwalt, der lächelnd zugab, ein Telegramm dieses Inhalts erhalten zu haben - aber der Absender habe ausdrücklich bemerkt, er habe seine Kenntnis aus spiritistischen Kreisen. Uebrigens laufen stündlich massenhaft Schreiben der konfusesten Art beim Gericht ein. Der Vorsitzende sagte mit heiterer Verzweiflung: „Die Irrsinnigen fangen schon an, Briefe an uns zu schreiben.“ Ein Telegramm läuft ein: „Kann nach der Handschrift männliches und weibliches Geschlecht unterscheiden.“

 

*

 

Ein prachtvolles Quartett: Der Vorsitzende, der Staatsanwalt und die beiden Verteidiger.

 

Dieser Vorsitzende verdient besonders den Dank aller. Er war bisher Staatsanwalt, es ist die erste große Verhandlung, die er in seinem Leben leitet und man sagt, er stünde vor einer großen Beförderung. Es wäre ihm zu wünschen, daß sie ihn nach Berlin führte. Denn dieser Oberlandesgerichtsrat ist nicht nur Jurist, er ist ein Mensch. Dem bleichen, scharfen und eckig geschnittenen Gesicht merkt man nicht sogleich die große geistige Beweglichkeit, die schmiegsame, auf feinster Seelenkenntnis beruhende Fähigkeit an, Menschen zu behandeln. Es ist ein Genuß, ihn mit Kindern sprechen zu hören; aber aus seiner langen Staatsanwaltpraxis hat er sich auch eine Waffe mitgebracht: eine Ironie von tödlicher Wirkung. Und dennoch - als er sie mit so unfehlbarem Geschick gegen den Vormund Dörthes anwendete, - da steckte doch eben Herz und nichts als das dahinter: lebendigstes Gefühl für das arme, liebliche Opfer, von dem mir heute einer, der Dörthe gut kannte, sagte: Ich bin ein geschworener Junggeselle, aber die hätte ich geheiratet …

 

Auch der Staatsanwalt, er ist ja eigentlich schon Oberstaatsanwalt in Köln, ist der liebenswürdigste Vertreter seines Faches. Sogar die kleinen Zwischenfälle zwischen ihm und dem Vorsitzenden haben aufgehört und im Verein mit den beiden Meistern der Kriminalverteidigung Ablaß und Mamroth ist ein stilles und höfliches Strafkammerspiel mit dem Ziele der Wahrheitsermittlung geworden.

 

Was nicht hindert, daß die Zeugen anfangen, langweilig zu werden. Nur der Gasanstaltsdirektor Wrobel brachte seinem Beruf gemäß einige humoristische Glanzlichter auf. Er ist der gesellschaftliche Hypnotiseur von Hirschberg und hat mit den Beteiligten allerhand Versuche angestellt. Er hat das Unglück, daß Geheimrat Moll im Saal sitzt, der mit einigen wissenschaftlichen Fragen dieses Licht Hirschbergs ausdrehte. Hoffentlich widmet sich der Herr Wrobel in Zukunft mehr seiner Gasanstalt, was um so wichtiger ist, als das elektrische Licht sowie jeden Abend um ½ 7 Uhr versagt.

 

*

 

In der weiteren Verhandlung wendet sich die Beweisaufnahme unter Ausschluß der Oeffentlichkeit dem angeblichen Sittlichkeitsverbrechen an Grupens Stieftochter Ursula zu. Hierüber wird zunächst Frau   E c k e r t   vernommen. Die Ursula klagte eines Tages über Schmerzen, der Angeklagte erzählte ihr davon und fuhr mit dem Kinde zu einem Arzt. Grupen gab als Ursache des Leidens eine harmlose Angelegenheit an. Ein Gehilfe des Angeklagten behandelte dann das Kind unter Grupens Leitung. Frau Eckert hat das damals als lobenswert empfunden, weil niemand anders da war.

 

Die kleine Ruth   R e s k e ,   jetzt in Berlin-Zehlendorf bei den Großeltern, eine Pflegetochter der Frau Grupen, berichtet, daß die Frau des Angeklagten einmal von Amerika sprach und zu ihrem Mann sagte: „Wenn Du artig bist, nehme ich Dich mit.“ Ruth, offenbar ein sehr gewecktes Kind, erklärt heute, daß sie diese Aeußerung für Scherz gehalten habe.

 

Es erscheint dann ein damals ein sechzehn Jahre altes Dienstmädchen des Angeklagten. Ihr hat Grupen die Ehe versprochen, als seine Frau noch da war. Die Zeugin hatte den Angeklagten gern und trat in nähere Beziehungen zu ihm. Von einem Vergehen Grupens an seiner Stieftochter oder einer anormalen Handlung der Mutter der Ursula gegenüber weiß die Zeugin nichts.

 

Landgerichtsrat   P i e t s c h ,   der einen Teil der Voruntersuchung führte, suchte aufzuklären, in welcher Weise der Angeklagte sich in seinen bisherigen Angaben über die Auffindung des Revolvers widersprochen hat. Und noch etwas bekundet er: „Ich fragte den Angeklagten, wo seine Frau sei. - Darauf erwiderte er zunächst nichts, sondern sah mich starr und eigentümlich an. Als ich ihm sagte, eine Auskunft über seine Frau würde ihm nur nutzen, antwortete er: „Ich kann und werde über meine Frau erst in der Hauptverhandlung Auskunft geben. Ich fürchte, ich würde dann meiner Frau und andere Persönlichkeiten Ungelegenheiten bereiten.“ Ich hatte den bestimmten Eindruck, daß er Angeklagte mir mit Bezug auf seine Frau etwas verheimliche.“

 

Zu einem interessanten Ergebnis führte die Vernehmung des Geheimrats   D u b i e l ,   der die Voruntersuchung geführt hatte. In der Hauptverhandlung hatte der Angeklagte bisher stets bestritten, Ursula zur Wiederholung des Schreibens an Frau Bartel veranlaßt zu haben. In der Voruntersuchung hatte dies Grupen aber bereits zugegeben, was man ihm aber, weil es die Strafprozeßordnung verbietet, nicht vorhalten konnte. Auf die Aussage Dubiels hin bequemte sich Grupen nun doch zu sagen: „Ich habe immer gesagt, daß ich die Ursula    v e r a n l a ß t   h a b e ,   den Brief noch einmal zu schreiben,   a u f g e f o r d e r t   habe ich sie nicht.

 

 

 

Dienstag, 13. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Abend-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Drahtmeldung unseres Sonderberichterstatters.

P. S. Hirschberg, 13. Dezember.

 

Gestern wurden noch einige Mädchen vernommen, die sich durch Eheversprechungen des Angeklagten verleiten ließen, mit ihm in nähere Beziehungen zu treten. Eines dieser Mädchen war in ähnlicher Weise erkrankt, wie der Angeklagte und die kleine Ursula. Ueber den Zusammenhang dieser Erkrankungen wurden gutachterliche Aeußerungen nicht abgegeben.

 

Heute wurde zunächst in nichtöffentlicher Sitzung weiterverhandelt. Eine intime Freundin der Frau Grupen bekundet, daß der Angeklagte einmal zu seiner Frau gesagt habe: „Durch Scheidung gehen wir nicht auseinander, nur die Waffe kann uns trennen!“ Der Angeklagte habe damit einen Selbstmord durch Erschießen gemeint; die Zeugin sei aber fest überzeugt, daß er Komödie spielte. Das Verhältnis zwischen den Eheleuten sei überhaupt nicht so gewesen, wie es nach außen hin schien und wie es hätte sein sollen. - Hinter verschlossenen Türen wird dann auch Wilhelm   G r u p e n ,   der Bruder des Angeklagten, vernommen, der einen anormalen Vorgang zwischen der Frau des Angeklagten und der Ursula beobachtet haben will.

 

 

 

Mittwoch, 14. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Drahtmeldung unseres Sonderberichterstatters.

P. S. Hirschberg, 13. Dezember.

 

Zwei halbe Tage war die Oeffentlichkeit ausgeschlossen. Nun wurde sie bei ungeheurem Andrang des Publikums wiederhergestellt. Heute kommt die Zeugengruppe zur Vernehmung, die etwas von dem Verschwinden der Frau Grupen wissen wollte.

 

Als erster Zeuge tritt der Vater des ersten Mannes der Frau Grupen, Apothekenbesitzer Schade aus Berlin, auf. Er hat den Angeklagten, der sich ihm gegenüber als reichen Mann aufspielte, zweimal gesehen. Die Abschiedsbriefe der Frau Grupen habe er immer für falsch gehalten. Ihm gegenüber habe sie nie von ihrer Auswanderungslust nach Amerika gesprochen. Ein Verhältnis seiner Schwiegertochter mit einem anderen Manne zu Lebzeiten seines Sohnes habe nicht bestanden. Sie hat ihre Kinder sehr zärtlich geliebt. Er hat sich gesagt, es müsse ein fanatischer Einfluß seine Schwiegertochter zur Abreise veranlaßt haben.

 

Es folgt die Frau des Vorzeugen. Auch Frau Schade war von der plötzlichen Abreise ihrer Schwiegertochter vollkommen überrascht. Sie habe diese Abreise umso weniger verstanden, als Frau Grupen ihre Kinder sehr liebte.

 

Verteidiger Dr. Mamroth: Hat nicht Ihre Tochter einmal geschrieben, Peters Liebe zu den Kindern sei rührend? Zeugin: Ja. Verteidiger Dr. Mamroth: Haben Sie den Eindruck gehabt, Frau Grupen habe in geistiger Umnachtung gehandelt? Zeugin: Nein. Ich habe bloß zum Trost an Frau Eckert geschrieben, Trude sei nach jahrelangem mühevollem Leben wohl auf die Idee gekommen, von allen diesen Dingen mal freizukommen. Anders sei es nicht zu verstehen! Ich habe mich dann sehr gewundert, daß meine Tochter die Muffe nicht mitgenommen hat, an der sie sehr hing. Ich sah dann später die Muffe bei Marie Mohr, der ich sie weggenommen habe.

 

Notar Rheineck aus Itzehoe, der frühere Rechtsbeistand des Angeklagten, fragte zunächst, ob ihn der Angeklagte von seiner Schweigepflicht als Rechtsanwalt entbinde. Angeklagter bejaht.

 

Zeuge: Am 17. September 1920 kam der Angeklagte mit Frau Eckert und seiner Frau zu mir. Die Damen übertrugen zwei Hypotheken im Betrage von 72.000 M. auf den Angeklagten. Mir fiel das gleich auf - ich dachte an eine Steuerschiebung - und sagte: Was ist das für ein Unsinn, zumal er sagte, er gebe seiner Frau den vollen Gegenwert. Es hatte ja keinen Zweck, die Hypotheken gegen Bezahlung abzutreten. Da sie die notwendigen Papiere nicht bei sich hatten, sollten sie am nächsten Tage wiederkommen. Das war der 18. September. Wir machten dann auch die Gütertrennung, und am nächsten Tage war die Frau verschwunden. Ich erfuhr es erst einige Tage später, als Grupen die Abschiedsbriefe in mein Büro brachte. Merkwürdigerweise war, wie mir auffiel, kein Brief an den Angeklagten dabei. ypoH

Grupen machte auf mich den Eindruck eines geknickten Ehemannes, und ich redete ihm zu, daß er sofort die Verfolgung seiner Frau aufnehme. Nach etwa 14 Tagen kam er zu mir zurück und sagte, er habe alles getan, was ich ihm geraten hätte. Es sei alles vergebens gewesen. Auf seinen Wunsch leitete ich dann die vorbereitenden Schritte zur Ehescheidung ein. Als ich dann die Sache vom Mord in Kleppelsdorf hörte, habe ich das Mandat niedergelegt und Anzeige vom Verschwinden der Frau an die Staatsanwaltschaft erstattet.

 

Vorsitzender: Angeklagter, haben Sie die Ratschläge des Zeugen befolgt? - Angeklagter: Ich war in Berlin. - Vorsitzender: Ich frage, ob Sie in Hamburg, wie es Ihnen der Zeuge geraten hat, bei den Dampfergesellschaften … - Angeklagter: Ich war in Berlin. Der Zeuge hatte mir auch gesagt, ich solle mich nach der Abreise des Schulz erkundigen, der doch vielleicht mit meiner Frau durchgegangen sei. Ich habe dann Frau Schade gefragt -

 

Vorsitzender: Frau Schade, hat der Angeklagte Sie nach Schulz gefragt? Frau Schade: Er hat mich nur gefragt, ob der Schulz damals allein mit meinem Sohne auf der Jagd war, als er verunglückte.

 

Vorsitzender: Was haben Sie sonst noch unternommen, um Ihre Frau zu finden? Angeklagter: Ich habe Herrn Rechtsanwalt Rheineck gebeten, von der Polizei Erkundigungen einzuziehen. Zeuge Rheineck: Ich habe bei der Polizei telephonisch angefragt und den Bescheid bekommen, daß sie nach Lübeck abgemeldet sei.

 

Vorsitzender: Und was haben Sie sonst getan, um Ihre Frau zu finden? Angeklagter: Schweigt. Vorsitzender: Wollen Sie denn nun von Ihrer Frau nichts mehr wissen? Angeklagter: Nein. -

 

Verteidiger Dr. Mamroth stellt fest, daß der Angeklagte von den anempfohlenen Maßnahmen nur unterlassen habe, die Schifffahrtsgesellschaften zu befragen. Die Aussprache mit den Berliner Verwandten habe der Zeuge anempfohlen und der Angeklagte befolgt.

 

Vorsitzender: Der Herr Zeuge hat uns geschildert, daß Sie vollkommen geknickt waren - Zeuge: Helle Tränen hat er geweint. Vorsitzender (fortfahrend): Und hier vor Gericht sagten Sie eben, daß Sie von ihrer Frau nichts mehr wissen sollten. Das ist doch ein Widerspruch -

 

Angeklagter (trotzig): Dann ist das eben ein Widerspruch. - Vorsitzender: Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß die Geschworenen aus diesem Widerspruch Schlüsse ziehen können. Angeklagter (nervös): Man weiß eben nicht, was das für eine Frau war - und ich wünsche keinem -

 

Staatsanwalt: Ist Ihnen bekannt, daß der Angeklagte vom Gefängnis aus noch immer mit der Generalvollmacht über das Vermögen der Frau Eckert verfügt? Angeklagter: Dann muß man x gleich u setzen, sonst stimmt´s nicht. Staatsanwalt: Das Vermögen der Frau Eckert soll doch 109.000 M. betragen haben. Wo ist das Geld? Angeklagter: Weg! (Heiterkeit.)

 

Angeklagter: Frau Eckert hat nichts gehabt. Die 109.000 M. in Wertpapieren gehörten meiner Frau und nicht Frau Eckert. Ueber dieses Geld hat meine Frau zum größten Teil verfügt oder es ausgegeben. Vorsitzender: Der Angeklagte hat diesen Standpunkt allerdings immer eingenommen.

 

 

 

Mittwoch, 14. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Abend-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Das Verschwinden der Frau Grupen.

P. S. Hirschberg, 14. Dezember.

 

Die Vernehmung der Zeugen, die etwas zum Verschwinden der Frau Grupen mitteilen sollen, wird fortgesetzt. Der Bankier Goldacker, der auch einige Geldgeschäfte für den Angeklagten und seine Frau besorgt hat, erzählt: Der Angeklagte besuchte mich in großer Aufregung und erzählte mir, seine Frau sei verschwunden. Er kam gerade von einer Reise und sagte, er habe in Berlin und Hamburg nach ihr gesucht. Vorsitzender: Auch in Hamburg? Zeuge: Er sagte es mir. Vorsitzender: Hat er Ihnen gesagt, die Frau sei nach Amerika gefahren? Zeuge: Nein.

 

Amtsgerichtsrat Lämme-Itzehoe weiß sehr viel außerordentliche Sachen vom Hörensagen: Der Angeklagte habe den Versuch gemacht, seine Frau einzumauern, und ein anderes Mal sie beim Umzuge durch Umwerfen eines Schrankes zu töten. Er hat ferner gehört, daß Ursula vor einem Manne Angst hatte und dieser Mann sei vielleicht Grupen gewesen. - Da der Zeuge alles nur gehört hat und nichts selbst gesehen hat, darf er sich zurückziehen.

 

Nach einer kurzen Lüftungspause kommt es zu einer kleinen Sensation. Der Vorsitzende ruft Frl.   Z a h n   vor.

 

Vorsitzender: Frl. Zahn! Unter den vielen unsinnigen Einsendungen, die hier einlaufen, ist eine, die eine Rückfrage erfordert. Wissen Sie etwas davon, daß schon früher einmal durch das offene Fenster auf Fräulein Dorothea geschossen worden ist? Zeugin: Ja, ich erinnere mich. Es war im   O k t o b e r   1919. Da wurde mit Schrot in das Herrenzimmer geschossen. Wir haben aber nicht geglaubt, daß der Schuß Dorothea galt, sondern dem Inspektor Bauer. Vorsitzender: Ist es wahr, daß damals Dörthe an der Nase verletzt wurde? Zeugin: Nein, Dörthe war gar nicht im Zimmer, auch sonst wurde niemand verletzt.

 

Die kleine Sensation stirbt im allgemeinen Achselzucken. Dann kommt das Personal des Grupenschen Hauses zur Vernehmung: ein junger Knecht und zwei Mägde. Sie schildern die Abreise der Frau Grupen in der bekannten Weise. Zwischen dem Ehepaar habe es manchmal Differenzen gegeben. Zu den Kindern seien beide gut gewesen. Die eine Magd, Fräulein Kläschen, ein 16jähriges Mädchen, hat die Fahrt im Wagen nach Itzehoe mitgemacht.

 

Zeugin: Beim Abschied hat Frau Eckert gesagt: Ach Trude, bleibe nicht lange weg, mir ist so bange. Darauf hat Frau Grupen geantwortet: Ich komme ja bald wieder, du weißt, ich kann ohne ihn nicht leben. Dann fuhren wir weg, und beide Ehegatten waren sehr vergnügt. In Itzehoe, wo ich eine Evangelisationsversammlung  besuchte, setzte er mich vor dem betreffenden Hause ab und fuhr mit seiner Frau zum Bahnhof weiter. Nachher sollte ich ihn in einem Wirtshaus erwarten, um mit ihm nach Hause zurückzufahren. Er kam aber nicht, und da traf ich mich mit dem Knecht und der anderen Magd, und wir gingen zusammen nach Hause.

 

Vorsitzender: Wer öffnete Ihnen die Haustür? Zeugin: Ich weiß nicht. Vorsitzender: Der Knecht behauptet, Herr Grupen habe Ihnen selbst aufgemacht. Zeugin: Ich weiß nicht.

 

Ein Geschworener: Konnte denn der Angeklagte mit der einen Hand das Pferd vom Wagen selbst abschirren? Angeklagter: Jawohl, das kann ich.

 

Die Zeugin Kläschen war es auch, die auf der Toilette am Tage vor der Abreise der Frau Grupen das Konzept des Abschiedsbriefes gefunden hatte. Auch war sie zugegen, als der Angeklagte die Stahlkassette der Frau Grupen einige Tage nach ihrer Abreise öffnete. Grupen hatte beim Oeffnen von Stahlkassetten eine besondere Technik. Er ließ sie von seinen Leuten in die Höhe halten und stieß mit dem Fuß dagegen, so daß sie aufsprang. Er soll, wie die Zeugin bei ihrer ersten Vernehmung sagte, in etwas theatralischer Weise darüber erschrocken sein, daß in der Kassette nichts war außer dem Paket Abschiedsbriefe, während 60.000 M. anscheinend fehlten. Jetzt vor Gericht erinnert sich die Zeugin nicht mehr an die posierte Haltung des Angeklagten.

 

Zum Schluß des Tages äußert sich Dr.   B u e n z ,   der Hausarzt der Frau Grupen während ihres zweijährigen Aufenthaltes in Rostock. Buenz stellt Frau Grupen ein ausgezeichnetes Zeugnis aus. Sie sei eine sehr besorgte, eher zu ängstliche Mutter gewesen, und er könne sich absolut nicht vorstellen, daß die Frau auch bei einem ernsteren Zerwürfnis mit ihrem Manne sich länger als vierzehn Tage von ihren Kindern trennen könne. Frau Grupen sei außerdem eine ausgezeichnete Hausfrau gewesen, die niemals sich gescheut hat, mit Hand anzulegen, sie habe auch grobe Arbeit verrichtet, besonders im Garten. Während ihres ganzen Aufenthaltes in Rostock sei ihr Ruf völlig makellos gewesen.

 

Geheimrat Dr.   M o l l :   „Ist es dem Herrn Zeugen auf Grund seiner langjährigen Praxis bekannt, daß es Frauen gibt, die leidenschaftlich veranlagt, vielleicht sogar bis zu einem Grade, der andere Leute verletzt, trotzdem ausgezeichnete Menschen, Hausfrauen und Mütter sind? - Zeuge Dr. Buenz: Jawohl, das gibt es.

 

Verteidiger Dr.   M a m r o t h :   Ist es dem Herrn Zeugen auf Grund seiner langjährigen Praxis bekannt, daß es Menschen gibt, die Ausgezeichnetes im Berufe leisten und auch sonst nichts in ihrem Charakter zu Schulden kommen lassen, die aber im Alter von 20 bis 27 Jahren jedem jungen Mädchen, das ihnen in die Nähe kommt, gefährlich werden? Sanitätsrat Dr.   B u e n z :   „Ich möchte die Grenze nur vom 20. bis 25. Jahre ziehen, aber ich gebe zu - der Mann ist im allgemeinen polygam veranlagt.“

 

 

 

Donnerstag, 15. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Aus Grupens Vergangenheit.

P. S. Hirschberg, 14. Dezember.

 

Die Geschichte Peter Grupens dröselt sich auf wie ein Stück von Ibsen. Man begann mit der Katastrophe, dann verhandelte man über das Schicksal der Frau - und nun geht es langsam in die Jugendgeschichte dieses Menschen hinein, der mit unerschütterlichem Gleichmut der Verhandlung beiwohnt und sich eigentlich selten an ihr beteiligt; für manche der Situationen, die ihm vorgeführt werden, hat er ein diskretes Lächeln - als mache es ihm Spaß, zu wissen, worüber eine Welt sich den Kopf zerbricht. Jetzt tritt aber noch eine weitere Persönlichkeit in den Mittelpunkt: Wilhelm Grupen.

 

Unter den ersten Zeugen des heutigen Tages erscheint Herr   B o o s ,   der Bruder der alten Frau Eckert: Nach dem Verschwinden seiner Nichte kamen uns allmählich Zweifel, daß Frau Grupen wirklich nach Amerika gegangen sei. Ich riet deshalb meiner Schwester, sie solle sich in Hamburg bei einem Detektiv und bei den Schiffsgesellschaften erkundigen. Sie schrieb zurück: Peter macht das alles! Dann bekam ich einen Brief von meiner Schwester, die mir sagte, sie möchte sich mal mit uns aussprechen. Den Brief hatte meine Schwester heimlich zur Post gebracht, weil Grupen ihre ganze Post kontrollierte.

 

Staatsanwalt: Der Bruder des Angeklagten, Wilhelm Grupen, hat, wie Sie früher gesagt haben, auf Sie einen schlechten Eindruck gemacht. - Zeuge: Ja. Er schien mir hinterlistig und spionierte, als ich mich später am Wohnort Grupens aufhielt, immer hinter uns her. Es war ja das ein subjektiver Eindruck, aber dieser Mann war uns unheimlich und verdächtig.

 

Vorsitzender: Haben Sie denn Anhaltspunkte gehabt? - Zeuge: Wir haben uns gesagt, das Verschwinden der Frau Grupen könne nicht die Tat eines einzelnen Mannes sein, und glaubten an die Möglichkeit, daß Wilhelm seinem Bruder bei der Beiseiteschaffung geholfen habe oder, daß er etwas davon wisse.

 

Die Dienstmagd Gniewakowski sagt aus: Der Angeklagte hat schon vor dem Verschwinden der Frau dem Kinderfräulein Charlotte Müller die Ehe versprochen. Das war zu gleicher Zeit, als er der 16jährigen Magd Kläschen auch die Ehe versprochen hatte. Da ist es zu einer Auseinandersetzung zwischen Grupen, der Kläschen und der Müller. Am Ende fiel die Müller dem Grupen um den Hals und sagte: „Ich will ihn haben!“

 

Vorsitzender: Angeklagter, haben Sie eine Frage?

 

Angeklagter (stolz): Ich habe auf das Gerede nichts zu erwidern. Zwei Freundinnen der Verschwundenen treten auf: Frau Zahntechniker Stubbe hat das Verhältnis der Eheleute Grupen beobachtet. Frau Grupen sei sehr nervös gewesen, wohl infolge der vielen Umzüge. Frau Grupen arbeitet dabei wie ein Mann. Sie hat sich über den Umzug nach Ottenbüttel sehr gewundert, da das Haus unschön, kahl und öde war. Auch Frau Grupen habe sich so ähnlich geäußert.

 

Frau Diestel: Ich bin eine Freundin der Frau Grupen und hatte das Gefühl, daß Grupen es darauf anlegte, seine Frau zu reizen. Von ihrer Absicht, nach Amerika zu gehen, hat sie nie etwas gesagt. Sie hat sich Kleider neu machen lassen, um im Winter an Gesellschaften in Itzehoe teilzunehmen. Der Angeklagte war mir von Anfang an sehr unsympathisch.

 

Frau Drechshäuser, die vor Jahren Grupens Zimmermädchen war, eröffnet den Reigen der Zeugen, die von seiner Jugend erzählte. Grupen hat vor seiner Ehe nichts besessen und die Absicht geäußert, sich reich zu verheiraten.

 

Die Zimmerwirtin gibt das Wort an eine junge Frau ab, die einmal mit Grupen richtig verlobt war. Die blonde freundliche Holsteinerin war nach dem Kriege Hilfsbriefträgerin gewesen. Grupen hatte sie Briefe gebracht, und da hat er ihr Herz gewonnen. Lange aber hatte das nicht gedauert: Da erklärte er ihr unter Tränen: Er muß sich anderweitig verloben. Ein Verhältnis mit einer anderen Frau sei nicht ohne Folgen geblieben, sie müsse er nun heiraten. Aber wie zum Trost sagte er: Meine Frau habe ich doch nicht lange. Du kannst ja zu uns als Kindermädchen kommen, was sie indessen nicht tat. Grupen sei ein sehr unruhiger Geist gewesen, er habe jeden Augenblick einen anderen Plan gehabt. Einmal wollte er eine Luftschaukel kaufen, dann kaufte er alte Fahrräder und Anzüge, die er aufarbeiten ließ und nachträglich weiter verkaufte. Er bezog damals Erwerbslosenunterstützung. Er verstand es, sich durch Bezugsscheine Anzüge zu verschaffen, die er verkaufte.

 

Vorsitzender: Angeklagter, bezogen Sie Erwerbslosenunterstützung? - Angeklagter: Ja! - Vorsitzender: Was sagen Sie dazu, was die Zeugin behauptet, Sie hätten gesagt: Die Frau habe ich doch nicht lange? - Angeklagter: Im Interesse der Zeugin wie meiner Frau lehne ich jede Antwort ab.

 

Ueber die wichtige Abmeldung der Frau Grupen aus Itzehoe sagt Kriminal-Oberwachtmeister Giese aus, daß Frau Grupen am 20. September abgemeldet worden sei. Ob eine persönliche Abmeldung stattfand, konnte nicht festgestellt werden. - Vorsitzender: Welche weiteren Erkundigungen haben Sie festgestellt? - Zeuge: Ich war bei der Familie Mohr, die durchweg Gutes über Grupen aussagte, während sie von Frau Grupen aussagte, sie sei mannstoll. Dann war ich beim Gemeindevorsteher, der sich ebenfalls günstig über Grupen äußerte.

 

Als nächste Zeugin trat eine neue ehemalige Braut auf, schlank, hochgewachsen, mit leuchtendem blondem Haar. Sie hat inzwischen anderweitig geheiratet; in ihrem singenden hübschen Dialekt erzählt sie ihre Leidensgeschichte.

 

Zeugin: Als meine Verlobung mit Grupen schon aufgehoben war, traf ich ihn eines Abends einmal, und als ich ihm sagte, daß ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, weil ich meinem neuen Bräutigam treu sein, da hat er einen Revolver gezogen und ihn mir auf die Brust gesetzt und gesagt: Ich kann ohne Dir nicht leben. Da bin ich ihm um den Hals gefallen und habe ihm versprochen, mich jede Woche mit ihm zu treffen. Aber ich bin nicht hingegangen. Als er dann wieder schrieb, bin ich mit meinem Verlobten zu ihm gegangen. Er hat ihm die Geschenke und noch 60 Mark gegeben, und dann hat Grupen die Geschenke seiner nächsten Braut geschenkt.

 

Frau Dr.   B e y e r ,   eine Fräulein Zahn und Dorothea Rohrbeck befreundete Dame, erzählt: Als ich am 15. Februar in das Haus kam, fiel mir auf, daß Frau Eckert immerzu Grupen bedauerte. Es hieß immer: der arme Peter! Als ich fragte: Aber Frau Eckert, Dorothea! da sagte Frau Eckert: Ach, Dorothea, die hat mich doch nie gemocht! Erst als ich die Vermutung äußerte, daß Grupen vielleicht auch am Verschwinden von Frau Grupen schuld sei, sagte Frau Eckert: Wenn ich erfahre, daß meine Tochter tot ist, lasse ich den Täter fallen. Später, am Abend, als man zu Tisch ging, fragte Frau Eckert, ob die Herren vom Gericht auch bei Tisch seien. Als ich bejahte, sagte Frau Eckert: Da muß ich aufpassen, daß ich mir nichts merken lasse. An die kleine Irma habe ich öfters die Frage gerichtet, ob Peter Grupen wirklich nicht aus dem Zimmer gegangen sei. Dann kam Marie Mohr der kleinen Irma zuvor und sagte: „Herr Grupen ist nicht aus dem Zimmer gegangen.“

 

Vorsitzender: Hat Fräulein Dorothea sich über die Reise des Grupen zur Großmutter geäußert? Zeugin: Ja. Dorothea sagte, sie sei sehr verwundert gewesen, daß die Großmutter über das Befinden von Frau Grupen nicht sehr traurig gewesen sei. Zuerst habe sie und Grupen ein bißchen geweint. Dann aber waren sie ganz vergnügt. Und Dorothea sagte schließlich: „Mir kommt die ganze Geschichte vor wie ein Theater.“

 

Eine besondere Bewegung ruft die Aussage einer jungen Holsteinerin hervor, der Tochter von Grupens Lehrherrn, die nach dem Verschwinden der Frau Grupen in Grupens Haus als Stütze kam.

 

Vorsitzender: Der Angeklagte hat Ihnen mal eine goldene Uhr geschenkt? Zeugin: Ja. Vorsitzender: Wissen Sie, ob das die Uhr von der verschwundenen Frau Grupen war? Zeugin: Das weiß ich nicht. Vorsitzender: Wo ist denn die Uhr jetzt? Zeugin: Ich habe sie noch zu Hause.

 

Angeklagter (sehr tief errötend): Darüber kann ich eine Erklärung abgeben: Es ist die Uhr meiner Frau.

 

Staatsanwalt: Das sagen Sie heute   z u m   e r s t e n   M a l e   aus! Angekl.: Meine Frau hatte mehrere Uhren. - Es entspinnt sich darüber eine längere Debatte, in deren Verlauf die alte Frau   E c k e r t   in den Saal gerufen wird und aussagt: Meine Tochter hatte meines Wissens nur   e i n e   goldene Armbanduhr, die sie auf Reisen wohl immer trug, ob auch am Tage der Abreise, kann ich nicht sagen.

 

Es folgt eine längere Auseinandersetzung über die Ringe und Wertsachen der Frau Grupen, die später versetzt bei Pfandleihern aufgefunden wurden. Insbesondere verdichtete sich das Interesse um den Mantel und den Pelzkragen, den Frau Grupen mit auf dem Wagen hatte, den aber Frau Grupen angeblich darin zurückgelassen hat. Der Angeklagte behauptete zuerst, die Gegenstände in seinen Schrank getan zu haben, zieht aber dann die Aussage halb zurück. Vorsitzender: Angeklagter, Sie müssen die Wahrheit sagen. Sie können auch die Aussage ablehnen; wenn Sie aber widersprechende Angaben machen, müssen Sie darauf gefaßt sein, daß die entsprechenden Schlüsse gezogen werden. 

 

 

 

Donnerstag, 15. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Abend-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Der Bruder des Angeklagten als Zeuge. 

P. S. Hirschberg, 15. Dezember.

 

Grupens Bräute erfüllen den ernsten Raum des Gerichts mit dem eigentümlichen Gesinge holsteinischen Tonfalles. Diesen blonden, schüchternen Frauen glaubt man es kaum, daß sie mit Peter Grupen etwas zu tun gehabt haben, am wenigsten der letzten, die zu Worte kommt. Ein reizendes zierliches Geschöpf mit besonders feinen und zartgeschnittenen Zügen! Ihr Vater war Grupens Lehrmeister.

 

Zeugin: Als er nach dem Verschwinden seiner Frau uns besuchte, sagte mir mein Vater, seine Frau sei tot. Ich müsse ihm den Haushalt führen. Mir sagte er dann später, seine Frau habe ihn verlassen, sei über Holland nach Amerika gegangen und dort, wie er von einem Detektiv erfahren habe, an Syphilis gestorben.

 

Vorsitzender: Angeklagter! Das ist ja ganz neu, daß Ihre Frau über Holland fuhr! Wer ist denn der Detektiv? - Angeklagter: (schweigt). - Zeugin: Später, als er mit Frl. Zahn und Dorothea Rohrbeck in Hamburg gewesen war, kam er zurück und erzählte mir, die beiden Damen hätten den Versuch gemacht, ihn zu vergiften, indem sie Gift in eine Weinflasche schütteten.

 

Vorsitzender (zum Angeklagten): Was sagen Sie dazu? - Angeklagter (lächelnd): Wir haben wohl einen etwas starken Wein getrunken. Vorsitzender: Den Wein haben doch aber   S i e   bestellt,   S i e   haben die beiden Damen traktiert!

 

Als nächster Zeuge kommt der Pfandleihbesitzer Lang aus Itzehoe zur Vernehmung. Zeuge: Am 5. März 1920 kam der Angeklagte zum ersten Male mit Schmucksachen zu mir, die ich mit 6000 Mark belieh. Später kam er mit einem Regenmantel, einem Pelzjackett und im Dezember mit 7900 Gramm Silber. - Vorsitzender: Angeklagter! Sie haben damals Ihrer Schwiegermutter gegenüber behauptet, Ihre Frau habe ihre Schmucksachen mitgenommen. Angeklagter: Ich bin bei dem Zeugen gewesen und habe ihm gesagt, ich hätte die Pfandscheine verloren, er müsse die Brillanten sperren. - Zeuge: Das ist nicht wahr. - Vorsitzender: Wo sind denn die Pfandscheine geblieben? - Angeklagter: Kurz vor der Reise nach Kleppelsdorf habe ich die drei Pfandscheine meinem Bruder gegeben, der sie später der Staatsanwaltschaft auslieferte.

 

Nunmehr wird der Bruder des Angeklagten Wilhelm Grupen hervorgerufen. Man erwartet ihn mit besonderem Interesse, da der Bruder der Frau Eckert von einer Möglichkeit der Mitschuld Wilhelm Grupens an dem Verschwinden von Frau Grupen gesprochen hat. Vorsitzender: Wollen Sie aussagen? Sie brauchen es nicht. - Zeuge: Ich will. - Vorsitzender: Hat Ihr Bruder vor seiner Verheiratung Vermögen gehabt, oder haben Sie ihn unterstützt?

 

Zeuge: Meine Frau hat ihm mit Lebensmitteln ausgeholfen. - Vorsitzender: Hat Ihr Bruder Ihnen nicht aus dem Gefängnis eine Hypothek im Werte von 78.000 Mark zediert? - Zeuge: Ja. - Vorsitzender: Ja, warum hat Ihnen denn Ihr Bru- (die vorherige Zeile wird hier wiederholt, mindestens eine Textzeile scheint zu fehlen) - Vorsitzender: Ihr Bruder hat Ihnen im November 1920 Generalvollmacht erteilt. Haben Sie mit der Generalvollmacht Geschäfte gemacht? - Zeuge: Nein.

 

Vorsitzender: Haben Sie mit der Generalvollmacht einmal Geld von der Bank geholt? - Zeuge: Ja.

 

Das Gespräch über die Geldangelegenheiten wird hier abgebrochen und man wendet sich den Kleppelsdorfer Tagen zu. Vorsitzender: War die Waffe, die Ihnen Ihr Bruder zurückließ, geladen? - Zeuge (verwirrt und verlegen): Ich kenne mich überhaupt nicht mit der Waffe aus. - Vorsitzender: Sie wußten mit der Waffe nicht Bescheid, aber die kleine Ursula soll damit so Bescheid gewußt haben, daß sie den Mord begangen hat.

 

Die Waffe wird nunmehr dem Zeugen übergeben, nachdem der Polizeiinspektor den Rahmen herausgenommen hat. Vorsitzender: Ist das die Waffe, die Ihnen Ihr Bruder gezeigt hat? - Zeuge (verwirrt): Es ist ja gar kein Patronenrahmen darin. - Vorsitzender: Ja, Sie scheinen also mit Waffe gut Bescheid zu wissen. Die Unterhaltung über die Waffe dauert sehr lange, bis schließlich aus Handgriffen, die der Zeuge macht, hervorgeht, daß er mit der Waffe ganz genau Bescheid gewußt hat.

 

Es werden dann noch Versuche mit dem Revolver angestellt, aus denen hervorgeht, daß der Angeklagte den Revolver mit einer Hand sichern und entsichern kann. Er selbst sagt: „Ich hätte vielleicht den Revolver auch allein laden und spannen können, aber mein Bruder hat mir dabei geholfen.“

 

Um 9 ½ Uhr wird die Sitzung vertagt. 

 

 

 

Freitag, 16. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

P. S. Hirschberg, 15. Dezember.

 

Am Donnerstag morgen wurde das Verhör des Zeugen Wilhelm Grupen fortgesetzt. Er sagt aus, daß zwischen den Geschwistern keine Abmachungen darüber bestanden, wie der Erlös des elterlichen Hauses verteilt werden sollte.

 

Staatsanwalt: Wie kommt es, daß Sie in der Voruntersuchung das Gegenteil gesagt haben? Sie haben gesagt, Ihr Bruder habe Ihnen 5000 Mark versprochen. - Zeuge: Das muß ein Mißverständnis gewesen sein. - Angeklagter: Ich bitte meinem Bruder vorzuhalten, daß ich ihm doch 5000 Mark versprochen hatte. - Man geht über diesen Widerspruch hinweg.

 

Vorsitzender: Wissen Sie etwas von dem Verschwinden Ihrer Schwägerin? - Zeuge: Nein. Erst nach den Kleppelsdorfer Ereignissen habe ich mich bei den Hamburger Behörden erkundigt, aber nichts erfahren. Vorsitzender: Das ist doch 5 Monate nach dem Verschwinden gewesen? - Ein Geschworener: Wo haben Sie die Nachricht von den Kleppelsdorfer Ereignissen erhalten? - Zeuge: In Ottenbüttel durch den Nachbar Hinrich Schmidt.

 

Widersprechende Aussagen.

Ein Sachverständiger bittet, den Zeugen zu fragen, ob es wahr ist, daß der Zeuge mehrmals in Ottenbüttel mit den Kindern Ursula, Irmgard und Ruth in demselben Zimmer geschlafen hat.

 

Zeuge: Ja - ich habe, weil kein Platz war, mehrfach auf dem Sofa im Kinderzimmer geschlafen.

 

Auf Antrag des Staatsanwaltes wird die kleine Irmgard wieder in den Saal gerufen, die aussagt, daß Wilhelm Grupen im Bett dicht neben dem anderen Bett, in dem die Kinder lagen, geschlafen hat, während Ursula auf dem Sofa schlief. Auch die wieder hervorgerufene Zeugin Hatje bestätigt das.

 

Vors.: Zeuge Wilhelm Grupen, wie erklären Sie sich diesen Widerspruch? Zeuge: Vielleicht habe ich mal im Bett geschlafen.

 

Vorsitzender: Sie haben das vorhin auf das entschiedenste bestritten. Verteidiger Dr. Mamroth: Es ist doch durchaus denkbar, daß man nach anderthalb Jahren nicht mehr genau weiß, ob man im Bett oder auf dem Sofa geschlafen hat. Es ist doch ein nebensächlicher Umstand.

 

Vorsitzender: Der Umstand ist unwesentlich, aber der Widerspruch ist nicht nebensächlich für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeugen.

 

Heinrich Grupen, der ältere Bruder des Angeklagten, dem Aussehen nach das sympathischste Mitglied der Familie, wird hineingerufen. Vorsitzender: Haben Sie Ihrem Bruder nahgestanden, oder mit Ihrem Bruder Geschäfte gemacht?

 

Zeuge: Ich wohne in Kiel, bin Schiffsführer und habe wenig Verkehr mit ihm. Vorsitzender: Hat Ihr Bruder Ihnen etwas vom Verschwinden seiner Frau erzählt? Zeuge: Ich bin meines Wissens seitdem nie mit ihm zusammengekommen.

 

Mit Hinrich Maas tritt einer der interessantesten Zeugen des Prozesses in den Saal. Ein starker, hochgewachsener, holsteinischer Bauer, ein Mann von einigen vierzig Jahren. Auf den breiten Schultern sitzt ein Kopf, der wie aus Stein gehauen, niemals auch nur die mindeste innere Bewegung verrät. Die festen Wangen und der scharfgezeichnete Mund sind bartlos. Dünne Adlernase springt scharf nach vorn. Nur in den großen, harten, blauen Augen ist ein heißes, schwer zu deutendes Leben. Knapp und vorsichtig sind seine Antworten. Meistens stößt er ein langgezogenes „Jach“ oder „Noon“ aus, das Heiterkeit, aber auch größte Aufmerksamkeit hervorruft. Mit ihm hat Grupen die meisten seiner Geschäfte abgewickelt, und von größtem Interesse ist es, daß Grupen und er bereits im Dezember daran dachten, das Gut Kleppelsdorf zu kaufen. Zunächst wird über den Erwerb des Grundstückes von Ottenbüttel gesprochen, was nicht ohne einige Widersprüche abläuft.

 

Vorsitzender: Haben Sie sonst noch Geschäfte mit dem Angeklagten gemacht? Zeuge: Nein. Vorsitzender: Haben Sie nicht mal etwas davon gesprochen, daß Sie das Gut Kleppelsdorf kaufen wollten? Zeuge: Ich habe nicht mit dem Angeklagten, sondern mit Frau Eckert in der Weihnachtszeit davon gesprochen. Sie hat mir erzählt, daß das Gut schlecht verwaltet würde, und daß die Besitzerin ein junges Mädchen sei. Vorsitzender: Haben Sie nicht auch mit dem Angeklagten darüber gesprochen? Zeuge: Nein.

 

Staatsanwalt: Sie haben aber anderen Zeugen gesagt, Sie hätten mit Grupen eine große Sache vor. Sie wollten mit ihm Kleppelsdorf kaufen. Zeuge: Ich wollte nicht kaufen, sondern nur vermitteln. Vorsitzender: Wie konnten sie aber vorhaben, den Verkauf zu vermitteln, wenn Sie ihn gar nicht gesprochen haben? Zeuge: Kaufen kann ich nicht sagen. Vorsitzender: Aber über die Vermittlung müssen Sie doch mit ihm gesprochen haben? Zeuge: Ich habe wohl mal gesagt, ich möchte Kleppelsdorf ansehen. Staatsanwalt: Angeklagter, wie kommen sie auf die Idee, Kleppelsdorf verkaufen zu wollen, wo doch niemals in Kleppelsdorf selbst davon die Rede war, daß das Gut verkauft werden sollte? Angeklagter: Das Gut warf doch nichts ab, und der Vormund hatte doch selbst gesagt, daß das gut verkauft werden müsse, wenn so weiter gewirtschaftet werde.

 

Nach längerer Debatte beschließt das Gericht, zwei neue, vom Staatsanwalt gestellte Zeugen zu vernehmen.

 

Johannes Wittmak, Lehrer aus Mehlbek, Im Wirtshaus hat mir der Zeuge Maß gesagt, daß er bald mal nach der Lausitz fahren wolle, wo er in einer großen Sache zu tun habe. Vorsitzender: Weiter wissen Sie nichts? Hat er den Namen des Gutes Kleppelsdorf genannt oder den Namen des Angeklagten? Zeuge: Nein, ich weiß nur, daß der Zeuge in der Zeit mit dem Angeklagten verkehrt hat. Sonst kann ich nichts aussagen. Johannes Wich, Landmann und Kaufmann aus Mehlbek: Ungefähr vor einem hat Maß gesagt: Wir wollen nächstens nach der Lausitz fahren, um ein Gut zu kaufen. Vorsitzender: Wer ist wir? Zeuge: Ich nehme an, daß das Maß und Grupen waren, und als jetzt der Mordprozeß losging und Maß mir erzählte, daß er auch nach Hirschberg fahre, habe ich ihn gefragt, ob Kleppelsdorf das Gut sein, daß er damals kaufen sollte. Und da sagte er: Ja.

 

Hierauf werden mehrere Zeugen, darunter ein Rektor, die dem Angeklagten günstige Zeugnisse ausstellten, vernommen. Insbesondere rühmt der Rektor, der ihm Nachhilfeunterricht während seiner Lehrlingszeit gab, seinen Fleiß und Lerneifer. Allerdings sei Grupen offenbar etwas ehrgeizig gewesen. Aber er habe in seiner ganzen freien Zeit gearbeitet, und sein größter Ehrgeiz sei gewesen, doch noch einmal sein Einjährigenzeugnis zu erwerben. - Eine sehr lange Zeit nimmt die Erörterung über einen Hauskauf in Altona in Anspruch, an dem der Angeklagte beteiligt war.

 

Der Vorsitzende teilt mit, ein Kolporteur habe  telegraphisch mitgeteilt, er könne bekunden, daß Grupen kurz vor seiner Abreise seiner Frau diese gewürgt habe. Das Gericht beschließt, den Kolporteur bis Sonnabend zu laden. - Lange wurde über die Vermögensverhältnisse des Angeklagten verhandelt, der nach seiner eigenen Angabe am Tage der Verhaftung über eine Viertelmillion verfügte. Es folgen einige Gefängnisbeamte, die über das Verhalten des Angeklagten ein günstiges Zeugnis ausstellten. - Frau Eckert wird auf Wunsch des Staatsanwaltes noch einmal aufgerufen, um den Entwicklungsgang der kleinen Ursula zu erzählen. Sie wiederholt zurzeit Bekanntes. Zeugin Marie Mohr wird wieder über das Reisegepäck noch einmal vernommen.

 

Der Staatsanwalt bittet, den Untersuchungsrichter darüber zu befragen, ob Marie Mohr auf ihn nicht in sittlicher Beziehung einen unnatürlich unbefangenen Eindruck gemacht hat. Der Untersuchungsrichter fragte: Haben Sie denn überhaupt kein Schamgefühl? Darauf sagt sie: Nein. Später sagte sie dann jedoch: Ich habe mich geschämt.

 

 

 

Freitag, 16. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Abend-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Beginn der Plaidoyers am Montag.

P. S. Hirschberg, 16. Dezember.

 

Die lange Dauer des Prozesses macht sich bei fast allen Beteiligten fühlbar. Der Staatsanwalt, der aus Rücksicht auf die ungeheuren Kosten darauf gedrungen hatte, daß eine Anzahl von Zeugen nach ihren Aussagen definitiv entlassen wurde, kommt oft in die Lage, sich einen entlassenen Zeugen wieder herbeizuwünschen. Meist hat er Glück und die Leute sitzen noch im Gerichtssaal oder wenigstens im Hotel. Eine Zeugin erlebte auf diese Weise die Sensation, dreimal schwören zu müssen. Erst hatte sie den Voreid geschworen und sollte endgültig entlassen werden. Dann hatte man sie wieder vorgerufen. Da man aber vergessen hatte, sie vor der Vernehmung auf den bereits geleisteten Eid zu verpflichten, so mußte sich nach ihrer zweiten Vernehmung den Nacheid leisten. Das dritte Mal vorgerufen, leistete sie nochmals den Voreid. Die Bemühungen des Vorsitzenden, jeden Revisionsanlaß zu vermeiden, machen oft lange juristische Erörterungen notwendig, bei denen sich die Gemüter erhitzen. Die Stimmung ist aber namentlich deshalb gereizt, weil der Wunsch aller, die Verhandlung in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag zu Ende zu führen, nicht in Erfüllung gehen wird. Der Staatsanwalt beansprucht einen vollen Tag zur Vorbereitung seines Plädoyers. Bis jetzt ist wenigstens folgendes bekannt: Beginn der Plädoyers Montag vormittag, Urteil vielleicht in der Nacht zum Dienstag.

 

Der gestrige Abend brachte nur Verlesungen kommissarischer Vernehmungen, die zum Teil belanglos sind. Eine Zeugin spricht sich sehr heftig gegen die Verschwendung der Frau Grupen aus, der zum Vorwurf gemacht wird, sie hätte den Sohn ihres verstorbenen Verlobten Reske finanzielle geschädigt. Dann beginnt die Vernehmung des Sachverständigen, Bücherrevisors Scherf aus Brieg. Er weist auf die völlig ungeordnete oder vielmehr nicht existierende Buchführung des Angeklagte hin und sucht nachzuweisen, daß er zur Zeit des Mordes über keine Flüssigen Mittel verfügte. Dann sprach Dr. Jeserich-Berlin in seiner behaglich-humoristischen Weise über die von ihm angestellten Schriftvergleiche. Den Brief Ursulas „An Großmutti“ bezeichnet er als zweifellos von der Hand Ursulas herrührend. Der Zusatz des Wortes „traurige“ in dem Brief Ursels an Frau Bartels ist, wie Jeserich ausführt, zweifellos nachträglich hinzugefügt; ob von der Hand Ursels, läßt er dahingestellt. Auch hier gibt es zwischen dem Vorsitzenden und dem Sachverständigen ein nervöses Geplänkel. Der einzig Ruhige im Saal ist der Angeklagte - stets klug, kühl, schlagfertig und beherrscht.

 

 

 

Samstag, 17. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Die Aussagen der Sachverständigen.

P. S. Hirschberg, 16. Dezember.

 

Nach dem Sachverständigen Dr. Jeserich nimmt Professor   S c h n e i d e m ü h l   das Wort, der einst als pathologischer Anatom Universitätslehrer war und sich seit Jahrzehnten mit Schriftvergleichen und Graphologie beschäftigt. Der alte Herr, der schon während der Verhandlungen durch leise und nicht immer ganz klare Fragen die Geduld der Beteiligten auf die Probe gestellt hatte, beginnt mit einer langatmigen und selbstgefälligen Einleitung über seinen Werdegang. Nach etwa dreiviertelstündigem Vortrag spricht er auch aus, daß Frau Grupen die Abschiedsbriefe geschrieben hat. Endlich wendet er sich der Frage zu, ob Ursels Brief an Großmutti im Zustand suggestiver Beeinflussung geschrieben sei. Er kommt zu dem Ergebnis, daß der Inhalt des Briefes dem Kinde nicht zu Bewußtsein gekommen sein kann. Der Brief der Frau Grupen erschien ihm nach dem graphischen Bilde zunächst als ein Geschäftsbrief. Die Briefe, die sonst Frau Grupen schrieb, seien richtige Familien- und Privatbriefe gewesen, während die sechs an demselben Tage geschriebenen Abschiedsbriefe durchaus den Charakter von Geschäftsbriefen haben. Frühere Privatbriefe tragen durchaus die Spuren seelischer Kämpfe, die in den sechs Abschiedsbriefen vollkommen fehlen, obgleich sie in einer Frau, die im Begriff ist, Vaterland, Mann und Kinder zu verlassen, infolge der seelischen Bewegungen zur Stunde des Abschieds vor sich gegangen sein müssen. Er kommt zu dem Schluß, daß auch diese Briefe unter äußerer Beeinflussung geschrieben worden sind.

 

Verteidiger Dr. Mamroth: Glauben Sie nicht, daß, wenn die Frau diese Briefe wider Willen geschrieben hat, die innere Hemmung gegen den Inhalt der Briefe eine so starke gewesen sein muß, daß die Hemmung erkennbar Veränderungen in der Handschrift hervorgerufen haben müsse?

 

Sachverständiger: Möglich, daß die Frau Grupen diese Briefe ganz harmlos geschrieben hat, vielleicht hat man sie diese Briefe zum Scherz schreiben lassen. Jedenfalls war die innere Erregung ausgeschaltet. Der Sachverständige hat bei anderen Briefen der Frau Grupen Spuren einer Erregung festgestellt. Wie erklärt er, daß diese Spuren vorhanden sind, obgleich diese Briefe dem Inhalt nach harmlos und in behaglicher Stimmung geschrieben sind? Sachverständiger: Die Spuren der Erregung sind noch lange nach dem Gefühlsanlaß in der Handlung auch harmloser Briefe festzustellen.

 

Staatsanwalt: Glauben Sie, daß diese Briefe in einem Zustand der Hypnose geschrieben sind? Sachverständiger: Das kann ich nicht sagen. Sollte der Sachverständige Moll in seinem Gutachten zu dem Resultat kommen, daß sich Frau Grupen unter suggestiver Beeinflussung des Angeklagten befunden hat, so würde das für mich die vollkommene Erklärung dafür sein, daß diese Briefe nicht ohne Merkmale innerer Bewegung geschrieben sind.

 

Verteidiger Dr. Ablaß: Wenn nun aber die Kennzeichen für eine innere Bewegung fehlen, von denen Sie vermuten, daß sie normalerweise da sein müßten, daß sie sich in einer   a n d e r e n ,   Ihnen fremden Seelenstimmung befunden hat, die Sie nicht vermuten und die trotzdem ganz normal ist? Sachverständiger gibt diese Möglichkeit zu.

 

Schießsachverständiger Büchsenmeister   W a l t e r   ist zu dem Schluß gekommen, daß Ursula unmöglich Selbstmord begangen haben könne, da sonst die gefundenen  Patronenhülsen in einem anderen Teil des Zimmers gelegen haben müßten. Auch die Durchschlagskraft, die die Kugel gehabt hat, läßt annehmen, daß der Täter in der Mitte des Zimmers gestanden hat, wahrscheinlich hat er zuerst auf Dorothea den von unten nach oben laufenden Schuß abgegeben. Der zweite Schuß galt der Ursula, die in den Hintergrund des Zimmers geflüchtet war. Der dritte Schuß war wahrscheinlich ein sogenannter Fangschuß, der auf die schon am Boden liegende Ursula (muss heißen: Dorothea) aus einer Entfernung von etwa 30 Zentimetern abgegeben wurde. Auf jeden Fall aber also sind die Schüsse von   d r i t t e r   Hand abgegeben worden.

 

Es entspinnt sich zwischen dem Sachverständigen und dem Angeklagten, der in der Mitte des Saales vor der Tafel steht, eine sehr heftige Debatte. Der Angeklagte verteidigt sich mit großer Lebhaftigkeit und Sachverständnis. Der Sachverständige bleibt dabei, er hält es für ausgeschlossen, daß die kleine Ursula die Schüsse abgegeben hat.

 

Sachverständiger Medizinalrat Dr.   P e t e r s ,   Löwenberg, der die Sektion vorgenommen hat, sagt aus, daß alle drei Schüsse aus mehr als 15 Zentimeter Entfernung abgegeben worden seien. Damit sei die Möglichkeit eines Selbstmordes der Ursula von vornherein ausgeschlossen. Der Saal wird verdunkelt, und mit Hilfe eines Projektionsapparates sieht man die Photographien, die von den Leichen gemacht worden sind. Das Kleid der getöteten Dörthe, ein rotes Sommerkleidchen, ist auf eine Puppe gesteckt, an der Dr. Peters zu demonstrieren sucht, wie der erste Schuß Dorothea getroffen hat.

 

Geheimrat Prof. Dr. Lesser-Breslau bekundet, es bestehe auch für ihn kein Zweifel an der Tatsache, daß die Schüsse von fremder Hand erfolgt sind.

 

Geheimrat Moll über die Hypnose.

Geh. Sanitätsrat Dr.   M o l l   geht in seinem Gutachten von der Hypnose aus, unter welchem Namen eine ganze Reihe von Zuständen zusammengefaßt werden, bei denen Störungen der willkürlichen Bewegungen bewirkt werden. In der Mehrzahl der Fälle findet eine Störung des Bewußtseins nicht statt. Dies geschieht erst in einem zweiten tieferen Zustand, dem somnambulen. Wachsuggestion ist etwas ganz anderes. Wenn man einem jungen Mädchen sagt: „Sie werden ja ganz rot“, und es errötet darauf, so ist das Wachsuggestion, die mit Hypnose nichts zu tun hat. Es gibt aber Persönlichkeiten, die auf ihre Umgebung einen außerordentlich starken suggestiven Einfluß ausüben, wie Napoleon. Daß im Falle dieses Mordes Hypnose eine Rolle spielt, ist nicht ganz ausgeschlossen, aber nicht wahrscheinlich. Es sind nur ganz vage Anhaltspunkte dafür vorhanden. Ganz anders mit der Suggestion. Ein Einfluß, der ohne logische Begründung sich auswirkt, ist hier zweifellos vorhanden. Es ist keine Kleinigkeit für einen Mann, kurz nach der Heirat Frau und Schwiegermutter zu veranlassen, ihr ganzes Vermögen ihm zu überschreiben. Besonders zeigt sich in sexueller Beziehung, wie wir sehen, daß der Angeklagte alle Mädchen, die in seine Nähe kamen, verführte. Besonders stark ist die Suggestionskraft des Menschen, wenn die Suggestion sich mit Erotik kreuzt. Ich halte es für möglich, daß insbesondere das Verhältnis zu Ursula ein solcher Fall ist, den wir als sexuelle Hörigkeit bezeichnen. Der Verdacht ist für mich ein sehr großer, weil, wie mir gesagt wurde, die Ursel vollkommen im Banne des Vaters stand und ihm sklavisch ergeben war.

 

Ob Ursel unter hypnotischen Einflüssen an Großmutti geschrieben hat, ist nicht bewiesen. Aber der Brief ist gar kein Abschiedsbrief, es steht nichts darin von Selbstmord. Hier liegt allerdings die Annahme mehr als nahe, daß der Angeklagte den Brief diktierte oder vorschrieb, und zwar einfach, um eine Entlastung für sein Verbrechen vorzubereiten. Der Brief ist außerdem für Ursel sicher unverständlich gewesen, und es war nicht schwer, ein dreizehnjähriges Mädchen dazu zu bewegen, einen ihr ganz unverständlichen Brief zu schreiben. Daß der Angeklagte die Zeuginnen, wie Frau Eckert, die Marie Mohr, Irmgard, suggestiv beeinflußt hat, ist klar. Ich bezweifle nicht den Wahrheitswillen der Zeugen, aber, was haben wir von ihren Zeugenaussagen zu halten? Charakteristisch ist die Aenderung in der Aussage der Frau Eckert, die erst später sagte: „Wenn der Weg zum Mordzimmer hin und zurück nur eine Minute dauert, kann Grupen wohl abwesend gewesen sein.“ Frau Eckert hat eben nicht ihre Wahrnehmungen mitgeteilt, sondern das, was sie geschlossen hat. Die Wahrnehmungsfähigkeit wird auch von den Richtern meistens überschätzt. Fräulein Marie Mohr indessen glaubt sich auch heute zu erinnern, daß der Angeklagte das Zimmer nicht verlassen hat. Die Worte: „Bleib´ bei der Wahrheit!“ sind aber eine spezifische charakteristische Suggestion. Sie hat selbst gesagt: „Ich glaube alles, was Grupen mir gesagt hat.“ Aber da ist das Merkwürdige: Sie hat eine Reihe von Vorgängen nicht wahrgenommen und sich erst auf unsere Vorhaltung daran erinnert. Grupen selbst hat zugegeben, daß er Irmgard zur Tür begleitet hat. Fräulein Mohr hat es nicht gemerkt. Zu der Frage aber, ob Ursel die Täterin sein kann: Ursel ist ein normales Kind gewesen, und wer die Tragödie der geheimen Sitzung miterlebt hat, der weiß, warum dieses Kind zur Zeit betrübt und verstimmt war. Es lag keine psychische Erkrankung vor. Sie war weder geisteskrank, noch hysterisch, noch melancholisch. Es besteht kein Anlaß, zu glauben, daß dieses Kind die schreckliche Tat ausgeführt und sich selbst erschossen hat. Auch für das angeblich perverse Verhältnis zwischen Mutter und Tochter ist gar kein Anlaß vorhanden.

 

Die gestrige Nachmittagssitzung nahm ein unerwartet rasches Ende, da weder die Verteidigung noch der Angeklagte selbst zu den Gutachten der Sachverständigen irgendwie Stellung nahm. Die Verteidigung hat damit offenbar ihre Praxis grundsätzlich geändert. Der Anstoß hierzu mag allerdings von dem Angeklagten selbst ausgegangen sein, der nach der heftigen Kontroverse mit dem Schießsachverständigen, die mitten im Saale stattfand, plötzlich sagte: „Ich habe nichts mehr zu erklären“, und der darauf auf die Anklagebank zurückkehrte. Erst zum Schluß gab es noch ein Geplänkel zwischen der Verteidigung und dem Staatsanwalt. Beide hatten die Verlesung zweier Artikel beantragt, die beweisen sollten, daß die Gegenpartei Versuche der Stimmungsmache unternommen hätten. Nach langen Ausführungen beschloß das Gericht die Verlesung der beiden Artikel, wie sich der Vorsitzende ausdrückt, um zu beweisen, daß - die beiden Artikel erschienen sind. Am Ende erschien noch der letzte Zeuge, ein Zeitungskolporteur aus Itzehoe, der aussagte, daß er einmal einen Streit zwischen dem Ehepaar Grupen beobachtet hätte. Damit war das Programm des Tages erschöpft. Der heutige Sonnabend ist als Vorbereitungstag für die Plädoyers verhandlungsfrei.

 

 

 

Dienstag, 20. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Die Plaidoyers.

P. S. Hirschberg, 19. Dezember.

 

Nach Schluß der Beweisaufnahme begann der Staatsanwalt sein Plaidoyer. Bei der Darstellung der Tat betont er besonders die Lage des Revolvers neben der sterbenden Ursula. Die Waffe lag nämlich zur   L i n k e n   Ursulas. Der Staatsanwalt ist ferner der Ansicht, daß der Angeklagte unwillkürlich als alter Soldat die Waffe unmittelbar nach der Tat sicherte, einer jener Fehler, die fast alle Verbrecher begehen. Völlig unsinnig und unmöglich erscheint es ihm, daß Ursula sich das Schächtelchen mit den 19 Ersatzpatronen selbst in die Unterbindetasche gesteckt habe. Der Angeklagte habe zweifellos diese Patronen in Ursulas Tasche gesteckt, um sich selbst zu entlasten. Wesentlich neu in der Darstellung des Staatsanwaltes ist es, daß er die Annahme fallen läßt, Grupen habe die Tat begangen, als er nach Irmgard das Zimmer verließ. Diese Zeitspanne erscheint dem Staatsanwalt zu kurz, eher glaubt er, daß die Tat schon am vorhergehenden Teil des Vormittags ausgeführt worden ist.

 

Den Grund für die Tat und die Handlungsweise des Angeklagten sieht der Staatsanwalt in dem Streben nach Macht und Reichtum. Zuerst hatte er - durch Heiratsanträge - den Versuch gemacht, Dörthes Millionen an sich zu bringen. Als das mißlungen war, führte er den wohldurchdachten Plan aus. In nichtöffentlicher Sitzung begründet der Staatsanwalt seine Anschauung, daß der Angeklagte mit Ursula intimen Verkehr gehabt und sich daher eines Sittlichkeitsverbrechens schuldig gemacht hat. Am Ende seiner Ausführungen bittet der Staatsanwalt die Geschworenen, den Angeklagten im Sinne der Anklage sowohl des Doppelmordes als auch des Sittlichkeitsverbrechens für schuldig zu befinden.

 

Viereinhalb Stunden lang sprach der Staatsanwalt, eintönig die Indizien aneinanderreihend. Ihm folgte der Verteidiger Justizrat   A b l a ß ,   der mit großer Eindringlichkeit spricht. Als er die Anklageschrift gelesen, habe er sich gesagt, daß er noch nie eine schwächer begründete Anklage gesehen habe. Aber die Suggestion habe den Angeklagten zum Mörder gestempelt, und bevor noch das Urteil gefällt sei, war das Vorurteil gesprochen. Der Verteidiger klagt den Untersuchungsrichter an, daß er zuerst seine Ueberzeugung von der Schuld des Angeklagten ausgesprochen habe. Von den Geschworenen erhoffe er das ehrliche Bestreben, abseits von der öffentlichen Meinung die Wahrheit zu suchen.

 

Der Verteidiger schildert nun den Kleppelsdorfer und den Personenkreis um die Frau Grupen. Er beleuchtet deren Charakter, insbesondere die Aussage der Eltern ihres Verlobten Rappke, die Frau Grupen beschuldigen, sich an dem Erbteil der kleinen Ruth vergriffen zu haben. In nicht öffentlicher Sitzung führt er Tatsachen an, die es ihm glaublich erscheinen lassen, daß die Frau an der Zerrüttung des Ehelebens die Schuld trug. Die Staatsanwaltschaft hat im Falle der angeblichen Ermordung der Frau Grupen keine Anklage erhoben. Aber dieser Fall war ihr gut genug, um aus dem Verdacht Beweise für die Kleppelsdorfer Tat abzuleiten. Es ist vor der Abreise der Frau Grupen ein Entwurf zu dem Abschiedsbrief von einem Dienstmädchen gefunden worden. Was wäre geschehen, wenn die Finderin das Papier sofort zu Frau Eckert gebracht hätte? Frau Eckert hätte ihre Tochter von der Flucht zurückgehalten - und die ganze sogenannte Mordtat wäre ungeschehen geblieben.

 

Ablaß stellte der These des Staatsanwalts und der Sachverständigen seine eigene entgegen. Er zerpflückt die einzelnen Verdachtsmomente aus den Wochen vor dem Kleppelsdorfer Mord. Ablaß erkennt die Bedeutung des Geheimrats Moll vollkommen an, er genieße seinen hohen Ruf mit Recht; aber er habe eine psychologische Theorie aufgestellt, die den angeklagten unzweifelhaft belaste.

 

„Ich weiß, meine Herren Geschworenen“, so erklärt er, „daß das Gutachten Molls auf Sie einen sehr tiefen Eindruck gemacht hat. Aber prüfen Sie sich, ob eine solche Theorie ausreicht, um ein Urteil darauf aufzubauen. In einem Punkte mache ich mir allerdings die Ansicht Molls zu eigen. Ich glaube nicht, daß die ganze Gesellschaft, die sich in dem Wohnzimmer befand, zur Zeit des Mordes hypnotisiert gewesen ist. Wie aber kommt es, daß Irma Schade sich 14 Tage vor dem Prozeß daran erinnert, daß Grupen ihr aus dem Wohnzimmer gefolgt sei, nachdem sie monatelang fest behauptet hat, der Angeklagte sei nicht aus dem Zimmer gegangen. Da glaube ich wahrhaftig an eine Suggestion.“

 

„Die kleine Irma Schade hat soviel vom Hinausgehen Grupens gehört - bis sie sich erinnerte. Aber, meine Herren Geschworenen, ist das eine Grundlage, auf die Sie ein Todesurteil aufbauen können?“

 

„Nur eine Hülse ist unmittelbar nach der Tat gefunden worden, die beiden anderen sind zwar sind zwei volle Tage nach der Tat gesucht und aufgefunden worden! Wie viele Personen sind in diesen zwei Tagen in dem Zimmer aus- und eingegangen! Sind aber diese Hülsen verschoben worden, dann sind alle Gutachten der Schießsachverständigen hinfällig.

 

Warum aber hat der Angeklagte den Mord begangen?   H a t   der Angeklagte Kleppelsdorf? Nein, das Gut fiel an Frau Eckert und die Rohrbeckschen Erben. Man sagt, er hätte auch Frau Eckert in Hörigkeit gehabt, deren Generalvollmacht er besaß, aber was hätte er von dieser Hälfte, über die er vielleicht eine Macht hätte, wo doch die andere Hälfte den Rohrbeckschen Erben gehörte und wo zu jeder Verfügung die Zustimmung der Rohrbeckschen Erben erforderlich war.“

 

Justizrat Ablaß erörtert dann die Möglichkeit, daß Ursel die Täterin war. Die Schüsse müssen in einer Entfernung von mehr als 15 Zentimeter abgegeben sein, da unter 15 Zentimeter sich Verbrennungserscheinungen zeigen.

 

Nach mehr als fünfstündiger Rede schloß Justizrat Ablaß sein Plaidoyer mit den Worten: „Glauben Sie, daß es mir leicht fällt, an die Schuld dieses armen Kindes zu glauben? Aber warum soll es mir leicht fallen, an die Schuld des Mannes zu glauben, der hinter mir sitzt? Das Mädchen war körperlich und sittlich zerrüttet und wir haben oft gehört, wie traurig es über seinen Zustand war.“ Mit erhobener Stimme zu den Geschworenen: „Lassen Sie sich bei allen Ihren Entschlüssen nur von Ihrem Gewissen leiten.“

 

 

 

Dienstag, 20. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Abend-Ausgabe

Todesurteil gegen Grupen.

Drahtmeldung der „Vossischen Zeitung“.

Hirschberg, 20. Dezember.

 

Nach eineinhalbstündiger Beratung verkündete heute mittag Obmann der Geschworenen das Ergebnis: Sämtliche Schuldfragen werden bejaht. Nach diesem Wahrspruch ist die Verurteilung Grupens zum Tode nicht zweifelhaft.

(Siehe Beilage.)

 

 

 

Dienstag, 20. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Abend-Ausgabe

Das Drama auf Schloß Kleppelsdorf.

Drahtbericht unseres Sonderberichterstatters.

P. S. Hirschberg, 20. Dezember.

 

Fünf Stunden hat der Justizrat Ablaß gesprochen, fünf Stunden mit seiner großen wohltönenden Stimme den Raum gefüllt zu einem Plaidoyer, das zweifellos zu den großartigsten seiner Art gehört. Und wenn er auch vielleicht nicht die Meinung derer beeinflußte, die von der Schuld des Angeklagten zu tief überzeugt sind, - auch diese Ueberzeugten müssen sich nach diesem Appell noch einmal die Frage vorlegen, ob es auf Grund des Beweismaterials möglich sei, die Schuldfragen zu bejahen.

 

Es war ¼ 11 Uhr, als Justizrat   M a m r o t h   das Wort ergriff. Er kämpfte in erster Linie gegen die „Volksstimme“ und führte als Beispiel den ernsthaften Amtsrichter aus Itzehoe an, der herkam, um zu erzählen, seine Frau habe gesagt, sie habe gehört, daß Grupen versucht habe, seine Frau einzumauern. Von diesen Redereien dürften die Geschworenen sich nicht beeinflussen lassen und es sei zweifellos, daß eine ganze Reihe von Beweisversuchen auf solche Gerüchte und Redereien sich stützen. Im übrigen seien einige zugespitzte Ausführungen Mamroths wiedergegeben.

 

„Das Plädoyer des Staatsanwalts lasse ich gern gelten als eine Rechtfertigung der Anklage. Die Staatsanwaltschaft hat ihre Pflicht erfüllt, wenn sie auf Grund hinreichenden Verdachtes ihre Anklage erhebt. Aber für das Urteil genügt weder der hinreichende, noch der dringende Verdacht. Hier bedarf es der   B e w e i s e .

 

Wenn Sie, meine Herren Geschworenen, keinen sympathischen Eindruck von dem Angeklagten bekommen haben, so müssen Sie doppelt vorsichtig bei der Erwägung Ihres Urteils sein.

 

Es sind im ganzen doch so viele ungünstige Dinge über das Vorleben der Frau Grupen bekannt geworden, daß man schließlich auch glauben kann, sie habe jenes Ungeheuerliche getan, was der Bruder Grupens durch die Tür gesehen zu haben behauptet. Wenn das aber wahr ist, so war ihr Eheleben so zerrüttet, daß es für sie notwendig war, das Haus zu verlassen und ihr Glück wo anders zu versuchen. Und wenn sie bis heute nichts von sich hat hören lassen, so wissen wir ja nicht, ob sie noch lebt oder ob sie nicht unter ihr bisheriges Leben einen Strich gezogen hat. Ich habe alle Hochachtung vor dem Sachverständigen, Professor Dr. Schneidemühl. Als ich aber Herrn Schneidemühl fragte, wie es komme, daß ein Brief der Frau Grupen, der inhaltlich durchaus harmlos und behaglich war, jene so oft in dem Prozeß erwähnten Wellenlinien zeige, die ein erregtes Gemüt verraten sollen, so antwortete mir Professor Schneidemühl, ja, das käme nicht darauf an, dann sei es eben unwahrscheinlich, daß die Gemütserregung früher gewesen sei; denn solche Dinge zeigten sich in der Handschrift oft noch Wochen später. Mir scheint, mit der Graphologie kann man alles beweisen.

 

Herr Geheimrat Moll hat die Aufgabe, hier über Hypnose zu reden. Er hat die ganze Beweisaufnahme unter der Flagge der Psychologie der Zeugenaussagen aufgerollt. Ich bin gewiß der Ansicht, daß Herr Geheimrat Moll ein scharfsinniger und interessanter Sachverständiger ist, aber ich halte seinen Ausflug in das staatsanwaltliche Gebiet für mißglückt.

 

Der Angeklagte war ein Emporkömmling. Er fühlte sich geschmeichelt, und es war sein Ehrgeiz, in dieser guten Familie eine familienhafte Rolle zu spielen.

 

Der Staatsanwalt hat in einer drastischen Weise ausgeführt, daß Dörthe von Ahnungen erfüllt war und das Unglück herankommen sah. Der Staatsanwalt meint, daß Leute, die ein schweres Schicksal haben, dies immer voraussehen. Wieso hat die kleine Ursula gar nichts geahnt?

 

Der Sachverständige Dr. Kuznizki hat heute gesagt: Wir Aerzte sind Menschen und können irren. Der Sachverständige Dr. Meyer hat von diesem Recht reichlich Gebraucht gemacht. Ein anderer Sachverständiger hat gesagt,   ü b e r z e u g t   sei er nicht, aber für wahrscheinlich halte er die Uebertragung der Krankheit von Grupen auf Ursula …“

 

Staatsanwalt (unterbrechend): Ich bitte den Verteidiger, darauf hinzuweisen, daß der Sachverständige von   h o h e r   Wahrscheinlichkeit gesprochen hat. - Vorsitzender: Ich erinnere mich ebenfalls, daß der Sachverständige sich so ausgedrückt hat.

 

Verteidiger Dr. Mamroth: Selbst, wenn das der Fall ist, so ist das kein Grund, mein Plädoyer zu unterbrechen.

 

Vorsitzender: Es ist die Pflicht des Vorsitzenden, materielle Ungenauigkeiten zu korrigieren.

 

Verteidiger: Ich bin mir der größten Gewissenhaftigkeit bewußt, es muß aber mein gutes Recht sein, die Beweisaufnahme anders zu werten als Sie.

 

Nach diese, kleinen Zwischenfall spricht Mamroth ungehindert weiter. Es wird später und immer später. Auf den Geschworenenbänken nickt einer der Herren nach dem anderen ein. Auch der Vorsitzende schließt für Sekunden die Augen, und am Ende fallen sogar dem Angeklagten die Augen zu, natürlich nur für Momente.

 

In dieser sechzehnstündigen Verhandlung hat der Angeklagte vollkommen regungslos auf seinem Stuhl gesessen und nicht durch die kleinste Bewegung irgendeine Teilnahme gezeigt. Erst um 2 Uhr nachts, als Mamroth zu Ende war, wandte sich Grupen an seinen Verteidiger und schüttelte ihm herzlich und offensichtlich gerührt die Hand.

 

Dann wurde die Verhandlung auf heute vormittag 9 ½ Uhr vertagt. Das Urteil ist wahrscheinlich im Laufe des heutigen Tages zu erwarten.

 

 

 

Mittwoch, 21. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Das Hirschberger Urteil.

Von Paul Schlesinger.

Sonderberichterstatter der „Vossischen Zeitung“.

Hirschberg, 20. Dezember. Das Urteil gegen Peter Grupen lautete auf zweimalige Todesstrafe, fünf Jahre Zuchthaus und dauernden Ehrverlust. Der Angeklagte erklärt, er verzichte auf Revision.

 

Das Urteil ist gefällt, die Hirschberger Bevölkerung, die Mehrzahl der Prozeßbeteiligten ist zufrieden. Es besteht kein Zweifel, daß dieser Spruch ein Wahrspruch ist. Dennoch hinterläßt er eine Beklemmung bei denen, die ein Gefühl für die Größe der von den Geschworenen auf sich genommenen Verantwortung haben. Es war ein Indizienbeweis, der sich in einem ganz wesentlichen Punkte auf die unbeschworene Aussage eines Kindes und auf die unter Eid abgeänderte Aussage einer Greisin stützte. Man darf annehmen, daß die Geschworenen sich ihrer Verantwortung bewußt waren; nicht jedem wird der Spruch leicht geworden sein.

 

Zum Ende einige Worte über die Person Grupens, wie sie sich während des Prozesses dem Auge bot.

 

Man hat von den Opfern wie von den Ueberlebenden dieser Tragödie seelische Porträts entworfen, die um so mühevollere Kunstübungen darstellen, als die verschiedensten Hände an jedem einzelnen mitgearbeitet haben. Daß daran freilich durchweg Meisterhände beteiligt gewesen sein, kann man nicht behaupten. Aber hätte selbst die Linienführung des Staatsanwalts die große Sicherheit wie die der beiden weisen und klugen, das Menschliche von innen her begreifenden Wisser und Kenner Ablaß und Mamroth gehabt - die Bilder müßten verwirrt und verwirrend ausfallen, weil die Kunstübung nicht rein und zwecklos war, sondern nach beiden Seiten höchst entgegengesetzten Zielen zustrebte.

 

Am schlechtesten kamen dabei der Angeklagte und seine verschwundene Frau weg. Der Staatsanwalt malte dieses Doppelporträt so, daß er einen Schurken neben eine Madonna setzte, und die Verteidiger verwandelten die Madonna zu einem Frauenzimmer, den Schurken zu einem reinen Toren.

 

In einem waren freilich Staatsanwalt und Verteidiger auf der rechten Spur oder auf den rechten Spuren. Peter Grupen ist nicht, wie die meisten Menschen, eine Mischung von Gutem und Bösem, ein Einheitswesen, in dem die widersprechendsten Eigenschaften gewissermaßen eine chemische Verbindung eingegangen sind. Er hat nicht die Fehler oder Tugenden des Durchschnittsmenschen. Bei ihm besteht vielmehr eine reinliche Scheidung. Er ist primitiv bis zum 24. Lebensjahr, jedenfalls war er es. Es bestand nun die Frage, welche von den beiden in ihm ruhenden Möglichkeiten er entwickelte. Er entwickelte   b e i d e .   Deshalb sehen wir auf der Anklagebank nicht den Mörder und den Unhold, sondern den braven, den tüchtigen, begabten und hoffnungsvollen Absolventen der Baugewerkschule, dessen Betragen als Angeklagter genau so untadelig ist, wie seine einstigen Lehrer es schildern.

 

Denken wir uns die grauenvolle Tat hinweg, wäre es möglich, ohne Verdacht oder Schuld auf dieser Bank zu sitzen - so haben wir den idealen Angeklagten vor uns, der klug und taktvoll, bescheiden und schweigsam mit vollendetem Anstand die Stelle ausfüllt, auf die ihn das Schicksal gestellt hat. Diesen Prozeß absolviert er wie die Baugewerkschule: Betragen, Fleiß, Aufmerksamkeit lobenswert; nur mit der etwas peinlichen Bemerkung: Er wird zum Tode verurteilt.

 

Wie aber kam es? Ein Verteidiger sprach das Wort „Emporkömmling“ aus. Man ist versucht, es zu erweitern: Ein nach oben Entgleister, und man darf hinzusetzen: Wäre nur „oben“ wirklich ein „Oben“ gewesen! Der aus bäuerlichem Kreis stammende Handwerklehrling wollte adlig werden; er begnügte sich mit dem Aufstieg ins Bürgerliche.

 

Frau Schade, geborene Eckert, - sicher eine Entgleiste nach unten. Nicht der Klatsch über ihre Mannstollheit ist das Entscheidende, nur die Tatsache, daß diese gute und ordnungsliebende, bürgerliche Hausfrau zu einem gefährlichen Zeitpunkt ihres Lebens einen Mann liebte und heiratete, der ganz offensichtlich unter dem Niveau ihres bisherigen
Verkehrs stand. Die kleine Dörthe merkte sehr bald, daß der neue Onkel nicht in den Kreis paßte. Frau Trude Schade war in einer Verfassung, da ihr jeder recht war. Und während die Frau nach unten glitt, stieg der Mann. Wohin?

 

Es sind durch Vermittlung oder Heiratsannoncen viel glückliche Ehen zustande gekommen. Und wer weiß, wohin sich später Grupen entwickelt hätte, wenn etwa diese Ehe eine Einheirat in ein gut gehendes, solide geführtes Geschäft gewesen wäre. Ein rüstiger Schwiegervater, tüchtige Schwäger hätten seinen Ehrgeiz vermutlich wach gehalten. An der Seite einer jungen, von natürlicher Lebensfrische erfüllten Frau hätte er vielleicht die Gefahr seines starken Trieblebens überwunden. Er wäre wohl der Normalmensch geworden, der durch Hemmungen aller Art gezwungen wird, diese rohe motorische Triebe vor das Vehikel seiner Talente zu spannen.

 

Peter Grupen, der von den leitenden Männern seiner Jugend so gelobt wird, hatte das Unglück, in eine Weiberwirtschaft zu geraten. Und diese Frauen hatten das große Unglück, daß er zu ihnen kam. In der näheren Umgebung kein einziger Mann, nicht einmal ein Jüngling oder Knabe. Mit Frau Trude übernahm er drei Mädchen und eine Großmutter. Die nächsten Verwandten sitzen in Kleppelsdorf: ein Backfisch mit einer Erzieherin. Das ist das Menschenmaterial, das sich dem Peter Grupen bei seinem Eintritt ins Bürgerliche Darbot. Sehr in Erinnerung befand sich nur der Schwiegervater seiner Frau aus erster Ehe, und in noch weiterem, auch gesellschaftlichem Abstand der Vormund Dörthes. Nichts ist charakteristischer für Grupen, als die Tatsache, daß er, der sich zu diesem Vormund begeben hatte, um die Rechte Dörthes zu verfechten, sofort umfiel, als er einem wirklichen Mann gegenüberstand. Und das ist der alte Hauptmann Vielhack, so viel man sonst gegen ihn auf dem Herzen haben mag.

 

Diese bürgerliche Weiberwirtschaft war eben deshalb so gefährlich für Grupen, weil er in diesem Kreise keines Menschen gewahr wurde, der wirklich arbeitete. Diese Frauen lebten sämtlich von ihren Renten, und der Emporkömmling war in eine Atmosphäre des Behagens versetzt, der Lässigkeit des mühelosen Dahinlebens. Das kitzelte zunächst seine Sinne und brachte seine Sexualität auf einen Punkt, der schwerlich genau fixiert werden kann. Indessen, er versank nicht in die wollüstigen Dämmerzustände des Orientalen. Dieser holsteinische Junge war von einem Tätigkeitsdrang erfüllt, für den ihm jede Anleitung fehlte. Auf kleinbürgerliche Weise hätte er, der die Ausbildung eines Maurerpoliers hatte, sich vielleicht forthelfen können - man muß jedoch bedenken, sein Gewerbe liegt danieder. Er war kein Kleinbürger mehr, und die tätige Phantasie ließ ihn plötzlich jenen anderen Weg einschlagen, den nach Kleppelsdorf.

 

Die Parade seiner Bräute im Gerichtssaal hatte zunächst den Eindruck erweckt, daß dieser Mann ein ungeheuerlicher Don Juan war. Die Vernehmung ergab, daß es sich bei den sechs Fällen, die sich über zwei Jahre verteilen, meist um ganz vorübergehende und flüchtige Liebesgenüsse handelte. So furchtbar das Verbrechen an Ursel ist - es wird hierdurch in irgendeinem Sinne erklärlich. Eine erotische Atmosphäre war geschaffen, der sich niemand entziehen konnte, weder Greisin noch Kind, wenn auch nur dieses sein Opfer wurde. Das andere Opfer aber war diejenige, fast einzige, deren Instinkte diesem Manne widerstrebten. Es ist nicht ganz mit Unrecht von der Verteidigung gesagt worden: Soll Kleppelsdorf wirklich sein Ziel gewesen sein? Dörthe ist tot -   h a t   Grupen Kleppelsdorf? Sehr sicher war ihm die Beute der Tat nicht. Selbst auf dem Umwege über die Großmutter wäre es ihm schwer geworden, in den Genuß seines Raubes zu kommen. Wenn man behauptet, er hätte nachher gewiß die Großmutter und die kleine Irmgard beiseite geschafft - man könnte mit demselben Recht sagen, er hätte eine von beiden oder beide hintereinander geheiratet! Es gehört vielleicht wenig Phantasie dazu, anzunehmen, daß dieser Mann ein menschliches Wesen wirklich gehabt hat, das einzige, das ihm seelisch und körperlich widerstand, Dörthe. Nicht Ursel haßte diese Cousine, um sie, wie die Verteidigung künstlich konstruiert, zu töten. Peter haßte sie, und seinen ihm selbst möglicherweise unbekannte Haß verpflanzte er auf Ursel bis zu dem Grade, daß sie vielleicht wirklich feindliche Aeußerungen gegen Dörthe tat und den Abschiedsbrief mit eigener Hand schrieb, von dem sie wohl nicht wußte, was er letzten Endes bedeutete, der aber ihrer Verstellungswelt durchaus verständlich war.

 

Denn Dörthe war die Personifikation jener anderen Welt, von der Peter Grupen als Kind geträumt hatte. Dörthe trug nicht das Wörtchen „von“, aber sie war Herrin eines Rittergutes, bewohnte ein Haus, das man Schloß nannte, und sie war heiter, schön, zur Vornehmheit von ihrem Vater bestimmt, und vor diesem Ziel stand Peter Grupen, der Kriegskrüppel, der Prolet, machtlos. Hier fand der Aktionsradius seiner Sexualität eine unüberwindliche Schranke. Er spürte den Widerwillen, den sicheren Instinkt des Mädchens, das vielleicht, bei aller Harmlosigkeit des Backfischalters, fast die einzige fein organisierte Frau war, der Grupen je begegnete, und die er gerade deshalb zerstören mußte, um sie indirekt zu beerben. Aber das Ziel der Erbschaft wird erst besonders erklärlich durch den Haß. Er mußte zerstören, und er räumte tüchtig auf und schickte die von ihm verdorbene, ihm auf seinem weiteren Wege hinderliche Ursel gleich mit auf die große Reise.

 

Doch einer Frau war er allerdings begegnet, einer besonderen, die ihn glücklich gemacht hätte, wenn er imstande gewesen wäre, sein Glück im heimatlichen Umkreis zu erkennen. Sie liebte ihn nicht und gab sich ihm doch, weil man da oben im Holsteinischen nicht so viel davon hermacht, ein Mädchen, das, wie er, dem heimatlichen Umkreise in gewissem Sinne entwachsen war, eine kluge Lernerin, die alle möglichen Ausbildungsschulen absolviert hat und dennoch heute nichts weiter ist als Wirtschafterin auf einem Gut.

 

Er wußte nicht, wer ihm begegnet war, er erkannte nicht, daß dieses sehr schöne und eigentümliche Menschenkind von adligerem Schlage war als alle Schades, Eckerts und Rohrbecks, nahm es hin, weil es so lieblich war, ließ es gehen, ohne Gram.

 

Und sie war adlig, unberührt von allem, was geschah, sie hatte ihr stolzes, reiches Lächeln, als sie, blond und zierlich, mit dem blauen, klugen Auge, wieder und wieder vor Gericht erschien, wo ein bißchen väterliche Verliebtheit von allen Seiten auf sie niederströmte - war es ein Wunder, daß auch Peter Grupen lächelte? Vielleicht tat er es nicht, weil er sie mal geliebt hatte, aber sie waren mal zwei Kinder, die miteinander spielten und von denen keines dachte, daß Kinder gemordet werden können.

 

(Siehe auch 1. Beilage.)

 

 

 

Mittwoch, 21. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Das Todesurteil gegen Grupen.

Hirschberg, 20. Dezember. Im Kleppelsdorfer Mordprozeß sprachen die Geschworenen in der vierten Nachmittagsstunde den Angeklagten Peter Grupen des Mordes in zwei Fällen und des Sittlichkeitsverbrechens in Tateinheit schuldig. Das Urteil des Gerichtshofes lautete zweimal zum Tode und zu fünf Jahren Zuchthaus sowie dauernden Ehrverlust. Der Angeklagte erklärte in seinem Schlußwort auf Revision und Gnadenmittel zu verzichten. (Im größten Teil der gestrigen Abendausgabe bereits veröffentlicht.)

 

Grupens letztes Wort.

Drahtmeldung unsere Sonderberichterstatters.

Nach eineinhalbstündiger Beratung kehrten die Geschworenen in den Saal zurück und verkündeten das Ergebnis ihrer Beratung mit Bejahung sämtlicher Schuldfragen. Dann wurde der Angeklagte hereingeführt. Er war bleich und sichtlich nervös, beherrschte sich aber vollkommen. Zum letzten Wort verstattet, erhob er sich und sprach mit seiner hellen, fast nicht zitternden Stimme:

 

„Ich verzichte von vornherein auf jedes Rechtsmittel, Revision und Gnade. Ich halte Ihren Spruch für einen Fehlspruch, den ich Ihnen nicht übel nehme, weil ich einsehe, daß Sie bei der Form, in der die Anklage gestellt wurde, zu diesem Spruch kommen mußten. Aber ich erkläre, daß ich unschuldig bin, und ich hoffe bestimmt, daß im Laufe der Zeit eine Aufklärung kommen wird.“

 

Der Gerichtshof zog sich zur Beratung zurück und verkündete das Urteil. Zweimal zum Tode, 5 Jahre Zuchthaus, Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Der Angeklagte wurde abgeführt. Mit einem Dank an die Geschworenen schloß der Vorsitzende die Sitzung. Das Publikum brach in lebhafte Beifallsrufe aus, wurde aber vom Vorsitzenden streng zurückgewiesen.

 

Der Verzicht auf Rechtsmittel ist endgültig.

(Von unserem juristischen Mitarbeiter.)

Von all den überraschenden Wendungen, an denen der Kleppelsdorfer Prozeß reich genug war, ist dieser Schluß sicher der überraschendste. Wohl niemand, der die energische Verteidigung des Angeklagten verfolgt hat, hätte geglaubt, daß er dem Urteil gegenüber so schnell die Waffen strecken würde. Soll man darin ein verspätetes Schuldbekenntnis sehen? Ohne Zweifel hat der Angeklagte nicht aus einem augenblicklichen Impuls heraus gehandelt. Denn, über die Tragweite seiner Erklärung ist er sich gewiß nicht im unklaren gewesen. Der Verzicht auf Rechtsmittel ist endgültig. Er ist dem zuständigen Gericht gegenüber erklärt und damit unwiderruflich. Das Todesurteil ist somit rechtskräftig. Anders steht es mit Grupens Verzicht auf Gnadenmittel. Die Ausübung der Gnade ist von seinem Willen unabhängig. Ein Todesurteil darf nach der ausdrücklichen Vorschrift der GPO. nicht vollstreckt werden. bevor das Staatsoberhaupt die Begnadigung abgelehnt hat. Es ist also in jedem Fall vorher zu prüfen, ob von dem Gnadenrechte Gebrauch gemacht werden oder dem Rechte freier Lauf gelassen werden soll. Das Begnadigungsrecht liegt nach Art. 584 der neuen preußischen Verfassung in den Händen des Staatsministeriums, das es namens des Volkes ausübt. Ihm wird es daher obliegen, zu prüfen, ob der Beweis gegen Grupen so lückenlos geführt ist, daß ein Justizirrtum für ausgeschlossen gelten kann.

 

 

 

Donnerstag, 22. Dezember 1921, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Die Rechtskraft des Hirschberger Urteils.

Die Ausführungen unseres juristischen Mitarbeiters im gestrigen Morgenblatt über die bindende Kraft des vom Angeklagten Grupen ausgesprochenen Verzichts gingen von der Voraussetzung aus, daß er diesen Verzicht auf Rechtsmittel, wie die erste Meldung lautete, nach dem   U r t e i l   des Gerichtshofes ausgesprochen habe. Wenn er ihn aber, wie die genauere Darstellung zu ergeben scheint,   n a c h   d e m   W a h r s p r u c h   der Geschworenen und   v o r   dem Urteil erklärt hat, kann ihm bindende Kraft nicht beigemessen werden.

 

 

 

Sonnabend, 28. Januar 1922, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Peter Grupens Selbstmordversuch.

Drahtmeldung der „Vossischen Zeitung“.

Hirschberg, 27. Januar.

 

Ueber den schon gemeldeten Selbstmordversuch Peter Grupens (Anm.: nicht gefunden) erfahren wir noch folgende Einzelheiten: Bald nach seiner Verurteilung zum Tode war Grupen sehr niedergeschlagen. Er erholte sich aber dann wieder und trug seine alte zuversichtliche Miene zur Schau. Vor etwa zwei Wochen fiel eines Tages den Gefängnisbeamten auf, daß es in der Zelle von Grupen sehr ruhig war. Durch das Beobachtungsfenster sah er, daß Grupen Maßnahmen traf, sich zu erhängen. Die Beamten wollten jetzt rasch die Zellentür öffnen, doch leistete diese starken Widerstand. Grupen hatte auf irgendeine Weise die Tür versperrt, obwohl innen kein Riegel war. Die Tür wurde gewaltsam erbrochen, und man kam eben noch zurecht, um den Selbstmord zu verhindern. Daraufhin wurde Grupen, der bis dahin in Einzelhaft war, in eine Gemeinschaftszelle gebracht.

 

In der ersten Zeit nach diesem Vorfall ist Grupen auch, allerdings nicht sehr lange, in den   H u n g e r s t r e i k   getreten. Er verweigerte die Nahrungsaufnahme, besann sich aber bald eines Besseren. Im übrigen hat sein Verhältnis zu den Gefängnisbeamten, die zum Teil in der Schwurgerichtsverhandlung ein gutes Zeugnis über ihn ablegten, eine starke Trübung erfahren, er bereitet den Beamten allerhand Schwierigkeiten und hat besonders einen Beamten gewisser Pflichtwidrigkeiten beschuldigt. Darüber schwebt zur Zeit eine Untersuchung.

 

 

 

Freitag, 24. Februar 1922, “Vossische Zeitung” Abend-Ausgabe

Peter Grupen entflohen.

Mit zwei Komplizen.

 

Der wegen Raubmordes zum Tode verurteilte Architekt Peter Grupen ist in der vergangenen Nacht aus dem Gerichtsgefängnis in Hirschberg i. Schles. entflohen. Mit seinem Zellengenossen hat der einarmige Mörder sich an einem Strohseil herabgelassen und ist entkommen, während die beiden Komplizen sich nach einigen Stunden am Gefängnisportal wieder meldeten. Von seiten der Staatsanwaltschaft sind alle Hebel in Bewegung gesetzt worden, um des flüchtigen Mörders habhaft zu werden, der wohl versuchen wird, über die nahegelegene Grenze nach Böhmen zu entkommen.

 

Grupen war im Gerichtsgefängnis in Hirschberg in der zweiten Etage in einer Zelle untergebracht. Er hatte vor kurzer Zeit einen Selbstmordversuch verübt, indem er sich erhängen wollte. Er wurde jedoch rechtzeitig entdeckt, so daß es beim Versuch geblieben ist. Daraufhin hatte man die Zelle gewechselt und ihn mit zwei anderen Gefangenen zusammengelegt. Mit diesen Mitgefangenen hat nun Grupen die Flucht vorbereitet und ausgeführt. Vor einigen Tagen ist vom Reichsgericht die gegen das Urteil des Schwurgerichts eingelegte Revision verworfen worden, und das Schicksal Grupens war abhängig von dem Ausfall des Gnadengesuches, das an den Reichspräsidenten bereits gerichtet ist. Grupen hat außerdem noch ein Strafverfahren zu erwarten, das ihm den Mord an seiner Frau, die, wie im Hirschberger Prozeß bekundet wurde, spurlos verschwunden ist, zur Last legte. Er hat den Ausgang dieses Verfahrens im Gefängnis nicht abwarten wollen, sondern scheint planmäßig seine Flucht vorbereitet zu haben, zu der ich zweifellos von außen Hilfe gebracht sein muß. Grupen oder einer seiner Zellengenossen hat sich in den Besitz von feinen Sägen gesetzt, mit deren Hilfe es gelang, das schwere Gitter vor dem Zellenfenster zu durchschneiden. Außerdem haben sich die Gefangenen ein Strohseil angefertigt, und nachdem gegen Mitternacht die Durchsägung des Gitters vollendet war und die hindernden Eisenstäbe ausgebrochen werden konnten, haben sich Grupen und seine Komplizen an dem Strohseil an der Außenseite des Gefängnisses herabgelassen. Sie kamen auf das Dach eines Vorbaues, der unmittelbar an die Gefängnismauer angrenzt, die auf die Bergstraße hinausführt. Von dem Vorbau aus ist es ein Leichtes gewesen, die Straße zu erreichen.

 

Die Flucht ist gegen Mitternacht erfolgt; in den frühen Morgenstunden meldeten sich die beiden Zellengenossen wieder am Gefängnistor und brachten die erste Nachricht von dem gelungenen Ausbruch Grupens. Die beiden anderen Gefangenen waren in bürgerlicher Kleidung, Grupen selbst trug den Gefängnisanzug. Es wird nun angenommen, daß Grupen Helfer gehabt hat, die auf ihn in der Nähe des Gefängnisses gewartet haben und die ihn mit Kleidung versahen, so daß er unauffällig weitergehen konnte. Das Gefängnis liegt in dem neuen Stadtviertel von Hirschberg am Kavalierberge, wo sich sonst nur Villen befinden. Die Straßen sind in der Nacht völlig menschenleer, und auch der Wachdienst wird in der Nacht kein allzu großer gewesen sein. So ist es Grupen wohl möglich gewesen, in die naheliegenden Wälder zu entkommen, und unschwer hat er das nur wenige Kilometer entfernte Gebirge erreicht, wo ihn die Riesenforsten aufgenommen haben, und von wo es ihm ein Leichtes sein muß, die an den Hirschberger Kreis anschließende Grenze nach Böhmen zu überschreiten.

 

Auf die Meldung von der Flucht sind seitens der Gefängnisverwaltung sofort alle Hebel in Bewegung gesetzt worden, um des flüchtigen Mörders habhaft zu werden. Die Polizei wurde aufgeboten, die Kriminalpolizei erschien mit den Spürhunden, die zwar die Spur aufnahmen, aber bald versagten, weil das nasse Wetter und der einsetzende Regen die Witterung fortgenommen hatte.

 

Die schlechtreparierte Ausbrecherzelle.

Eigener Drahtbericht.

Hirschberg, 24. Februar.

 

Die Untersuchung, die im Laufe des Vormittags von der Staatsanwaltschaft eingeleitet worden ist, hat mit der Vernehmung der beiden Mitgefangenen Grupens begonnen. Die beiden Gefangenen sagen aus, daß sie unter einem unbegreiflichen Zwange Grupens gehandelt haben, als sie sich zur Flucht mit ihm bereden ließen. Aus der Zelle, in der Grupen inhaftiert war, ist schon vor einiger Zeit ein Gefangener entflohen. Er hat damals eine Eisenstange durchsägt und die Mittelstange entfernt. In einer unentschuldbaren Leichtfertigkeit hat die Gefängnisverwaltung diese entfernte Eisenstange nicht erneuern lassen, sondern nur das Gitter durch zwei Laschen repariert. Diese beiden Laschen sind von Grupen und seinen Komplizen durchsägt worden, und zwar, wie sich jetzt herausgestellt hat, mit einem zu einer Säge umgestalteten Brotmesser. Als die Laschen durchgesägt waren, haben die drei Zellengenossen mit aller ihrer Kraft die Eisengitter nach außen gebogen, und zwar gelang ihnen das so weit, daß schließlich die Oeffnung zum Sichdurchzwängen ausreichte. Dann ist aus den drei Bettlaken ein Strick gedreht worden, an dem sie sich zuerst auf ein Dach herabließen, von dem sie mit dem Strohseil nach einer anderen Seite des Gefängnishofes kamen, wo die hohe Gefängnismauer nicht mehr hinreichte, sondern wo nur ein Zaun das Gefängnisgrundstück zum Garten abschloß. Grupen ist, wie sich jetzt herausstellt, in Reserve-Zivilkleidern der Gefangenen entkommen. Wie das Brotmesser in die Zelle gelangen konnte, ist noch nicht festgestellt. Auch ist nicht ermittelt, wieso die Gefangenen zu dem starken Strohseil kommen konnten. Das Seil ist wahrscheinlich im Gefängnis selbst angefertigt worden, was verständlich ist, weil ein Teil der Gefangenen mit dem Flechten von Strohseilen beschäftigt wird. Trotzdem die Landjägerei des gesamten Kreises und auch die zur Verfügung stehenden Grenzbeamten schon im Laufe des Morgens von der Flucht benachrichtigt wurden, ist es bisher nicht möglich gewesen, eine Spur des entschwundenen Verbrechers von dem Augenblick des Ueberschreitens der Straße an zu entdecken.

 

Peter Grupens Flucht.

Dreimal hat sich der Bautechniker Peter   G r u p e n   in seiner Weise zu dem Urteil geäußert, das die Hirschberger Geschworenen am 20. Dezember vorigen Jahres über ihn wegen der Ermordung der sechzehnjährigen Gutsherrin von Kleppelsdorf, Dorothea Rohrbeck, und seiner Stieftochter, Ursula Schade, über ihn fällten. Er verzichtete spontan auf die Einlegung aller Rechtsmittel - man weiß nicht, war es Absicht oder Unkenntnis, daß er dies in einem Augenblick tat, wo dieser Verzicht keine Rechtsgültigkeit hatte: bevor nämlich der Gerichtshof selbst ihn zweimal zum Tode und überdies wegen Sittlichkeitsverbrechens zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt hatte. Das ermöglichte den Verteidigern die Einlegung der Revision beim Reichsgericht. Während dieses Revisionsverfahren noch schwebte, geschah die zweite „Aeußerung“ Peter Grupens: er versuchte, sich das Leben zu nehmen, wurde aber rechtzeitig daran verhindert. In diesen Tagen hat nun das Reichsgericht die Revision verworfen, und Peter Grupen antwortet nunmehr mit der Flucht.

 

Selbstbeherrschung, körperliche Zähigkeit, unerschütterliche Nervenruhe, Kombinationsgabe und verschlagenste Klugheit waren die Eigenschaften, die Peter Grupen in der vierzehntätigen Verhandlung zur Schau getragen hat. Daß er trotz Verlustes des linken Armes von größter Geschicklichkeit war, wußte man. Trotzdem ist natürlich die Fluchte des Einarmigen ein technisches Kunststück ersten Ranges gewesen.

 

Die Vermutung, daß er bei der Flucht von außen her Hilfe bekommen hat, liegt besonders nahe, wenn man sich an

 

eine Episode des Prozesses

 

erinnert. Es war eine Sensation für sich, als plötzlich ein Geschworener die Frage stellte, ob es wahr sei, daß die beiden Brüder Grupens während des Aufenthaltes, den sie gelegentlich der Voruntersuchung in Hirschberg nehmen mußten, bei dem Gefangenenwärter sich einlogierten, der Peter Grupen zu bewachen hatte. Der Gefangenenwärter mußte diese Frage in der Hauptverhandlung vollinhaltlich bejahen:   d i e   B r ü d e r   G r u p e n   h a b e n   b e i   i h m   g e w o h n t   u n d   g e g e s s e n ;   er hat selbstverständlich für diese Dienste Bezahlung genommen.

 

Diese Tatsache setzt eine gewisse Naivität der Auffassung der Beamtenpflichten voraus, ist aber vielleicht nicht nur für diesen einen Gefängnisbeamten charakteristisch. Denn was dem fragenden Geschworenen bekannt war, wußte die halbe Stadt, und es ist nur zu bezeichnend, daß die Justizbehörden selbst, wenigstens bis zur Hauptverhandlung, in dieser Sache nichts getan haben. Die Flucht Grupens scheint zu beweisen, daß auch seitdem keine Musterung gehalten worden ist.

 

Die freundlichsten Beziehungen der Brüder Grupens zu dem Gefängniswärter ermöglichten auf jeden Fall eine genaue Abstimmung der Aussagen im Prozeß selbst. Der ältere Bruder steht ja der Tat vermutlich ziemlich fern. Dagegen sind gegen   W i l h e l m   G r u p e n   erhebliche Verdachtsmomente vorhanden. Vor allen Dingen machte er vor Gericht einen überaus ungünstigen Eindruck, und in seiner Heimat gilt er, wenn nicht als Mitwisser, so doch als Nutznießer der Grupenschen Taten.

 

Nach seiner eigenen Aussage war Peter Grupen zur Zeit der Tat durchaus nicht vermögenslos. Das ermöglichte ihm, sich des Beistandes der beiden ersten Verteidiger Schlesiens zu versichern. Man hat beobachtet, daß Wilhelm Grupen nach Peters Verhaftung in viel bessere Lebensumstände gekommen ist, und die Frage, wer diese Flucht finanziert hat, ist vermutlich unschwer zu beantworten.

 

Wie weit Peter Grupen auf seiner Flucht kommen wird, ist natürlich eine ganz andere Frage. Bei seiner Verschlagenheit kann man allerdings annehmen, daß er nicht nur an den ersten Tag gedacht hat, sondern daß der Flucht ein weitausschauender Plan zugrunde lag. Seine Prothese, die er sonst zu tragen pflegte, im Gerichtssaale aber nicht angelegt hatte, wird ihm wohl mit der Zivilkleidung wieder zugeführt worden sein. Aber auch so wird es Grupen nicht ganz leicht fallen, unbemerkt auf weite Reisen zu gehen. Die Flucht über das nahe Riesengebirge nach Böhmen ist ja wahrscheinlich. Doch kann sich Grupen auch gesagt haben, daß er gerade in der Tschechoslowakei viel rascher seinen Verfolgern in die Hände fallen muß, als vielleicht in Deutschland, wo er sich in Schlupfwinkel viel länger zu halten vermag - wenn er nicht etwa vorzieht, an irgendeinem abgelegenen Punkte freiwillig aus dem Leben zu scheiden, mit der heimlich-unheimlichen Verlustigung, seine Verfolger noch lange nach seinem Tode in Aufregung zu erhalten. Der kühnen Entschlossenheit, seinem Hang zu originellen Ideen ist ein solcher Ausweg durchaus zuzutrauen.

P. S.

 

 

 

Sonnabend, 25. Februar 1922, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Grupen stellt sich selbst.

Drahtmeldung unseres Berichterstatters.

Hirschberg, 24. Februar.

 

Grupen hat sich am Abend selbst wieder im Gefängnis gestellt. Nähere Einzelheiten fehlen noch.

 

Zu der Flucht Grupens ist noch zu melden:

In der Zellen, in der Grupen nach seinem Selbstmordversuch untergebracht war, befanden sich noch drei Strafgefangene, die aber nur noch kurze Strafen zu verbüßen hatten. Die Zelle liegt im zweiten Stock des nach mordernsten Grundsätzen erbauten Gerichtsgefängnisses. Wie bereits erwähnt, hatte schon früher ein Gefangener in dieser Zelle den Querstab des Gitterwerks durchsägt und war glücklich entkommen. Man hatte nun den Querstab nicht durch einen neuen ersetzt, sondern durch zwei Laschen zusammengeflickt. Ungefähr 2 Meter unter dieser Zelle aber, in einer seitlichen Entfernung von einem reichlichen Meter, ist das Dach des Vorhauses, in dem sich Bureauräume und eine Beamtenwohnung befinden. Am Freitag früh, als um 6 Uhr die auswärts wohnenden Gefängnisbeamten ihren Dienst antreten wollten, fanden sie vor der Gefängnistür die beiden Gefangenen   B o h n   und   V o i g t l ä n d e r .   Sie erzählten, daß sie mit Grupen die Flucht in der Nacht ausgeführt hätten, dann aber zurückgekehrt seien, weil sie doch nur noch geringe Zeit zu verbüßen hätten. Der vierte Gefangene, der mit in der Zelle war, Bulleck, erklärte, von der ganzen Sache nichts gewußt zu haben.   A u f   e i n e m   Z e t t e l ,   der bei ihm lag,   e n t s c h u l d i g t e   s i c h   G r u p e n   i n   h ö f l i c h e m   T o n ,   d a ß   e r   i h m   S c h l a f p u l v e r   g e g e b e n   habe. Das sei aber nötig gewesen, weil Bulleck sonst das Vorhaben vereitelt hätte. Nach den Angaben der beiden zurückgekehrten Flüchtlinge hat sich die Flucht folgendermaßen abgespielt:

Sie haben die Laschen des Gitterwerks mit einem zur Säge umgewandelten Brotmesser abgesägt. Damit hatte das Gitterwerk seinen Halt verloren und konnte leicht mit einem Bettbrett durchstoßen werden. Das Bettbrett wurde hinausgestreckt in der Richtung auf das Dach des Vorhauses und im Innern der Zelle befestigt. An das Ende des Brettes wurde ein aus Bettlaken und Bettüchern zusammengedrehter Strick gebunden. An dem Strick ließen sich zunächst Bohn und Voigtländer und zuletzt Grupen hinab. Auf dem Dach des Vorhauses gingen sie weiter zum Vorderteil des Gebäudes, auf dem sich ein Schornstein befindet. An dem Schornstein befestigten sie eine doppelte Leine, und an dieser ließ sich diesmal Grupen zuerst hinunter. Als die andern unten ankamen, war Grupen bereits spurlos verschwunden. Die beiden Flüchtlinge gingen nun allein in die Stadt, kehrten aber am Morgen in das Gefängnis zurück. Grupen selbst mußte seine Kleider immer abends abgegeben. Er hat sich dafür zur Flucht die Kleider von Bulleck angezogen.

 

Die Flucht hat natürlich in der ganzen Gegend ungeheures Aufsehen erregt. Alle Polizeibeamten befinden sich auf der Suche nach Grupen, dessen Flucht ihn wieder in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses gestellt hat. In den letzten Tagen hat Grupen wiederholt seine Unschuld beteuert. Er wollte nach seinen Angaben das Wiederaufnahmeverfahren betreiben, nachdem die Untersuchung in Altona wegen des Verschwindens seiner Frau erledigt sein würde. Die Einreichung eines Gnadengesuches hat er entschieden abgelehnt.

 

 

 

Sonnabend, 25. Februar 1922, “Vossische Zeitung” Abend-Ausgabe

Grupens Rückkehr.

Drahtmeldung unseres Berichterstatters.

Hirschberg, 25. Februar

 

Grupen, der gestern abend nach dem Gerichtsgefängnis wieder zurückgekehrt ist, hat den Beamten gegenüber jede Auskunft über die Beweggründe seiner Flucht und seinen Aufenthalt während des gestrigen Tages verweigert. Heute vormittag hat er dem Staatsanwalt gegenüber eine Erklärung abgegeben. Er behauptet, die Flucht nur unternommen zu haben, um den Behörden zu beweisen, daß er aus eigener Kraft seine Freiheit wiedergewinnen kann. Er habe, nachdem dieser Beweis ihm geglückt sei, einen weiteren Beweis erbringen wollen, nämlich den, daß er sich vollkommen unschuldig fühle und sei deshalb im Gefühl seiner Unschuld wieder in das Gefängnis zurückgekehrt. Auf die Frage,   w i e   e r   w i e d e r   i n   d e n   G e f ä n g n i s h o f   g e l a n g t   w ä r e ,   erklärt er, daß er   ü b e r   d i e   M a u e r   g e k l e t t e r t   sei. Das wird aber als absolut unmöglich angesehen, trotz aller Vorhaltungen aber bleibt Grupen bei dieser Behauptung. Grupen wurde nach 7 ½ Uhr unvermutet im Hofe des Gerichtsgebäudes angetroffen, der von einer hohen Mauer umgeben ist.

 

Man ist durch de Gang der Untersuchung zu der Ueberzeugung gekommen, daß Grupen nur zurückgekehrt ist, weil in seinem Fluchtplan etwas nicht geklappt hat. Es ist als sicher aufgrund der Aussagen der beiden Fluchtkomplizen Grupens zu betrachten, daß der Plan der Flucht schon länger vorbereitet und daß als Zeitpunkt der Flucht ein früherer Tag bereits vorgesehen war. An diesem Tage sollten in einem vereinbarten Versteck Helfer mit Geld und Kleidern warten. Nun ist aus noch nicht bekannten Umständen die Flucht an dem ursprünglich festgesetzten Termin nicht versucht worden, und als schließlich Grupen mit seinen Komplizen die Flucht gelang und Grupen in das verabredete Versteck kam, fand er seine Helfer nicht vor. Er kam gestern abend völlig verhungert ins Gefängnis zurück. Das Mißlingen seines Planes hatte ihn riesig aufgeregt.

 

Auf der Suche nach Helfershelfern.

Eine unangenehme Ueberraschung erwartete ihn bei seiner Rückkehr, denn gestern waren die Prozeßakten vom Reichsgericht in Leipzig zurückgekommen, die die Zurückweisung seiner Revision enthielten. Von diesem Augenblick an ist nach den Vorschriften des Gesetzes der bisherige Angeklagte als rechtskräftig verurteilt anzusehen, und damit wurde aus dem bisherigen Untersuchungsgefangenen der Strafgefangene. Grupen hat also jetzt alle Vergünstigungen, die ihm als Untersuchungsgefangenen zuteil wurden, verloren. Er wird nun als der zur Zuchthausstrafe verurteile Verbrecher behandelt. Diese Umstände lassen eine Anwendung der verschärften Maßregeln zu, so daß Grupen jetzt wohl kaum mehr Gelegenheit haben wird, sich mit Komplizen zu einem neuen Fluchtplan zu vereinigen.

 

Die Untersuchung über die Schuldigen und die Helfershelfer an der Flucht des Mörders ist gestern mit allen Mitteln eingesetzt worden.   D i e   K r i m i n a l p o l i z e i   h a t   i m   L a u f e   d e s   g e s t r i g e n   T a g e s   u n d   a u c h   h e u t e   v o r m i t t a g   m e h r e r e   H a u s s u c h u n g e n   v o r g e n o m m e n .   Es steht als sicher fest, daß Grupen die Möglichkeit gefunden hat, sich durch Insassen oder Beamte des Gefängnisses mit der Außenwelt zu verständigen. Die ihm gewährte Hilfe, die in der Uebermittlung der Nachrichten und vielleicht auch bei der Beschaffung der für die Flucht notwendigen Gegenstände zuteil wurde, kann nur durch Personen geschehen sein, die mit dem Gefängnis in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Die Zustände in der Gefängnisverwaltung sind schon in dem Schwurgerichtsprozeß in eigenartigem Licht erschienen. Sie haben wohl auch die Mißbilligung der vorgesetzten Stellen gefunden. Deshalb ist vor kurzem ein Wechsel in der Leitung des Gerichtsgefängnisses vorgenommen worden. Aber in der kurzen Zeit war es wohl noch nicht möglich, durchgreifende Reformen einzuführen. Wenn die Gerüchte sich bewahrheiten, die in Hirschberg, in engster Beziehung mit dem Gefängnis stehen. Nach dieser Richtung hin bewegen sich auch die von der Kriminalpolizei geführten Ermittlungen, von denen man ein baldiges Resultat sich verspricht. Grupen selbst bestreitet nicht, Helfer gehabt zu haben, was ihm auch niemand glauben würde. Er erklärt nur, daß er darüber kein Wort sagen wird.

 

Grupens Gattenmordprozeß.

Wegen des drohenden Verfahrens, das die Staatsanwaltschaft in Altona gegen Grupen wegen des Mordes an seiner Frau eingeleitet hat und das in Kürze zu einer Verhandlung vor den Altonaer Geschworenen führen wird, hat sich Grupen vor kurzem an den Berliner Anwalt Dr. Puppe gewandt und ihn gebeten, seine Verteidigung in dem Prozeß zu übernehmen. Rechtsanwalt Dr. Puppe hat diesem Ersuchen entsprochen und sich bereit erklärt, das Mandat zu übernehmen. Er hat auch gleichzeitig damals Grupen mitgeteilt, daß er nach etwaiger Verwerfung der Revision des Hirschberger Urteils einen Antrag auf Aufschiebung des Strafvollzugs, also der Hinrichtung, stellen wird. Dieser Prozeß in Altona kann zu einer Aufrollung des Hirschberger Prozesses führen, weil ein großer Teil der damaligen Feststellungen auch in dem neuen Prozeß zur Sprache kommen muß. Es könnte dann sein, daß diese Feststellungen und namentlich die Gutachten des Geheimrats Moll und des Schreibsachverständigen, die das Zünglein der Wage zuungunsten Grupens ausschlagen ließen, von anderen Sachverständigen angezweifelt würden. Aus diesen allerdings vorläufig noch sehr vagen Hoffnungen könnte für Grupen dann die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens erwachsen.

 

 

 

Dienstag, 28. Februar 1922, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Grupens Fluchtversuch.

Die Angelegenheit Grupen wird, wie uns unser Hirschberger Korrespondent drahtet, immer verwickelter. Während bisher Grupen immer behauptet hat, er habe in einer Privatwohnung den Freitag verbracht, tritt er jetzt mit der Behauptung auf, er habe das Gefängnisgrundstück gar nicht verlassen, sondern sich vielmehr im Blitzableiterschacht im Holzhof verborgen. Ob diese Angabe richtig ist, läßt sich natürlich noch nicht sagen; es ist aber nicht zu verkennen, daß für die Richtigkeit dieser Angabe verschiedene Momente sprechen. So war Grupen, als er sich abends stellte, ausgehungert, dann hatte er auch keine Schuhe an und die Beschaffenheit seiner Strümpfe sprach nicht dafür, daß er den ganzen Tag ohne Fußbekleidung herumgelaufen war. Die Ermittlungen, inwieweit Gefängnisbeamte Grupen Vorschub geleistet haben, sind noch nicht abgeschlossen. Seit Anfang Januar aber ist schon der Strafanstaltsinspektor Schentke beurlaubt und seit Anfang Februar vom Dienst suspendiert worden. Am Sonnabend hat auch noch ein anderer Gefängnisbeamter unfreiwillig Urlaub nehmen müssen. Wahrscheinlich hängen beide Angelegenheiten mit dem Fall Grupen zusammen.

 

 

 

Donnerstag, 3. März 1922, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Selbstmord Grupens.

In der Einzelzelle erhängt aufgefunden.

Hirschberg, 2. März (W. T. B.)

 

Peter Grupen, der Doppelmörder von Kleppelsdorf, der nach seiner außerordentlich verwegenen Flucht und seiner in den Motiven bisher unaufgeklärten Rückkehr ins Hirschberger Gefängnis in strenger Einzelhaft gehalten wurde, hat sich durch Erhängen mit seinem Hosenträger das Leben genommen. Ein kontrollierender Beamter fand ihn am Nachmittag um 5 Uhr in seiner Zelle tot auf.

 

Grupen hatte bereits einmal einen Selbstmordversuch nach dem Todesurteil, das über ihn gefällt worden ist, gemacht, als er noch in Einzelhaft saß. Er wurde damals sofort nach dem Versuch in einer Zelle mit anderen Gefangenen zusammen untergebracht. Mit einigen von diesen gelang seine Flucht, die alle Welt verblüffte. Nach seiner Selbstgestellung kam er wieder in Einzelhaft, die dadurch bedingt war, daß das Reichsgericht schon vor der Flucht die eingelegte Revision gegen das Urteil verworfen hatte.

 

Durch den Tod Grupens ist das gegen ihn eingeleitete Verfahren wegen des unaufgeklärten Verschwindens seiner Frau, das in Altona stattfinden sollte, hinfällig geworden, und man wird wohl nie erfahren, was aus Frau Grupen geworden ist, von der aber Unzählige annehmen, daß sie, ebenso wie die beiden Kinder aus Kleppelsdorf, ein Opfer Grupens geworden ist.

 

Wie uns ein   e i g e n e r   D r a h t b e r i c h t   aus Hirschberg meldet, war Grupen nach seiner Rückkehr von seiner in der Nacht zum vorigen Freitag unternommenen Flucht in Einzelhaft genommen worden. Im Augenblick seiner Selbstgestellung war   G r u p e n   damals   s e h r   e r r e g t .   Schon am nächsten Tage bei den umfangreichen Verhören trug Grupen das alte, mit Höflichkeit gepaarte Wesen zur Schau. Weder die vernehmenden Beamten noch die Wärter hatten Grund zur Klage. Grupen verweigerte einige Aussagen, machte sonst aber keinerlei Schwierigkeiten.

 

Auch gestern hat Grupen sein Mittagessen noch mit aller Ruhe eingenommen. Keinerlei Anzeichen von Erregung waren an ihm bemerkbar. Auch bei einer um 4 Uhr nachmittags vorgenommenen Revision seiner Zelle war Grupen völlig gelassen. Bei der nächsten, gegen ¾ 5 Uhr vorgenommenen Revision war Grupen bereits tot. Er hatte sich mit einem Hosenträger an der Zentralheizung seiner Zelle erhängt. Alle Wiederbelebungsversuche, die sofort angestellt wurden, waren vergeblich. Grupen hat keinerlei Auslassung, auch nicht eine Zeile, hinterlassen. Er hat vielmehr in den letzten Tagen über den Mord von Kleppelsdorf nicht anders als sonst behauptet, daß er unschuldig sei.

 

 

 

Freitag, 3. März 1922, “Vossische Zeitung” Abend-Ausgabe

Disziplinarverfahren im Fall Grupen.

Drahtmeldung der „Vossischen Zeitung“.

Hirschberg, 3. März

 

Die Ermittelungen über die Helfershelfer, die Grupen bei seiner Flucht aus dem Hirschberger Gerichtsgefängnis Dienste geleistet haben, sind zu einem gewissen Abschluß gekommen.   G e g e n   z w e i   B e a m t e   d e s   G e r i c h t s g e f ä n g n i s s e s   ist das Disziplinarverfahren eingeleitet worden, weil sie dringend der Begünstigung des Verbrechers erscheinen. Ein dritter Fall wird noch weiter untersucht und dürfte auch das gleiche Verfahren zur Folge haben.

 

Ueber den Selbstmord Grupens wird noch bekannte, daß hier kaum anzunehmen ist, daß Grupen Hilfe von außerhalb gehabt hat. Das war auch gar nicht nötig. Er hat seine Hosenträger zu einer Schlinge zusammengebunden und diese über einem etwa in Kopfhöhe an der Zellenwand entlanggehenden Rohr der Zentralheizung angebracht. Dann hat er den Kopf durch die Schlinge gesteckt und ist erstickt. Zuvor hat er das Guckloch seiner Zellentür mit Papier verklebt. Der Beamte, der auf seinem Kontrollgang um 4 Uhr Grupen auf seinem Schemel sitzen sah, hat eine halbe Stunde später das verklebte Guckloch sofort bemerkt und daraufhin die Zellentür geöffnet. Grupens Körper war noch warm, es wurden Wiederbelebungsversuche unternommen, die aber der Arzt nach anderthalbstündiger Arbeit als aussichtslos aufgab.

 

 

 

Mittwoch, 8. März 1922, “Vossische Zeitung” Morgen-Ausgabe

Das Rätsel „Peter Grupen“.

Die Tragödie von Kleppelsdorf.

Von

Justizrat Dr. Mamroth, Breslau.

 

Peter Grupen ist tot. Er wird nach der Verhandlung und Verurteilung für alle Zeiten als der Mörder der beiden jungen Mädchen von Kleppelsdorf gelten. Nichtsdestoweniger geben wir den folgenden Ausführungen seines Verteidigers Raum, weil sie eine kluge, geistreiche, kriminalistische Studie bedeuten, die mit ihren psychologischen Feinheiten auch heute noch den Fall Grupen interessant macht.

 

Mit dem Selbstmord Peter Grupens ist der Schlußpunkt unter die furchtbare und merkwürdige Tragödie gesetzt worden, die unter der Bezeichnung „Der Kleppelsdorfer Doppelmord“ wochenlang weiteste Kreise in atemloser Spannung gehalten hat. Ein Schlußpunkt, aber keine Lösung, denn kein Einsichtiger wird glauben können, daß etwa der Selbstmord oder der vorangegangene Fluchtversuch des rechtskräftig zum Tode Verurteilten ein Bekenntnis seiner Schuld oder  ein Anerkenntnis der Richtigkeit des über ihn gefällten Urteils bedeutete. Wer die Verhandlung selbst durchlebt, wer es mitempfunden hat, welch harte, unheimliche Suggestion von draußen in den Gerichtssaal eindrang, wer den gesamten Akteninhalt und auch die Aeußerung des als Zeugen vernommenen Untersuchungsrichters, er sei bald nach den ersten Vernehmungen von der Schuld des Angeklagten überzeugt gewesen, gehört, wer den Eindruck der Persönlichkeit Peter Grupens, nicht nur in der Verhandlung selbst, sondern auch aus langen Unterhaltungen mit ihm in seiner Gefängniszelle auf sich wirken fühlte, wer schließlich aus langjähriger Erfahrung die oft trügerische Gefährlichkeit eines bloßen Indizienbeweises kennt, der wird sich bangen Zweifeln nicht entziehen können, ob trotz der mustergültig objektiven, auf möglichst restlose Aufklärung hinwirkenden Leitung der Verhandlung, der sie abschließende Spruch der Geschworenen wirklich ein Wahrspruch war. Ich muß meinerseits ein großes Fragezeichen hinter ihr „Schuldig“ setzen.

 

Ich sehe voraus und verüble es niemand, wenn er geneigt sein sollte, mein Urteil als von einer gewissen Verteidigersubjektivität beeinflußt anzusehen, ich will aber auch gar kein Urteil abgeben und noch weniger ein Verteidigungsplädoyer halten, es sei mir vielmehr nur gestattet, eine Reihe von Tatsachen zu referieren, die durch die Verhandlungen sichergestellt worden sind, die aber der Oeffentlichkeit bisher noch nicht zum rechten Bewußtsein gelangt und die doch geeignet sind, die Mordtat, deren Grupen für schuldig befunden wurde, für höchst unwahrscheinlich, ja als kaum denkbar erscheinen zu lassen.

 

Seine Persönlichkeit, sein Vorleben und die Entwicklung seines Charakters bezeichnet die Anlage als „derartig ungesund, daß sie zu einem gewaltsamen Abschluß geradezu drängte“. Was hat die Verhandlung darüber ergeben? Grupen, der Sohn bestbeleumundeter einfacher Eltern, hat das Maurerhandwerk erlernt und schon mit 19 Jahren selbständig einen Bau geleitet, hat sich durchgedarbt, um die Baugewerkschule zu besuchen, hat dort nach dem Zeugnis seiner Lehrer mit eisernem Fleiß bis in die Nächte gearbeitet, ist dann bei Ausbruch des Krieges ins Feld gezogen, von dort nach zwei Jahren, ausgezeichnet für Tapferkeit vor dem Feinde durch das Eiserne Kreuz und das Oldenburgische Verdienstkreuz, zurückgekehrt, nachdem ihm ein Arm amputiert worden war und er einen schweren Typhus überstanden hatte. Kaum genesen, ging er wieder an die Arbeit, wurde Zeichner bei den Vulkanwerken und nahm am Abend Privatstunden, um zu einer höheren Fachbildung zu gelangen. Keine Stimme hat sich erhoben, die ihm aus jener Zeit bis zur Verheiratung mit seiner späteren Frau, der verwitweten Frau Schade, im Dezember 1919 das geringste nachsagen konnte, was einen Makel auf seinen Charakter warf. Nur fünf Liebesverhältnisse mit Mädchen aus seinen Kreisen sind ihm zum Vorwurf gemacht worden, und der psychiatrische Sachverständige exemplifizierte auf sie mit Nachdruck zum Beweise dafür, daß ihm eine unheimliche suggestive Wirkung auf das weibliche Geschlecht, das ihm dadurch in „sexueller Hörigkeit“ untertan wurde, innewohnte. Diese fünf Liebesverhältnisse verteilen sich auf drei Jahre, Grupen stand damals im Alter zwischen 22 und 25 Jahren und war ein schöner, kraftvoller blonder Bursche. Man muß wirklich zur Konstruktion geheimnisvoller, übernatürlicher Kräfte greifen, um die Erklärung dafür zu finden, daß diese fünf Dorfmädchen sich ihm nicht versagten? Aber die Fabel von seiner angeblichen suggestiven Kraft spielte eine verhängnisvolle Rolle bei der ganzen Bewertung Grupens als einer unheimlichen, mit dunklen Mächten im Bunde stehenden Persönlichkeit. Auf sie wurde die - doch wahrhaftig nicht ungewöhnliche - Tatsache zurückgeführt, daß seine spätere Frau und seine Schwiegermutter ihm Generalvollmacht zur Erledigung ihrer Vermögensangelegenheiten erteilten, und im Beginn der Untersuchung verfolgte man allen Ernstes den Gedanken, daß er der armen kleinen Ursel den Mord an Dörte und ihren Selbstmord suggeriert habe.

 

Seine Ehe mit der um etwa zehn Jahre älteren verwitweten Frau Schade wurde ihm als ein Akt großer Frivolität angerechnet, diktiert durch das Bestreben, um jeden Preis „reich zu werden“. Aber Frau Schade war erwiesenermaßen nicht reich, sondern nur leidlich wohlhabend und überdies eine noch sehr reizvolle, liebenswerte Frau Ende der dreißiger Jahre. Die Ehe kam auf Grund einer von Grupen und ein paar Kriegskameraden im Uebermut veröffentlichten Heiratsannonce zustande, auf die Frau Schade eine Zusammenkunft herbeiführte und sich, wie sie später an eine Freundin schrieb, sogleich „rasend in ihn verliebte“. Auf wessen Seite lag die Frivolität dieser Eheschließung? Uebrigens war die Ehe in den ersten Monaten restlos glücklich, sie trübte sich nach der Angabe Grupens, weil seine Frau Neigungen zeigte, denen seine gesunde Natur widerstrebte. Nach den Feststellungen, die die Verhandlung hierüber erbrachte, sehe ich keinen Anlaß, die Wahrheit dieser Behauptung anzuzweifeln.

 

Das unaufgeklärte Verschwinden der Frau Grupen hat einen breiten Raum in der Schwurgerichtsverhandlung eingenommen, wohl drei Tage lang sind Zeugen darüber vernommen worden, ein ungewöhnliches Verfahren, denn, wenn auch nur „hinreichender Verdacht“ vorgelegen hätte, daß Grupen seine Frau verbrecherisch beseitigt, wäre die Staatsanwaltschaft zur Erhebung der Anklage auch dieserhalb gesetzlich verpflichtet gewesen. War dies nicht der Fall, so konnte diese Beweisaufnahme nur den Zweck verfolgen, aus der Unlöslichkeit auch dieses Rätsels eine gewisse Stimmung zuungunsten des Angeklagten zu erwecken, die zu den Imponderabilien gehört, denen sich gerade Geschworene nur selten entziehen können. Ich glaube nicht fehl mit der Annahme zu gehen, daß dieses Intermezzo bei ihrer Beratung schwer in die Wagschale fiel. Und doch hat in Wirklichkeit die Beweisaufnahme gerade hier lediglich Tatsachen sichergestellt, die mit der Annahme einer Schuld Grupens am Verschwinden seiner Frau ganz unvereinbar sind. Am 19. September 1919 wollte sie mit einem Zuge, der kurz nach 8 Uhr abends von Itzehoe abging, nach Kleppelsdorf reisen. Nach 6 Uhr bestieg sie mit ihrem Manne in Ottenbüttel den kleinen offenen Wagen, der sie zur Bahn bringen sollte. Mit ihnen fuhr ein Dienstmädchen, das einen im Vereinshaus von Itzehoe um ½ 8 Uhr stattfindenden Vortrag besuchen wollte. Das Mädchen bezeugte eidlich, daß die Herrschaft sie im Vereinshause abgesetzt habe, daß sie aber erst einige Zeit nach Beginn des Vortrages eingetroffen sei. Der Weg vom Vereinshaus zum Bahnhof beträgt 8 bis 10 Minuten und führt quer durch die Stadt. Grupen erklärt, daß er seine Frau zum Bahnhofe gefahren, sie aber nicht auf den Bahnsteig begleitet habe, weil niemand da war, ihm das Pferd zu halten, und daß er sich deshalb von ihr am Eingange des Bahnhofes verabschiedet habe. Seitdem fehlt jede Kunde über ihren Verbleib. Gehört es unter diesen Umständen nicht in das Gebiet abenteuerlicher Vermutungen zu glauben, daß der einarmige Mann, der überdies sein Pferd kutschierte, auf dem, mitten durch die belebte Stadt führenden Wege vom Vereinshause zur Bahn, in offenem Wagen an einem Septemberabend zwischen ½ 8 und 8 Uhr seine Frau ermordet haben soll? Oder daß er sie, die jahrelang in Itzehoe gewohnt hatte und natürlich den Weg nach dem Bahnhof genau kannte, ohne Widerstand zu finden, statt dorthin zu fahren, irgendwo außerhalb der Stadt verschleppt haben soll? Erwiesen durch das eidliche Zeugnis des Dienstmädchens ist aber überdies folgender bemerkenswerter Vorgang, den ich in keinem Zeitungsbericht erwähnt fand. Auf der Fahrt nach Itzehoe hat Frau Grupen dem Mädchen einen offenen Zettel für den Knecht Roske übergeben, der die Weisung erhielt, er solle am nächsten Morgen, wenn er die Kinder zur Schule nach Itzehoe fahre, ihren Rohrplattenkoffer, in dem sich schmutzige Wäsche befinde, mitnehmen und mit Eilfracht nach Hamburg bahnhoflagernd aufgeben. Roske hat den Zettel erhalten, den Auftrag aber nicht ausgeführt, weil der Koffer für den kleinen Schulwagen zu groß war, und weil überdies die alte Frau Eckert erklärte, die Schmutzwäsche sei nicht nach Hamburg, sondern nach Neumünster zu schicken. Erst später, nachdem aus Kleppelsdorf das Nichteintreffen der Frau Grupen gemeldet und ihre Abschiedsbriefe aufgefunden worden waren, in denen sie ihre Abreise nach Amerika anzeigte, wurde der Koffer geöffnet, und man fand darin fünf Kostüme, ihre gesamte Leibwäsche, Schuhe usw., kurz alles, was eine Dame auf eine lange Reise mitzunehmen pflegte. Rechnet man hinzu, daß die unmittelbar vor der Abreise ihr und der Kinder gesamte Sparguthaben abgehoben und mit größter Dringlichkeit um die Veräußerung eines Anteilscheines an einer G. m. b. H. bemüht gewesen ist, und berücksichtigt man schließlich auch, daß nach ihrem Charakter und Vorleben der extravagante Entschluß einer solchen Reise durchaus nicht im Gebiete des Unwahrscheinlichen lag, so müssen diesen erwiesenen Tatsachen gegenüber die vagen Indizien für eine Schuld Grupens am Verschwinden seiner Frau völlig verblassen.

 

Was aber die Mordtat selbst betrifft, so mag man sich erinnern, unter welchen Umständen sie erfolgte: Die ganze Familie war versammelt, in dem einen Zimmer des ersten Stocks Grupen, die Großmutter Eckert, Ursel, ihre Schwester Irma und die Wirtschafterin Mohr, im Nebenzimmer Dörte und Frl. Zahn. Etwa eine halbe Stunde vor der auf 12 ½ Uhr angesetzten Tischzeit erhob sich Ursel, trat an die Tür des Nebenzimmers und rief hinein: „Dörte, komm doch einmal!“ Dörte folgte dem Ruf und beide gingen in das ein Stockwerk tiefer gelegenen Fremdenzimmer - für sie ein ungewöhnlicher Aufenthaltsort, so daß die kleine Irma, als sie etwa eine Viertelstunde später auf Geheiß des Frl. Zahn nach ihnen suchen ging, mit der Meldung zurückkam, sie finde sie nicht. Wieder etwa eine Viertelstunde darauf kam das Dienstmädchen, um zu Tisch in das neben dem Fremdenzimmer gelegene Eßzimmer zu rufen. entgegenstürzte, das Dörte tot und Ursel röchelnd im Fremdenzimmer vorgefunden hatte. Welche Fülle von Unwahrscheinlichkeiten drängen sich gegenüber dem Gedanken auf, daß Grupen in dieser Zeit die Schreckenstat begangen hat! Ich will davon absehen, daß ursprünglich alle Anwesenden erklärten, er habe während dieses Zeitraums das Zimmer gar nicht verlassen, die alte Frau Eckert und die kleine Irma haben später die Möglichkeit zugegeben, daß er sich auf wenige Minuten entfernt haben könne. In diesen Minuten soll er heruntergeeilt, die beiden Mädchen, die er doch unmöglich in dem abgelegenen Fremdenzimmer vermuten konnte, gesucht und gefunden haben, soll die drei Schüsse auf sie abgegeben, den Revolver neben Ursel gelegt, ihr das Patronenpäckchen in die unter den Kleidern verborgene Unterziehtasche gesteckt, wieder die Treppe hinaufgestiegen sein und sich zu den übrigen gesetzt, weiter Mühle gespielt und scherzhafte Reden mit Frl. Zahn gewechselt haben, als sei inzwischen nichts geschehen?

 

Um Dörte zu töten, soll er sich gerade eine Gelegenheit ausgesucht haben, wo er genau wußte, daß er sie nicht allein, sondern in Gesellschaft Ursels traf, an der er mit zärtlicher Liebe hing? Einen Zeitpunkt, in dem er sich sagen mußte, daß seine Tat in wenigen Minuten entdeckt sein würde, weil der Ruf: „Zu Tisch!“ unmittelbar bevorstand? In welchem deshalb auch mit der starken Möglichkeit zu rechnen war, daß Ursel - die ja tatsächlich noch drei Stunden gelebt hat -, wenn man sie fand, ihn als Täter bezeichnete? In einem Zimmer soll er sein blutiges Werk getan haben, dessen Zugang durch das Eßzimmer führte, in welches das Dienstmädchen, wenn sie noch irgendeine Verrichtung für den Mittagstisch besorgte, ihn eintreten, oder aus dem sie ihn herauskommen sehen mußte, ein Zimmer, von dem aus die Schüsse oder ein Angstschrei der Ermordeten in der nicht fern gelegenen Küche leicht hätte gehört werden können? Diese ungünstigste aller Gelegenheiten, diesen denkbar ungeeignetsten Moment, diesen seiner Lage nach gefährlichen Raum soll sich ein Mann für eine Untat ausgewählt haben, von dem angenommen wird, daß er, nach raffiniert entworfenem, wohl überlegtem Plan kaltblütig „über Leichen“ seinem Ziel zustrebte? Und welches war dieses Ziel? Der Besitz von Kleppelsdorf! Ihn soll er durch seinen übermächtigen Einfluß auf die alte Frau Eckert erjagen zu können gehofft haben. Aber wenn Dörte starb, wurde sie ja nur zur Hälfte von der Großmutter und zur andern Hälfte von zwei Onkels beerbt, und das Vermögen Dörtes bestand außer Kleppelsdorf in einem Berliner Grundstück und einer Summe von Wertpapieren. Wäre es nicht hirnverbrannt gewesen, zu glauben, daß bei der Teilung der Erbschaft Kleppelsdorf der 77jährigen Großmutter und nicht vielmehr einem der zwei Miterben, die beide Landwirte waren, zufallen würde?

 

Nein, je mehr ich allen diesen Fragen nachsinne, desto angstvoller bedrängen mich Zweifel über Zweifel, ob der Spruch der Hirschberger Geschworenen nicht ein furchtbar verhängnisvoller Fehlspruch war, und ob Grupen als ein Schuldbeladener, der sich dem irdischen Richter entziehen wollte, und nicht vielmehr als ein Mann in den Tod ging, der daran verzweifelte, Gerechtigkeit zu finden.

 

 

 

Sonnabend, 18. März 1922, “Vossische Zeitung” Abend-Ausgabe

Die Schuld Grupens.

Hatte er Helfershelfer?

Von

Paul Schlesinger.

 

Ein Artikel der „Deutschen Strafrechtszeitung“ (IX. Jahrgang, Heft 1) aus der Feder des früheren Hirschberger Landgerichtspräsidenten Dr. Karsten (Anm.: siehe unten) gibt noch einmal Veranlassung, sich mit Peter Grupen zu beschäftigen, dem sein Verteidiger Justizrat Dr. Mamroth an dieser Stelle vor einigen Tagen die letzte Wohltat einer versuchten Ehrenrettung erwies. Dr. Karsten, der der Hirschberger Verhandlung fast ununterbrochen beiwohnte, kommt zu einem den Ausführungen Mamroths völlig entgegengesetzten Schluß. Er verkennt nicht, daß die Hirschberger Atmosphäre auf die Geschworenen einen gewissen Einfluß ausübte, aber er betont, „daß in   d i e s e r   Sache allem Ermessen nach ein großes Schöffengericht oder eine Strafkammer zu genau dem gleichen Ergebnis gelangt sein würde …“, und er schließt seine eingehenden Darlegungen über den Verlauf des Prozesses mit den Worten: „Nur wer den Satz vertritt, auf einen   r e i n e n   I n d i z i e n b e w e i s   hin dürfe niemals verurteilt werden, kann den Spruch gegen Grupen bemängeln. Ich finde aber, daß es zu begrüßen ist, wenn Geschworene sich durch die Erwägung, ein sozusagen „mathematischer“ Beweis sei nicht geführt, nicht hindern lassen, den Mut zu einer Verurteilung bei einem so erdrückenden Indizienbeweise aufzubringen.“

 

So scharf und eindeutig Dr. Karsten seine Ueberzeugung von der Schuld Grupens formuliert, man sieht auch in dem Gefüge seiner Sätze jenen deutlichen Riß, der durch das Mißlingen des mathematischen Beweises verursacht wird und der es möglich macht, daß ein so ausgezeichneter Kriminalist wie Dr. Mamroth auch heute noch an der Schuld seines Klienten zweifelt.

 

Mit Recht nennt Karsten die Erörterung, ob Grupen zur zeit des Mordes das Zimmer verlassen hat, in dem er sich mit der alten Frau Eckert, der kleinen Irmgard und dem Kindermädchen, seiner Geliebten, aufhielt, den Kernpunkt der Verhandlung. Man kommt darüber nicht hinweg, daß diese drei Personen lange Zeit der Ueberzeugung waren, Grupen habe das Zimmer   n i c h t   verlassen, daß die 76jährige Frau Eckert im weiteren Verlauf der Voruntersuchung die Möglichkeit zugab, daß sie eine kurze Abwesenheit Grupens nicht bemerkt haben könne und daß die elfjährige Irmgard erst in der Hauptverhandlung bekundete: Grupen habe, als sie für einen Moment aus dem Zimmer ging, ebenfalls den Raum für kurze Zeit verlassen. Die Aussage des Kindermädchens, das heute noch bei ihrer früheren Ansicht beharrt, mag als befangen von vornherein ausgeschaltet sein. Dagegen muß, was Herr Dr. Karsten verabsäumt, hinzugefügt werden, daß Frl. Zahn bei offener Tür im Nebenzimmer anwesend war und ebenfalls von einem Hinausgehen Grupens nicht bemerkt hat. Herr Dr. Karsten nimmt berechtigten Anlaß, die Unsicherheit der Beobachtung durch Zeugen zu betonen, indessen ist eigentlich kaum recht verständlich, daß er der veränderten Aussage, zumal eines Kindes, viel größere Bedeutung beimißt als der ursprünglichen, die unmittelbar nach der Tat erfolgte. Dazu muß aber noch etwas gesagt werden: merkwürdigerweise betrat der Staatsanwalt gar nicht die Brücke, die ihm die Aussage der kleinen Irmgard baute; aus Zeitgründen nahm er vielmehr an, Grupen habe schon vorher einmal das Zimmer verlassen gehabt, um den Mord zu begehen - und für dieses erstmalige Verlassen gibt nun wirklich keine einzige Zeugenaussage auch nur den geringsten Anhaltspunkt. Man   k a n n   natürlich annehmen, eine Abwesenheit von zwei bis drei Minuten sei nicht bemerkt worden, aber hier klafft die große Lücke der Beweisführung, und diese Lücke wird um so deutlicher, wenn man sie mal von der anderen Seite, von der Seite Grupens, betrachtet.

 

Möglich nämlich, daß seine Abwesenheit nicht bemerkt wurde - aber konnte Grupen mit irgendwelcher Sicherheit auf eine so mangelhafte Beobachtung rechnen? alle Prozeßbeteiligten sind von seiner hohen Intelligenz überzeugt. Der ganze Plan war darauf angelegt, daß man die kleine Ursula für die Täterin halten sollte.   W e i t s c h a u e n d e   V o r b e r e i t u n g   zeigte sich in der Anlage und Durchführung des ganzen Planes, und diese ganze Berechnung fiel in sich zusammen, wenn nur   e i n e   der im Zimmer anwesenden drei Personen sich mit Deutlichkeit einer kurzen Abwesenheit Grupens erinnerte! Wie, wenn etwa Frl. Zahn aus dem Nebenzimmer - es ging ja im Lauf des ganzen Vormittags das Gespräch zwischen den beiden Zimmern hin und her - eine Frage an Grupen gerichtet und keine Antwort bekommen hätte? Aber auch über eine zweite, nicht minder gefährliche Fehlerquelle mußte sich Grupen vollkommen klar sein. Die beiden Dienstmädchen des Hauses befanden sich während des Mordes in der zu ebener Erde gelegenen Küche. Wie, wenn das eine oder andere aus irgendeinem wirtschaftlichen Grunde (was ja auch geschehen ist) die Küche verlassen und (was nicht geschehen ist) Grupen auf der Rückkehr aus dem Mordzimmer getroffen hätte? Das mindeste, was zugegeben werden muß, ist die Möglichkeit, daß Grupen das obere Zimmer zur Zeit des Mordes nicht verlassen hat, und gerade, wenn man ihn für den Urheber des Mordplanes hält, gewinnt es an Bedeutung, daß er bei seiner Verhaftung den zurückbleibenden Zeugen wiederholt einschärfte: sie mögen bei ihrer Aussage bleiben - er habe das Zimmer doch nicht verlassen.

 

Es gibt für den Fall, daß man dem Grupenschen Alibibeweise folgt, nur eine einzige Erklärung: Grupen muß   H e l f e r s h e l f e r   gehabt haben. Man hat von diesen nichts bemerkt, das ist richtig. Aber es ist kein Beweis dafür, daß sie nicht vorhanden gewesen sind. Diese Eventualität gewinnt an Wahrscheinlichkeit, wenn man an das Verschwinden der Frau Grupen denkt. Auch hier bestehen gewisse Anhaltspunkte dafür, daß Grupen seine Frau nicht allein und völlig ohne Hilfe aus der Welt geschafft haben kann. Wohl wäre es ihm möglich gewesen, mit dem einen ihm verbliebenen Arm einen Mord zu begehen - er hat an sich selbst den Beweis dafür geliefert. Aber die Situation war für ihn so kompliziert, daß die Wegschaffung der Leiche ohne befreundete Hilfe kaum möglich gewesen wäre. Es würde überdies genau in Grupens Charakterbild passen, wenn er die entscheidende Arbeit in die Hände scheinbar Unbeteiligter legte, und es würde außerdem die rätselhafte Ruhe und Gelassenheit Peter Grupens erklären, die er vor Gericht zeigte.

 

Es ist hier nicht der Ort, über Mittäter irgendwelche Vermutungen anzustellen. Aber es ist vielleicht nicht ausgeschlossen, daß der Prozeß Peter Grupen noch einmal ein Nachspiel haben wird. Einen   U n s c h u l d i g e n   haben die Hirschberger Geschworenen sicherlich nicht gerichtet. Wohl aber ist es möglich, daß er nicht der   e i n z i g e   Schuldige war. 

 

 

 

 

 

Zeitschrift für Sexualwissenschaft

Begründet von Prof. Dr. A. Eulenburg und Dr. Iwan Bloch

herausgegeben im Auftrag der Internationalen Gesellschaft für Sexualforschung

Redigiert von Dr. Max Marcuse, Berlin

Band VIII

April 1921 bis März 1922

 

Einige Betrachtungen zum Kleppelsdorfer Mordprozeß

Von Geh. Sanitätsrat Dr.   A l b e r t   M o l l .

 

Der Kleppelsdorfer Mordprozeß, der kürzlich vor dem Schwurgericht in Hirschberg verhandelt wurde, hat nach vielen Richtungen Interesse erweckt, aber auch viele Belehrungen gebracht. Nicht zum wenigsten wird auch der Sexualforscher manches aus ihm lernen können. Zunächst sei eine kurze Zusammenfassung des Falles gegeben:

 

Der 27jährige Peter   G r u p e n ,   ein früherer Maurer, der sich selbst durch Tüchtigkeit emporgearbeitet und im Krieg seinen linken Arm verloren hatte, war durch eine Zeitungsannonce mit seiner späteren Gattin, der verwitweten Frau Schade, bekannt geworden. Diese war 11 Jahre älter als er. Frau Schade brachte in die Ehe zwei Töchter mit, Ursula und Irmgard; außerdem ein Mädchen Ruth R., die Tochter eines früheren Verlobten von ihr, der vor der Verheiratung mit ihr gestorben war. Die Familie wohnte in Ottenbüttel, einem kleinen Orte in der Nähe von Itzehoe. Durch seine Verheiratung war Grupen in eine wirtschaftlich und gesellschaftlich gehobene Familie hineingekommen. Er wurde dadurch auch mit der 16jährigen Dorothea Rohrbeck verschwägert, da sowohl die beiden Stieftöchter des Grupen wie Dorothea eine gemeinsame Großmutter, Frau Eckert, hatten. Die Verheiratung mit Frau Grupen hatte im Dezember 1919 stattgefunden. Im September 1920 war sie spurlos verschwunden. Wie Grupen behauptete, ist sie nach Amerika ausgewandert. Grupen machte dann dem Fräulein Dorothea Rohrbeck einen Heiratsantrag, der aber zurückgewiesen wurde. .Am 8. Februar 1921 erschien Peter Grupen mit seiner Schwiegermutter, der genannten Frau Eckert, seinen beiden Stieftöchtern und seiner Stütze, Frl. Marie Mohr, die gleichzeitig seine Geliebte war, in Kleppelsdorf, einem Gute nicht weit von Hirschberg, das durch Erbschaft der verwaisten Dorothea zugefallen war. Am 14. Februar wurden Dorothea und Ursula erschossen im sogenannten Fremdenzimmer des Schlosses aufgefunden. Der Verdacht lenkte sich auf Grupen, und die Geschworenen haben ihn auch des doppelten Mordes für schuldig erklärt.

 

Außer dem Doppelmorde war Grupen aber angeklagt, mit Ursula, einem 13jährigen Mädchen, unzüchtige Handlungen, auch den Beischlaf ausgeübt zu haben. Der örtliche Befund an den Genitalien ergab bei der Sektion die Wahrscheinlichkeit, daß das Hymen gewaltsam zerstört war. Abgesehen davon, bestanden aber gerade gegen Grupen schwere Verdachtsgründe.

 

Zunächst hat die obengenannte Ruth R. eine den Grupen sehr schwer belastende Aussage gemacht, die sich auf seinen intimen Verkehr mit Ursula. bezog. Ferner hatte ein Hamburger Arzt Dr. M. sowohl bei Grupen als auch bei Ursula einen weichen Schanker festgestellt. Die Zeit des Auftretens dieser Affektion bei Ursula sprach dafür, daß sie von Grupen angesteckt war. Daß der weiche Schanker auch einmal ohne intimen Verkehr entstehen kann, wurde nicht bestritten; aber der Gutachter Dr.   K u z n i t z k y   aus Breslau selbst erklärte, ihm persönlich sei trotz dieser entfernten Möglichkeit in seiner Praxis kein Fall vorgekommen, in dem ohne intimen Verkehr ein weicher Schanker entstanden wäre.

 

Es trat aber eine Komplikation ein. Der genannte Arzt Dr. M. hatte bei Ursula unten auch Papeln festgestellt, die er für syphilitisch hielt. Er hatte deshalb eine doppelte Kur angeordnet, und zwar Einreibungen mit grauer Salbe gegen die Syphilis und örtliche Behandlung des weichen Schankers mit Jodoform. Diese örtliche Behandlung wurde im allgemeinen von Grupen selbst ausgeführt. Die Papeln gingen nach wenigen Einreibungen auffallend schnell zurück. Da Grupen, wie die Untersuchung feststellte, an Syphilis nicht litt, durfte man aus der Diagnose von Dr. M. schließen, daß Ursula mindestens noch mit   e i n e m   anderen Mann vorher geschlechtlich verkehrt hatte, da die syphilitische Infektion im allgemeinen durch den Geschlechtsverkehr stattfindet, wenn auch eine andere Entstehungsursache nicht ausgeschlossen ist. Tatsächlich hatte Grupen auch behauptet, daß Ursula Männern nachgelaufen sei. Ich habe darauf ausdrücklich in der Verhandlung geachtet und durch Befragung von Grupen festzustellen gesucht, welchen Männern Ursula nachgelaufen sei. Nicht das mindeste Belastende konnte er nach dieser Richtung positiv angeben. Die Quelle, wo sich Ursula eine Syphilis geholt haben konnte, blieb damit ganz dunkel.

 

Beleuchtet aber wurde der Fall dadurch, daß von anderen Sachverständigen auf dem Gebiete der Geschlechtskrankheiten gegen Dr. M.s Diagnose erhebliche Einwendungen erhoben wurden. Es stellte sich heraus, daß bei Ursula keinerlei sonstige syphilitische Erscheinungen beobachtet worden waren, weder ein Prämaraffekt, noch sekundäre Symptome. Eine Untersuchung auf Spirochäten war nicht ausgeführt worden, ebensowenig die Wassermannsche Untersuchung. Die Beschreibung der Papeln ergab nichts Charakteristisches. Das schnelle Zurückgehen bei etwa 3- bis 4maliger Einreibung sprach gegen den syphilitischen Charakter, und deshalb nahmen die fachärztlichen Sachverständigen - unter ihnen   K u z n i t z k y   aus Breslau, der als. Obergutachter geladen war -, an, daß die Diagnose auf Syphilis mehr als zweifelhaft sei.

 

Anders lag es mit der Diagnose des weichen Schankers. Die von Dr. M. gegebene Beschreibung, die er gewissermaßen als Zeuge, nicht als Gutachter, gab, wurde für so charakteristich angenommen, daß die Diagnose als nahezu gesichert gelten konnte. Beiläufig erwähne ich noch, daß Grupen ebenso wie Fräulein Mohr und die kleine Ursula zeitweise an Scabies gelitten haben. Da jedoch die zeitliche Aufeinanderfolge im Prozeß nicht so genau zur Sprache kam, außerdem aber die Scabies auch auf andere Weise übertragen werden konnte, würde hierin wohl nur ein unterstützendes, nicht aber ein an sich erhebliches Beweismoment liegen.

 

Das ganze Material aber hat den Geschworenen genügt, das Sittlichkeitsverbrechen anzunehmen und die Frage nach diesem Verbrechen, dessen er neben dem Doppelmorde angeklagt war, wurde von den Geschworenen bejaht, und zwar waren es drei verschiedene Fragen, die sich auf dieselbe Handlung bezogen. Er wurde schuldig erklärt, mit einer Person unter 14 Jahren unzüchtige Handlungen vorgenommen oder sie zur Verübung oder Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet zu haben (§ 176 Ziff. 3 des StrGB.). Er wurde ferner schuldig erklärt, als Pflegevater mit seinem Pflegekinde unzüchtige Handlungen vorgenommen zu haben (§ 174 Ziff. 1 des StrGB.), und endlich wurde er der Blutschande für überführt erachtet; es wurde angenommen, daß er den Beischlaf mit einer Verschwägerten absteigender Linie vorgenommen habe (§ 173 Abs. 2 des StrGB).

 

Da, wenn durch dieselbe strafbare Handlung mehrere Bestimmungen des StrGB. verletzt sind, diejenige zur Strafabmessung in Anwendung kommt, die die höchste Strafe androht, wurde § 176 Ziff. 3 angewendet, der Zuchthausstrafe bis zu 10 Jahren androht. Infolgedessen wurde Grupen, der wegen zweier Morde zweimal zum Tode verurteilt wurde, wegen dieses Sittlichkeitsverbrechens außerdem zu 5 Jahren Zuchthalls verurteilt.

 

Der Fall lehrt, daß man zur Stellung der Diagnose, wenn sie irgendwelche Unklarheiten bietet, oder Komplikationen drohen, alle modernen Hilfsmittel anwenden muß. Wie ein leiser Vorwurf klang es aus den Verhandlungen heraus, daß Dr. M. die für diesen Fall notwendigen Untersuchungen nicht angewendet hatte, weder die Untersuchung auf Spirochäten noch den Wassermann. Die Papeln waren das einzige Symptom, woraufhin er glaubte, die Syphilis diagnostizieren zu müssen. Im übrigen hielt er seine Diagnose, meiner Erinnerung nach, später nicht mehr so bedingungslos aufrecht. Besonders wird man, wenn eine differente Behandlung in Frage kommt, oder der Fall forensisch zu werden droht, auf die anderen Untersuchungsmethoden nicht verzichten dürfen. Es ist nicht etwas Gleichgültiges, wenn man einem 13jährigen Kinde Einreibungen mit Quecksilber verordnet, und daß die venerische Infektion eines Kindes unter 14 Jahren bei einer gerichtlichen Verhandlung zur Sprache kommen würde, konnte mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorausgesetzt werden.

 

Es ließe sich die Frage aufwerfen, woher es kommt, daß Ursula niemals jemand etwas von den Beziehungen zu ihrem Stiefvater erzählt hat. Die gleiche Frage spielt nicht selten bei Sittlichkeitsverbrechen eine Rolle. Viele Richter neigen einerseits dazu, kleinen Mädchen zuviel Glauben zu schenken, wenn es sich um ein "Sittlichkeitsverbrechen" handelt. Wenn aber ein kleines Mädchen ein an ihm begangenes Sittlichkeitsverbrechen erst später nach Wochen, Monaten oder gar Jahren erzählt, wird anderseits hieraus oft die Unglaubwürdigkeit hergeleitet; es sei, wird behauptet, undenkbar, daß ein Kind lange Zeit dieses Geheimnis für sich bewahrt haben soll. Scheinbar logisch wird daraus geschlossen, daß aus diesem Grunde des Kindes Beschuldigung keinen Glauben verdient, und doch, wird hierbei vollständig die Natur des weiblichen Geschlechts, auch des kleinen Mädchens, verkannt. Es ist in der Tat auffallend, wie beharrlich die Kinder solche Dinge in sich verschließen, niemand, weder der Mutter noch der Erzieherin oder Schwester etwas davon mitteilen. Aber die Tatsache dieser Verschlossenheit wird durch die Erfahrung erwiesen. Es hängt dies wohl mit dem allem Sexuellen anhaftenden Geheimnisvollen zusammen, das instinktiv hier auch auf das Kind wirkt. Es handelt sich nur um einen quantitativen Unterschied mit dem, was auch bei Erwachsenen das Geschlechtsleben angeht. Auch hier sehen wir, wie alles mit einem dichten Schleier verdeckt ist, wie Mann und Weib, sonst noch so redselig, oft alles, was mit dem Geschlechtsleben zusammenhängt, vollständig in ihrem Innersten verschlossen halten. Ja, es wird oft vermutet, daß das Geschlechtsleben eine Sphäre für sich ist, die mit dem Menschen im allgemeinen nichts zu tun hat, eine Auffassung;, die an und für sich nicht berechtigt ist, die aber ein Körnchen Wahrheit enthält. Jedenfalls bemerke ich, um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, ausdrücklich, daß das Schweigen von Ursula über das an ihr nach dem Wahrspruch der Geschworenen verübte Sittlichkeitsverbrechen mit vielen anderen Erfahrungen im Einklang steht.

 

In diesem Zusammenhang sei ein anderer Punkt erwähnt, der das Geschlechtsleben der Frau Grupen betrifft. Von der Verteidigung wurde es so dargestellt, als ob sie eine zügellose, verworfene Frau gewesen sei, eine Abenteuerin, deren plötzliches Verschwinden im September 1920 aus ihrer Natur erklärbar sei. Grupen behauptete, sie sei nach Amerika gegangen, und es lagen einige Briefe vor, die von ihrer Hand geschrieben waren und als Abschiedsbriefe angesehen wurden. Von anderer Seite wurde jedoch offensichtlich der Verdacht gehegt, daß Grupen seine Frau beiseite geschafft hätte. Nun wurde aber Frau Grupen als Mutter das glänzendste Zeugnis ausnahmslos von allen Zeuginnen ausgestellt, und dies sprach dagegen, daß sie plötzlich Haus und Herd, Mann, Familie und besonders ihre Kinder, lediglich um einer Abenteuerlust nachzugehen, verlassen haben sollte. Daß alle Auskünfte bei Schiffsgesellschaften, beim amerikanischen Konsulat, bei der Polizei die angebliche Auswanderung nicht bestätigten, sei beiläufig erwähnt. Aber auf einen Punkt sei hier hingewiesen: auf den Versuch der Verteidigung, die Frau Grupen als eine zügellose, erotische Frau hinzustellen, der alles zuzutrauen sei. Drei Vorfälle kamen hierauf zur Sprache.

 

Erstens hatte Frau Grupen, als ihr Ehemann, Schade gestorben war, eine Zeitlang Beziehungen zu einem verheirateten Herrn S. unterhalten. Da diese Beziehungen in einem kleinen Städtchen stattfanden, wurden natürlich die guten Sitten dadurch verletzt. Diese Verfehlung der damaligen Frau Schade ist zuzugeben. Aber welcher ehrliche Mensch, wird aus einem solchen einzelnen Vorfall schließen, daß die Frau eine verworfene Abenteuerin war, die mit Hinterlassung ihrer Kinder, denen sie in aller Liebe zugetan war, sich in ein wildes, neues, ungewisses Leben gestürzt hätte! Kein anderer Fall von Verfehlungen mit Männern ist ihr nachgewiesen oder auch nur wahrscheinlich gemacht, ja auch nur angedeutet worden. Aber freilich, noch ein zweiter Umstand kam zur Sprache. Eine Zeugin erklärte, Frau Schade habe ihr gesagt,. daß sie von Zeit zu Zeit masturbieren müsse. Auch hier frage ich die Sexualforscher: Eine Frau, die an einem starken sinnlichen Trieb leidet, und die einer Freundin anvertraut, daß sie gelegentlich zur Masturbation gezwungen sei, ist das eine zügellose oder sittenlose Frau? Nur der Heuchler wird diesen Schluß ziehen. Millionen von Frauen tun dasselbe, und nur der Umstand, daß hier eine Gerichtsverhandlung stattfand und die Freundin der Frau Schade unter ihrem Eid die Wahrheit bekundete, hat diese "unsittliche" Handlung zur Kenntnis gebracht. Millionen von Frauen tun dasselbe, ohne daß jemand etwas davon erfährt oder höchstens der Arzt davon Kenntnis erhält, der wohl schwerlich hierin den Beweis erblickt, daß man es mit einer unethischen Persönlichkeit zu tun hat. Und noch ein dritter Punkt muß erwähnt werden. Es wurde von dem Bruder Grupens behauptet, er hätte gesehen, daß Frau Grupen von der kleinen Uraula einmal bei sich eine unzüchtige Handlung hätte ausführen lassen. Daß man dieser Bekundung ohne weiteres gerade Glauben schenken müßte, ist nicht ohne weiteres anzunehmen. Äußere Gründe schon sprachen dagegen, daß diese Behauptung objektiv richtig war.

 

Ich bin absichtlich auf die Frage deshalb eingegangen, weil es sehr leicht ist, wenn man einige Dinge aus dem Sexualleben einer Person, besonders einer weiblichen, erfährt, hieraus auf sie einen ungünstigen Schluß zu ziehen, und wenn man mit der üblichen Sittenapostelmoral begnadet ist, eine solche Frau in den Kot zu ziehen. Frau Grupen hat seit mehr als einem Jahr kein Lebenszeichen von sich gegeben. Der Angeklagte hat sie, um sich zu entlasten, herabzusetzen, ja in den Schmutz zu ziehen gesucht, ebenso wie er dies mit der unglücklichen Ursula getan hat. Was Frau Grupen gefehlt hat, ist nicht mehr, als was hunderttausend Frauen ebenfalls gefehlt haben, die gesellschaftlich hochgeachtet, vielleicht sogar als Muster von Sittsamkeit und Tugend gelten.

 

Ein weiterer Punkt spielte bei dem Prozeß eine erhebliche Rolle: die auffallend große Macht, die der Angeklagte auf seine Umgebung ausübte. Es gibt Menschen, denen eine Suggestionsfähigkeit eignet. Solche Menschen haben auf ihre Umgebung einen ganz bemerkenswerten Einfluß, der nicht von logischer Begründung abhängt, sondern   o h n e   derartige Begründung außerordentlich weitgehende Folgen herbeiführt. So sehen wir Grupen seine Frau und Schwiegermutter vollständig beherrschen. Es ist schließlich keine Kleinigkeit für einen gewöhnlichen Menschen, einem früheren Maurer, Frau und Schwiegermutter nach wenigen Monaten zu veranlassen, ihm Generalvollmachten zu geben und ohne nachweisbare Gegenleistungen ganze Vermögen abzutreten. Seine Schwiegermutter, Frau Eckert, hat ihrem Bruder seinerzeit mitgeteilt, ihre ganze Korrespondenz würde von Grupen überwacht.

 

Wir haben auch auf einem andern Gebiete den großen Einfluß des Angeklagten auf andere, mit denen er zusammenkam, gesehen. Ich meine das Sexuelle, wie er ein Mädchen nach dem andern verführte, außerdem neben seiner Frau zu einer bestimmten Zeit zwei weibliche Personen in seiner Wohnung hatte, denen beiden er die Ehe versprach, da seine Frau nur noch ein bis zwei Jahre leben könne. Man wird vielleicht die Frage aufwerfen: Was hat dieses sexuelle Moment mit Suggestion zu tun? Demgegenüber sei erwähnt, daß ein solcher sexueller Einfluß nicht immer, sobald es sich um das andere Geschlecht handelt, von der Suggestion getrennt werden kann. Die Übergänge sind hier ganz allmähliche.

 

Sicherlich spielte aber der reine Geschlechtsgegensatz dabei eine erhebliche Rolle, ohne daß die intimen Beziehungen oder bewußte Genitaltriebe dabei mitzusprechen brauchten. Peter Grupen war fast stets der einzige Mann in der ganzen Umgebung. In Itzehoe und Ottenbüttel sehen wir ihn mit seiner Frau, der Schwiegermutter sowie den drei kleinen Mädchen. Und so hat gewiß auch die Suggestion Einfluß auf seine Frau und seine Schwiegermutter, sowie der Geschlechtsgegensatz eine erhebliche Rolle gespielt.

 

Hier seien auch noch einmal die Beziehungen des Grupen zur kleinen Ursula erwähnt. Ursula war ihm sklavisch ergeben, - so wurde von einer Zeugin gesagt; ein andermal erwähnt, daß sie ganz in seinem Banne stand; wieder ein drittes Mal: "Was er wollte, das tat sie." Ursula suchte dem Angeklagten auf jede Weise gefällig zu sein, und ich habe mir ernstlich die Frage vorgelegt, ob die Beziehungen des Angeklagten zu Ursula nicht zur sexuellen Hörigkeit gerechnet werden sollten. Bei dieser handelt es sich um eine außerordentliche quantitative Steigerung des Liebes- und Sexualgefühls: der eine Teil ist dem andern hörig. Er tut alles, was er ihm sagt: Gutes und Schlechtes. Am deutlichsten sehen wir dieses Hörigkeitsgefühl in dem Verhältnis der Prostituierten zum Zuhälter, der bekanntlich oft eine dämonische Macht über die ihm ergebene Prostituierte ausübt. Wir kennen in der Literatur noch andere Fälle, wo die schwersten Verbrechen von sonst guten und vortrefflichen Menschen ausgeführt wurden, als sie dem andern Teil in sexueller Hörigkeit verfallen waren.

 

War Ursulas Geschlechtstrieb künstlich vorzeitig durch den Angeklagten geweckt worden?  Die Möglichkeit hierzu besteht; denn wir haben sonst nichts gehört, daß sie mit irgendeinem Manne etwas zu tun gehabt, nicht glaubwürdig vernommen, daß sie irgendwelchen Männern nachgelaufen sei. Ursula ist von allen Seiten als ein gutes Kind beschrieben worden. Sie soll - so wurde von dem Angeklagten gesagt - schon wie eine Erwachsene geküßt haben. Nichts Derartiges hat aber irgend jemand anders erklärt. Ich halte es für möglich, daß Ursula in der Tat dem Angeklagten in sexueller Hörigkeit ergeben war, nachdem er ihren Geschlechtstrieb künstlich geweckt hatte. Und so könnte sich anscheinend manches Rätsel lösen, aber nicht das Rätsel, das darin liegt, daß Ursula erst ihre Stiefbase und dann sich selbst ermordet hätte. Denn zu einem solchen Mord und Selbstmord, besonders zu dem letzteren, würde etwas ganz anderes noch gehören als die bloße Hörigkeit. Diese müßte dann schon den höchsten, überhaupt nur denkbaren Grad erreicht haben, und dafür lagen nicht genügend Anhaltspunkte vor. Daß übrigens andere schwere Indizien dagegen sprachen, daß Ursula die tödlichen Schüsse abgegeben hatte, sei beiläufig erwähnt.

 

Auf einen Punkt will ich hier noch aus psychologischen Gründen die Aufmerksamkeit lenken, auf die Nacht, die der Mordtat voranging:

 

In dem Kleppelsdorfer Herrenhause war Grupen der einzige männliche Bewohner. Er wurde in das zweite Stockwerk einquartiert. Zu ebener Erde schliefen in einem Zimmer Fräulein Mohr und Ursula. Bei ersterer trat damals gerade die Monatsblutung auf, und trotzdem hat er mit ihr in der Nacht, die dem Morde voranging, in demselben Zimmer, wo Ursula war, zweimal den Beischlaf vollzogen; einmal abends und einmal morgens. Die Blutflecken, die sich an seinen Unterbeinkleidern befanden, mußten hierauf zurückgeführt werden. Wenn, wie die Geschworenen angenommen haben, Grupen der Mörder war, ist es gewiß von Interesse festzustellen, daß er die Nacht vorher dazu benutzte, seinen Geschlechtstrieb zu befriedigen, und zwar in demselben Zimmer, wo die kleine Ursula nächtigte. Sie scheint noch wach gewesen zu sein!, doch soll sie von dem intimen Verkehr der beiden nichts gemerkt haben. Für den häufigen Zusammenhang von Wollust und Grausamkeit, der sich nicht nur im Sadismus äußert, ist immerhin dieser Vorfall nicht ganz ohne Interesse, ebenso der Umstand, daß Grupen am Abend vor der Tat mit den verschiedensten weiblichen Personen, darunter Ursula, Dorothea und seiner Schwiegermutter, tanzte.

 

Ich habe im vorhergehenden eine Reihe sexueller Fragen besprochen, die sich an den Kleppelsdorfer Mordprozeß anschließen. Es wäre leicht, noch eine Reihe ähnlicher Fragen hier anzufügen, doch glaube ich, daß die vorhergehenden dem Fachmann ein gewisses Material über das, was in Beziehung auf sexuelle Fragen dort erörtert wurde, geben. Der Fall ist durch die Begleitumstände und durch die vielen psychologischen Gesichtspunkte, die er bot, ein Sensationsfall geworden. Daß einiges, was in ihm zur Sprache gekommen ist, auch für die Sexualforschung nicht ganz verloren gehe, war der Zweck der vorstehenden Ausführungen.

 

 

 

 

 

Der Mord an der Rittergutsbesitzerin

Hans Habe - in seinem Buch „Meine Herren Geschworenen“, 1964

 

Am 10. Januar 1920 war der Versailler Vertrag in Kraft getreten. Die Reparationskommission der siegreichen Alliierten setzte die vom Deutschen Reich monatlich aus dem Ruhrgebiet zu liefernde Kohlenmenge auf 2 234 000 Tonnen fest. Ab 1. Mai 1921 sollte Deutschland jährlich zwei Milliarden Goldmark, später auch mehr, zahlen. Für einen Dollar bekam man im Mai 1921 noch rund 65 Mark - im Dezember 1922 für einen Dollar schon 1 280 000 Mark.

 

In diesen Tagen, die als die „Inflationszeit“ in die Geschichte eingegangen sind, spielt die Tragödie auf Schloß Kleppelsdorf. Die Tragödie eines Volkes und die Tragödie zweier halbwüchsiger Mädchen sind nicht voneinander zu trennen.

 

Die „Besetzung“ des Dramas ist typisch für die Zeit - es zeigt sich wieder einmal, daß die Zeit ihre eigenen Akteure gebärt.

 

Dorothea Rohrheck, von ihren Verwandten „Dörte“ genannt. Sie ist 1905 geboren, zur Zeit des Dramas also 16 Jahre alt. Ihre Mutter ist bei der Geburt Dörtes gestorben. Ihr Vater starb im Krieg, als Dorothea vierzehn Jahre alt war. Rohrbeck war seinerseits ein Kind der Zeit. Er kam ganz von „unten“, ein cleverer Berliner Junge, der sich auf Grundstücksspekulationen verstand. Er heiratete nach „oben“, die Bankierstochter Eckardt. Durch Grundstücksspekulationen bei der Ausdehnung der südlichen Berliner Vororte war er zum Multimillionär geworden. Er hatte mehrere Güter gekauft, darunter das schlesische Schloß Kleppelsdorf. Das stand auf einem Rittergut - so ganz nach dem Geschmack des Emporkömmlings. Dieses Schloß wollte er nicht verkaufen, mit diesem Rittergut wollte er nicht spekulieren, da sollten die Generationen der „Rittergutsbesitzer Rohrbeck“ wachsen. Als er starb, war die vierzehnjährige Dorothea seine einzige Erbin - Erbin eines Millionenvermögens. Wer ist sie, die kleine

Dörte, die am 14. Februar 1921 in einem Gartenzimmer ihres Schlosses erschossen aufgefunden wird? Zart von Gestalt, beinahe elfenhaft, sieht sie doch älter aus. Die dunklen Augen sind riesengroß. Um den Mund, die Lippen meistens nach unten gekehrt, liegt ein bitterer Zug. Man wird früh reif, wenn man vom vierzehnten Lebensjahr an die eigene Herrin ist. Man wird früh reif, wenn man in einer Zeit lebt, von der ein deutscher Dichter schrieb: Das Universum stockt und starrt / Kein Puls des Lebens geht / Die Welt probiert / Wie die Vernichtung

ihr zu Gesichte steht.

 

Ursula Schade. Das zweite Opfer - sie ist 12 Jahre alt. Sie ist eine Kusine Dorotheas. Ihre Mutter war die Schwester der verstorbenen Mutter Dörtes. Die beiden Mädchen haben die gleiche Großmutter. Die Zeit prägt Gestalten, die Dichter finden Namen für sie. Heute würde man Ursula leichtfertig eine „Lolita“ nennen. Aber sie ist in Wirklichkeit eine Lolita der zwanziger Jahre, also ganz anders geartet als die Romanheldin unserer Tage. Damals wollten die

„Kinder“ nicht, wie heute, ewig Kinder bleiben. Die Lolitas von heute sind verdorben, aber da ihnen ohnedies alles gestattet ist, wollen sie nicht älter scheinen als sie sind. Ursula, zur Zeit des Mordes zwölf, gebärdet sich wie eine Sechzehnjährige. Sie haßt die sechzehnjährige, reichere und hochmütige Dorothea.

 

Peter Grupen. Er ist Ursulas Stiefvater - er hat die Mutter Ursulas geheiratet, als sie schon mehrere Kinder hatte. Er war um dreizehn Jahre jünger als seine Frau. Peter Grupen nennt iich Architekt. In Wirklichkeit war er vor dem Krieg Maurerpolier und kleiner Angestellter bei der Vulkanwerft in Hamburg gewesen. Im Krieg - in diesem Ersten Weltkrieg, der vor drei Jahren zu Ende gegangen ist - diente er bei den Königsulanen in Hannover. Bei Verdun hat ihm ein Granatsplitter den linken Unterarm weggerissen. Er betätigt sich in einem neuen Beruf, für den man ein neues Wort geprägt hat. Er ist ein „Schieber“, spekuliert mit Valuten, Grundstücken, Südfrüchten, Pferden, Motoren. Zur Zeit der Tat ist er erst 27 Jahre alt, ein kleiner, gedrungener Mann mit einem hübschen Gesicht, Typus des soliden Heiratsschwindlers.

 

Fräulein Zahn. Zur Zeit der Tat ist sie 42 Jahre alt, ein altes Fräulein, von dem man annehmen darf, daß es nach langer Jungfräulichkeit dem ersten soliden Heiratsschwindler aufsitzt. Sie kam im Geburtsjahr Dorotheas auf Schloß Kleppelsdorf und wurde, nach dem Tod der Eltern des Kindes, Dörtes Erzieherin, Freundin, Beraterin, Gesellschafterin. Die einzige „Stütze“ einer jungen, hübschen Rittergutsbesitzerin zu sein, war ein Posten so recht nach ihrem Geschmack. Sie hat den fröhlichen Lebenswandel Dorotheas unterstützt. Vielleicht hat sie sich auch als Mutter des Kindes gefühlt, eine kinderlose „Mademoiselle“ mit Muttergefühlen.

 

Frau Augusta Eckardt. Witwe eines Bankiers, jetzt 75 Jahre alt. Sie ist die Großmutter der Mädchen Dorothea und Ursula, die Schwiegermutter des „Architekten“ Grupen. Eine kleine, hagere Frau, sehr lebendig, voll Lebenslust. Ihre Lebenslust muß so groß gewesen sein, daß sie vergessen hatte, sich nach dem Verschwinden ihrer Tochter, der Frau Grupens, zu erkundigen. In gewissen Epochen des wirtschaftlichen Halali zieht es nicht nur die Angehörigen der „unteren“ Schichten nach oben: Die Angehörigen der „oberen“ Schichten - besonders Frauen -blicken fasziniert nach den Emporkömmlingen.

 

Das sind die Hauptdarsteller des Dramas. Zu ihnen gesellen sich: Fräulein Mohr, Wirtschafterin und letzte Geliebte Grupens, Oberschwester Emma Kube, die seltsame Dinge aussagen wird - daneben ein entsetzter Staatsanwalt, ein gewandter Verteidiger und eine große Zahl von Sachverständigen.

 

Das Drama, in dem diese Darsteller auftreten, beginnt an einem bitterkalten Nachmittag, am 14. Februar 1921.

 

Schloß Kleppelsdorf liegt an der Bober, in der Nähe des Städtchens Lähn, siebzehn Kilometer nordwestlich von Hirschberg. Es liegt in der schlesischen Landschaft: Die Sommer sind heiß und staubig, die Winter kalt und voll Schnee.

 

Die Menschen in dieser Gegend sind einsam, aber sie haben alle Tugenden der Einsamkeit entwickelt: Gastfreundschaft, Zusammengehörigkeitsgefühl, einen guten Selbsterhaltungstrieb, der sich noch aus versiegenden Quellen zu nähren vermag. Schloß Kleppelsdorf ist ein zweistöckiges Herrenhaus, eine geräumige Villa; ein „Schloß“ ist es nicht, obwohl es in einem riesigen Schloßpark liegt - der Vater Dorotheas wollte eben ein Schloß haben, ein Rittergutsbesitzer sein.

 

Die Sechzehnjährige lebt - neben dem Gesinde - im Schloß allein mit Fräulein Zahn, ihrer Erzieherin. An diesem 14. Februar ist Kleppelsdorf jedoch ungewöhnlich belebt. Vor etwa vierzehn Tagen ist die Großmutter aus Itzehoe gekommen - mit ihr kamen Dorotheas Stiefonkel Peter Grupen und dessen Stieftöchter Irma und Ursula.

 

Die Großmutter, der Schwiegersohn und die kleine Irma werden aus dem Salon, wo sie sich gerade aufhalten, zum Mittagessen ins Speisezimmer gerufen. Eine der Mägde wird ausgeschickt, um die Rittergutsbesitzerin und die zwölfjährige Ursula zu holen. Mit einem entsetzten Aufschrei kehrt das Mädchen zurück: „Die beiden Mädchen sind tot!“

 

Frau Eckardt und Grupen eilen in das Zimmer. Wie die meisten Räume im Schloß hat es einen Namen: Man nennt es das „Schrankzimmer“. Es ist ein einfacher Raum, in dem sich zwei Betten, ein Schrank, eine Waschkommode, ein Toilettentisch und zwei Stühle befinden.

 

Der Teppich, der etwa die Hälfte des Zimmers einnimmt, ist von Blut überströmt. Auf dem Teppich liegen die beiden Mädchen: Dorothea und Ursula. Die Großmutter beugt sich über die junge Rittergutsbesitzerin. Dorothea ist tot.

 

Grupen kniet sich neben seiner Stieftochter Ursula nieder. Sie scheint noch zu atmen. Seine ersten Worte sind - so heißt es wenigstens später, als er vor seinen Richtern steht: „Sprich doch! Wer hat es getan? Man wird es mir in die Schuhe schieben!“

 

Ursula antwortet nicht. Wenige Minuten später haucht auch die Zwölfjährige ihre Seele aus.

 

Nun entdeckt Grupen den Revolver, mit dem die beiden jungen Mädchen getötet wurden. Er äußert sich nicht über die Herkunft der Waffe, obwohl es sich, wie er bald zugeben wird, um seinen Revolver handelt.

 

Hat der einzige anwesende Mann, „Architekt“ Grupen, keine Erfahrung mit Mordangelegenheiten, oder liegt ihm daran, die Tat möglichst bald in seinem Sinne aufzuklären? Jedenfalls befolgt er nicht die fast jedermann bekannte Regel, wonach die Lage der Opfer eines Mordes nicht verändert werden darf. Er trägt seine Stieftochter Ursula auf das nächste Bett. In der Blutlache, unter ihrem Körper, wird jetzt eine Tasche sichtbar, die weitere 19 Patronen enthält. Die Tasche enthält aber auch einen offenbar von der kleinen Ursula geschriebenen Brief. Die Aufschrift lautet: An Großmutti! Der Brief, dem Sinn nach:

Ich habe zuerst Dörte und dann mich erschossen. Jetzt wirst Du mit Dörte keine Sorge mehr haben. Deine traurige Ursel.

 

Die alte Frau hält den Brief verständnislos in der Hand. Sie sieht Grupen an. Er scheint einen Verdacht in ihren Augen zu lesen und sagt unvermittelt: „Ihr wißt doch, daß ich bei euch oben war.“

 

Eine Stunde später trifft Landgerichtsdirektor Dubiel mit der Mordkommission aus Hirschberg ein.

 

Vorerst beschäftigt sich Landgerichtsdirektor Dubiel, ein alter und erfahrener Kriminalist, ausschließlich mit Tatsachen. Er versucht, die letzte Stunde vor dem Mord zu rekonstruieren.

 

In dieser Stunde haben sich die alte Frau Eckardt, Grupen und die neunjährige Irma im Wohnzimmer befunden. Grupen und seine Stieftochter haben Mühle gespielt. Der Einsatz waren Äpfel. Als Irma einen Apfel gewann und ihn essen wollte, stellte sich heraus, daß der Apfel von Fäulnis angefressen war. Grupen wollte ihn zuerst in den Ofen werfen, hat dann aber seiner Stieftochter befohlen, ihn hinauszutragen. Irma ist mit dem Apfel hinausgegangen. Die Frage, welche die Mordkommission beschäftigt - und vorerst unbeantwortet bleibt -, lautet: Hat sich auch Grupen aus dem Wohnzimmer entfernt? Er bestreitet es. Frau Eckardt erklärt: „Ich habe gestrickt und bin dabei vielleicht eingenickt. Ich weiß es nicht.“

 

Auch die kleine Irma will sich nicht erinnern, ob ihr Stiefvater ihr gefolgt sei und ob er sich, als sie zurückkehrte, noch im Wohnzimmer befand. Die Frage des Alibis bleibt im Moment unbeantwortet.

 

Konkreter sind die Resultate, welche die medizinischen Sachverständigen erzielen. Kreismedizinalrat Dr. Peters aus Löwenberg erklärt dem Landgerichtsdirektor schon eine Stunde nach der Untersuchung der Leichen:

„Ich halte es für ausgeschlossen, daß Ursula ihre Kusine getötet hat. Gegen einen Selbstmord des Mädchens sprechen die folgenden Tatsachen: Erstens hätten bei einem Schuß aus einer Entfernung von weniger als fünf Zentimetern die Augenbrauen und möglicherweise die Wimpern des Kindes versengt sein müssen - das ist aber nicht der Fall. Zweitens pflegen Selbstmörder die Stelle, an der sie sich die tödlichen Verletzungen beibringen wollen, zu entblößen. Drittens hat Ursula den Kopf erschreckt nach rückwärts geneigt. Hätte sie sich selbst erschossen, müßte der Verlauf des Schußkanals ein anderer sein. Viertens: Bei einem Selbstmord hätten wir die Patronenhülsen in der Nähe der Toten aufgefunden - sie lagen aber zerstreut im Zimmer. Das Wesentlichste ist jedoch, wenigstens im Augenblick, daß der Revolver gesichert war. Ursula hätte also nach der Tat die Waffe wieder sichern müssen. Das ist ausgeschlossen. Der Täter hat den Revolver nach dem dritten Schuß - zwei haben Dorothea Rohrbeck, der dritte hat ihre Kusine getroffen - mit einer unwillkürlichen Geste wieder gesichert.“ Mit einem kleinen Lächeln fügt der Medizinalrat hinzu: „Es sollte mich nicht wundern, wenn es sich hier um den „kleinen“ Fehler handelte, den jeder Mörder früher oder später begeht. In diesem Fall hat er ihn wahrscheinlich „früher“ begangen.“

 

Soll die Mordkommission gleich die Verhaftung Peter Grupens verfügen?

 

Die Sache ist nicht so einfach. Da ist vor allem der Abschiedsbrief Ursulas: Frau Eckardt glaubt, die Schriftzüge ihrer Enkelin mit Bestimmtheit zu erkennen. Dann ist da noch das Alibi des „Architekten“, das nicht ohne weiteres über den Haufen geworfen werden kann: Wie soll er sich so schnell aus dem Wohnzimmer entfernt, die beiden Mädchen umgebracht haben, wie soll er wieder so schnell - jedenfalls noch bevor zum Mittagessen gerufen wurde - zum gemütlichen Mühle-Spiel zurückgekehrt sein? Es hat in letzter Zeit zu viele übereilte Verhaftungen, zu viele Justizirrtümer gegeben. Die Presse, insbesondere die der Großstädte, ist polizei- und justizfeindlich. Man muß vorsichtig handeln.

 

Dr. Dubiel vernimmt alle im Haus anwesenden Personen - es handelt sich ja hier um den seltenen, meistens nur in Kriminalromanen üblichen Fall, daß sich alle Personen, die etwas von der Tat wissen könnten, unter einem einzigen Dach befinden.

 

Den ganzen Nachmittag, den ganzen Abend verweilt die Mordkommission in Schloß Kleppelsdorf. Das Mosaik, das sich unter ihren Augen zusammensetzt, ist das Mosaik eines Sittenbildes aus Deutschlands zwanziger Jahren.

 

Da ist einmal das Verhältnis Peter Grupens zu seiner Stieftochter Ursula. Noch kann Dr. Dubiel nicht mit Bestimmtheit feststellen, ob der siebenundzwanzigjährige Stiefvater mit seiner zwölfjährigen Tochter sexuelle Beziehungen unterhalten habe, aber aus Andeutungen der Wirtschafterin Grupens, aus verstohlenen Bemerkungen des Hausgesindes glaubt der Beamte, auf eine „Liebesaffäre“ zwischen Vater und Kind schließen zu dürfen.

 

„Ursula war ihrem Stiefvater hörig“, sagt die Erzieherin Dorotheas, Fräulein Zahn.

„Was nennen Sie Hörigkeit?“ fragt der Landgerichtsdirektor.

„Es war, als stünde sie unter seinem hypnotischen Einfluß.“

 

Hypnose: das Wort bleibt im Gedächtnis des Landgerichtsdirektors haften. Hypnose ist die große Mode in der deutschen Nachkriegs-Gesellschaft. Überall, vor allem in Berlin, finden hypnotische Seancen statt. Berufs- und Amateur-Hypnotiseure veranstalten vielbesuchte Séancen. Ein Mann namens Eric Hanussen, der mit seinem Medium, Martha Farra, herumreist, macht von sich reden. Geisterbeschwörungen, spiritistische Sitzungen gehören zu den abendlichen Unterhaltungen. Hypnotische Medien sind die „Glamourgirls“ der Zeit, wie später die Mannequins und die Call-girls. Dr. Dubiel denkt an den Brief der kleinen Ursula. Er wird auf die Sache mit dem hypnotischen Einfluß noch zurückkommen.

 

Und das Verhältnis zwischen Grupen und der jungen Rittergutsbesitzerin? Selbstverständlich - Sex hat auch da eine Rolle gespielt, zumindest im negativen Sinne. Kein Zweifel besteht für das Hausgesinde, daß der „Herr Architekt“ seiner Stiefnichte nachgestellt habe. Von einem Bootsausflug sei sie mit allen Anzeichen des Schreckens zurückgekehrt. Nicht als ob die Sechzehnjährige einem Abenteuer unbedingt abhold gewesen wäre. „Aber sie hat Grupen gehasst“, sagt einer der Angestellten. „Sie wußte, daß er ihr nachstellte, um sie zu heiraten; schließlich besaß sie Millionen.“

 

Der schönen, kalten, hochmütigen Sechzehnjährigen hat er nachgestellt, aber das bedeutet nicht, daß er bei seinem Besuch auf Schloß KIeppelsdorf seine Geliebte zu Hause gelassen hätte. Das ist Fräulein Mohr, die Wirtschafterin, die er aus seinem Haus in Oldenbüttel bei Itzehoe mitgebracht hat.

 

„Haben Sie Ihre Beziehungen hier fortgesetzt?“ fragt der Landgerichtsdirektor, den allmählich nichts mehr überrascht.

 

„Er hat noch in der letzten Nacht bei mir geschlafen“, erwidert Fräulein Mohr nicht ohne einen gewissen Stolz.

 

Hat die Mordkommission genug gehört? Noch lange nicht. Die Schilderung des letzten Abends vor dem Mord, der Sonntag-Nacht, wie sie sich aus den Aussagen der Angestellten ergibt, gehört zu den gespenstischsten Sittenbildern der Epoche.

 

Man hat Grammofon gespielt. Man saß im Wohnzimmer. Draußen schneite es schon seit Tagen. Undurchsichtig waren die Fenster, gezeichnet von Eisblumen. Der große Kachelofen glühte rot. Tanzplatten wurden aufgelegt. Nur wenn eine ablief, hörte man das Fallen der Schneeklumpen.

 

Peter Grupen wollte mit Dorothea tanzen. Sie gab ihm einen Korb.

„Bin ich dir zu gering?“ fragte Grupen.

„Du bist mir widerlich“, sagte das Mädchen.

„Ich habe schon mit feineren Damen getanzt“, sagte der Mann.

„Deine Berührung ist mir ekelhaft“, sagte das Mädchen.

„Deine Großmutter ist eine feinere Dame“, sagte Grupen.

Und dann forderte er die Fünfundsiebzigjährige zum Tanz auf.

 

Ursula und Dorothea saßen am Ofen und sahen den beiden zu. Draußen ging jemand über das Eis. Das Eis krachte. Die Schallplatte intonierte einen „Schimmi“, den Tanz der Saison, den Tanz der „Schieber“-Welt.

 

Der „Architekt“ und die Greisin tanzten. Die kleine Frau verschwand in dem Arm des vierschrötigen Mannes. Mit ihren schmalen Greisenhänden hielt sie sich an dem leeren Ärmel seines linken, verlorenen Armes fest. Grupen ließ sie nicht los.

 

„Schau, wie deine Großmutter tanzt“, rief Grupen mit gerötetem Gesicht seiner Stiefnichte zu. Die kleine alte Frau blickte zu dem Mann empor, dem Mann ihrer Tochter. Um ihren Mund, in dem die Runzeln zusammenliefen wie Flüsse in einem See, spielte ein seliges Lächeln.

 

„Peter ist ein großartiger Tänzer“, sagte die Greisin. Sie keuchte. Die Schallplatte hatte eine beschädigte Stelle. Idiotisch wiederholte sie die Refrain-Zeile: „Du kannst alles von mir haben. ..alles von mir haben. ..alles von mir haben. ..“ Es war der Song der Saison. Peter Grupen hörte nicht auf zu tanzen. „Alles von mir haben. ..alles von mir haben. ..“ wiederholte er lachend. So hätte er weitergetanzt, die halbtote Greisin im Arm, wäre Dorothea nicht mit einem Aufschrei aus dem Zimmer geeilt, hätte sie nicht die Tür hinter sich zugeschlagen.

 

Um ein Uhr morgens läßt der Ermittlungsrichter den „Architekten“ Grupen noch einmal kommen. „Herr Grupen“, sagt er mit seiner ungewöhnlichen Höflichkeit, „- wir haben hier eine Aussage, wonach Sie zu Frau Eckardt kurz nach der Entdeckung gesagt haben sollen: „Du

bist jetzt die Herrin des ganzen Vermögens.“ Haben Sie das gesagt?“

 

„Nichts dergleichen“, erwidert Grupen, sichtlich schon in der Verteidigung.

„Aber es ist doch richtig, daß Frau Eckardt das gesamte Vermögen der ermordeten Rittergutsbesitzerin erben würde?“

„Wahrscheinlich.“

„Richtiger“, meint der Landgerichtsdirektor ruhig, „- zunächst käme Ihre Frau an die Reihe. Sie ist die Schwester der Mutter Fräulein Rohrbecks. Frau Eckardt wäre nur die Erbin, wenn eindeutig festgestellt werden könnte, daß Ihre Frau tot ist. Irre ich mich, wenn ich sage, daß das nicht der Fall ist?“

 

Grupen beobachtet den Ermittlungsrichter mit zusammengekniffenen Augen. Dr. Dubiel hat erstaunlich rasch gearbeitet.

„Sie wissen genau, daß meine Frau durchgegangen ist“, sagt der „Architekt“. Der Landgerichtsdirektor nickt. „Sie soll vor einigen Jahren spurlos verschwunden sein.“

„Sie ist durchgegangen.“

„Hat sie einen Brief hinterlassen?“

„Nicht an mich. Aber an Freunde.“

Wieder Briefe, denkt der Ermittlungsrichter. Briefe einer Verschwundenen. Der Brief einer „Selbstmörderin“. Das Wort „Hypnose“ geht ihm durch den Kopf.

„Haben Sie Nachforschungen nach Ihrer Frau anstellen lassen ?“ fragt er.

„Nein. Ich war froh, daß sie fort war.“ Der Mund Grupens verzieht sich zu einem Grinsen.

„Merkwürdig“, meint Dr. Dubiel. „Ihrer Schwiegermutter sagten Sie, daß Sie einen Privatdetektiv auf ihre Spur gesetzt haben.“

„Ich mußte die alte Frau beruhigen.“ Grupen erhebt sich, geht im Zimmer auf und ab. „Ich dachte, Sie wollten den Tod der beiden unglücklichen Kinder aufklären“, sagt er ungeduldig.

Geduldig nickt der Landgerichtsdirektor. „Sagen Sie, Herr Grupen“, meint er, „sind Sie eigentlich ein guter Schütze?“

Grupen blickt auf den leeren Ärmel hinab: „Wollen Sie mir vorwerfen, daß ich im Krieg gewesen bin? Wir haben schießen gelernt, bei Verdun.“

„Der Revolver, mit dem die Tat ausgeführt wurde, hat Ihnen gehört?“

„Was bedeutet das? Natürlich hat er nicht der armen Ursel gehört“

„Hat sich Ihre Stieftochter je als Scharfschützin betätigt?“

„Davon weiß ich nichts.“

 

Dr. Dubiel befragt jetzt Grupen nach dem Verhältnis der beiden Mädchen. Grupen setzt sich nieder; er scheint sich beruhigt zu haben. Er entwirft ein häßliches Porträt der jungen Rittergutsbesitzerin.

 

Dem Landgerichtsdirektor ist es klar, daß hier zwei Gesellschaftsschichten aufeinander gestoßen sind. Die deutsche Demokratie ist jung, sie steckt noch in den kleinsten Kinderschuhen. „Rittergutsbesitzerin“. Das ist ein Wort aus einem alten Wörterbuch. Bald werden die Seiten des Wörterbuches vergilben. Bald wird sich niemand mehr „Rittergutsbesitzer“ nennen. Aber noch ist es nicht soweit. Noch flößt das Wort dem ehemaligen Maurerpolier einen heiligen Respekt ein - oder auch einen unheiligen. Wahrscheinlich hat er recht, wahrscheinlich hat die sechzehnjährige „Rittergutsbesitzerin“ die Nase hoch getragen. Sie hat herabgeblickt auf den Mann ihrer verschwundenen Tante, diesen falschen Architekten, der allzu modische Anzüge, allzu laute Krawatten und schlechte Schuhe trug - die Eleganz der Neureichen reicht nie zu den Schuhen. Sie hat nicht zugeben wollen, die junge Rittergutsbesitzerin, deren Vater selbst von „unten“ gekommen war, daß die Grupens die Welt von heute repräsentieren, diese Welt des schnellen Geldes, der schnellen Autos, der schnellen Abenteuer und der schnellen Bankrotte.

 

Sie hat meine Stieftochter nie als ebenbürtig behandelt“, sagt Grupen. „Dabei ließe sich manches über ihren eigenen Lebenswandel sagen. Aber. ..“ -sein LächeIn verrutscht wie eine schlecht. gebundene Krawatte - „aber nichts Schlechtes über die Toten!“

„Nein, nichts Schlechtes über die Toten“, nickt der Landgerichtsdirektor .

 

Inzwischen haben die Polizeiarzte ihre Untersuchung beendet. Durch Zufall befindet sich unter den Ärzten ein Schriftsachverständiger, der wiederholt auch von den Gerichten bei graphologischen Gutachten zugezogen wurde.

 

Der Sachverständige läßt sich beim Ermittlungsrichter melden, der sein Verhör mit Grupen unterbricht.

 

„Ich habe mir einige Briefe von Ursula vorlegen lassen“, sagt der Arzt, „und habe sie mit den Schriftzügen des „Abschiedsbriefes“ verglichen. Es besteht für mich kein Zweifel, daß der Brief an die Großmutter von Ursula Schade stammt.“

 

Dr .Dubiel antwortet nicht. Schon war er überzeugt gewesen, daß er nach wenigen Stunden den Mörder der beiden Madchen gefunden hat. Nun scheint sein Befestigungswerk zusammenzubrechen. Das Wort „Kindertragödie“ geht ihm durch den Kopf. Auch das ist ein Modewort dieser zwanziger Jahre: Überall in Deutschland haben sich „Kindertragödien“ ereignet - Morde, von Kindern begangen, Selbstmorde von Kindern.

 

Um drei Uhr morgens - es ist noch stockdunkel- verläßt die Mordkommission Schloß Kleppelsdorf. Zurück bleiben eine fünfundsiebzigjährige Greisin, die noch am Vorabend das Tanzbein geschwungen hat, eine Wirtschafterin, die als die Geliebte ihres Herrn aufs Schloß gebracht wurde, eine Erzieherin, deren Lippen während der Verhöre verschlossen waren, und - der „Architekt“ Peter Grupen, der vielleicht als einziger das Geheimnis von Schloß Kleppelsdorf kennt.

 

Zehn Monate später, am 5. Dezember 1921, beginnt in Hirschberg in Schlesien der große Prozeß, der Deutschland bis knapp vor Weihnachten in Atem halten soll.

 

Wenige Tage nach dem Mord hat sich die Staatsanwaltschaft entschlossen, den Stiefonkel der Rittergutsbesitzerin Dorothea Rohrbeck, Peter Grupen, unter dem Verdacht des zweifachen Mordes verhaften zu lassen.

 

Peter Grupen hat die Tat nie gestanden, hat sie im Gegenteil von der ersten bis zur letzten Stunde aufs heftigste bestritten. Es handelt sich um einen reinen Indizienprozeß, in dem die Anklage - entgegen den eindeutigen Feststellungen der Schriftsachverständigen - die Schuld des „Schiebers“ Peter Grupen wird beweisen müssen.

 

An einem sonnenhellen, aber bitterkalten Wintertag - so berichtet „Der Bote aus dem Riesengebirge“ - beginnen die Verhandlungen gegen Peter Grupen, den Angeklagten im Kleppelsdorfer Mordprozeß. Langsam füllt sich der Schwurgerichtssaal. Auf einem Tisch vor der Anklagebank liegen der Revolver, der am Tatort gefunden worden war, Revolvergeschosse, die Leibwäsche der Dorothea Rohrbeck und der Ursula Schade und einige andere Beweisstücke

.

Den Vorsitz führt Oberlandesgerichtsrat Dr. Krinke aus Breslau, ein verhältnismäßig junger, ungemein energischer Richter, dessen Tonfall manchmal an den eines preußischen Offiziers erinnert. Die Anklage wird von Oberstaatsanwalt Dr. Reifenrath, einem alten Herrn, vertreten, dessen konziliante Manieren über seine außergewöhnliche Schärfe hinwegtäuschen. Der Angeklagte hat sich zwei vorzügliche Anwälte verpflichtet: den jungen Dr. Ablaß aus Hirschberg, wo auch die Verhandlung stattfindet, und den erfahrenen Strafverteidiger Dr. Mamroth aus Breslau.

 

Die Geschworenenbank sieht anders aus als die meisten solcher Volkstribünen. Fast alle zwölf Geschworenen sind mehr oder weniger wohlhabende Kaufleute, unter den Geschworenen befindet sich auch der schlesische Großgrundbesitzer Graf Saurma-Jeltsch von Schloß Wilhelmsburg, der Bankdirektor Beckert aus Hirschberg sowie Oberstleutnant Dulitz aus Cunnersdorf.

 

Schon wenige Minuten, nachdem der Angeklagte zum erstenmal vorgeführt worden war, wird den Gerichtssaalreportern - sie sind zu Dutzenden erschienen - klar, worauf die Anklage hinaus will.

 

Der Staatsanwalt stellt den Antrag, einen oder mehrere Sachverständige für Suggestion und Hypnose einzuvernehmen. Er erklärt: „Die ermordete zwölfjährige Ursula Schade hat unter dem hypnotischen Einfluß ihres Stiefvaters gestanden.“

 

Der Verteidiger legt Protest ein. Vorsitzender Dr. Krinke und seine beiden Beisitzer ziehen sich zur Beratung zurück. Soll ein Sachverständiger für Hypnose zugelassen werden? Gleich zu Beginn des Kleppelsdorfer Mordprozesses wirft sich also diese Frage auf, sogleich spielt sie eine entscheidende Rolle: Hier schon erweist sich die Einzigartigkeit der Verhandlung gegen den „Architekten“ Peter Grupen. Vorerst freilich beschließt das Gericht, keinen Sachverständigen zu vernehmen.

 

Ein zweites ungewöhnliches Element: Hier handelt es sich um einen Indizienprozeß, bei dem ein einziges Entlastungsindiz vollkommen genügen würde, um den Freispruch des Angeklagten - mögen sonst alle Indizien gegen ihn sprechen - sicherzustellen. Im Laufe der Verhandlung wird der Abschiedsbrief, den die ermordete zwölfjährige Ursula Schade hinterlassen hat, vorgelesen - diesmal im Wortlaut. Der Brief:

 

Liebe Großmutti!

Sei mir nicht böse, daß ich Vati den Revolver aus dem Schreibtisch genommen habe. Ich will Dir helfen. Du sollst Dich nie mehr an Dörte ärgern. Als Vati Onkel Wilhelm das zeigte, habe ich zugesehen, wie es gemacht wurde, da habe ich ihn mir nachher heimlich mitgenommen. Es grüßt Dich und Vati,       Ursel.

 

In der Voruntersuchung haben die Sachverständigen den Brief der „Mörderin“ und „Selbstmörderin“ Ursel eindeutig identifiziert: Von einer Fälschung kann keine Rede sein. Hat aber Ursel den Brief geschrieben - wie sollte dann gegen Grupen die Anklage auf Mord aufrechterhalten werden? Nur auf eine Art. Die Anklage wird beweisen müssen, daß die Zwölfjährige den Brief unter dem Einfluß - vermutlich unter dem hypnotischen Einfluß - ihres Stiefvaters geschrieben hat.

 

Staatsanwalt Dr. Reifenrath weiß, daß mit diesem Beweis die Anklage steht oder fällt.

 

Durch tiefen Schnee sind die Zuschauer zum Gerichtsgebäude von Hirschberg gewatet: Jetzt ist der Saal voll besetzt. Das gesamte Interesse wendet sich dem einarmigen Angeklagten zu, der von Justizbeamten hereingeführt wird: ein gutgekleideter, selbstsicherer Mann, der alle Fragen höflich und ruhig beantwortet. Im Grunde ein grauer Mensch, beinahe ohne Eigenschaften. Ein Hypnotiseur, ein mehrfacher Mörder, ein Sittlichkeitsverbrecher, ein Teufel? Dann jedenfalls ein Teufel in höchst unauffälliger Verkleidung. Während des ganzen ersten Verhandlungstages scheint es so, als wäre Peter Grupen nicht des Mordes an seiner Stiefnichte, der Rittergutsbesitzerin Dorothea Rohrbeck, sowie seiner Stieftochter Ursula Schade angeklagt, sondern als ginge es ausschließlich um das Verschwinden seiner Frau, von der seit dem vergangenen September nichts gehört wurde.

 

Vorsitzender: Was ist am 19. September geschehen.

Angeklagter: Meine Frau fuhr nach Itzehoe. Ich habe sie zum Bahnhof gebracht.

Vorsitzender: War noch jemand dabei?

Angeklagter: Ja, zwei Dienstmädchen.

Vorsitzender: Aber diese sind vorher ausgestiegen.

Angeklagter: Das ist richtig.

Vorsitzender: Wie war Ihre Frau gekleidet?

Angeklagter: Sie hatte einen grünen Hut auf. Ob sie einen Mantel hatte, kann ich nicht genau sagen. Ich habe angenommen, sie wolle nach Kleppelsdorf fahren.

Vorsitzender: Sie haben sich aber nicht weiter darum gekümmert, daß Ihre Frau nie in Kleppelsdorf angekommen ist; Sie haben auch keine Anzeige erstattet. Was haben Sie gedacht?

Angeklagter: Daß sie mit ihrem Geliebten davongegangen ist. (Bewegung im Saal. )

Vorsitzender: Wer war der Geliebte Ihrer Frau?

Angeklagter: Ein Seifenfabrikant namens Schultz, mit dem sie schon während ihrer ersten Ehe ein ehebrecherisches Verhältnis unterhalten hat.

Vorsitzender: Ihre Ehe mit der um dreizehn Jahre älteren Frau war also von Anfang an unglücklich?

Angeklagter: Nein, ich habe sie anfangs geliebt.

Vorsitzender: Hatten Sie materielle Interessen, sie zu heiraten?

Angeklagter: Nein.

 

Der Vorsitzende versucht jetzt, die finanziellen Verhältnisse des Ehepaares vor dem Verschwinden Frau Grupens zu klären - noch immer ist keine Rede von dem Mord auf Schloß Kleppelsdorf. Das Verhör ergibt, daß Frau Grupen zwei Tage vor ihrem Verschwinden Hypotheken im Werte von 52 000 Mark auf ihren Mann hat umschreiben lassen, daß sie ihrem Mann unbeschränkte finanzielle Vollmacht erteilt hat, daß eine Gütertrennung vorgenommen wurde. Auf die Frage, warum Frau Grupen das alles getan hat, wenn sie ihren Mann verlassen und, wie Grupen behauptet, mit ihrem Geliebten nach Amerika gehen wollte, weiß der Angeklagte keine plausible Antwort - vielleicht wollte die Flüchtige ihre Kinder versorgt wissen. Dem widerspricht allerdings die Tatsache, daß sich Frau Grupen, wäre sie noch am Leben, nach dem Tod ihrer Tochter Ursula gemeldet hätte. In Wirklichkeit wurde von Frau Grupen nie wieder etwas gehört; Es steht nicht einmal fest, ob sie den Zug in Itzehoe jemals bestiegen hat.

 

Auch als sich das stundenlange Verhör endlich den Ereignissen im Schloß zuwendet, ist vorerst nicht vom Mord die Rede. Grupen wird über sein Verhältnis zu Dorothea Rohrbeck vernommen.

 

Die Beziehungen des noch nicht dreißigjährigen „Architekten“ zu der sechzehnjährigen Rittergutsbesitzerin scheinen unter dem „Erlkönig“-Motto „Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt“ gestanden zu haben. Mit einer um dreizehn Jahre älteren Frau verheiratet, hat Grupen um die Erbin geworben, die um ungefähr ebenso viele Jahre jünger war als er selbst.

 

Dem Angeklagten, der diese Werbung bestreitet, werden Briefe Dörtes vorgehalten, in denen sie von den Heiratsabsichten ihres Stiefonkels spricht. Auf der anderen Seite stehen die Aussagen der Erzieherin, Fräulein Zahn, die behauptet, Grupen habe Dorothea gelegentlich einer Kahnfahrt auf der Alster - sie waren zu dritt nach Harnburg gereist - umzubringen versucht. Der Vorsitzende erklärt, nach dieser Aussage habe Grupen versucht, das Boot absichtlich in die hohen Wogen eines Schiffes zu lenken, habe auch ein Ruder weggeworfen; es sei ihm beinahe gelungen, beim „Herausfischen“ des Ruders den Kahn umzukippen.

 

„Fräulein Rohrbeck“, sagt der Vorsitzende, „hat sich zu einer ganzen Anzahl von Personen ausgelassen, daß der Vorgang keineswegs harmlos gewesen sei. Sie will das sichere Gefühl gehabt haben, daß Sie ihr nach dem Leben trachteten.“

 

„Ich kann nicht glauben, daß Fräulein Rohrbeck so etwas gesagt hat“, erwidert der Angeklagte.

 

Und noch immer vermeidet der Vorsitzende, vom Mordtag zu sprechen. Er gelangt nun zum Verhältnis zwischen Grupen und seiner zwölfjährigen Stieftochter Ursula. Die Öffentlichkeit wird ausgeschlossen.

 

In der Voruntersuchung hat die Oberschwester Emma Kube, die in der unmittelbaren Nähe des Schlosses lebt, Dorothea Rohrbeck von deren Geburt an gekannt und sich bis zu deren Tod um sie gekümmert hat, erklärt, man habe kurz vor dem Mord die kleine Ursula Schade zu ihr gebracht. Sie habe festgestellt, daß die Zwölfjährige an einer Geschlechtskrankheit leide. Nach dieser Aussage wurde die Leiche des erschossenen Mädchens gerichtsmedizinisch untersucht - man fand die Aussage Oberschwester Kubes bestätigt. Eine Untersuchung Grupens ergab, daß er, der Stiefvater des Kindes, an der gleichen Geschlechtskrankheit leidet - aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er also die Krankheit auf das Kind übertragen.

 

Grupen gibt das Sittlichkeitsverbrechen an Ursula so wenig zu wie den Mord an den beiden Mädchen. Daß ihm die Geschworenen keinen Glauben schenken, ist indes nicht verwunderlich, denn im Laufe des Prozesses bestätigt sich, was schon die Voruntersuchung an den Tag gefördert hat:

 

Daß Grupen während seiner Ehe mindestens ein Dutzend Liebesverhältnisse unterhalten hat; daß er einmal gleichzeitig drei Geliebte im Hause hatte, mit denen er Orgien feierte;

 

daß er mehreren Hausgehilfinnen, darunter auch seiner letzten, am Mordtag anwesenden Wirtschafterin, die Ehe versprochen hatte;

 

daß er versucht hat, sich nicht nur Dorothea Rohrbeck, sondern auch deren Erzieherin, dem alternden Fräulein Zahn, zu nähern, und daß er auch dieser Eheversprechungen gemacht hat;

 

daß er seinen männlichen „Charme“ sogar bei der über siebzigjährigen „Großmutti“, der Bankierswitwe Eckardt, hat spielen lassen;

 

daß sein „sexueller Appetit“, wie sich Oberstaatsanwalt Dr. Reifenrath später ausdrücken soll, „unersättlich“ gewesen sei - was übrigens seiner eigenen Aussage, er habe „die erotischen Bedürfnisse“ seiner Frau „nicht erfüllen können“, widerspricht.

 

Ein Zeit- und Sittenbild. Der Erste Weltkrieg ist vor nicht ganz drei Jahren zu Ende gegangen. Es war die Zeit gewesen, von der Erich Kästner schrieb: Wir haben die Frauen zu Bett gebracht, / Als die Männer in Frankreich standen. / Wir hatten uns das viel schöner gedacht. / Wir waren nur Konfirmanden. Und weiter: Dann gab es ein bißchen Revolution / Und schneite Kartoffelflocken; / Dann kamen die Frauen, wie früher schon, / Und dann kamen die

Gonokokken.

 

Es ist in der Tat eine männerlose Zeit: Der Kleppelsdorfer Mordprozeß, in dem fast nur Frauen auftreten, ist ihr Symbol, und der einarmige Peter Grupen, der mit kleinen Mädchen und alternden Frauen, mit Damen der Gesellschaft und Hausgehilfinnen schläft, ist ihr Held.

 

Es ist eine Zeit, in der die Frauen schon allein, aber noch nicht selbständig sind: Wenn Entscheidungen getroffen werden müssen, klammern sie sich an den „übriggebliebenen“ Mann, und sei es auch, daß es sich um einen Mann wie den ehemaligen Maurerpolier Peter Grupen handelt.

 

Es ist eine Zeit, in der selbst das bißchen äußerliche Sicherheit, das Geld zu bieten vermag, ins Wanken geraten ist: Nicht nur die Spekulanten spekulieren, sondern jeder „Besitzende“ versucht, das unsichere Geld ins trockene zu bringen - die alte Bankierswitwe, ihre Tochter, die sechzehnjährige Rittergutsbesitzerin: Und sie alle wenden sich um Rat an den Emporkömmling, der nie etwas besessen hat und sich vielleicht gerade deshalb im unsicheren Besitz zurechtfindet.

 

Nun - endlich - hören die Besucher des Gerichtssaales zu Hirschberg die ersten Sätze, die unmittelbar mit der Tat am 14. Februar 1921 zusammenhängen.

 

Die Anklage muß zwei Punkte beweisen. Erstens - ich habe es schon gesagt -: daß der „Abschiedsbrief“ Ursula Schades unter der Suggestion des Angeklagten geschrieben wurde. Zweitens: daß sich Peter Grupen, als die Tat geschah, wenigstens für einige Minuten aus dem Wohnzimmer entfernt hat. Wenn Ursula Schade den „Abschiedsbrief“ aus eigenem Antrieb geschrieben hat, hat sie sich und ihre Kusine umgebracht - Grupen kann also der Täter nicht sein. Wenn sich Grupen während der Tat im Wohnzimmer - man nennt es auf Schloß Kleppelsdorf das „Winterzimmer“ -befunden hat, kann er die Tat nicht begangen haben. Alles andere - der Staatsanwalt weiß es am besten - sind Indizien von größerer oder kleinerer Bedeutung: In Wirklichkeit geht es allein um diese beiden Beweise.

 

Es scheint, als brächte die langwierige Zeugenaussage der Erzieherin, Fräulein Zahn, die als erste vernommen wird, den Prozeß nicht vorwärts. Die zweiundvierzigjährige „Mademoiselle“ betritt in tiefer Trauerkleidung den Saal. Schon diese Kleidung soll zeigen, daß sie sich als Mutter der ermordeten Rittergutsbesitzerin fühlt.

 

Fräulein Zahn hat sich während des Mordes in einem anderen Teil des Hauses befunden und kann über Peter Grupens Aufenthalt in den fraglichen Minuten nichts aus eigener Wahrnehmung aussagen. Ihre Worte sind von der Liebe zu der ermordeten Rittergutsbesitzerin beherrscht: Madame Rohrbeck zu sein, war der Traum der alternden Mademoiselle gewesen. Sie hatte gehofft, daß Dorotheas Vater sie heiraten werde; ihr Leben war voll von Enttäuschungen gewesen.

 

Während der ganzen Aussage vermeidet es die Zeugin, Grupen anzusehen. Wenn von ihren Beziehungen zu dem einarmigen „Architekten“ gesprochen wird, senkt sie die Augen. Sie ist sichtlich erleichtert, als man sie nach den finanziellen Verhältnissen der Ermordeten befragt, und sie ergeht sich in heftigen Angriffen gegen den Vormund, einen gewissen Herrn Vielhack, der die Millionenerbin und deren Erzieherin ungemein knapp hielt. Erst als der Vorsitzende Fräulein Zahn nach dem Verhältnis Grupens zu anderen Frauen befragt, zeigt sich ein häßliches Feuer in den winzigen Augen des knochigen alten Mädchens. Fräulein Zahn, von dem es heißt, es habe den leichtsinnigen Vergnügungen ihrer Schutzbefohlenen zugestimmt, spricht gerne vom Sex - der anderen.

 

Der Staatsanwalt, der annimmt, daß die Großmutter der Ermordeten, Frau Eckardt, den Angeklagten entlasten wird, nimmt Fräulein Zahn ins Kreuzverhör.

 

Staatsanwalt: Würden Sie das Verhältnis zwischen dem Angeklagten und der alten Frau Eckardt als herzlich bezeichnen?

Zeugin (lebhaft): Das Verhältnis war besonders herzlich. Ich habe ein solch inniges Verhältnis zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn noch nie kennengelernt.

Staatsanwalt: Haben Sie gesehen, daß der Angeklagte seine Schwiegermutter auffällig zärtlich gestreichelt hat?

Zeugin: Das Verhältnis war jedenfalls ganz ungewöhnlich.

Staatsanwalt: Was wollen Sie damit sagen?

Zeugin: Dörte hat mir einmal gesagt, daß Grupen sie gefragt habe: „Was würdet ihr sagen, wenn ich Großmutter heiratete?“

Angeklagter (aufspringend): Einen solchen Unsinn kann Dörte nie gesagt haben.

 

Fräulein Zahn wendet sich von ihm ab. Man sollte meinen, sie sei dem Angeklagten feindlich gesinnt. Doch ehe die Erzieherin den Gerichtssaal verläßt, wartet sie mit einer Überraschung auf.

 

Sie habe, sagt sie, einen Brief gefunden, den die verschwundene Frau Grupen am Tage vor ihrer mysteriösen Abreise an ihre Nichte Dorothea geschrieben hat. Die Zeugin sucht in ihrer zerschlissenen schwarzen Handtasche und händigt dem Vorsitzenden einen Brief aus, den dieser verliest. Er lautet:

 

Liebe Dörte!

Ich sende Dir vor meiner Abreise nach Amerika noch einen Abschiedsgruß, und ich wünsche Dir, daß sich Dein Leben in Zukunft sonnig gestalten möge. Es wäre wohl das Beste ein lieber, guter Mann, der Dir mit Rat und Tat zur Seite steht. Nimm Dir Onkel Peter als gutes Beispiel, der sehr viel verloren hat und jetzt viel verlieren wird und dennoch alle Lebensstürme überwindet.

Die herzlichsten Grüße von Deiner

Tante Gertrud.

 

Der Angeklagte beginnt zu gestikulieren, der Staatsanwalt protestiert, die Verteidiger verlassen ihre Bänke, die Geschworenen beugen sich interessiert vor. Alle Zuschauer haben das Gefühl, daß Peter Grupen in diesem Augenblick dem Freispruch ganz nahegekommen ist. Obwohl bisher keine Anklage wegen Gattenmordes erhoben wurde, hat kaum jemand daran gezweifelt, daß Peter Grupen seine Frau umgebracht und ihre Leiche verscharrt hat. Wenn das unwahr ist und es muß doch wohl, da Gertrude Grupen tatsächlich insgeheim nach Amerika gefahren ist, unwahr sein -, dann erscheint auch die Anklage wegen Doppelmordes in neuem Licht, dann ist Grupen vermutlich auch an dem Tod der beiden Mädchen im Schrankzimmer des Schlosses Kleppelsdorf unschuldig.

 

„Ich beantrage die Einvernahme eines Schriftsachverständigen!“ ruft der Staatsanwalt.

„Wahrscheinlich hat auch Frau Grupen unter „hypnotischem Einfluß“ gestanden!“ höhnt Verteidiger Dr. Mamroth.

„Ich bin unschuldig!“ schreit der Angeklagte.

 

In diesem Augenblick gehen die Lichter aus: Der nachmittägliche Saal liegt in vollkommener Dunkelheit.

 

Es herrscht die Stimmung eines Gottesgerichtes, schreibt mit provinzieller Übertreibung die Lokalzeitung, der „Bote aus dem Riesengebirge“. Der Vorsitzende und die Justizbeamten verständigen sich durch Zurufe. Endlich werden Petroleumlampen gebracht. In dem spärlichen Licht, das sie verbreiten, wirkt alles gespenstisch. Die dunkle Gestalt der Zeugin Zahn, welche die ganze Aufregung verursacht hat, ist wie ein Schatten, kaum noch erkenntlich. In unheimlicher Stille wird die Verhandlung fortgesetzt.

 

Sieht es im Augenblick so aus, als hätte sich das Schicksal des Angeklagten wider alles Erwarten zum Guten gewendet, so führt die Anklage schon wenige Minuten später einen harten Schlag.

 

Als Kronzeugin der Anklage erscheint ein noch kaum elfjähriges Kind: Irma Schade.

 

Irma ist die zweite Tochter der verschwundenen Frau Grupen aus deren erster Ehe. Sie ist die jüngere Schwester der toten Ursula Schade und somit eine Kusine der toten Dorothea Rohrbeck.

 

Das Mädchen, schlicht gekleidet, züchtig und wohlgesittet von Benehmen, erweckt den Eindruck eines ungemein aufgeweckten Kindes. Wie beiden meisten frühreifen Kindern wechselt ihr Verhalten zwischen erstaunlich „erwachsenen“ Redewendungen und gelegentlichen Rückfällen in vollkommene Kindlichkeit.

 

Der Einvernahme Irmas geht ein Duell zwischen Anklage und Verteidigung voraus. Der Staatsanwalt beantragt, Irma in Abwesenheit Grupens zu vernehmen: Der Einfluß des Stiefvaters und sein „stechender Blick“ könnten zu einer falschen Aussage führen. Der junge Verteidiger Dr. Ablaß belehrt den Staatsanwalt über die „heutige Jugend“: Die kleine Irma sei viel zu unabhängig, als daß die vom Staatsanwalt geschilderte Gefahr bestünde. Oberlandesgerichtsrat Doktor Krinke entscheidet sich für den Staatsanwalt: Grupen wird abgeführt, die Einvernahme Irmas findet in seiner Abwesenheit statt.

 

Irmas Aussage kann von entscheidender Bedeutung sein, weil das Kind wenige Minuten vor dem Mord mit seinem Stiefvater im „Winterzimmer“ Mühle gespielt hat. Hat sich Grupen aus diesem Zimmer entfernt? - keine Frage ist wichtiger, niemand kann sie besser beantworten als die kleine Irma.

 

Irma, die kurz vor dem Mordtag mit ihrem Stiefvater, ihrer Schwester und ihrer Großmutter nach Kleppelsdorf gekommen war, schildert vorerst die Reise. Sie hatte den größten Teil der Reise schlafend verbracht; ihr Kopf hatte im Schoß ihrer Schwester Ursula geruht.

 

„Hast du dabei etwas bemerkt“, fragt der Vorsitzende, „daß Ursula etwas Hartes in der Tasche hatte?“ Und als Irma verneint: „Hast du bei Ursula jemals einen Revolver und Patronen gesehen?“ Auch das verneint das Mädchen.

 

Vorsitzender: Wer hat euren Reisekoffer gepackt?

Irma: Die Großmutter.

Vorsitzender: Und wer hatte den Schlüssel?

Irma: Der Vater. (So bezeichnet sie ihren Stiefvater, den Angeklagten. )

Vorsitzender: Versuch jetzt, dich ganz genau an den … an den Mordtag zu erinnern.

Irma: Ich erinnere mich ganz genau. Ich bin mit Dörte zur Post gegangen. Auf dem Rückweg haben wir uns Apfelsinen gekauft. Im Schloß ist Dörte sofort zu Fräulein Zahn ins Zimmer gegangen, ich in das Zimmer, wo Vater mit der Großmutter und der Mohr saß. (Die Mohr ist die Wirtschafterin und Geliebte Grupens, die er auf das Schloß mitgebracht hatte.) Wir haben Mühle gespielt. Nach einer Weile hatte ich einen Apfel gewonnen, der aber faul war. Er (Grupen) sagte mir, ich sollte ihn zum Abort hinaustragen. Das habe ich getan und ihn dort weggeworfen.

Vorsitzender: Ist dir Herr Grupen gefolgt, oder ist er im Zimmer geblieben?

Irma: Er kam hinter mir her. Er ist dann draußen geblieben, und ich kam allein zur Stube zurück.

 

Ungeheure Bewegung bemächtigt sich des Saales. Wenn die Aussage des Kindes zutrifft, wenn ihm das Gericht Glauben schenkt, ist das Alibi des Angeklagten zusammengebrochen. Bezeichnend für die Erregung ist die Tatsache, daß sich zum erstenmal ein Geschworener zu Wort meldet. Er will wissen, ob Grupen das Kind mit dem Apfel tatsächlich „weggeschickt“ hat. Mit fester Stimme bejaht Irma diese Frage.

 

Nun nehmen die Verteidiger das Kind ins Kreuzverhör. Wie kommt es, wollen die Advokaten Dr. Ablaß und Dr. Mamroth wissen, daß Irma in der gesamten Voruntersuchung - sie war dreimal ausführlich einvernommen worden - nie von der Abwesenheit Grupens gesprochen hat.

 

„Ich hatte es vergessen“, antwortet die zehnjährige Zeugin. Schnell fügt sie hinzu: „Niemand hat es mir eingeredet.“

„Ich habe gar nicht behauptet, daß es dir jemand eingeredet hat“, sagt der alte Strafverteidiger Dr. Mamroth. „Es ist aber sehr merkwürdig, daß du überhaupt auf den Gedanken kommst.“

 

Der Vorsitzende, offenbar selbst verwirrt, läßt den Angeklagten wieder in den Saal führen - während die eben erfolgte Aussage des Mädchens vor Grupen verlesen wird, suchen die Augen des Angeklagten die Augen seiner Stieftochter. Die Zehnjährige hält seinem Blick unverwandt stand.

 

Verteidiger Dr. Ablaß verlangt, daß Irma aufgefordert werde, vor ihren Stiefvater hinzutreten und ihre Aussagen zu wiederholen. Der Staatsanwalt protestiert: „Nach der Strafprozeßordnung besteht keine Verpflichtung für einen Zeugen, eine Aussage zu wiederholen.“ Mitten im Streit der Erwachsenen, der über sie in heißen Wellen zusammenschlägt, beginnt Irma bitterlich zu weinen. Der Vorsitzende wendet sich beinahe hilfesuchend an den Gerichtspsychiater, um ihn zu befragen, ob er eine Gegenüberstellung zwischen dem Angeklagten und dessen Stieftochter für angebracht hält. Der Sachverständige verneint.

 

Die Kronzeugin wird entlassen. Das kleine Gesicht verzerrt, die Mundwinkel zuckend, die Augen voll Tränen, verläßt Irma den Gerichtssaal.

 

Im gleichen Moment flammen die elektrischen Lichter wieder auf.

 

Nach § 121 des deutschen Jugendgerichtsgesetzes muß das Gericht die Aussagen von Kindern einer besonders kritischen Prüfung unterziehen. Indes stammt das Gesetz aus dem Jahre 1953 und stellt, wie Dr. Max Hirschberg in seinem vorzüglichen Buch „Das Fehlurteil im Strafprozeß“ auseinandersetzt, einen der wichtigsten Fortschritte in der Gerichtsbarkeit dar. Als im Jahre 1921 in Schlesien über den „Mord auf Schloß Kleppelsdorf“ verhandelt wurde, gab es noch keine solchen Gesetze. Die Aussage der kleinen Irma Schade wog so schwer wie die Zeugenschaft jedes Erwachsenen.

 

Wie jeder erwachsene Zeuge, dessen Aussage von ausschlaggebender Bedeutung ist, muß jetzt auch die Zehnjährige Spießruten laufen. Stundenlang marschieren Zeugen auf, die über den Charakter des Kindes Auskunft erteilen: Auf der einen Seite bescheinigen sie Irma Schade einen tadellosen Charakter, auf der anderen Seite wird aus den alltäglichen kindlichen Unartigkeiten ein schwerer Charakterfehler konstruiert, wird die Lügenhaftigkeit der „Zeugin“ um jeden Preis bewiesen. Die Berliner „Vossische Zeitung“ spricht nicht mit Unrecht von dem dritten Mord an einem Kind.

 

Durch zwei Zeugenaussagen hofft die Verteidigung, das Gebäude der Anklage zu erschüttern: In beiden Fällen handelt es sich um Frauen - die eine ist Marie Mohr, Wirtschafterin und Geliebte des Angeklagten, die andere Frau Augusta Eckardt, seine greise Schwiegermutter.

 

Marie Mohr ist ein junges schlesisches Bauernmädchen: blond, hübsch, pausbäckig, in einem eng anliegenden Kleid über prallen Brüsten.

 

Grupen und die Mohr, man fühlt es sogleich, gehören zusammen. Der ehemalige Maurerpolier, der es im Leben so weit gebracht, der die Bankierstochter geheiratet und um die Rittergutsbesitzerin geworben hat: er und die Magd sprechen trotzdem die gleiche Sprache. Wenn etwas die Position des Angeklagten noch weiter verschlechtern kann, dann ist es die übereifrige Loyalität, mit der das Dienstmädchen für ihren ehemaligen Herrn und Geliebten eintritt.

 

Gleich zu Beginn ihrer Einvernahme teilt Marie Mohr zwei neue Einzelheiten mit.

 

Zum ersten: Sie sagt, die kleine Ursel habe sie eines Nachts im Schloß geweckt und aufgeregt gefragt, wo sich der Bücherkarton befinde, den die Reisenden nach Kleppelsdorf mitgebracht hatten. Das läßt den Schluß zu, daß Ursula den Mordrevolver im Bücherkarton verborgen hatte.

 

Wichtiger ist die zweite Mitteilung.

 

„Am 9. oder 10. Februar“, sagt die Mohr, „hat mir Ursel einen Brief an ihre Großmutter übergeben. Sie sagte, der Brief enthalte „eine große Überraschung für Großmutti“. Am nächsten Tag forderte sie den Brief zurück: Die Großmutter sollte ihn erst später erhalten.“

 

Die Aussage der Wirtschafterin vermittelt den Eindruck, daß der Abschiedsbrief nicht nur tatsächlich von Ursula geschrieben worden war, sondern daß sie sich des Inhaltes auch vollkommen bewußt gewesen sei.

 

Das ist ein Eindruck, den der Staatsanwalt zerstören muß. „In welcher Stimmung befand sich Ursel, als sie Ihnen den Brief übergab?“ fragt er die Zeugin.

 

„Sie war guter Stimmung“, gibt die Mohr zu.

„Sie hat also in bester Stimmung einen Mord und Selbstmord ankündigen wollen“, spottet der Staatsanwalt.

Schon springt der Verteidiger Dr. Ablaß auf. „Ist es nicht richtig, daß Ursel eines Nachts weinend an das Bett ihrer Großmutter eilte?“

„Ja, das ist richtig“, erklärt die Zeugin.

 

Nun übernimmt Oberlandesgerichtsrat Dr. Krinke wieder die Einvernahme. Er hält der Zeugin vor, daß sie ihre Aussage eventuell beeiden müsse, daß es sich hier um „lebenswichtige Fragen“ handle.

 

Vorsitzender (mit erhobener Stimme): Antworten Sie mit ja oder nein. Ist der Angeklagte der kleinen Irma, als sie den Apfel nach dem Abort trug, nachgegangen?

Zeugin: Nein!

Vorsitzender: Hat der Angeklagte das Mühlespiel mit Ihnen unterbrochen?

Zeugin: Ja, aber er hat das Zimmer nicht verlassen.

Vorsitzender: Niemals?

Zeugin: Niemals!

Angeklagter (sich erhebend): Ich bitte die Zeugin, keinerlei Rücksicht auf mich zu nehmen.

Zeugin: Ich nehme keine Rücksicht. Ich sage die Wahrheit.

Vorsitzender: Was hat der Angeklagte zu Ihnen gesagt, als er abgeführt wurde?

Zeugin: Ich solle die Wahrheit sagen, dann werde sich seine Unschuld herausstellen.

 

Auch im Kreuzverhör des Staatsanwaltes bleibt Marie Mohr bei ihrer Aussage, die einem perfekten Alibi des Angeklagten gleichkommt. Damit widerspricht sie vollkommen der Aussage Irma Schades. Entweder das Kind oder die Geliebte haben gelogen. Wird die Aussage der Großmutter, Frau Augusta Eckardt, die Entscheidung bringen?

 

Die alte Frau betritt den Gerichtssaal. Wie die meisten kleinen Menschen bewegt sie sich aufrecht; wie die meisten Menschen, die das Alter gebeugt hat, versucht sie, das Alter zu beugen. Sie geht an dem Angeklagten vorbei, zögert einen Augenblick, wirft ihm einen Blick zu. Es könnte ein Lächeln gewesen sein, schreibt der Gerichtssaalberichterstatter der „Vossischen Zeitung“.

 

Mit klarer Stimme schildert die über fünfundsiebzig Jahre alte Frau die Bekanntschaft zwischen dem Angeklagten und ihrer Tochter. „Sie haben sich mittels einer Heiratsannonce kennengelernt. Herr Grupen hat sie wohl zum Scherz aufgegeben, meine Tochter hat sie wohl des Scherzes halber beantwortet.“

„Ihr Schwiegersohn Schade war damals natürlich schon tot?“ fragt der Vorsitzende.

 

Und als ob in diesem Mordprozeß selten eine Antwort gegeben würde, die nicht ein neues, geheimnisvolles Problem aufwirft, antwortet die Zeugin:

 

„Der Tod meines Schwiegersohnes Schade wurde auf einen Unglücksfall auf der Jagd zurückgeführt, es hat aber auch eine Untersuchung gegen den Seifenfabrikanten Schultz aus Perleberg stattgefunden, der meiner Tochter Unterricht in der Buchführung erteilt hatte.“ Das Gesicht der alten Frau verzerrt sich zu einem bösen Lächeln. „Herr Schultz war jener Geliebte meiner Tochter, von dem Herr Grupen hier gesprochen hat.“

 

Der Vorsitzende läßt die Zügel der Verhandlungsführung schießen. Er tut nichts, um zu verhindern, daß sich einer der Verteidiger nach anderen Geliebten der verschwundenen Frau Grupen erkundigt.

 

„Ja“, beantwortet Frau Eckardt eine seiner Fragen, „sie hat auch mit dem Stabsveterinär Reske ein Verhältnis gehabt.“

 

Nachdem die Bankierswitwe solcherart die verschwundene Tochter bloßgestellt, dem Ehemann und Stiefvater Grupen jedoch ein vorzügliches Zeugnis erteilt hat, kommt sie auf das Verschwinden ihrer Tochter zu sprechen. Daß sie sich mit dem Verschwinden Gertrudes „abgefunden“ hat, bezeichnet sie als „nicht weiter merkwürdig“, denn ihre Tochter habe geradezu „die fixe Idee gehabt, eines Tages nach Amerika auszuwandern“. Das alles bringt die Greisin mit ruhiger, fester Stimme vor.

 

Erst als sie den Mordtag schildern soll, wird ihre Stirn schwach: Jetzt macht sie von dem Angebot des Vorsitz den, sie möge auf einem Stuhl Platz nehmen, Gebrauch. „Ich muß Sie, Frau Eckardt, neuerlich fragen, was man schon wiederholt gefragt hat“, sagt der Vorsitzende, „- können Sie oder können Sie nicht beschwören, daß der Anklagte in den fragwürdigen Minuten im Wohnzimmer gewesen ist?“

 

„Ich habe den Angeklagten«, antwortet die Greisin - zum erstenmal gebraucht sie die Wendung „der Angeklagte“ - „nicht ununterbrochen beobachtet. Es ist möglich, daß ich etwas eingenickt bin.“

 

Für den Staatsanwalt erscheint diese Erklärung ausreichend. Auf seine in triumphierendem Ton vorgebrachte Frage, ob sie lange genug geschlafen habe, so daß Grupen die Tat in der Zwischenzeit hätte vollbringen können, antwortete sie ausweichend:

 

„Ich weiß nicht, ob und wie lange ich geschlafen habe.“ Zögernd fügt sie hinzu: »Ursula traue ich die Tat auf keinen Fall zu.“

 

Um den Eindruck dieser Worte zu verwischen, ersucht der junge, energische Verteidiger Dr. Ablaß das Gericht, einen Brief zu verlesen, den die alte Frau am 15. Februar an Wilhelm Grupen, den Bruder des Angeklagten, gerichtet hat. In diesem Brief heißt es:

 

Ein furchtbares Unglück kam über uns. Ursel hat aus Peters Schreibtisch den Revolver mitgenommen und gestern nachmittag die Dörte und sich selbst erschossen. Ist das nicht entsetzlich? Damit nicht genug, hat man Peter verhaftet, da man der Ursel das nicht zutraut. In der Zeit des Unglücks waren wir mit Irma oben im Wohnzimmer, was wir beide beschwören können. Also muß sich ja seine Unschuld herausstellen.

 

Die Frage des Verteidigers, warum sie damals beschwören zu können glaubte, daß sich Grupen aus dem Wohnzimmer nie entfernt hat, jetzt aber von ihrem „Nickerchen“ spricht, kann Frau Eckardt nicht beantworten. Gesenkten Hauptes verläßt sie den Gerichtssaal. Sie hat dem Alter getrotzt - in einer einzigen Stunde hat das Alter sie unterworfen. Sie hat den geliebten Schwiegersohn, diesen kraftstrotzenden jungen Menschen aus einer anderen Welt, retten wollen; sie wollte zugleich das Andenken ihres Enkelkindes retten. Man hat ihr vorgehalten, daß sie den Schwiegersohn gestreichelt, daß sie mit ihm getanzt hat. Sie schleicht aus dem Saal, eine gebrochene kleine Frau, eine Greisin.

 

Die Tatsache, daß sich nicht nur die Zeugenaussagen der Stieftochter Irma und der Wirtschafterin Mohr widersprechen, daß auch die Greisin, die Grupens Unschuld „beschwören“ wollte, nun, sich selbst widersprechend, das Alibi des Angeklagten zerstört hat - das beweist, wie recht der schon erwähnte Jurist Dr. Max Hirschberg hat, wenn er unter den „sechs Hauptursachen der Fehlurteile“ die „unkritische Bewertung von Zeugenaussagen“ anführt.

 

Die fünf anderen sind: Unkritische Bewertung des Geständnisses, unkritische Bewertung der Belastung durch den Mitangeklagten, falsches Wiedererkennen, die Lüge als Schuldbeweis, unkritische Bewertung von Sachverständigengutachten.

 

„Unkritische Bewertung von Sachverständigengutachten“ - diese andere mögliche Fehlerquelle soll im Kleppelsdorfer Mordprozeß eine entscheidende Rolle spielen.

 

Die ungeheure Verantwortung, die den Sachverständigen jetzt in diesem Prozeß zukommt, ist nicht überraschend. Ich habe gezeigt, wie schwierig es geworden war, das Alibi des Angeklagten Grupen einerseits aufrechtzuerhalten, anderseits zu vernichten - von den damals im Wohnzimmer Anwesenden „weiß“ die kleine Irma, daß sich Grupen entfernt hat; „ weiß“ die Geliebte Mohr, daß er sich nicht entfernt hat - und die Großmutter Eckardt „weiß“ zu verschiedenen Zeiten entweder das eine oder das andere. Und dabei handelt es sich um einen einzigen Raum, in einem einzigen Haus, zu einer ganz bestimmten Stunde!

 

Die Frage, die jetzt die Sachverständigen zu entscheiden haben, sind auf eine einzige zusammengeschrumpft: Besitzt der ehemalige Maurerpolier und falsche Architekt Peter Grupen hypnotische Kräfte?

 

Besitzt er sie nicht, dann hat seine Frau tatsächlich einen echten Abschiedsbrief hinterlassen und ist vermutlich mit ihrem Geliebten nach Amerika entflohen, möglicherweise mit einem Geliebten, der zuvor ihren ersten Mann erschossen hat.

 

Besitzt Grupen hypnotische Kräfte, dann ist es denkbar, daß der Brief der Verschwundenen unter seinem Einfluß geschrieben wurde, dann ist es möglich, daß es sich bei einer kurz darauf aus der Alster gefischten Wasserleiche tatsächlich um die ermordete Gertrude Schade gehandelt hat.

 

Besitzt Grupen keine überwältigende Suggestivkraft, dann hat Ursula Schade den Abschiedsbrief an die Großmutter aus freien Stücken geschrieben, dann ist sie die „HeIdin“ einer der vielen Kindertragödien dieser Zeit.

 

Besitzt Grupen aber hypnotische Macht, dann kann er wogen, dann kann er die entsetzliche Tat selber ausgeführt haben.

 

Ein großer Teil der nächsten Zeugenaussagen dreht sich - bevor noch die Sachverständigen selbst zu Wort kommen - um das Wort „Hypnose“, das in dieser nach dem Übernatürlichen lechzenden kargen Nachkriegszeit tatsächlich eine „hypnotische“ Wirkung ausübt. Wenn ein halbes Dutzend Zeugen immer wieder vom „stechenden Blick“, von den „undurchdringlichen Augen“ des Angeklagten sprechen; wenn eine Zeugin um die Entfernung des Angeklagten bittet, weil sie „in seiner Anwesenheit willenlos“ sei; wenn das größte Gewicht auf eine Aussage gelegt wird, wonach Grupen an spiritistischen Seancen teilgenommen habe - dann glaubt man sich in diesen vorweihnachtlichen Tagen des Jahres 1921, mitten im demokratisch-fortschrittlichen Deutschland von Weimar, in das Mittelalter der Hexenverbrennungen zurückversetzt.

 

Besonders eifrig belastet den Angeklagten die Lyzeallehrerin Fräulein Kiefert aus Itzehoe, deren Schülerin Ursula Schade gewesen ist.

 

„Als einmal in der Stunde“, sagt die Lehrerin, „von Hypnose die Rede war, erklärte Ursula, ihre Mutter kenne einen solchen Hypnotiseur. Wenn der jemanden fest ansehe, dann müsse dieser machen, was der Hypnotiseur von ihm verlangt.“

„Haben Sie Anhaltspunkte, wonach der erwähnte Mann der Angeklagte gewesen sei?“ fragt der Vorsitzende.

 

„Ursula sagte nur auf mein Befragen, daß sie wisse, wo der Mann „zu finden“ sei. Ich fragte sie, ob sie vor dem Mann Angst habe. Sie antwortete: „Nein, wenn er die Augen abwendet, ist es vorbei.““

 

Belastend für den Angeklagten - belastend in jenem indirekten Sinne, der in Indizienprozessen dennoch eine große Rolle spielt - ist auch die Aussage eines Bekannten der verschwundenen Ehefrau, der erklärt:

 

„Frau Grupen hat leidenschaftlich an spiritistischen Sitzungen teilgenommen. Sie hat sich mir gegenüber „gebrüstet“, ein ausgezeichnetes Medium zu sein, während es ihr Mann mit Herrn Müller-Czerny in Hornburg aufnehmen könne.“

 

Auf die Frage des Vorsitzenden, wer denn dieser Müller-Czerny sei, gibt der Zeuge eine sozusagen „für Schwächere“ bestimmte Antwort:

 

„Herr Müller-Czerny ist in ganz Deutschland bekannt. Er kann Gelähmte heilen und Scheintote auferwecken. Hunderte unglücklicher Menschen stehen auch in diesem Moment vor seinem Haus Schlange.“

 

Endlich, am 20. Dezember - der Prozeß hat schon über zwei Wochen gedauert - kommen die Sachverständigen zum Wort, unter denen der führende Experte für Hypnose, Geheimrat Professor Dr. Moll aus Berlin, die Hauptrolle zu spielen berufen ist.

 

Die schweren Schneefälle haben die elektrischen Leitungen in Mitleidenschaft gezogen: Immer wieder verdunkelt sich der Gerichtssaal, immer wieder müssen die rauchenden Petroleumlampen herbeigeschafft werden. Draußen ist die Luft eiskalt, aber klar. Vom Riesengebirge weht ein scharfer Wind. Dennoch herrscht in Hirschberg vorweihnachtliches Treiben. Auf dem Hauptplatz wird ein Christbaum für die Armen aufgestellt. Kinder eilen, Schlitten hinter sich ziehend, von Schaufenster zu Schaufenster. Der Heilige Abend naht: Auf dem Weihnachtsbaum-Markt werden die Bäume seltener und schütterer.

 

In allen Restaurants, Cafes und Kneipen der Stadt gibt es nur eine Frage: Ist der „Architekt“ Peter Grupen ein mit dem „stechenden Blick“, mit „durchdringenden Augen“, mit „übernatürlichen Kräften“ ausgestatteter Mann, der seine Frau zu einem „Abschiedsbrief“ überredet und ermordet, der einer Zwölfjährigen unter Hypnose einen anderen „Abschiedsbrief“ diktiert, der sich ein Dutzend Frauen durch Suggestion gefügig gemacht und vielleicht sogar eine Fünfundsiebzigjährige seinem dunklen Willen unterworfen hat? Ist er der Mörder seiner Stieftochter Ursula Schade und der Rittergutsbesitzerin Dorothea Rohrbeck?

 

Die Kleinstadt lebt unter einer hypnotischen Suggestion. Sie erwartet das Urteil nicht von Berufsrichtern und Geschworenen. Der Sachverständige für Hypnose, der Geheimrat aus Berlin, wird das letzte Wort sprechen.

 

Das Einzigartige im Prozeß gegen den „Architekten“ Peter Grupen besteht eben darin, daß die wichtigsten Akteure dieses Prozesses weder die Zeugen noch die Verteidiger und Staatsanwälte sind: Die wichtigste Rolle im Kleppelsdorfer Mordprozeß spielen die Sachverständigen.

 

Man darf nicht vergessen: Wir befinden uns im Jahre 1921. Just um diese Zeit begann jene geradezu abergläubische Verehrung des „Fachmanns“, die uns auch heute noch beherrscht. Damals aber, mehr noch als heute, erschien es geradezu unmöglich, daß sich der „Fachmann“, der „Sachverständige< irren könne.

 

Gerade aus diesem Grunde sieht es am 6. Dezember 1921 so aus, als müßten die Geschworenen den Angeklagten Grupen, trotz aller belastenden Indizien, freisprechen. An diesem Tag nämlich tritt - noch vor dem Fachmann für Hypnose - der bekannte Schriftsachverständige Dr. Jeserich, eigens aus Berlin herbeigerufen, als Zeuge auf.

 

Vorsitzender: Halten Sie, Herr Doktor, den sogenannten Abschiedsbrief Ursula Schades, den sie an ihre Großmutter gerichtet hat, für echt?

Dr. Jeserich: An der Echtheit dieses Briefes ist vom graphologischen Standpunkt nicht zu zweifeln. (Starke Bewegung im Saal. ) Zwischen anderen, zweifellos von der kleinen Ursula geschriebenen Briefen und diesem Brief besteht eine Ähnlichkeit bis ins kleinste.

Vorsitzender: Dieser Brief war mit Bleistift geschrieben?

Dr. Jeserich: Ja.

Vorsitzender: Ein anderer Brief Ursulas, den sie am gleichen Tag an eine Frau Barthel geschrieben und mit „Deine traurige Ursula“ gezeichnet hat, war mit Tinte geschrieben?

Dr. Jeserich (gereizt): Das bedeutet nichts.

Vorsitzender (beharrlich): Ist das Wort „traurige“ möglicherweise später hinzugefügt worden?

Dr. Jeserich: Nichts deutet darauf hin.

Vorsitzender: Herr Sachverständiger, auf Grund Ihrer Erklärung in der Voruntersuchung muß ich Sie fragen, ob der Brief gewisse Ähnlichkeiten mit der Grupenschen Schrift aufweist? (Ärgerliches Gemurmel im Saal: viele Besucher empfinden die Frage als Beeinflussung des Zeugen.)

Dr. Jeserich: Wenn der Brief gefälscht sein sollte, so hätte es sich bei dem Fälscher um einen Künstler gehandelt, wie er mir in meiner dreiundvierzigjährigen Praxis noch nicht Vorgekommen ist. Ich wiederhole: Der Brief stammt zweifellos von Ursula Schade.

Vorsitzender: Sie haben auch den Abschiedsbrief, den Frau Grupen angeblich vor ihrem Verschwinden geschrieben hat, geprüft. Halten Sie ihn für echt?

Dr. Jeserich: Die Schrift Frau Grupens in diesem Brief stimmt mit ihrer Schrift in älteren Briefen vollkommen überein.

 

Als nächster Sachverständiger wird Professor Dr. Schneidemühl aus Berlin vernommen. Er bestätigt das Gutachten seines Kollegen, ja fügt hinzu:

„Nur ein Fälscher von unglaublichem Genie hätte beide Schriften mit solch täuschender Präzision nachahmen können.“

 

Immer größere Unruhe bemächtigt sich eines im großen und ganzen gegen Grupen eingestellten Auditoriums, als sich der Vorsitzende mit den Aussagen der beiden Entlastungszeugen nicht zufrieden geben will. An beide Sachverständige richtet er die Frage, ob sie es für denkbar halten, daß die Abschiedsbriefe Ursulas und Frau Grupens „unter suggestiver Einwirkung“ geschrieben worden seien. Beide verneinen, und Professor Schneidemühl spricht auch für seinen Kollegen, als er sagt:

„Selbst bei einem Brief harmlosesten Inhaltes wäre der Schrift, wenn unter suggestiver Einwirkung zu Papier gebracht, eine seelische Erregung anzumerken. Weder der Brief Frau Grupens noch der Brief der kleinen Ursula zeigen aber die geringsten Merkmale seelischer Erregung.“

 

Der Staatsanwalt, der fühlt, daß ihm die Felle wegschwimmen, versucht, aus dieser Bemerkung des Professors Kapital zu schlagen. Zumindest der Brief Ursulas, so sagt er, hätte auch dann in einem Zustand seelischer Erregung geschrieben werden müssen, wenn keine Beeinflussung von außen stattfand: Schließlich wird in diesem Brief ein Mord und Selbstmord angekündigt.

 

„Ich frage Sie nun ganz eindeutig“, greift der Vorsitzende Dr. Krinke ein, „- halten Sie es für möglich, daß einer der beiden Briefe unter Hypnose geschrieben wurde?“

 

Er halte es für unwahrscheinlich, erwidert Professor Dr. Schneidemühl, daß beide Briefe unter hypnotischem Einfluß geschrieben worden seien, obwohl anderseits solche Fälle nicht unbekannt sind.

 

„Ein in Hypnose versetzter dänischer Student“, erklärte er, „hat, als man ihm suggerierte, Napoleon zu sein, dessen Namenszug mit täuschender Ähnlichkeit zu Papier gebracht. Eine Identität der Fälle besteht hier jedoch nicht, da ja der Angeklagte nicht die hypnotisierte Person, sondern der Hypnotiseur gewesen sein soll.“

 

So entlastend die Aussage der beiden Schriftsachverständigen gewirkt hat, so belastend äußert sich der Schießsachverständige, Büchsenmachermeister Walter aus Löwenberg. Anhand von Zeichnungen, die im Gerichtssaal auf einer schwarzen Tafel angebracht werden, will der Schieß-Fachmann beweisen, daß sich Ursula Schade unmöglich selbst erschießen konnte.

 

„Es steht für mich fest“, erklärt der beleibte, rotwangige Mann mit Überzeugung, „daß der Täter, etwa in der Mitte des Zimmers stehend, den ersten Schuß auf Dorothea Rohrbeck abgegeben, daß er den zweiten auf die zur Zimmertür fliehende Ursula Schade abgefeuert und dann nochmals auf die noch atmende junge Rittergutsbesitzerin geschossen hat. Daß auf Ursula aus weiterer Entfernung geschossen worden ist als auf Dörte - das unterliegt keinem Zweifel. Bei Ursula ist die Schädeldecke nicht durchschlagen worden, sondern das Geschoß ist darunter steckengeblieben. Der Kopfschuß auf Dorothea Rohrbeck ist aus geringer Entfernung abgegeben worden.“

 

„Wäre nach Ihrer Annahme“, unterbricht ihn der Vorsitzende, „die kleine Ursula überhaupt fähig gewesen, den Revolver so zu handhaben, daß sie sich selbst erschießen konnte?“

Mit dem Eifer eines Vorzugsschülers erwidert Walter:

„Nach meinen Erfahrungen kann ein Mädchen durch bloßes Zusehen beim Erklären einer Waffe - wie ja hier behauptet wurde - die Waffe nicht gleich mit Sicherheit handhaben. Auch die Treffsicherheit kann einem solchen Kind nicht zugetraut werden.“

 

Nun haben also zwei Gruppen von Sachverständigen gesprochen. Nach den Erklärungen der einen ist der Angeklagte unschuldig, da es unwahrscheinlich ist, daß er beide Abschiedsbriefe gefälscht hat, oder daß sie unter seinem hypnotischen Einfluß geschrieben wurden. Nach Erklärungen der anderen Gruppe von Experten aber ist Grupen schuldig, da Ursula Schade den im „Großmutti-Brief“ angekündigten Mord und Selbstmord nicht begangen haben konnte.

 

Werden die Geschworenen den Schrift- oder dem Waffenkundigen mehr Glauben schenken?

 

Damit ist indes die Einvernahme der Fachleute noch lange nicht abgeschlossen.

 

Zunächst werden die medizinischen Sachverständigen gehört. Die beiden Kreis-Medizinalräte Dr. Peters und Dr. Scholtz werden in ihren Gutachten von dem Breslauer Pro-

fessor Dr. Lesser unterstützt. Zwischen ihren Ansichten besteht nicht der geringste Widerspruch. Alle drei Ärzte sind sich darüber einig, daß - wie es der Professor zusammenfaßt - „die Mitwirkung einer fremden Hand für erwiesen angesehen werden muß“.

 

„Gegen einen Selbstmord der Ursel“, resümiert Medizinalrat Dr. Peters, „sprechen die Begleitumstände. Ursula hat, als auf sie gezielt wurde, den Kopf erschreckt nach rückwärts geneigt. Der Schußkanal zeigt, daß der Täter auf sie geschossen hat, als er in der Nähe der zusammengesunkenen Dörte stand.“

 

Grupen, der sich während der Gutachten ruhig verhalten hat, springt auf.

„Aber ich bin nicht der Täter!“ ruft er. „Ich weiß nicht, wer der Täter ist!“

Seine Anwälte versuchen, ihn zu beruhigen, versuchen auch, ihn am Weiterreden zu hindern. Schließlich ist die Verteidigung auf die Voraussetzung aufgebaut, daß es einen „Täter“ gar nicht gäbe - Ursula hat, wie sie es in ihrem Brief an die Großmutter ankündigte, zuerst ihre Kusine, die hübsche Rittergutsbesitzerin, dann sich selbst getötet.

 

Die Heizung hat versagt: Im Gerichtssaal von Hirschberg herrscht eisige Kälte. Der sportlich wirkende, forsche Vorsitzende fröstelt, der alte Staatsanwalt fröstelt, der junge und der alte Verteidiger frösteln. Das Publikum aber, das durch den tiefen Schnee des kalten Dezembertages hierher gestapft war, hält beharrlich aus. Wer das „Glück“ hat, eine Eintrittskarte bekommen zu haben, will die Einvernahme des Geheimrates Professor Dr. Moll, des größten deutschen Sachverständigen auf dem Gebiet der Hypnose, nicht versäumen.

 

Selbst dem um Unbefangenheit bemühten Beobachter fällt es schwer, von der Persönlichkeit Professor Molls unbeeinflußt zu bleiben. Schon sein Auftritt gleicht der ersten Szene jener großen Darsteller, von denen man auf der Bühne viel gesprochen hat, noch ehe sie diese betraten. Dem Geheimrat geht der Ruf der Unfehlbarkeit voraus. Er ist aus Berlin in die Kleinstadt gekommen, ein Star unter Chargenspielern, überdies ist Geheimrat Dr. Moll ein alter Herr, der jener Vater-Vorstellung entspricht, mit der sich die Psychoanalyse immer wieder beschäftigt. Hoch gewachsen, hager, mit einem Kranz weißer Haare um den kahlen Kopf, ein asketisches Gelehrtengesicht mit einer Adlernase und schmalen Lippen - hier ist ein Mann, von dem man „das letzte Wort“ erwarten darf. Wenn der Geheimrat im Laufe seiner Ausführungen - er spricht beinahe während eines ganzen Verhandlungstages - immer wieder den Ausdruck von der „suggestiven Persönlichkeit“ gebraucht, so bedarf es keines besseren Beispieles: In ihm selbst hat sich die suggestive Persönlichkeit verkörpert.

 

Während des Vortrages von Professor Dr. Moll hat man zuweilen den Eindruck, daß sich der alte Herr keinen Deut um die Gerichtsprozedur schert, deren wichtigstes Rad er jetzt ist. Er läßt sich vom Vorsitzenden nur selten unterbrechen und fährt in seinen Erklärungen zuweilen fort, ohne die an ihn gerichteten Fragen überhaupt zu beantworten. Er hat nicht nur eine Meinung. Er hat ein Urteil gefällt.

 

Das Urteil lautet: Der Angeklagte Peter Grupen ist schuldig.

 

„Über Hypnose bestehen vielfach ganz konfuse Anschauungen“, beginnt der Geheimrat dozierend, als spräche er zu seinen Hochschulhörern. Die Frage, ob Frau Grupen, ob die kleine Ursula von Grupen „hypnotisiert“ worden seien, ist ohne Bedeutung. „Es gibt Menschen, deren Suggestivkraft viel größer ist als die jedes Hypnotiseurs.“

 

Ist Grupen ein solcher Mensch? Professor Dr. Moll bejaht es mit dem ganzen Gewicht seiner Autorität. „Ist es schon ungewöhnlich“, meint er, „daß es einem Mann gelingt, seine Frau und zugleich seine Schwiegermutter in gleicher Weise sich zu „unterwerfen“, so ist die Fähigkeit Grupens, sich gleichzeitig einen ganzen Harem von Frauen gefügig zu machen, noch weit ungewöhnlicher.“

 

„Sprechen Sie von der sexuellen Hörigkeit dieser Frauen?“ wirft der Vorsitzende ein.

Ausnahmsweise scheint der Geheimrat die Frage vernommen zu haben.

„Sexuelle Hörigkeit“, erklärt er, „kann sich stärker auswirken als die vollendetste Hypnose. Sowohl Frau Grupen als auch seine kleine Stieftochter Ursula waren dem Angeklagten zweifellos hörig.“ Zum erstenmal schaltet der Professor eine Pause ein. „Der Abschiedsbrief, den Ursula geschrieben hat, ist kein Abschiedsbrief, wie ihn ein Kind, das wir aus den Aussagen kennen, aus freien Stücken schreibt. Dieser Brief wurde dem Mädchen ebenso von Grupen diktiert, wie er seiner Frau vor deren angeblichen „Flucht“ ihren Brief diktiert hat.“

 

Niemand, nicht einmal die Verteidiger Grupens, wagen es, den Professor zu unterbrechen. Niemand erhebt sich, um zu sagen, daß es nicht die Aufgabe des Sachverständigen für Hypnose sei, die Indizien zu wägen, daß er aufgerufen wurde, um über hypnotische Einflüsse, nicht über andere Zeugenaussagen zu urteilen. Geheimrat, Professor, Sachverständiger - der typische deutsche Respekt vor Titeln, Fachleuten und Gutachten lähmt das Gericht, lähmt auch die Gerechtigkeit.

 

Der Staatsanwalt wird nicht viel gegen den Angeklagten vorbringen müssen - der Geheimrat sagt alles. Er betont, daß „Selbstmord durch Erschießen beim weiblichen Geschlecht äußerst selten“ sei; daß „der Angeklagte sich auf seine Suggestivkraft verließ, als er nach seiner Verhaftung der Wirtschafterin Mohr zurief, „bei der Wahrheit zu bleiben“; daß die „Mischung von Sexualität, Drohung und Suggestion vollkommen ausreicht, um Kinder oder auch Erwachsene um ihren eigenen Willen zu bringen und sie zu Handlungen, wie es die Abfassung dieser Abschiedsbriefe ist, zu bewegen“.

 

Nach dieser Aussage will sich der Geheimrat mit einem kurzen Kopfnicken verabschieden -er scheint es kaum für möglich zu halten, daß ihn jemand durch Fragen aus seinem festgefügten Konzept zu bringen versuchen wollte:

 

In der Tat: Nur ein einziger Geschworener richtet eine Frage an den Professor.

„Halten Sie es für möglich, Herr Geheimrat, daß der stechende Blick des Angeklagten ein beachtlicher Faktor bei der Beeinflussung schwacher Charaktere oder Kinder sein könne?“

 

Eine Frage aus den Hexenprozessen des Mittelalters - sollte man annehmen. Aber der Universitätsprofessor aus Berlin nickt bejahend:

„Dieser Ansicht bin ich.“

 

Die Aussagen der graphologischen Sachverständigen sind vergessen. Der Rettungsanker pendelt im Leeren, trifft keinen Boden. Hat es noch einen Sinn, Plädoyers zu halten? Tut man nicht besser daran, hinauszueilen in die weihnachtliche Stadt, Einkäufe zu besorgen, einen Christbaum zu kaufen, an den fetten Karpfen für den Festtagstisch zu denken?

Ja, man täte besser daran.

 

Nach der Aussage des Geheimrates wirken die Plädoyers des Staatsanwaltes und der Verteidiger blaß und bedeutungslos. Nur Justizrat Dr. Mamroth rafft sich zu einiger Beredsamkeit auf:

„Es ist die „vox populi“, die die Verurteilung des Angeklagten fordert. Es ist menschlich begreiflich, daß man einen Schuldigen haben möchte. Diese „vox populi“ ist aber das Gefährlichste, das es gibt. Es ist ein Gespenst, das zerfließt, wenn man es mit der Hand greifen will. ... Es sind hier Sachverständige aufgetreten, die nicht, wie sie sein sollten, Gehilfen des Richters, sondern Gehilfen des Staatsanwaltes geworden sind.“ Dr. Mamroth schließt: „Mit großen ZweifeIn kam ich hierher, fand aber in meinem Kollegen einen Mann, der unbedingt von der Schuldlosigkeit des Angeklagten überzeugt war. Diese Überzeugung hat sich auch bei mir im Laufe der Verhandlung immer mehr gefestigt.“ Und es klingt beinahe wie verzweifelt, als der Justizrat ausruft: „Werfen Sie auch die Überzeugung zweier ehrlicher Anwälte in die Waagschale, und wägen Sie nicht zu leicht. Dann werden Sie zu einer Verneinung der Schuldfrage kommen.“

 

Schließlich erhebt sich noch der Angeklagte Peter Grupen. In primitiver Sprache, am ganzen Leibe zitternd, sagt er:

„Ich schließe mich den Ausführungen meiner beiden Herren Verteidiger an. Ich will nur noch bemerken: Der Staatsanwalt glaubt, daß ich das Eiserne Kreuz aIs Zugabe für meinen verlorenen Arm erhalten habe. Er hätte während der zehnmonatigen Untersuchung genügend Zeit gehabt, meine Militärpapiere einzusehen. Ich bin als Kriegsfreiwilliger für eine gute Sache in den Krieg gezogen, und nun wird von der Anklage behauptet, ich soll ein unschuldiges Kind getötet haben, ein Kind, das ich lieb hatte! Ich bin voll und ganz unschuldig!“

 

Der Gerichtssaal ist beinahe vollkommen dunkel, als sich die Geschworenen zur Beratung zurückziehen - das elektrische Licht hat, vielleicht zum zehntenmal in diesem Prozeß, versagt.

 

Nur zwei Stunden beraten die Männer aus dem Volke. „Der Bote aus dem Riesengebirge“ berichtet darüber am 21. Dezember 1921:

Das Publikum richtete sich auf langes Warten ein. Man verkürzte sich die Zeit durch lebhafteste Unterhaltung. Der Ernst des Ortes, des Augenblicks wurde vergessen. Zeugen und Sachverständige rüsteten sich zur Abreise, die Justizbeamten schafften die Beweisstücke aus dem Saale; nur der Totenschädel, an dem die tödlichen Schüsse demonstriert worden waren, blieb auf dem Gerichtstisch zurück wie ein in der Zeit der Feme selbstverständliches Menetekel.

 

Kurz nach 3 Uhr hallte der schrille Klang der Glocke durch die Hallen: die Beratung und Abstimmung der Geschworenen über ihr Votum war beendet. Die Volksrichter wünschten es der Öffentlichkeit zu verkünden.

 

Der Gerichtshof nimmt seinen Platz ein. Feierliche Stille. Die Geschworenen treten ein, alles hält den Atem zurück - da beginnt der Obmann, Oberstleutnant Dulitz aus Cunnersdorf: „Auf Ehre und Gewissen verkünde ich den Wahrspruch der Geschworenen: Ist der Angeklagte, Architekt Peter Grupen aus Oldenbüttel, schuldig, am 14. Februar 1921 in Kleppelsdorf bei Lähn einen Menschen, Dorothea Rohrbeck, vorsätzlich getötet und die Tötung mit Überlegung, ausgeführt zu haben? -Ja, mit mehr als sieben Stimmen.

 

Zugleich haben die Geschworenen den Angeklagten Grupen des Mordes an Ursula Schade sowie der an ihr begangenen Sittlichkeitsverbrechen für schuldig befunden. Niemand beachtet den Obmann, der die Urteile verliest: Die gesamte Neugierde greift jetzt nach dem Angeklagten - wie reagiert die Kreatur, deren Stunde geschlagen hat?

 

Grupen richtet sich auf:

„Ich verzichte von vornherein auf jede Revision und auf ein Gnadengesuch. Der Wahrspruch der Geschworenen ist ein Fehlspruch. Ich kann aber verstehen, wie die Geschworenen zu ihrer Auffassung gekommen sind. Vielleicht wird doch der Tag kommen, wo das eine oder andere sich aufklären wird.“

 

Dieser Tag ist bis heute nicht gekommen.

 

Im Deutschland von Weimar kannte die Verfassung die Todesstrafe - sie hat übrigens die erste deutsche Demokratie nicht vor dem Untergang gerettet.

 

Peter Grupen wurde im Januar des Jahres 1922, kurz nach Weihnachten, hingerichtet.

(Anmerkung: das ist absolut falsch! Peter Grupen hat letztendlich am 02. März 1922 Selbstmord begangen!)

 

Heute, da ich sämtliche Akten des Kleppelsdorfer Mordprozesses mit Genauigkeit und Unbefangenheit geprüft habe - auch heute vermag ich nicht zu sagen, ob es sich um ein gerechtes, ob es sich um ein Fehlurteil gehandelt hat. In einem Prozeß, in dem sich der Schuldbeweis vom ersten Tag an auf dem dünnen Eis der „Suggestion“ bewegt, läßt sich das schwer beurteilen.

 

Ich halte es für wahrscheinlich, daß Peter Grupen der Mörder der Rittergutsbesitzerin Dorothea Rohrbeck und seiner Stieftochter Ursula Schade gewesen ist. Aber ich hätte ihn freigesprochen.

 

Nicht die Wahrscheinlichkeit zu prüfen, sondern auf Grund der ermittelten Wahrheit zu urteilen, ist und bleibt die Aufgabe der Richter aus dem Volke. Oder, wie es Alfred Kerr ausgedrückt hat: Du sollst nicht töten I So spricht der Denker I Nicht nur zum Mörder I Auch zum Henker .

 

 

 

 

 

 

Sonstiges

 

Das Tage-Buch

Herausgeber: Stefan Großmann

Berlin 1921, 2. Jahrgang

 

LEHREN VON KLEPPELSDORF

Angenommen, im Schlosse Kleppelsdorf wäre die ländliche Ruhe niemals durch jene Schüsse gestört worden, die zwei jungen Menschenkindern das Leben gekostet haben. Angenommen, der Besuch Peter Grupens und seiner umfangreichen Familie bei Fräulein Rohrbeck hätte, wie sonst ein solcher unerbetener Besuch, nach einem kühlen Abschiede mit der Abreise der Grupens geendet. Fräulein Zahn und Dörte Rohrbeck wären in heiterster Laune vom Bahnhof nach Hause gegangen, die Großmutter hätte noch im Zuge zu schimpfen begonnen und Peter Grupen hätte sich eine Zigarre angezündet und darüber nachgedacht, ob er mit dem ihm noch übriggebliebenen Gelde der Frau und der Großmutter in Dollars und Devisen spekulieren oder sich ein neues Gut kaufen oder am Ende gar das werden sollte, was er gelernt hatte, nämlich ein Maurermeister. Eine kleine Spannung zwischen Verwandten, die einander nicht sehr mögen, wäre geblieben. Kein Mensch sonst in der Welt hätte anders als durch Zufall etwas von der Existenz des Schlosses Kleppelsdorf oder des Gütchens Ottenbüttel, am allerwenigsten aber von den darin und außerhalb bestehenden Verhältnissen der Familien Rohrbeck und Grupen erfahren. Es wären beide gutsituierte, angesehene, ja vielfach beneidete Familien geblieben. Nicht das, was man mit einer Nebenbedeutung „eine feine Familie“ nennt.

 

Dazu hat sie erst die bohrende, vor der Erschließung geheimster Seelenkammern und verschlossener Schlafzimmer nicht haltmachende Morduntersuchung gemacht. Ja, es ist ein wahres Unglück für eine angesehene Familie, wenn sich plötzlich der ungeheure Apparat einer solchen Untersuchung auf sie stürzt, mit tausend Augen und Mikroskopen ihr Dasein und ihre Vergangenheit ableuchtet, jedes Wort und jede Seelenregung von Zeugen und Sachverständigen abhorchen und auslegen läßt. Ohne diese Unternehmung wäre Peter Grupen der strebsame, sympathische Invalide geblieben, der das Unglück hatte, im Krieg den Arm und im tiefen Frieden die Frau zu verlieren, ein trefflicher Stiefvater und achtungsvoller Schwiegersohn. Hier und da hätte man vielleicht an seinen Liebeleien mit den verschiedenen Stützen und Haushälterinnen Anstoß genommen, aber sich doch schließlich gesagt, daß einem jungen Mann, den die Frau böswillig verlassen, Manches zu verzeihen sei. Die alte Großmutter und Bankdirektorswitwe wäre weiterhin ein Gegenstand allgemeiner Achtung und Verehrung geblieben. In Kleppelsdorf aber hätten Fräulein Zahn und Fräulein Rohrbeck schlecht und recht, mit verschiedenen Anleihen bei freigiebigeren Menschen, als es die Vormünder waren, gewirtschaftet, bis Dörte über ihr Vermögen verfügt hätte. Wahrscheinlich hätte sie dann irgendein Gutsbesitzer, Leutnant oder Referendar geheiratet und auf Kleppelsdorf wäre eine neue Generation der alten, gutsituierten, angesehenen, ja beneideten Familie herangewachsen.

 

Es ist, um nachdenklich zu werden. Wie viele gute, angesehene Familien könnten es wohl vertragen, daß die erbarmungslosen Scheinwerfer einer solchen Morduntersuchung in ihr Gefüge hineinleuchten? Man glaube ja nicht, daß da sehr viel und schlimmes geschehen sein muß, um aus der guten eine „feine“ Familie zu machen. Es ist wie ein böser Zauber: Alles erhält verzerrte Linien, vergrößert und vergröbert sie, kleine Schuld, mit Leichtigkeit übergangen und vergessen, wächst in das Riesenmaß des Verbrechens, kleines Gefühl zur großen Leidenschaft, winzige Unterlassung zur schrecklichen Sünde.

 

Wir sahen es ja: Grupen heiratete eine wohlhabende, aber ältere Frau. Das ist normalerweise für einen armen Teufel von Invaliden ein Glück, ein Haupttreffer, zumal die Frau sehr hübsch und elegant ist. Es wird ihm und ihr äußerst übelgenommen. Bei ihm beweist es rücksichtsloses Streben nach Reichtum, - das ist bei Anderen immer verächtlich - bei ihr rücksichtslose Befriedigung hemmungsloser Sinnlichkeit. Und Sinnlichkeit, bei Frauen festgestellt, verdrießt den klatschenden Bürger. Die Frau hat schon früher nicht nur einen Mann, sondern auch einen Liebhaber gehabt. In Perleberg einen Liebhaber! Es ist zwar nicht erwiesen, ob das bei Lebzeiten ihres ersten Mannes war oder erst später, jedenfalls ist der Liebhaber aber nicht wegzuleugnen. Doch es kommt noch viel schlimmer: ihre Mutter, die greise Frau Eckert, hat um dieses Liebesverhältnis gewußt (als ob vierzigjährige Frauen ihre Mütter um zu fragen pflegten, daß sie sich einen Freund halten dürfen). Diese Mutter hat, als sie erfuhr, daß ihre Tochter mit einem Anderen nach Amerika durchgegangen war, nicht sehr lange um sie getrauert und keine übermäßigen Anstrengungen gemacht, ihren Aufenthaltsort zu erfahren. Wenn sie, was doch anzunehmen ist, an dieses Durchgehen nach Amerika glaubte, war es nur das Natürliche, daß sie sich keine Mühe gab, eine solche Tochter zurückzuholen und daß sie ihren so gestraften, armen Schwiegersohn dafür desto mehr bedauerte. Jeder hätte ihr Recht gegeben, wenn nicht … Ja, ihr Ansehen hätte ebenso wenig gelitten, wie das der Familie, denn solche kleine Zwischenfälle sind eben in jeder Familie unvermeidlich. Wir sind eben alle nur Menschen. Der Eine geht nach Amerika, wie Frau Grupen, um sich dieses komische Land einmal anzusehen, der Andere aus anderen, weniger unverfänglichen Gründen. Wenn zudem niemand dabei geschädigt wird, ist dies eine durchaus erlaubte Reise. Auf die Art der Familie zu schließen, weil eine Frau nicht mit ihrem Mann, sondern mit einem Anderen durchgegangen ist und die arme, zurückgelassene Familie sich aus Verzweiflung nicht umbringt, ist durchaus unangebracht. Aber glaubt einer, daß die öffentliche Meinung jetzt, da so ziemlich bewiesen ist, daß Frau Grupen garnicht nach Amerika ging, an ihrem Urteil über die Familie und die alte Großmutter etwas ändern wird?

 

Man mache einmal den Versuch, sich irgendeine gute, anständige bürgerliche Familie unter der akademischen Voraussetzung, daß irgendeines ihrer Mitglieder auf schwer erklärbare Art ermordet wurde, zur genauen Untersuchung vorzunehmen.

 

Oder nein, man versuche es nicht, man denke nur durch, was man im Laufe der Jahre über den Mann, die Frau, die Söhne oder Töchter gehört, geglaubt oder nicht geglaubt hat. Man stelle sich vor, was hundert Nachbarn, Bekannte, Dienstboten gehört und gesehen haben wollen. Man rechne sich aus, was die erregte Äußerung eines Vaters: „Den Jungen sollte man erschlagen!“ für ein Gesicht bekommt, wenn fünf Jahre später der Junge wirklich erschlagen wird. Oder was für einen Stoß die Familienehre erleidet, wenn man erfährt, daß die erwachsene Tochter mit einem Mann, der zufällig nicht sie, sondern eine andere geheiratet hat, einmal um zehn Uhr abends im Osten Berlins gesehen wurde, obwohl sie in W. W. wohnte.

 

In einer Viertelstunde ließen sich hundert Fälle erfinden, die mit einem Schlage aus einer feinen eine „feine“ Familie machen. Wenn die Menschen das bedächten, würden sie vielleicht nicht so schnell aber erheblich verständnisvoller miterleben. Und sie würden vor Allem dankbar sein, daß das Schicksal es ihnen erspart hat, wider Willen und ohne ihre Schuld einer so furchtbaren Untersuchung ausgesetzt zu werden.

 

M. Müller.

 

 

 

Deutsche Strafrechts-Zeitung, 1922, Heft 1/2

Der Mordprozeß Grupen.

Vom Landgerichtspräsidenten a. D., Geh. Oberjustizrat Dr.   K a r s t e n ,   Hirschberg.

 

Ein Strafprozeß, der weit über das gewöhnliche Maß hinaus das lebhafteste Interesse erregt hat, spielte sich kürzlich vor dem Schwurgericht in Hirschberg ab und endete nach einer vom 5. bis 20. Dez. währenden Verhandlung mit der Verurteilung des Angeklagten Peter Grupen wegen zweifachen Mordes und wegen Sittlichkeitsverbrechens, gegen welches Urteil Grupen inzwischen Revision eingelegt hat. In der hiesigen Gegend herrschte nach der Tat und während der Verhandlung eine ungeheure Erregung.

 

Der   T a t b e s t a n d   ist folgender:

Auf dem dicht vor den Toren der kleinen Stadt Lähn belegenen Gut Kleppelsdorf lebte als Besitzerin die jugendliche Dorothea Rohrheck (gen. Dörte), seit 1914 Vollwaise, in der Hut und Pflege ihrer Erzieherin, Frl. Zahn, die dieses Amt schon 9 Jahre lang zu Lebzeiten des Vaters bekleidet hatte. Am 8. Febr. 1921 waren bei ihnen die mütterliche Großmutter der Dörte, Frau Eckert, nebst ihren beiden Enkelinnen Ursula und Irmgard Schade und einem Kinderfräulein Marie M., sowie der Stiefvater dieser Kinder, „Architekt" Peter Grupen, Schwiegersohn der Frau Eckert (als Gatte ihrer in erster Ehe mit dem Apothekenbesitzer Schade vermählt gewesenen Tochter Gertrud, einer Halbschwester der verstorbenen Frau Rohrbeck) besuchsweise eingetroffen. Am 14. Febr. mittags fand ein Dienstmädchen des Hauses Dörte Rohrbeck und Ursula Schade, die sie zum Mittagessen rufen sollte, in einem Zimmer des Erdgeschosses in ihrem Blute liegend vor. Dörte R., die zwei Schußwunden aufwies, war bereits tot, die 13jährige Ursula lebte, mit einer Schußwunde im Kopf, noch einige Stunden in bewußtlosem Zustande. Beide Kinder waren noch kurze Zeit - höchstens 1/2 Stunde - vor dieser Entdeckung mit den übrigen Hausbewohnern im oberen Zimmer zusammengewesen, und zwar Dörte bei Frl. Zahn, Ursula im nebenliegenden Zimmer mit der Großmutter, Grupen, Irmgard und FrI. M. Ursula hatte die Dörte aus dem Zimmer bei Frl. Zahn ohne Angabe eines Grundes hinausgerufen, und beide mußten also zusammen von dort in das sog. „Fremdenzimmer" hinuntergegangen sein. Grupen kam auf Grund der ersten Ermittlungen der Polizei und des Amtsgerichts, welche am Spätnachmittage und in der Nacht stattfanden, in den Verdacht der Täterschaft und wurde noch in der Nacht vom Richter verhaftet. Dafür, daß irgendeine fremde Person als Täter in Betracht kommen könne, hat sich im ganzen Laufe der 10monatigen Voruntersuchung und in der Hauptverhandlung nicht der allerleiseste Anhaltspunkt, ja eigentlich nicht einmal die Möglichkeit ergeben, so daß sogar Grupen selbst und seine Verteidiger sich auf den Versuch beschränken mußten, die Vermutung zu begründen, daß die Tat von der 13jährigen Ursula Schade begangen sei, die zuerst die Dörte und dann sich selbst erschossen haben müsse. Ursula hat, was wegen des anderen Verbrechens, wegen dessen Grupen verurteilt ist, gleich hier Erwähnung finden möge, an einer Geschlechtskrankheit derselben Art gelitten, an welcher auch Grupen früher erkrankt war und die sie nach Ansicht der ärztlichen Sachverständigen nur auf dem Wege des Geschlechtsverkehrs erworben haben kann. Grupen hat bis zum letzten Augenblick der Verhandlung seine volle Unschuld behauptet, und seine beiden Verteidiger haben sie und nicht bloß das Fehlen ausreichender Beweise verfochten.

 

Es ist von vornherein klar, daß ein solcher Sachverhalt in psychologischer und kriminalpolitischer Hinsicht die Geschworenen vor eine schwere Aufgabe stellt. Wenn sie den Angekl. in vollem Umfange schuldig gefunden haben, so haben sie zwar, wie ich auf Grund fast ununterbrochener Anhörung der Hauptverhandlung überzeugt bin, durchaus das Richtige getroffen; selbst wenn sie aber dabei völlig frei gewesen sind von dem Druck der "öffentlichen Meinung", die in der ganzen Gegend Grupen sehr ungünstig war, so daß ein Verteidiger beweglich über "Massensuggestion " klagte, so kann doch auch dieser Prozeß als ein die schweren Mängel des Schwurgerichts beleuchtender gelten. Sensationelle Artikel der Tagespresse schon von Beginn der Ermittelungen an sind verwerflich und ein im Wege der Gesetzgebung kaum abstellbarer Krebsschaden des Schwurgerichts, ebenso der Umstand, daß bei so langer Dauer einer Sache die Geschworenen zwischendurch mit zahlreichen Unberufenen in Berührung kommen, wogegen allerdings die englische   a b s o l u t e   A b s p e r r u n g   der Geschworenen von der Außenwelt mir als ein vorzügliches Mittel erscheint. Ich betone aber, daß in   d i e s e r   Sache allem Ermessen nach ein großes Schöffengericht oder eine Strafkammer zu genau dem gleichen Ergebnis gelangt sein würde, was aus den nachfolgenden Erörterungen vielleicht deutlich werden wird.

 

Grupen, der im Felde den linken Arm verloren hat, ist eine stattliche Erscheinung, bei der seine helle, etwas "quäkige" Stimme überraschend wirkt. Er hat "keine Nerven" und eine ganz ungewöhnliche Willensstärke, die ihn seine Mienen, die nie eine Gemütsbewegung erkennen lassen, völlig in der Gewalt haben läßt und ihn befähigt, jede Wendung der Verhandlung zu beherrschen, kurz ein Mann, dem man die Taten recht wohl zutrauen kann. Der jetzt erst 27jährige setzte es, obwohl einfacher, aus kleinen Verhältnissen stammender Maurer, mit eisernem Fleiß und mit seinen guten geistigen Gaben nach dem Armverlust durch, eine Baugewerksschule durchzumachen, nannte sich nach Abschlußprüfung vor derselben "Architekt" und hatte den Erfolg, seinen Ehrgeiz und seinen heftigen Drang, "reich" zu werden, durch die im Wege der Zeitungsanzeige erreichte Verheiratung mit der um 12 oder 13 Jahre älteren verwitweten Frau Gertrud Schade geb. Eckert, einer recht wohlhabenden Frau, einigermaßen zu befriedigen. Diese Ehe schloß er unbeschadet der ununterbrochenen weiteren Befriedigung seiner starken sexuellen Anlage, die ihn vor- und nachher zur Eingehung zahlloser geschlechtlicher Verhältnisse trieb, die in einer Reihe von Fällen zum Heiratsversprechen und sogar zu förmlicher "Verlobung" führten. Auf seine Frau und deren Mutter, die alte Frau Eckert, gewann er so gewaltigen Einfluß, daß beide bald nach der Hochzeit ihm nicht nur Generalvollmacht erteilten, sondern erhebliche Vermögenswerte auf seinen Namen übertrugen. Zahlreichste Zeugenaussagen bewiesen, daß Grupen besonders auf weibliche Personen einen geradezu erstaunlichen Einfluß mit der Wirkung nahezu völliger Willensausschaltung hatte. Von "hypnotischen" Experimenten, die er dabei mit irgendjemandem gemacht hätte, ist dabei keine Rede, wohl aber von einer von ihm ausgehenden starken suggestiven Kraft. In klarer und überzeugender Weise hat dies der Sachverständige Geheimrat Dr.   M o l l   dargelegt, dessen Feststellungen dem Hörer, in Verbindung mit vielen Zeugenaussagen,

sich als durchaus bedenkenfrei aufdrängten. Die   M i t t e l ,   die Grupen erfolgreich besonders gegen Frauen anwendet, um sich ihren Willen dienstbar zu machen, waren seine eigene gewaltige Willensstärke, ein geschlechtlicher Anreiz, der viele Frauenspersonen in ein von Moll als "sexuelle Hörigkeit" bezeichnetes Verhältnis hineinzwang, und letztenfalls Bedrohungen, die in einzelnen Fällen bezeugt wurden.

 

Durch seine Heirat war Grupen zu Dörte Rohrbeck, als zweiter Ehemann der Halbschwester ihrer Mutter, in verwandtschaftliche Beziehung gekommen. Der erste Eindruck, den er Dörte und Frl. Zahn machte, war offenbar ein günstiger, zumal er sich ihnen hilfsbereit in Geldangelegenheiten zeigte, in denen sie sich an ihn gewendet hatten. Das hatte folgenden Zusammenhang: Dörtes Vater hatte außer dem Gute Kleppelsdorf einige Grundstücke in Berlin-Tempelhof und ein Barvermögen von etwa 1 1/4 Mill. M. hinterlassen. Er hatte zu Lebzeiten den Grundsatz befolgt, von den reichlich 40 000 M. betragenden Zinsen des Barvermögens 1/3 zu verbrauchen, 1/3 in das stets Zuschüsse erfordernde   L u x u s g u t   Kleppelsdorf zu stecken und 1/3 "auf die hohe Kante zu legen". Der von ihm zu Dörtes Vormund bestellte Hauptmann a. D. Vielhaack in Charlottenburg glaubte hieran festhalten zu sollen. Bei der dauernd steigenden Teuerung der letzten Jahre begannen, zumal nachdem die Zinsen nach Zahlung des über 600000 M. betragenden Reichsnotopfers auf 28 000 M. herunter gegangen waren, die Barmittel, die er Frl. Zahn zur Verfügung stellte, obwohl das Gros der Lebensmittel vom Gut in natura geliefert wurde, nicht auszureichen. Auf die dadurch und durch den Umstand, daß Rohrbeck in einem Nachtrag zu seinem Testament die Bestimmung über Erziehung und Aufenthalt Dörtes Frl. Zahn "im Einverständnis mit dem Vormund" übertragen hatte, entstandenen Streitigkeiten zwischen Frl. Zahn und dem Vormund kann hier nicht näher eingegangen werden. Kurz: Frl. Zahn kam nicht aus (wobei anscheinend die Schuld auf beiden Seiten lag) und begann, sich an Dörtes Verwandte mit Darlehnsgesuchen zu wenden, u. a. auch an Grupen. Dieser weckte in Frl. Zahn die Meinung, daß er ganz auf ihrer Seite stehe, begann aber, dem Vormund eine schlechte Meinung über Frl. Zahns Erziehungsmethode beizubringen. Dieses Doppelspiel gelangte durch Schriftsätze des Vormundes in den zwischen beiden schwebenden Prozessen zu Frl. Zahns Kenntnis und erfüllte sie und Dörte mit Mißtrauen gegen Grupen. Diese ganze Angelegenheit steht natürlich mit dem Strafprozeß nur in ganz losem Zusammenhang, bei ihrer Erörterung aber mußte die Stellungnahme des Vormundschaftsrichters in Lähn berührt werden. Die in der Oeffentlichkeit sich entwickelnde Entrüstung über diesen Richter ist in diesem Umfange unberechtigt. Keinesfalls sind Umstände hervorgetreten, welche Mängel oder Lücken des Vormundschaftsrechts aufgerollt hätten. Es handelt sich einfach darum, daß der Vormund engherzig und eigensinnig war und der Richter ihm, der doch der Verantwortliche war, nicht hineingeredet hat, weil er Grund zu der Ansicht hatte, Frl. Zahn wirtschafte nicht in der richtigen Weise. Die Einzelheiten sind in der Verhandlung, die ja auch   d a z u   nicht da war,   n i c h t   k l a r g e s t e l l t   worden. Die Ausdrücke "Schloß", "Schloßherrin", "Millionenerbin" sind irreführend. „Schloß" heißt in Schlesien jedes Gutshaus auf Rittergütern, und das Kleppelsdorfer hat nach keiner Richtung etwas Schloßartiges im anderwärts üblichen Sinn; der Ausdruck "Millionenerbin" aber erweckt die Vorstellung eines erheblichen Reichtums, wovon bei einigen 40000 und später 28000 M. Einkommen, wovon erhebliche Summen in das mit Unterbilanz arbeitende Gut hineingesteckt werden müssen, zumal in den jetzigen Zeiten, nicht die Rede sein kann.

 

Frl. Zahn und Dörte waren mehrfach bei Großmutter Eckert und Grupen in Ottenbüttel, er wiederholt in Kleppelsdorf, auch trafen sie sich in Berlin.   F r a u   Grupen ist seit 19. Sept. 1920 auf unerklärte Weise verschwunden; jede Nachricht von ihr fehlt seitdem und nur sehr merkwürdige, weil jeder Gefühlsäußerung einer Mutter und Tochter, die in der Absicht, nicht wiederzukommen, sich von ihren nächsten Angehörigen trennt, entbehrende Briefe liegen vor, in denen sie sich verabschiedet und erklärt, nach Amerika zu gehen. Diese Briefe sind nach Gutachten der Schreibsachverständigen echt, aber nach dem des Prof. Schneidemühl, der dieses be- sondere Gebiet seit Jahrzehnten bearbeitet, unter einer fremden Willenseinwirkung geschrieben. Das mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls bat Grupen den Aufenthalt der Frau zu ermitteln niemals wirklich versucht. Diese Tatsache ist bezeichnend für ihn. Die Vermutung, daß er die Frau beseitigt hat, liegt sehr nahe. Anklage in dieser Richtung war mangels objektiven Tatbestandes - es ist bisher nicht feststellbar, ob sie am Leben ist - untunlich. Grupen hat bei den Zusammentreffen mit Frl. Zahn und der noch nicht 16jährigen Dörte auch diesen beiden Heiratsanträge gemacht. Beider Abneigung gegen ihn nahm zu, und bei Dörte ging das so weit, daß sie zu Zeugen, zuletzt noch einige Stunden vor ihrem Tode gegenüber ihrer mütterlichen Freundin, der Oberschwester des Lähner Krankenhauses, der Befürchtung Ausdruck gab, er trachte ihr nach dem Leben.

 

Am 14. Febr. 1920 (Anmerkung: muss heißen „1921“) trat nun das furchtbare Ereignis ein. Bei der Leiche der Ursula fand man in einer unter dem Kleide getragenen Unterbindetasche ein Päckchen Patronen und einen Brief, links von ihrer Leiche lag ein kleiner Revolver, unbestritten Grupens Eigentum. Der Brief war an "Großmutti“, adressiert und von Ursula an mehreren Vorabenden ungeöffnet dem Frl. M. mit der Bitte gegeben, ihn andern Morgens "Großmutti" zur "Ueberraschung" zu geben, aber immer zurückgefordert worden. Auch dieser Brief ist echt und besagt, "Großmutti" solle nicht böse sein, daß Ursula Vatis Revolver aus seinem Schreibtisch genommen habe, Vati habe ihn "Onkel Wilhelm" (Grupens Bruder) erklärt, als sie zufällig dabei gewesen sei, und dann heißt es "Du sollst Dich nicht mehr über Dörte ärgern". Da die Großmutter nicht immer zum besten mit Dörte gestanden habe, will Grupen glauben machen, Ursula habe Revolver und Patronen in der Unterbindetasche auf die Reise zu dem Zwecke der Tötung Dörtes mitgenommen. Dies soll gänzlich verborgen geblieben sein, auch die 5 Kleppelsdorfer Tage hindurch, obwohl ein Kind mit einer so beschwerten Unterbindetasche kaum laufen kann. Im Reisegepäck hat niemand die Sachen entdeckt. In Grupens Handköfferchen, mit dem niemand sonst sich befaßt hat, konnten sie natürlich sehr gut befördert werden. Ursula war zwar ein leicht zum Weinen geneigtes und etwas schwermütiges Kind, aber gerade in den Kleppelsdorfer Tagen sehr heiter, vergnügt und mit Dörte im freundlichsten Verkehr.

 

Den Kernpunkt der Verhandlung bildete die Erörterung, ob Grupen z. Zt. des Mordes das Zimmer verlassen hat, in dem er sich mit Frau Eckert, Irmgard und Frl. M. noch aufhielt, als Ursula hinausgegangen war, und auch verweilte, als die Bluttat entdeckt wurde. Alle 3 genannten Personen haben anfangs bekundet, dies sei nicht der Fall gewesen, aber nur Frl. M. hat an dieser Aussage festgehalten. Frau Eckert dagegen hat schon in der Voruntersuchung und dann in der HV. ausgesagt, sie habe allerdings zuerst fest geglaubt, Grupen sei nie hinausgegangen, dabei aber angenommen, daß es sich doch um eine Entfernung für mindestens 1/4 Std. gehandelt haben müßte, nachdem sie aber erfahren habe, daß man zum Mordzimmer hin und zurück nur 59 Sekunden brauche und die Tat selbst in ganz wenigen Minuten hätte ausgeführt werden können, müsse sie sagen, dann sei es doch wohl möglich, weil sie Grupen nicht unausgesetzt beobachtet habe, vielleicht auch mal beim Stricken kurz eingenickt sei. Die 11jährige Irmgard aber machte in der HV. die ganz spontane Bekundung, sie habe, weil nicht danach gefragt, vergessen zu sagen, daß ihr Grupen, als sie auf seinen Rat aus dem Zimmer gegangen sei, um Apfelschalen oder einen schlechten Apfel ins Klosett zu werfen, in das anstoßende Schrankzimmer gefolgt sei - wie weit und wohin er sich von dort gewendet habe, wisse sie nicht. Die Unsicherheit der "Beobachtung" durch Zeugen wird durch diese Angaben in helles Licht gerückt, zumal bei einer ganz alten Frau und einem Kinde, und die Bekundung des Frl. M. kann hinsichtlich ihrer unausgesetzten "Beobachtung" G.s auch nicht höher gewertet werden als die der anderen Zeuginnen. Der "Alibi-Beweis" war jedenfalls gewiß nicht gelungen, und zwar um so weniger, als bald nach der Entdeckung G. geäußert bat: "Es ist nur gut, daß ihr alle wißt, daß ich das Zimmer nicht verlassen habe", eine Bemerkung, deren suggestive Kraft für die in seinem Bann stehenden Zeuginnen um so wahrscheinlicher ist, als er ihnen noch bei seiner Festnahme und Abführung zurief: "Bleibt nur bei euren Aussagen!" Daß er aber Frau Eckert, Irmgard und Frl. M. in seinem „Banne" hatte, ist wohl keinem Hörer der HV. zweifelhaft geblieben: Irmgard war ein Kind, das in ihm bis dahin den guten "Vati" verehrte, der sogar allabendlich mit ihr, Ursula und der Pflegeschwester Ruth zu beten pflegte; Frau Eckert, eine altersschwache 76jährige Frau, die nach eigener Aussage ihm blind vertraute und durch Erteilung der Generalvollmacht und Vermögensabtretungen sattsam gezeigt hat, wie ungeheuer sein Einfluß auf sie war; Frl. M. aber stand zu ihm in dem von Prof. Moll als "sexuelle Hörigkeit" bezeichneten Verhältnis: obwohl erst seit dem 1. Dez. 1920 in seinem Hause, hatte sie, der er die Ehe versprochen, mehrfach mit ihm geschlechtlich verkehrt,   u n d   z w a r   z u l e t z t   -   möglicherweise zweimal in   d e r   N a c h t   vom 13. zum 14. Febr. und das im selben Zimmer, wo Ursula schlief und in das er sich ausnahmsweise für diese Nacht einquartiert hatte!

 

Und nun die Sachverständigenvernehmungen über den Leichenbefund und die Aussagen des Schießsachverständigen: Die Auslassungen des letzteren über den vermutlichen Standort des Täters bekämpfte G. in sichtlichem Aerger und ließ sich dabei zu der von Presse und Publikum kaum beachteten Bemerkung hinreißen: "wenn ich der Täter wäre, müßte ich doch am besten wissen, wo ich gestanden habe" - ich muß es jedem überlassen, diese Aeußerung zu werten! Von da ab verweigerte er für den ganzen Rest der Beweisaufnahme jede sachliche Erklärung. Der Kreismedizinalrat Dr. Peters aus Löwenberg legte sodann unter Vorführung von die Schußverletzungen zeigenden Lichtbildern dar, daß die Schüsse aus mindestens 15 cm Entfernung abgegeben sein müssen, daß, wenn Ursula die Tat begangen, sie zuerst beide Schüsse auf Dörte abgegeben und nach dieser furchtbaren Tat noch die moralische und physische Kraft besessen haben müsse, sich selbst auf 15 cm Entfernung mit Sicherheit in den Kopf zu schießen (ihre Schußverletzung ging in die Stirn, die tödlichen Dörtes in den Hinterkopf), und daß der Revolver dicht links, sondern nur rechts von ihrer Leiche hätte liegen müssen. Der Schuß in Dörtes Hinterkopf war überdies ein solcher, daß er nur von einem geübten Schützen mit derartiger Präzision hat abgegeben werden können, nicht von einem ungeübten Kinde, dem auch sachgemäße Handhabung des Revolvers nicht zuzutrauen ist.

 

War nach alledem Ursulas Täterschaft auszuschließen, so wurde diejenige Grupens, die nach den anderen Indizien höchst wahrscheinlich war, zur Gewißheit, weil eine fremde Person weder Grupens Revolver gehabt haben kann, noch wissen konnte, daß die Kinder sich ganz ungewöhnlicherweise in dem Fremdenzimmer aufhielten. Wenn die Geschworenen also sich völlig ablehnend gegen die Ausführung der Verteidigung verhielten, dies sei ein "Trugschluß", und eine so schlecht begründete Anklage sei kaum je vorgekommen, so haben sie ein gesundes Urteil bewiesen.

 

Hinsichtlich des schon angedeuteten Sittlichkeitverbrechens haben die Geschworenen, wie man annehmen muß, die Schuldfrage wegen der Gleichartigkeit der nur durch Geschlechtsverkehr erwerbbaren Geschlechtskrankheiten Grupens und der Ursula bejaht, und werden wohl in ihrer Ueberzeugung bestärkt worden sein durch den Versuch Grupens, Ursulas Krankheit auf   p e r v e r s e n   Verkehr derselben mit - ihrer   v e r s c h w u n d e n e n   M u t t e r   zurückzuführen, in welcher Hinsicht Grupen haarsträubende Behauptungen aufstellte, die sein Bruder Wilhelm bezeugte, der einen solchen Vorgang gesehen haben will! Es machte einen furchtbaren Eindruck, daß Grupen in dieser Weise auf seine Frau, die sich in keiner Weise wehren kann, weil sie "verschwunden" ist, einen so scheußlichen Verdacht wälzte.

 

Schließlich ist auch die Frage nach dem Beweggrund zum Morde ganz ungezwungen zu beantworten. Grupen erscheint als ein gefühlsroher, wohl durch den Krieg innerlich noch mehr verrohter Mensch, der unbedenklich "über Leichen schreitet", wenn er dadurch Ehrgeiz und Habgier befriedigen zu können glaubt. Nachdem es dem vom Drange, "reich" zu werden, ganz erfüllten Manne gelungen war, durch seine Einwirkung auf Frau und Schwiegermutter erhebliche Mitte! in die Hand zubekommen, lag für ihn der Gedankengang keineswegs fern, zumal eine Heirat mit der „Millionenerbin" offenbar nicht zu erreichen war, Dörtes Beseitigung herbeizuführen, wodurch   F r a u   E c k e r t   zur Hälfte - er mochte sogar   g l a u b e n   vollständig - deren Erbin werden mußte; wenige Stunden nach dem Morde   s a g t e   e r   z u   i h r :   W e i ß t   d u ,   d a ß   d u   j e t z t   E r b i n   v o n   K l e p p e l s d o r f   b i s t ? "   Mit der ihm willenlos folgenden alten Frau, die ihm schon früher ihre Vermögensangelegenheiten überlassen hatte, hätte er dann völlig freies Spiel gehabt. Diese Frau ist, wenn man erst klar darüber ist, daß sie gänzlich unter seinem Bann stand, solange er auf freiem Fuße war und seine suggestive Kraft auf sie wirkt, gar nicht einmal ein psychologisches Rätsel: mit am stärksten von allen Zeugen hat sie ihn belastet, und man sah förmlich, wie sie sich von einem Alp befreit fühlte. Einen ähnlichen Eindruck hatte man, wenn auch vielleicht in geringerem Maße, von einer Reihe anderer weiblicher Zeugen, worauf näher einzugehen der Raummangel verbietet.

 

Einfach mustergültig war die Verhandlungsleitung durch den Vorsitzenden, OLGR.   K r i n k e ,   Breslau. Von der Festnahme Grupens bis zum Urteilsspruch sind 10 Monate vergangen - gewiß eine bedauerlich lange Zeit, aber schneller konnte die Sache nicht durchgeführt werden (es ist sogar eine eigene ao. Schwurgerichtstagung für sie angesetzt worden), es sei denn, daß alle damit befaßten Amtspersonen nur mit ihr und mit nichts anderem sich hätten beschäftigen können. Größte Gründlichkeit der Untersuchung war ja geboten, und ohne sie hätte nimmermehr die Sühne der Tat erreicht werden können. M. E. haben sich aus der Verhandlung trotz ihrer Eigenart und Ungewöhnlichkeit Fingerzeige für Fragen der Strafrechts- und Strafprozeßreform, von den wenigen berührten Momenten abgesehen, gar nicht ergeben, zumal auch die verhängten Strafen (zweifaches Todesurteil und 5 .Jahre Zuchthaus) zu keinerlei berechtigter Kritik herausfordern.

 

Nur wer den Satz vertritt, auf einen   r e i n e n   I n d i z i e n b e w e i s   hin dürfe niemals verurteilt werden, kann den Spruch gegen Grupen bemängeln. Ich finde aber, daß es zu begrüßen ist, wenn Geschworene sich durch die Erwägung, ein sozusagen "mathematischer" Beweis sei nicht geführt, nicht hindern lassen, den Mut zu einer Verurteilung bei einem so   e r d r ü c k e n d e n   Indizienbeweise aufzubringen.

 

 

 

 

 

Archiv für Kriminologie

(Kriminalanthropologie und Kriminalistik)

begründet von Dr. Hans Gross

Herausgegeben von Dr. Robert Heindl

87. Band, 1930

 

Der Mordprozeß Grupen.

In dem   K l e p p e l s d o r f e r   M o r d p r o z e ß   g e g e n   G r u p e n ,   der im Jahre 1921 vor dem Landgericht in Hirschberg verhandelt wurde (über den gleichfalls   M o l l   berichtet), spielte die Hypnose ebenso wenig eine Rolle, obwohl anfangs alles darauf hinzuweisen schien. Zwei junge Mädchen von 13 und 16 Jahren waren ermordet worden. Entweder war Grupen, ein Verwandter, der erbrechtlich stark interessiert war, der Mörder oder das eine Mädchen hatte das andere Mädchen und dann sich selbst getötet. Grupen hatte bei seiner Verhaftung den anwesenden Familienmitgliedern zugerufen, sie hätten doch gesehen, daß er mit ihnen, während der Mord geschah, zusammen in einem Zimmer gesessen hätte. Dementsprechend sagten dann die Angehörigen im vorbereitenden Verfahren auch aus, und die Schwiegermutter Grupens erklärte ausdrücklich, ihre Aussage auch in dem abgegebenen Sinne beeiden zu können. Ein Sachverständiger, der zur Klärung der Frage, ob eventuell eine Hypnotisierung der Zeugen durch Grupen vorliege, hinzugezogen wurde, bejahte diese Frage. Als der gleichfalls als Sachverständiger für die Frage der Hypnose geladene Dr.   M o l l   einige Fragen an die Zeugen richtete, sie insbesondere darauf hinwies, daß ein Mord in einem Bruchteil einer Minute geschehen könne und sie alsdann fragte, ob nicht vielleicht die Möglichkeit bestände, daß Grupen nur einen Augenblick das Zimmer verlassen hätte, fielen die Zeugen um. Sie hatten ihre früheren Aussagen nur deshalb in dem angegebenen Sinne gemacht, weil sie der Annahme waren, ein Mord müßte etwa eine Stunde dauern. Als ihnen dann vorgerechnet wurde, daß der Mord in 58 Sekunden vollendet sein konnte, wobei schon die Zeit für das Verlassen und das Wiederkommen in das Zimmer mit eingerechnet war, gaben sie die Möglichkeit, daß Grupen kurze Zeit das Zimmer verlassen hatte, unumwunden zu. Ein Zeuge konnte dies sogar positiv bestätigen. Es lag also keine Hypnose vor, sondern man hatte einfach auf den Weggang Grupens nicht geachtet und war deshalb zu den falschen Aussagen gekommen.

 

Da einerseits aus den vielfach gelungenen Versuchen die Möglichkeit eines hypnotischen Verbrechens hervorzugehen scheint, andererseits   b i s h e r   k e i n   F a l l   i n   d e r   P r a x i s   e r w i e s e n   wurde, in dem ein Hypnotiseur ein Medium zur Begehung eines Verbrechens mißbrauchte, herrscht über die Möglichkeit dieser besonderen Verbrechensart und über ihre eventuelle Bedeutung Streit. Die Tatsache, daß die vorgenommenen Versuche unter allem äußeren Anschein des Ernstes ausgeführt wurden, weist darauf hin, daß möglicherweise die Medien auch vor einem wirklichen Verbrechen nicht zurückschrecken würden. Andererseits geht daraus, daß bisher niemals die Begehung eines hypnotischen Verbrechens nachgewiesen wurde, nichts weiter hervor, als daß ein solches bisher nicht entdeckt wurde, aber nicht, daß es noch niemals vorgekommen ist. Trotzdem wäre es verfehlt, hieraus zuweitgehende Schlüsse zu ziehen, denn es ist anzunehmen, daß im praktischen Falle die Hemmungsvorstellungen der Medien gewöhnlich andere sind, als wie bei Vornahme der Versuche. Da ein Rest des Bewußtseins bei der Hypnose stets noch vorhanden ist, dürfen die Versuche nur relative Beweiskraft beanspruchen.

 

Wie die Begehung strafbarer Handlungen durch die Benutzung von Hypnotisierten als Werkzeug   j u r i s t i s c h   zu beurteile wäre, wird von   L u c a s   in seinem Werk „Hypnotismus“ gründlich erörtert. Wir verzichten, auf diese Frage hier näher einzugehen, da ja, wie gesagt, noch kein solcher Fall durch Gerichtsurteil festgestellt worden ist, wir empfehlen aber jedem Strafrichter und Polizeibeamten, der sich für die Rolle des Hypnotismus im Strafrecht interessiert, die Lektüre des   L u c a s schen Werkes aufs wärmste. Jeder Leser wird vielseitige berufliche Anregung aus dem Buche schöpfen, zumal es auch eine sehr klar und gemeinverständlich geschriebene Darstellung der Grundbegriffe „Suggestion“, „Hypnose“, „Posthypnose“, „Hypnotisierbarkeit“ bietet. De lege ferenda sei nur kurz bemerkt und auch hierbei auf die Ausführungen von   L u c a s   verwiesen:

 

Das Reichsstrafgesetzbuch des Deutschen Reiches von 1871 enthält keine spezielle Strafbestimmung gegen das Hypnotisieren. Eine solche wäre auch etwa in der allgemeinen Form, daß das Hypnotisieren mit Ausnahme seiner therapeutischen Verwendung durch einen approbierten Arzt verboten und strafbar sei, nicht angebracht. Denn der Staat hat keine Pflicht und auch kein Recht, bereits dann einzugreifen, wenn seine Bürger sich selbst einer Gefahr aussetzen und sich mit ihrer Einwilligung hypnotisieren lassen. Der Staat kann erst dann eingreifen, wenn öffentliche Interessen auf dem Spiele stehen. Unter dieser Voraussetzung aber bietet das Reichsstrafgesetzbuch in seiner gegenwärtigen Form auch ohne eine besondere Strafvorschrift gegen die Hypnose einen hinreichenden Schutz, gegen die verbrecherischen Elemente, die die Hypnose ihren Zwecken dienstbar machen. Auch in den Entwürfen eines Strafgesetzbuches von 1925 und 1927 ist dies nicht verkannt und gleichfalls keine besondere Strafbestimmung gegen die Hypnose vorgesehen. Nur an einer Stelle wird der Hypnose überhaupt Erwähnung getan. In § 9 Ziff. 6 des Entwurfs von 1927 heißt es: „Im Sinne dieses Gesetzes ist Gewalt, auch die Anwendung der Hypnose oder eines betäubenden oder berauschenden Mittels, um jemanden gegen seinen Willen bewusstlos oder widerstandsunfähig zu machen“ (ähnlich auch § 11 Ziff. 6 des Entwurfs von 1925).

 

 

 

 

 

Diarium 1917 bis 1933

Gerhart Hauptmann

Herausgegeben von Martin Machatzke

 

Seite 244-245:

57,25 Der Architekt Peter Grupen (geb. 1894 in Holstein) wurde am 20. Dezember 1921 vom Schwurgericht Hirschberg (Verhandlungsbeginn 5. Dezember 1921) für schuldig befunden, am 14. Februar 1921 die sechzehnjährige Dorothea Rohrbeck, Alleinerbin von Rittergut Kleppelsdorf, und seine zwölfjährige Stieftochter Ursula Schade ermordet sowie ein Sittlichkeitsverbrechen begangen zu haben. Grupen wurde zum Tode verurteilt. Der Prozeß fand starke Beachtung auch außerhalb Schlesiens. Verteidiger: Justizrat Dr. Bruno Ablaß, der als Rechtsanwalt auch für Hauptmann tätig war.

 

 

 

 

 

Abschrift der Geburtsurkunde von Dorothea Rohrbeck aus den Standesamtsunterlagen Geburtsregister Kleppelsdorf

 

Nr. 10

Kleppelsdorf am 26ten November 1904

Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute, der

Persönlichkeit nach bekannt,

der Rittergutsbesitzer Wilhelm

Rohrbeck

wohnhaft in Kleppelsdorf

evangelischer Religion, und zeigte an, daß von der

Hedwig Rohrbeck, geborenen

Krappe, seiner Ehefrau

evangelischer Religion,

wohnhaft bei ihm

zu Kleppelsdorf in seiner Wohnung
am einundzwanzigsten November des Jahres

tausend neunhundert und vier Nachmittags

um sechseinviertel Uhr ein Mädchen

Geschlechts geboren worden sei, welches die Vornamen

Jenny Agnes Hedwig Dorothea

erhalten habe.

Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben

Wilhelm Rohrbeck

Der Standesbeamte

Heinrich

 

Aus der Durchsicht der vorhandenen Standesamtsunterlagen ergibt sich außerdem, dass

- Wilhelm Rohrbeck und Hedwig Krappe im Zeitraum ab 01.10.1874 nicht in Kleppelsdorf geheiratet haben

- keine weiteren Kinder des Ehepaares Rohrbeck vom 01.01.1876 bis 31.12.1906 in Kleppelsdorf geboren wurden

- kein mögliches weiteres Kind des Ehepaares Rohrbeck vom 01.01.1876 bis 31.12.1906 in Kleppelsdorf gestorben

- Hedwig Rohrbeck, geb. Krappe, nicht in Kleppelsdorf gestorben ist (bis 31.12.1906); eine Suche in den Standesamtsunterlagen Lähn, weil sie möglicherweise dort im Krankenhaus verstorben sein konnte, war ebenfalls erfolglos

 

 

 

 

 

Sonntag, 25. Oktober 1914, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Traueranzeige:

Zu früh entriß uns der Tod am 23. Oktober unseren hochverehrten Herrn, den

 

Amtsvorsteher und Rittergutsbesitzer

Herrn W. Rohrbeck

   auf Kleppelsdorf.

 

Wir verlieren an ihm einen wohlwollenden, edelgesinnten und liebevollen Herrn und werden

das Andenken an den so früh Verstorbenen bis an unser Grab in hohen Ehren halten.

 

Kleppelsdorf bei Lähn, den 23. Oktober 1914

Scholz,            Friedrich,        Häkel,

Kutscher         Stellmacher    Gärtner

und das gesamte Schlosspersonal.

 

 

 

Montag, den 26. Oktober 1914, Mittagblatt, „Schlesische Zeitung“

 

Rohrbeck_Wilhelm_Begräbnis_Schl

 

Die Beerdigung des verstorbenen

Herrn Rittergutsbesitzer

Wilhelm Rohrbeck

aus Kleppelsdorf, Kr. Löwenberg (Schles.)

findet nicht um 4 Uhr,

sondern bereits 3 ¼ Uhr

Dienstag, den 27. dieses Monats, in Berlin, Dom-

kirchhof Müllerstraße, statt.

 

Am 2. Dezember 2007 habe ich den ganzen Domkirchhof abgesucht, konnte aber keine Grabstätte der Familie Rohrbeck finden!

 

 

 

Sonntag, den 5. März 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Lähn, 3. März (Verschiedenes)

Die kirchlichen Körperschaften der evangelischen Gemeinde haben beschlossen, für die im Kriege abgegebenen drei Bronzeglocken Klangstahlglocken aus Apolda als Ersatz zu beschaffen. Die Gesamtkosten werden etwa 35 000 Mark betragen. Die Beschaffung wird der Gemeinde dadurch sehr erleichtert, daß Rittergutsbesitzer Pingel in Kleppelsdorf zum Andenken an seine Nichte, Dörte Rohrbeck, eine Glocke für Lähn stiftet, und daß die Glocke für Mauer Major Grimm daselbst zum Andenken an seine beiden im Kriege gefallenen Söhne schenkt. Der noch übrige Betrag soll hauptsächlich durch freiwillige Gaben gedeckt werden.

 

Mittwoch, den 2. August 1922, „Der Bote aus dem Riesengebirge“

Lähn, 31. Juli (Glockenweihe)

Für die im Kriege abgelieferten Glocken der evangelischen Kirchgemeinde wurden durch freiwillige Beiträge zwei neue Klangstahlglocken angeschafft. Sie stammen aus der Glockengießerei Schilling und Lattermann in Apolda. Am 10. Juli wurden die Glocken vom Bahnhofe feierlich abgeholt und aufgehängt. Sonntag erfolgte die kirchliche Weihe durch einen Festgottesdienst. Superintendent Buschbeck hielt die Predigt, welche die Inschriften der Glocken zum Gegenstande hatte. Unter einem Weiheliede erklangen die neuen Glocken, und zuletzt im Verein mit der alten E-Bronzeglocke. Der Zusammenklang war vollkommen stimmungsrein und harmonisch. Stifter der einen Glocke ist Rittergutsbesitzer Pingel - Kleppelsdorf. Die Inschrift der Eis-Glocke lautet: „Himmelan, nur himmelan soll der Wandel gehen“, die der H-Glocke: „Jesus lebt in Ewigkeit. Zum Andenken an Dörte Rohrbeck auf Kleppelsdorf. * 21.11.1904. V 14.2.1921“ Die Glocken sind nach einem neuen Läutesystem Schilling aufgehängt, durch welches ermöglicht wird, daß eine Person zugleich alle drei Glocken läuten kann.

 

 

Diese Kirchenglocken der evangelischen Kirchengemeinde in Lähn haben die Kriegswirren überstanden -> zum Artikel

 

 

 

„Löwenberger Heimatgrüße“, 20. Oktober 1969, Nr. 20

Freunde, was wißt ihr von Kleppelsdorf

Erinnerungen und eine Berichtigung

Kleppelsdorf wurde in ganz Deutschland bekannt, als im Frühjahr 1921 die junge Besitzerin des Rittergutes - Dorothea Rohrbeck - ermordet wurde und erlangte so eine traurige Berühmtheit. Wer das Opfer des Mordes, die „Dörthe“, gekannt hatte, war von Trauer und Empörung über ihren Tod erfüllt. Auch jetzt ist das Geschehen noch nicht vergessen, denn über den Mord wurde unlängst wieder (leider in sensationeller Art) geschrieben.

Margarethe Engler, geb. Reimann

 

 

 

 

 

 

DorotheaGrave

Am 6. März 2007 fand Slawomir Osiecki die letzte Ruhestätte von Dorothea Rohrbeck,

die inzwischen wiederbelegt wurde, und stellte mir dieses Foto zur Verfügung.

 

 

 

 

 


Zusammenstellung der Familienverhältnisse:

Dorothea Rohrbeck        bei ihrer Ermordung am 14.02.1921 16 Jahre alt, geboren am 21.11.1904; einziges Kind von W. Rohrbeck

Wilhelm Rohrbeck          Vater der ermordeten Dorothea, „Millionenbauer“ aus Tempelhof bei Berlin, hat um 1890 das Schloß Kleppelsdorf gekauft, gefallen am 23.10.1914

Hedwig Rohrbeck           Mutter der ermordeten Dorothea, geb. Krappe, Tochter der Frau Eckert aus erster Ehe / Stiefschwester der Frau Grupen; starb kurz nach Dorotheas Geburt

Frl. Bertha Zahn              Erzieherin von Dorothea Rohrbeck, 42 Jahre alt

Erich Vielhaak                 Vormund von Dorothea Rohrbeck, Hauptmann a. D., Charlottenburg

Direktor Bauer                 Gegenvormund von Dorothea Rohrbeck, auch Verwalter des Gutes Kleppelsdorf

Peter Grupen                  Architekt/Maurerpolier, Stiefvater der ermordeten Ursula Schade, zweite Ehe mit ? Eckert, verw. Schade, 26 Jahre alt, Hamburg, Oldenbüttel bei Itzehoe, Berlin

Ursula Schade                bei ihrem Tod am 14.02.1921 12 Jahre alt, Tochter der Gertrud Grupen, verw. Schade, geb. Eckert, Stieftochter des verhafteten Peter Grupen

Irma/Irmgard Schade      9jährige Schwester von Ursula Schade

Gertrud/Trude Grupen    Mutter von Ursula und Irma, verwitwete Schade, geb. Eckert (aus zweiter Ehe, Stiefschwester der Frau Rohrbeck), verschwunden seit 19.09.1920

? Schade                         Vater von Ursula und Irma, Apothekersohn aus Berlin, Besitzer der Löwenapotheke in Perleberg, starb 1913 (oder 1911) durch einen Jagdunfall

Augusta Eckhardt           Großmutter sowohl von Dorothea Rohrbeck als auch der Schade-Geschwister, Mutter der verschwundenen Frau Grupen (verw. Schade) und

(Agnes Eckert)                der verstorbenen Frau Rohrbeck; 75 Jahre alt, geb. Boos

Direktor/Bankier Eckert  Tempelhof bei Berlin, verst. Vater der verschwundenen Frau Grupen und der verstorbenen Frau Rohrbeck

Otto Schade                    Schwiegervater von Gertrud Grupen, verw. Schade; Großvater von Ursula und Irma, Apotheker in Berlin

Margarete Schade          Schwiegermutter von Gertrud Grupen, verw. Schade; Großmutter von Ursula und Irma, Frau des Apothekenbesitzers in Berlin

Alfred Rohrbeck              Bruder des W. Rohrbeck, Jagdschloß Hubertus in Zielenzig/Mark

Jenny Pingel                   Geb. Rohrbeck; Schwester des W. Rohrbeck

Herr Pingel                      Schwager des verstorbenen W. Rohrbeck (sein 29jähr. Sohn beging Selbstmord)

Wilhelm Grupen              Bruder des Angeklagten

Heinrich Grupen              Bruder des Angeklagten

Herr Boos                        Bruder von Frau Eckert, wohnhaft in Tempelhof

 

 

 


Kleppelsdorf

Das untere Foto ist das Gruppenbild von Van Bosch in Hirschberg, das auch in „Berliner Illustrirte Zeitung“ abgebildet war; die Erklärungen sind nicht ganz korrekt: „Frau Apotheker Schade“ ist die verw. Frau Schade, also die verschwundene Frau Grupen; nicht Schwester des Rittergutsbesitzers, sondern Schwester dessen Ehefrau; nach der Berliner Angabe ist sie die sitzende Frau; außerdem ist nach Angabe der Berliner Zeitung unten links die ermordete Ursula Schade abgebildet.

 

 


Quellennachweis:

Der Bote aus dem Riesengebirge          Staatsarchiv Hirschberg / Archiwum Państwowe we Jeleniej Górze

   Buchform der Berichterstattung          SBB Berlin

Neuer Görlitzer Anzeiger                        SBB Berlin, Zeitschriftenabteilung im Westhafenspeicher

Berliner Morgenpost                               SBB Berlin, Zeitschriftenabteilung im Westhafenspeicher

Schlesische Zeitung                               Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen

Berliner Illustrirte Zeitung                        Kopie erhalten von Slawomir Osiecki, heutiger Besitzer von Schloß Kleppelsdorf

Hamburger Anzeiger                              Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg

Hamburger Nachrichten                         Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg

Hannoverscher Kurier                            Niedersächsische Landesbibliothek Hannover

Vossische Zeitung                                  Niedersächsische Landesbibliothek Hannover

Zeitschrift für Sexualwissenschaft         SBB Berlin

Das Tage-Buch                                      SBB Berlin

Diarium 1917 bis 1933                            SBB Berlin

Standesamtsunterlagen Kleppelsdorf    Staatsarchiv Hirschberg

Fotos Portrait Dorothea Rohrbeck,

     Schloss Kleppelsdorf, Grabstätte,

     Gruppenfoto (= Fotos aus Berliner

     Illustrierte Zeitung);

     Grabstätte aktuell                              erhalten von Slawomir Osiecki

Fotos Dorothea Rohrbeck mit               

     Freundin und Gruppenfotos              erhalten von Jürgen Lienig, Hoyerswerda

 

 

Doris Baumert

Heiligenstieg 8

37627 Stadtoldendorf

2006-2008