Die
Tragödie auf Schloss Kleppelsdorf am 14. Februar 1921
Dorothea
Rohrbeck, Besitzerin von Schloss Kleppelsdorf,
ermordet
am 14. Februar 1921 im Alter von 16 Jahren
Das Geschehen
auf Schloss Kleppelsdorf am 14. Februar 1921 ist so interessant, spannend und
verworren wie nur wenige Kriminalfälle; es hat mich - vor allem durch die
vielen Verstrickungen und merkwürdigen Begebenheiten im Vorfeld des Verbrechens
- in seinen Bann gezogen. Was damals wirklich geschehen ist, wird nicht mehr
herauszufinden sein, aber trotzdem - oder gerade deshalb - ist es mir ein
Bedürfnis, möglichst viele Informationen zusammenzutragen.
Dieses
sind Berichterstattungen aus „Der
Bote aus dem Riesengebirge“, „Neuer
Görlitzer Anzeiger“, „Berliner Morgenpost“,
„Berliner Illustrirte Zeitung“, „Schlesische Zeitung“, „Hamburger
Nachrichten“, „Hamburger Anzeiger“, „Norddeutsche Nachrichten“, „Hannoverscher Kurier“ und „Vossische Zeitung“. Dadurch sind viele
Einzelheiten mehrfach wiedergegeben, aber auch einige Fakten leicht verwirrend,
weil es wohl keinem Berichterstatter möglich war, diese Angelegenheit absolut
objektiv zu betrachten und mal die eine, mal die andere Tatsache in den Vordergrund
gestellt bzw. als unrelevant weggelassen wurde. Auch die Gesamtdarstellung des
Journalisten und Schriftstellers Hans Habe ist unter
ganz bestimmten Gesichtspunkten ausgearbeitet worden und lässt an manchen Stellen
die aus den Berichterstattungen der Zeitungen zu entnehmenden Fakten vermissen.
Immerhin hinterlässt er uns die Angabe, er habe - wahrscheinlich Anfang der
1960er Jahre - die Akten des Kleppelsdorfer Prozesses eingesehen.
Dagegen
ist der Artikel „Einige
Betrachtungen zum Kleppelsdorfer Mordprozeß“ in der „Zeitschrift für
Sexualwissenschaft“ vom Geh. Sanitätsrat Dr. Moll, der der Verhandlung als
Sachverständiger beiwohnte, umso wichtiger, weil hier Details aus den
Verhandlungen zum Sittlichkeitsverbrechen genannt sind; dieser Teil des
Prozesses wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt und andernorts
finden sich keine Fakten zu diesen Vorgängen.
Neben
der weiteren Zeitungssuche zielt mein Hauptaugenmerk nun auf die Suche nach den
Original-Akten; aber auch die Beschäftigung mit der von der Altonaer
Staatsanwaltschaft eingeleitete Untersuchung nach der verschwundenen Gertrud
Grupen ist im Gesamtumfang gesehen noch eine wichtige Aufgabe.
Zusammenstellung der Familienverhältnisse
Der Bote aus dem
Riesengebirge
Die
Berichterstattung des „Boten“ ist auch in Buchform erschienen, interessant
daran sind in erster Linie die Zeichnungen:
Titelseite
Seite 17 Seite 29
Seite 21
Mittwoch, 16. Februar 1921, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“, S. 4-5
Schrecklicher
Doppelmord in Kleppelsdorf bei Lähn
Zwei
junge Mädchen ermordet!
Der Schauplatz eines furchtbaren Verbrechens,
das in seinen Einzelheiten noch nicht völlig aufgeklärt ist und dem zwei junge
Mädchen zum Opfer fielen, wurde Montag am hellen Mittag das dicht an Lähn
anstoßende Schloß Kleppelsdorf. In einem an das allgemeine Eßzimmer anstoßende
Zimmer fand man um 12 ½ Uhr mittags die 16 Jahre alte Dorothea Rohrbeck, die
Besitzerin und alleinige Herrin des Rittergutes Kleppelsdorf, durch mehrere Revolverschüsse
in Hals und Brust getötet, neben einem Tische zusammengekauert auf der Diele
vor. In ähnlicher Stellung etwas entfernt von ihr wurde die zwölfjährige Kusine
der Rohrbeck Ursula Schade aus Berlin, die zu Besuch dort weilte, mit einer
Schusswunde über dem rechten Auge aufgefunden. Die kleine Schade lebte zwar
noch, ist aber zwei Stunden darauf gestorben, ohne das Bewußtsein wiedererlangt
zu haben. In ihren Kleidern befand sich ein Brief an ihre Großmutter, die vor
einigen Tagen dort weilte, und in diesem Briefe teilt sie mit, daß sie zuerst
ihre Kusine und dann sich selbst erschossen habe. Ueber weitere Einzelheiten
des Briefes zu berichten, müssen wir uns im Interesse der Untersuchung
versagen.
Am Tatort erschien sofort Sanitätsrat Dr.
Scholz, der sich um die Schwerverletzte bemühte, sowie eine Gerichtskommission,
die aus verschiedenen Umständen schloß, daß ein Mord und Selbstmord der kleinen
Schade unwahrscheinlich sei. Fräulein Rohrbeck, die Vollwaise ist und der außer
Kleppelsdorf auch noch Gießhübel und ein Gut in Kuttenberg gehören, war gegen
12 Uhr noch in Lähn. Als sie nach Hause kam, gesellte sich die kleine Schade zu
ihr, und beide gingen in das oben bezeichnete Zimmer. Die Hausdame von Fräulein
Rohrbeck, Frau Zahn, wünschte von Fräulein R. eine Auskunft und wollte sie
durch das Dienstmädchen zu sich bitten lassen. Das Mädchen fand die beiden in
der geschilderten Weise auf. Im Zimmer lag ein noch gesicherter Damenrevolver.
Gleichzeitig mit der Ursula Schade und deren neunjähriger Schwester befand sich
deren Stiefvater, ein Herr Peter Grupen aus Berlin, also ein Onkel der
Rohrbeck, seit einigen Tagen auf dem Schlosse. Unter dem dringenden Verdacht,
mit dem Morde in Verbindung zu stehen, wurde Grupen Dienstag früh verhaftet. Am
Vormittag weilte abermals eine Gerichtskommission mit Staatsanwaltschaftsrat
Mertens und Amtsgerichtsrat Thomas aus Hirschberg und dem Kreisarzt Dr.
Petersen aus Löwenberg auf dem Schlosse, wo an Ort und Stelle Vernehmungen
stattfanden.
Die auf so schreckliche Weise um ihr junges
Leben gebrachte Dorothea Rohrbeck war ein hübsches, lebenslustiges Mädchen und
erfreute sich in Kleppelsdorf und Lähn großer Beliebtheit. Sie soll von ihren
Verwandten ziemlich knapp gehalten worden sein. Der Vater ist zu Anfang des
Krieges gestorben, während sie ihre Mutter schon einige Jahre früher verloren
hatte. Verwalter des Gutes ist Direktor Bauer. In Lähn herrscht natürlich über
den Vorgang helle Aufregung, und als der verhaftete Grupen heute zum Verhör
gebracht wurde, nahm auf der Goldberger Straße eine Menschenmenge eine ziemlich
drohende Haltung gegen ihn ein. Nähere Mitteilungen folgen.
Donnerstag, 17. Februar 1921, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“, S. 4
Der
Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf
bildet das Tagesgespräch in der ganzen
Gegend. Noch ist nicht festgestellt, ob es sich um Mord oder Selbstmord der
beiden Mädchen handelt, worauf der Brief, den man in der Tasche der Ursula
Schade fand, hinzudeuten scheint, oder ob ein Verbrechen von dritter Hand
vorliegt, wofür allerdings die Wahrscheinlichkeit spricht. An sich sind
Kinderselbstmorde ja heute leider keine allzu große Seltenheit mehr, aber sie
sind doch stets befremdlich, und besonders in diesem Falle fehlen alle inneren
Beweggründe. Die Großmutter der Ursula Schade, an die der Brief gerichtet war,
befindet sich übrigens nicht in Berlin, sondern ebenfalls auf dem Gute. Die bei
den beiden Ermordeten vorgefundene Waffe ist ein Browning, Kaliber 6,35.
Die Verhaftung des Stiefvaters der Ursula
Schade, Peter Grupen, bleibt aufrecht erhalten. Ein ungünstiges Geschick
scheint über der Familie zu hängen. Der Vater der Schade, der Apotheker war,
soll seinerzeit auf der Jagd zu Tode verunglückt sein, wie es heißt, unter
Umständen, die noch der völligen Aufklärung bedürfen. Die Mutter soll sich von
den Kindern und ihrem zweiten Manne getrennt haben und jetzt in Amerika leben,
doch ist es schwer, über alle diese Punkte Gewißheit zu erlangen, da in Berlin
vorläufig darüber, wie auch über den hier unter dem Namen Peter Grupen
bekannten Mann nichts bekannt zu sein scheint. Man hat den Eindruck, als
eröffnete sich hier ein sehr interessantes Feld für einen erstklassigen
Detektiv.
Klarer liegen die Verhältnisse im
Rohrbeckschen Hause. Der Verstorbene Rohrbeck stammte aus Tempelhof und war
einer jener Millionenbauern, die vor etwa 30 Jahren bei dem Verkauf von Grund
und Boden bei der Ausbreitung Berlins so riesige Gewinne machten. Vor seinem
Tode übergab er die Erziehung seiner Tochter Dorothea dem bereits genannten
Fräulein Zahn, die in Kleppelsdorf und Umgebung allgemeine Wertschätzung
genießt. Vormund des jungen Mädchens war ein Herr Philipp in Berlin,
Gegenvormund Direktor Bauer - Kleppelsdorf. Das Gut Kleppelsdorf hatte mit den
Vorwerken Gießhübel und Kuttenberg einen Umfang von 315,7 Hektar, wovon 129,1
Hektar Forst sind. Doch soll, wie schon angedeutet, die ermordete Gutsherrin
von ihrem schönen Besitz bisher nicht allzu viel Genuß gehabt haben.
Freitag, 18. Februar 1921, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“, S. 4
Zu dem
Kleppelsdorfer Doppelmord
kann vorläufig im Wesentlichen nichts Neues
berichtet werden. Verschiedene neue Momente haben sich bei der Untersuchung des
Falles ergeben, doch erscheint es nicht angebracht, hiervon heute bereits etwas
verlauten zu lassen. Der verhaftete Peter Grupen bleibt verhaftet, da er
dauernd verdächtig erscheint. Ueber seiner Persönlichkeit schwebt ein gewisses
Dunkel. Die Annahme eines Mordes und Selbstmordes durch die kleine Schade erscheint
nicht mehr haltbar. Diese soll an ihrem Stiefvater mit großer Liebe gehangen
haben. Der Verhaftete wird von der Verwandtschaft als ruhiger, stiller Mensch
geschildert, dem man eine derartige Tat kaum zutrauen solle. Wie groß das
Rohrbecker Vermögen ist, geht schon daraus hervor, daß die getötete Dorothea
Rohrbeck mehrere hunderttausend Mark als Reichsnotopfer hat zahlen müssen. - In
einem Berliner Blatte wird Grupen als Grundstücksspekulant bezeichnet, der aus
Berlin-Tempelhof stammte und in Berlin viel Geld durch Grundstücksspekulationen
verdient habe. Es scheint aber, als liege hier eine Verwechslung mit dem
verstorbenen Rohrbeck vor. Seine Ehe mit Frau Schade soll auch seine zweite Ehe
gewesen sein.
Sonnabend, 19. Februar 1921, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“, S. 4-5
Zum
Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf
Die Sezierung fand am Donnerstag auf Schloß
Kleppelsdorf statt. Sie wurde von den beiden Kreisärzten Medizinalrat Dr.
Scholz - Hirschberg und Dr. Petersen - Löwenberg im Beisein einer Gerichtskommission
vorgenommen. Durch Photograph Blume - Hirschberg wurden die Leichen
photographiert. Die Sezierung dauerte von 11 Uhr vormittags bis abends 7 Uhr.
bei der Rohrbeck war ein Schuß von der Seite durch den Hals in den Kopf
eingedrungen. Dieser Schuß muß den sofortigen Tod herbeigeführt haben. Ein
zweiter Schuß saß in der Hüfte. Bei der Schade war die Kugel über dem rechten
Auge in den Kopf gedrungen. Die Sezierung ergab weiter, daß die bekanntlich
erst zwölfjährige Schade einmal einer Quecksilberkur(*) unterworfen gewesen
ist. Die Leiche der Rohrbeck wurde von der Gerichtskommission freigegeben. Die
Beerdigung wird am Sonnabend in Kleppelsdorf stattfinden, nachdem den
Gutsbewohnern Gelegenheit gegeben worden ist, von der allgemein beliebten
Schloßherrin Abschied zu nehmen.
Die Erregung unter der Bevölkerung über die
furchtbare Tat ist sehr groß. Als abends der Wagen mit den Aerzten zum Bahnhofe
fuhr, wäre er beinahe von einer erregten Menschenmenge, die eine drohende
Haltung einnahm, angehalten worden. Man glaubte, daß mit dem Wagen die
Großmutter der ermordeten Gutsbesitzerin, gegen die sich auch eine starke
Missstimmung richtet, abfahren wollte. Erst als man sah, daß in dem Wagen die
Aerzte saßen, ließ man ihn unbehelligt weiterfahren. Es bestätigt sich
übrigens, daß die Dorothea Rohrbeck auf dem Gute sehr kurz gehalten wurde. Sie
mußte sich oft von den Nachbarn Milch und Körner borgen, um auskommen zu können.
Neuerdings scheinen folgende Tatsachen
vorzuliegen: Der verhaftete Peter Grupen, der 26 Jahre alt ist, stammt aus
Oldenbüttel bei Itzehoe, wo auch seit einiger Zeit die Großmutter, Frau
Eckhardt, mit den beiden jungen Mädchen Schade wohnte. Frau Eckhardt ist Mutter
der Frau Grupen, verwitweten Schade und der verstorbenen Frau Rohrbeck. Grupen
scheint von seinem Architektenberuf nicht viel gehabt zu haben, sondern hat
sich durch Schiebergeschäfte mit Mühe über Wasser gehalten. Um so weniger wäre
es zu verstehen, daß er sich die Last der Erhaltung der Großmutter und der
beiden Stieftöchter aufgebürdet hat, wenn man nicht annehmen müßte, daß er sie
in seiner Nähe behalten wollte, um seinen Einfluß auf sie geltend zu machen.
Diesen Einfluß hat er in anderer Weise auch auf die Dorothea Rohrbeck ausüben
wollen, indem er sie mit Heiratsanträgen verfolgte. Sie hat aber den Zudringlichen,
der übrigens im Kriege einen Arm verloren hat, stets abgewiesen. Die sämtlichen
Verwandten waren etwa acht Tage vor dem Morde zu Besuch nach Schloß
Kleppelsdorf gekommen. Es ist anzunehmen, daß Grupen hier zum Ziele kommen
wollte. Zunächst sei noch erwähnt, daß auch ein Verdacht hinsichtlich seiner
zweiten Frau, der Witwe des Berliner Apothekersohnes Schade, auf ihm lastet.
Man nimmt nämlich an, daß diese Frau sich gar nicht in Amerika, sondern in
irgendeinem Sanatorium befindet, das man jetzt ausfindig zu machen sucht. Eine
Flasche Kognak, welche von Grupen der Rohrbeck geschenkt worden ist, ist
aufgefunden worden, und der Inhalt soll vergiftet sein, doch steht das noch
nicht sicher fest.
Was nun die eigentliche Tat betrifft, so
behaupten Berliner Blätter, daß Grupen die beiden Morde selbst nicht ausgeführt
habe. Es ist aber sein Revolver, mit dem die Tat ausgeführt wurde. Die Berliner
Blätter behaupten nun wieder, daß die zwölfjährige Ursula Schade unter
hypnotischem Zwange die Waffe auf die Rohrbeck und dann auf sich selbst
abgedrückt habe. Neuerdings neigt man aber der Annahme zu, daß hypnotische
Momente wohl in die Angelegenheit hineinspielen, jedoch nach einer anderen
Richtung hin. Grupen hat die Dienstboten, die sich in der Nähe des Mordzimmers
aufhielten, kurz vor dem kritischen Augenblick weggeschickt, so daß niemand die
drei Schüsse hören konnte, und man nimmt an, daß er der Täter ist, besonders
bei der Sicherheit, mit der die Schüsse ihr Ziel trafen. Der Brief, der sich
bei Ursula Schade fand, und der an die Großmutter Eckhardt gerichtet war, ist
möglicherweise unter hypnotischem Einfluß geschrieben worden, denn die Ursula
Schade hatte im übrigen ganz andere Gedanken im Kopfe, wie die Tatsache
beweist, daß sie kurz vor der Tat zu einem Gutsangestellten von einem für die
nächsten Tage geplanten Ausfluge gesprochen hat. Die hinzugezogenen
Sachverständigen für Hypnose und Telepathie werden gewiß Näheres auf diesem
Gebiete ausfindig machen. Der Charakter Grupens bedarf noch der näheren
Erklärung. Er ist kein ruhiger, besonnener Mensch, wie wir gestern berichteten,
sondern ein sehr aufgeregter Herr. Eine Haussuchung, die inzwischen in seiner
Wohnung in Oldenbüttel vorgenommen worden ist, hat weiteres Material ergeben.
Grupen soll schon mehrfach mit den Gerichten zu tun gehabt haben, worüber noch
Feststellungen schweben. während er sich in den letzten Tagen auf dem Schloße
Kleppelsdorf aufhielt, hat er sich so zurückgezogen, daß ihn die Gutsarbeiter
gar nicht zu Gesicht bekommen haben. Ein neues Moment in der ganzen
Angelegenheit ist vielleicht von der Persönlichkeit des Vormundes der beiden
Mädchen zu erwarten, der noch von der Staatsanwaltschaft gesucht wird, weil bei
Grupen Briefe aufgefunden worden sein sollen, die den Vormund schwer belasten.
Es sind in den beiden letzten Tagen Gerüchte
verbreitet gewesen, welche auch den Gutsdirektor Bauer belasten, dessen
Abwesenheit von Kleppelsdorf am Donnerstag man als verdachterregend auffasste.
Diese Annahme dürfte haltlos sein, weil Bauer sich als Zeuge zu einem
Gerichtsprozeß nach Hirschberg begeben mußte, welcher mit einem Viehdiebstahl
auf dem Gute, der vor einige Wochen verübt worden ist, zusammenhängt (man
vergleiche hiermit den heutigen Schwurgerichtsbericht). Bauer soll im Gegenteil
von dem Verbrechen aufs schwerste erschüttert sein.
(*)
Anmerkung: die Quecksilberkur wurde gegen Syphilis angewendet!
Dienstag, 22. Februar 1921, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“, S. 5-6
Die
erste Leichenfeier im Schloß Kleppelsdorf
Am Sonnabend Nachmittag wurde nun das erste
Opfer der ruchlosen Mordtat, die zwölfjährige Ursula Schade, beerdigt. Zu der
Trauerfeier, die im Schloß stattfand, hatten sich u. a. auch die Großmutter der
Ermordeten, Frau Apotheker Schade - Berlin, sowie der Bruder des früheren
Besitzers Rohrbeck, der auf Jagdschloß Hubertus in Zielenzig in der Mark wohnt,
eingefunden; ferner nahmen daran teil der Vormund der Dorothea Rohrbeck, Hauptmann
Vielhaak, sowie der Gegenvormund, Direktor Bauer. Bei dieser Gelegenheit
möchten wir hervorheben, daß ersterer entgegen anders lautenden Mitteilungen,
nicht geflüchtet war und auch nicht von der Staatsanwaltschaft besucht worden
ist. Er hatte früher ein Gut bei Cottbus und wohnt jetzt in Charlottenburg.
Die Trauerfeier begann mit einem von den
Schulkindern gesungenen Choral, worauf Superintendent Buschbeck die Trauerrede
hielt unter Zugrundelegung von Epheser 3, Vers 14: „Derhalben beuge ich meine
Knie vor dem Vater unseres Herrn Jesu Christi, der der rechte Vater ist über
alles, was da Kinder besitzet im Himmel und auf Erden.“ Er erwähnte dabei, wie
die Kleine sich auf Kinderart auf die Reise gefreut hatte, und wie es doch so
ganz anders kommen sollte. Es graut jedem, wenn er das Entsetzliche hört, was
die Kleine hier hat erdulden müssen. Mit dem Liede: „In meines Jesu Armen, da
ruht es sich so gut.“ schloß die Feier. Dann setzte sich der Trauerzug in Bewegung
nach dem Kirchhofe in Lähn. Hier wurde das unglückliche Kind in der üblichen
Weise beigesetzt. Die Beteiligung am Zuge war nicht übermäßig stark, und auch
auf dem Friedhofe selbst hatten sich nicht allzu viele Leute eingefunden, was
erklärlich ist, da die kleine Schade ja fast niemand gekannt hat.
Umso stärker war der Andrang nach dem Schlosse,
als gegen 5 Uhr bekannt wurde, daß die aufgebahrte Leiche der Dorothea Rohrbeck
besichtigt werden dürfe. In Scharen kamen die Bewohner von Kleppelsdorf und
Lähn, um ihre „liebe Dörthe“, wie die junge Schloßherrin von jedermann genannt
wurde, noch einmal zu sehen, die wegen ihres Reichtums, von dem sie nicht
einmal allzu viel gehabt hat, aus schnöder Habsucht unter Mörderhand ihr Leben
hatte aushauchen müssen. In einem weißseidenen Kleide, das sie sich immer
einmal gewünscht, wenn sie Braut sein sollte, lag sie im Sarge; das Gesicht wie
im friedlichen Schlummer, wenn auch um Jahre gealtert. Wohl die Augen jedes,
der an ihrem Sarge stand, feuchteten sich, hatten sie doch alle gekannt mit
ihrem sonnigen Wesen, das einfache, schlichte Mädchen, das keinen Hochmut
kannte. Ihre Beisetzung erfolgt am Montag Nachmittag.
Der verhaftete Grupen war im letzten Sommer
mehrere Male auf Schloß Kleppelsdorf, immer ohne Frau, so daß diese also schon
damals verschwunden gewesen sein dürfte. Von den Dienstboten, gegen die er
übrigens mit Trinkgeldern nicht geizte, hätte ihm damals eine solche Tat
niemand zugetraut.
Eine starke Erregung herrscht in Lähn und der
ganzen Umgegend gegen die Vormünder der Dorothea Rohrbeck, die ihr Mündel so
knapp gehalten haben sollen. Man spricht allgemein in der Bahn, in den
Gasthäusern, in Geschäften und auf der Straße fast nur von dieser Angelegenheit
und erzählt hunderterlei Geschichten, von denen wir hier keine wiedergeben
wollen, da man bei solchen Sachen ja nie weiß, was Wahrheit und Dichtung, was
Tatsachen und was Uebertreibungen sind. So viel aber steht fest, daß diese
allgemeine Erregung besteht. Von einer Beteiligung oder auch nur einer
Beziehung der Vormünder zur Mordsache spricht kein Mensch. Man ist aber
allgemein der Meinung, daß, selbst wenn durch Testament bestimmt gewesen sein
sollte, Dorothea Rohrbeck in einfacher, schlichter Weise erzogen werden sollte,
es so nicht zu sein brauchte, wie es gewesen sein soll, umsomehr, als heute der
Wert des Geldes doch ein ganz anderer ist, als zu der Zeit, wo das Testament
verfaßt wurde.
Mittwoch, 23. Februar 1921, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“, S. 4
Die
Beisetzung der Dorothea Rohrbeck
Lähn, 20. Februar
Auch das zweite Opfer des grausigen
Verbrechens in Schloß Kleppelsdorf, Dorothea Rohrbeck, die 16jährige Besitzerin
des Rittergutes, bestattete man heute zur ewigen Ruhe. Ganz Lähn war auf den
Beinen, und zu Wagen, zu Fuß und mit der Bahn waren Viele aus der Umgegend
gekommen, um dem armen Kinde, dem ein so schlimmes Ende bestimmt war, das
letzte Geleit zu geben. Wohl in den weitaus meisten Fällen nicht aus müßiger
Neugierde, sondern aus wirklicher Teilnahme, denn die „Dörthe vom Schloß“ hatte
es verstanden, sich die Liebe aller zu erringen. Durch den frühen Heimgang
ihrer Eltern - ihre Mutter, die ein Vierteljahr nach der Entbindung starb, hat
sie überhaupt nicht gekannt -, hat sie den Ernst des Lebens schon zeitig kennen
gelernt, und hat vielen Gutes und Liebes erwiesen, obwohl ihr trotz ihres
Reichtums große Mittel nicht zur Verfügung standen.
Auf dem Schloßhofe, der zum Teil ebenso wie
der Verbindungsweg von der Chaussee nach dem Gute frisch betieft und mit
Tannengrün belegt war, hatten sich schon lange vor der Trauerfeier viele Leute
eingefunden, und bereitwilligst wurde dem Wunsche, die Tote noch einmal zu
sehen, stattgegeben, soweit dies den Umständen nach möglich war. Die um 3 Uhr
im Schlosse mit dem Liede „Unter allen Wipfeln ist Ruh“ beginnende Trauerfeier
gestaltete sich sehr kurz. Superintendent Buschbeck sprach ein Gebet und dankte
der Verstorbenen noch einmal für all das, was sie trotz ihrer Jugend an Vielen
Gutes getan. In einem eichenen Sarge fuhr man sie dann unter den Klängen von
„Jesus meine Zuversicht“ von ihrer Besitzung fort. Ein endlos langer Trauerzug
folgte und unterwegs schlossen sich noch viele an, so daß man den Zug wohl auf
700 bis 800 Teilnehmer schätzen konnte. Auf dem Friedhofe wurde Dorothea
Rohrbeck dann neben ihrer Kusine, der am Sonnabend beerdigten Ursula Schade,
beigesetzt. Superintendent Buschbeck hielt die Trauerrede über das Bibelwort:
„So ich im Finstern sitze, so ist doch der Herr bei mir.“ Tiefes Dunkel, so hob
er dann hervor, hat seit acht Tagen über den Verwandten im Schlosse gelegen, wo
es doch hätte so hell sein können, denn die Besitzerin, ein junges, frohes
Menschenkind mit heiterem Sinn und sonnigen Wesen, hätte Licht und Helle
dorthin verpflanzt, wenn sie nicht vorzeitig die Hand des Mörders getroffen
hätte. Er streifte dann kurz den Werdegang der Verstorbenen, bis zu ihrer vor
einem Jahr erfolgten Konfirmation. Welche Pläne mögen das Herz des jungen, von
allen geliebten Mädchens bewegt haben, wie man sie sich schon im Geiste als
Haus- und Gutsfrau gesehen und den Zeitpunkt herbeigesehnt haben, wo sie auf ihrem
Gute nach Belieben Schalten und Walten konnte. Und nun ist es ganz anders
gekommen. Die weiteren Beisetzungsfeierlichkeiten waren die üblichen und mit
den Klängen „ich bete an die Macht der Liebe“ fand die Feier ihren Abschluß,
die durch keinerlei Zwischenfall gestört wurde. Lange verweilten die Teilnehmer
noch am Grabe der Toten, und erst nach geraumer Zeit leerte sich der
Gottesacker.
Leider kommt zu dem furchtbaren Drama auf
Schloß Kleppelsdorf in diesem Augenblick noch ein neuer Todesfall. Ein Vetter
der Dorothea Rohrbeck, ein Herr Pingel, hat sich erschossen. Der 29jährige P.,
der sich in Folge einer Verschüttung im Krieg ein schweres Leiden zugezogen hat
und seitdem sehr zum Schwermut neigte, hat, offenbar infolge der Aufregungen
der letzten Tage, Hand an sich gelegt. Der Vater des P., ein Schwager des
verstorbenen Rohrbeck, nahm an der Beerdigung teil und erhielt dabei die
traurige Nachricht. Er besitzt in der Nähe von Hannover ein größeres Waldgut.
Nach einem am Beerdigungstage in Lähn aufgetretenen
Gerücht soll bei Itzehoe eine weibliche Leiche angeschwemmt worden sein, die
man für die der Frau Grupen hält. Ob an dem Gerücht etwas Wahres ist, konnte
bisher nicht festgestellt werden. An amtlichen Stellen ist jedenfalls davon
nichts bekannt. - Der Vater der 12jährigen Ursula Schade ist, wie bereits
berichtet, vor acht Jahren auf tragische Weise ums Leben gekommen. Er war der
frühere Besitzer der Löwenapotheke in Perleberg. Schade verunglückte, wie es
damals hieß, auf der Jagd dadurch, daß sich beim Besteigen des Wagens das
ungesicherte Gewehr entlud und ihn tödlich verletzte. Er befand sich an einem
Herbsttage in der Umgebung von Perleberg vollkommen allein in einem Jagdrevier,
das einem ihm eng befreundeten dortigen Fabrikbesitzer gehörte. Man fand Schade
seinerzeit verblutet in seinem Jagdwagen vor. An den Vorfall knüpften sich in
Perleberg allerlei unkontrollierbare Gerüchte, aber das Gericht stellte einen
Unglücksfall fest. Frau Schade verpachtete zunächst die Apotheke, verkaufte sie
aber später und verließ mit ihren beiden Kindern Perleberg. Sie führte dann ein
ziemlich unstetes Leben und heiratete schließlich den Grupen in Oldenbüttel bei
Itzehoe. Im Herbst vorigen Jahres verlautete dann in bekannten Kreisen, sie
hätte ihre Familie im Stich gelassen und sei mit einem anderen Mann nach
Amerika gegangen.
Freitag, 25. Februar 1921, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“,
Zum
Kleppelsdorfer Doppelmord
Im Schaukasten der Firma von Bosch am Boten
sind Bilder der beiden ermordeten Mädchen Rohrbeck und Schade, sowie des
verstorbenen Vaters der Rohrbeck, die seinerzeit von Herrn Photograph Blume
aufgenommen worden sind, ausgestellt.
Sonnabend, 26. Februar 1921, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“, S. 4
Dorothea
Rohrbeck hat auch im Grabe keine Ruhe!
Raub an
der Leiche?
Ein neues Verbrechen ist im Anschluß an den
Kleppelsdorfer Doppelmord verübt worden. Als am Freitag Nachmittag ein
Steinmetz auf dem Friedhofe in Lähn erschien, um am Grabe der Dorothea Rohrbeck
Maß für eine Steineinfassung zu nehmen, fand er die Kränze von dem Grabe
entfernt. Am Kopfende bemerkte er einen Schacht, durch den man das Sargkissen
erblickte. Auch wurde festgestellt, daß das Kruzifix auf dem Sarge zertrümmert
ist. Neben dem Grabe lag ein Stück Holz von dem Sarge. Wie weiter festgestellt
wurde, war das Leichenhaus erbrochen und Spaten und sonstiges Handwerkszeug
daraus gestohlen, das jedenfalls zum Oeffnen des Grabes benutzt worden ist. Ob
und was von der Leiche geraubt worden ist, konnte bisher noch nicht
festgestellt werden, da man das Grab bis zum Eintreffen eines Polizeihundes in
unverändertem Zustande belassen wollte. So läßt sich noch nicht sagen, ob die
Grabschändung irgendwie mit der Mordtat in Zusammenhang steht, oder ob sie etwa
auf irgend einem törichten Aberglauben beruht. Der Friedhof ist abgesperrt.
Sonntag, 27. Februar 1921, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“, S. 4-5
Zur
Leichenschändung in Lähn
Ueber das bereits gestern mitgeteilte neue
Verbrechen in Lähn ist heut zu melden, daß die Leiche der Dorothea Rohrbeck
tatsächlich in schändlicher Weise beraubt worden ist. Bei Oeffnung des von dem
Täter nur wenig zugeschaufelten Grabes fand man, daß in den Sargdeckel
gewaltsam eine größere Oeffnung gemacht worden ist, die mit einem Kissen
zugedeckt war, das man von außen durch das Loch im Grabe sehen konnte. Beim
vollständigen Oeffnen des Sargdeckels sah man, daß der oder die Täter der
Leiche das seidene Kleid mit Schärpe ausgezogen und die Spitzen des Unterrockes
abgetrennt hatten; ferner ist ein zweites Kissen geraubt worden. Jedenfalls
sind die Verbrecher beim Zuschaufeln des Grabes gestört worden und haben dabei
die Flucht ergriffen, ehe sie alles wieder in den früheren Zustand versetzen
konnten.
Die Leiche wurde später wieder neu bekleidet
und dann zum zweiten Male der Erde übergeben, in der sie nun hoffentlich Ruhe
finden wird. Der herbeigeholte Polizeihund konnte leider nicht mehr in der
gewünschten Weise arbeiten, da, wie das bei solchen Gelegenheiten ja meist der
Fall ist, die Umgebung des Tatortes zu viel belaufen worden war. Anzunehmen
ist, daß der Täter die Zugangswege zum Friedhof vermieden hat und durch das
Gehölz dorthin gekommen ist, von der Promenade oder dem Sanatorium her, denn
man fand nach der Promenade zu ein Stück der geraubten Spitze. Durch den Hund
wurden mehrere Spuren verfolgt, verschiedene Stellen markiert und schließlich
die Spur auch noch auf ein anderes Verbrechen gelenkt. Der Täter hatte,
jedenfalls vor der Beraubung der Rohrbeckschen Leiche, auch die Gruft der
Rentner Seifertschen Eheleute erbrochen und dort die Särge revidiert, die
verstellt waren: auch lagen einige Sargschrauben neben den Särgen. Geraubt
wurde aber nichts. Gegen 2 Uhr nachmittags traf eine Gerichtskommission aus
Hirschberg ein. Die Vernehmungen dauerten bis abends 9 Uhr. Wie verlautet, soll
man dem Täter bereits auf der Spur sein.
Dienstag, 08. März 1921, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
Zum
Kleppelsdorfer Doppelmord
und seiner Vorgeschichte wird uns aus Itzehoe
gemeldet, daß die Leiche der Frau Grupen verw. Schade bisher noch nicht
gefunden worden ist. Anders lautende Meldungen haben sich als unwahr erwiesen.
Ueber die Persönlichkeit des verhafteten
Grupen schreibt der in Itzehoe erscheinende „Nord. Kurier“: Von Itzehoer
Geschäftsleuten, mit denen Grupen oft in Verbindung standen, erfahren wir, daß
er hier mehrmals als Architekt auftrat, während er in Wirklichkeit nur ein
besserer Maurerpolier war. Er soll längere Zeit hindurch mit seinem Bruder in
Hamburg ein Baugeschäft betrieben haben und dann nach Berlin übergesiedelt
sein. Alle, die ihn kennen, bezeichnen ihn als einen ruhigen, einfachen
Menschen, dem man eine solche schreckliche Tat kaum zutrauen kann.
Donnerstag,
11. August 1921, „Der Bote aus dem Riesengebirge“
(Das
Dominium Kleppelsdorf),
deren Besitzerin, die junge Dorothea Rohrbeck
im Februar ermordet worden ist, ist jetzt durch Kauf in den Besitz des Herrn
Pinge (richtig: Pingel), eines
Verwandten der Rohrbeckschen Familie, übergegangen.
Donnerstag, 10. November 1921, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“
(Geschworene im Kleppelsdorfer Mordprozeß.)
Für die am 5. Dezember beginnende
außerordentliche Schwurgerichtsperiode zur Verhandlung des Kleppelsdorfer
Mordprozesses wurden als Geschworene ausgelost: Gemeindevorsteher Wilhelm
Weimann-Kauffung, Maschinenwärter Heinrich Tautz-Rothenbach, Geschäftsführer
Flassig-Cunnersdorf, Oberstleutnant Dulitz-Cunnersdorf, Schriftsteller
Bölsche-Schreiberhau, Malzmeister Angermüller-Rudelstadt, Gemeindevorsteher
Männich-Steine, Mühlendirektor Reinsberg-Landeshut, Landwirt
Siebelt-Langneundorf, Fabrikbesitzer Tzschaschel-Ruhbank, Rentner Julius
Liebig-Schreiberhau, Gutsbesitzer Heinrich Dittrich-Grunau, Brauer Konrad
Olbrich-Grüssau, Kaufmann Karl Radisch-Schönau, Berginspektor
Kummer-Rothenbach, Futtermeister Wilhelm Grosser-Cunnersdorf, Kaufmann Hugo
Niepold-Hirschberg, Buchhalter Jendrusch-Bohrauseifersdorf (Gut), Kaufmann
Johannes Springer-Friedeberg a. Qu., Graf Eberhard Saurma-Jeltsch-Schloß
Wilhelmsburg, Bauergutsbesitzer Reinhold Weirauch-Michelsdorf, Oberförster
Rath-Altkemnitz, Maurermeister Otto Jäkel-Wiesa, Gemeindevorsteher Hermann
Scholz-Schosdorf, Steinmetz Arthur Seifert-Löwenberg, Buchhalter Albert
Bräuer-Rudelstadt, Kaufmann Gormille-Hohenfriedeberg, Studiendirektor Dr.
Faust-Hirschberg, Rittergutspächter von Sydow-Fischbach.
Mittwoch, 16. November 1921, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“
(Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf)
wird vom 5. Dezember an vor dem Hirschberger
Schwurgericht verhandelt. Der Bote wird über den ganzen Verlauf dieses
Riesenprozesses, der das Interesse von ganz Deutschland und darüber hinaus
erregen wird, ausführlich berichten. Deshalb raten wir dringend, den B o t e n
s o f o r t bei unseren
Zeitungsausträgern, Ausgabestellen oder bei dem in Frage kommenden Postamt
zu b e s t e l l e n , damit nachher keine Stockung im Bezuge
eintritt.
Freitag, 25. November 1921, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
(Für den Kleppelsdorfer Mordprozeß)
sind
z e h n T a g e in Aussicht genommen, nicht drei Wochen, wir
früher berichtet.
Sonnabend, 3. Dezember 1921, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“
Zum Kleppelsdorfer Prozeß
Der Bote wird ersucht, die in auswärtigen
Blättern veröffentliche Meldung, gegen Grupen sei auch eine Anklage wegen
versuchten Giftmordes erhoben, als falsch zu bezeichnen. Wir kommen diesem
Wunsche gern nach und fügen hinzu, daß ein in Breslau, Berlin usw. von einem
Berliner Berichterstatter verbreiteter Bericht eine Fülle von Unrichtigkeiten
enthält.
Sonntag, 4. Dezember 1921, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.
Das Verbrechen von Kleppelsdorf, das, wie
kaum je eins zuvor, die Gemüter in unserer Gegend erregt und die Phantasie der Bevölkerung beschäftigt
hat, wird von morgen, Montag ab das zu einer Sondertagung einberufene
Schwurgericht beschäftigen. Ein Apparat von einer Größe, wie ihn die
Kriminalgeschichte nur selten zu verzeichnen gehabt hat, ist aufgeboten worden,
um Klarheit in die furchtbaren Vorgänge zu bringen, die sich in der
Mittagsstunde des 14. Februar auf Schloß Kleppelsdorf abgespielt haben. Auch
heute, dreiviertel Jahre nach der Tat, liegt trotz angestrengtester
Aufklärungsarbeit noch ein dichter Schleier über den blutigen Vorgängen. Die
Verhandlung, zu der erheblich mehr als hundert Zeugen und Sachverständige
geladen sind, wird, soweit sich die Dinge heute überblicken lassen, die
Geschworenen vor eine Fülle schwierigster Fragen stellen.
Vor dem Geschworenengericht wird der
siebenundzwanzigjährige Architekt P e t
e r G r u p e n aus Oldenbüttel am Kaiser-Wilhelm-Kanal in
Holstein unter der A n k l a g e d e s
z w e i f a c h e n M o r d e s
, d e s S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e
n s a n s e i n e r
d r e i z e h n j ä h r i g e n
S t i e f t o c h t e r und der
Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung erscheinen. Die Verhandlung
findet unter Leitung des Oberlandesgerichtsrats K r i n k e
aus Breslau statt, die Anklage vertritt Oberstaatsanwalt R e i
f e n r a t h aus Hirschberg und als
Verteidiger fungieren zwei der bekanntesten Anwälte Schlesiens, Justizrat A b l a ß
aus Hirschberg und Justizrat M a
m r o t h aus Breslau.
Am Montag, den 14. Februar wurde, um noch
einmal zum Verständnis die
Ereignisse
des Mordtages
kurz dazustellen, auf dem Landgute
Kleppelsdorf, das dicht bei Lähn liegt und von diesem nur durch den Bober getrennt
ist, die 16 Jahre alte Besitzerin des Gutes,
D o r o t h e a R o h r b e c k
, und deren 13 Jahre alte Base U r s u l a
S c h a d e um die Mittagszeit
in einem Zimmer des Gutes erschossen aufgefunden.
Dorothea Rohrbeck war eine Waise. Von ihrer
Wiege hinweg riß der Tod die Mutter, und als Zehnjährige stand sie an der Bahre
des Vaters. In Kleppelsdorf geboren, wuchs Dorothea hier auf. Ein hübsches,
freundliches Mädchen, war sie der Liebling der Ortsbewohner, die heute noch mit
viel Liebe von ihrer „Dörte“ sprechen. Die Einsamkeit des Schlosses teilte sie
mit ihrer Erzieherin Fräulein Zahn, mit ihrer 74 Jahre alten Großmutter, Frau
Eckert, einer geborenen Booß, und den Angestellten des kleinen Haushalts. In
den Ferienmonaten kamen Verwandte von mütterlicher Seite zu Besuch, namentlich
die in zweiter Ehe mit dem 27 Jahre alten Architekten Peter Grupen
verheiratete, jetzt verschollene Tochter der Frau Eckert aus zweiter Ehe und
deren Kinder, die ermordete Ursula Schade und deren jüngste Schwester Irma. Die
beiden kleinen Schade waren also die Stiefkinder des Peter Grupen und die
Stiefbasen der Rohrbeck.
An ihrer Erzieherin, Fräulein Zahn, hing die
Dörte mit kindlicher Liebe: kühler war das Verhältnis zur Großmutter. Hin und
wieder ließ sich auch Peter Grupen, Dörtes Stiefonkel, auf Schloß Kleppelsdorf
sehen. Dieser Architekt Grupen war mit einer Stiefschwester der verstorbenen
Mutter der ermordeten Dörte Rohrbeck verheiratet. D i e s e
F r a u i s t s e i t
d e m 1 9 . S e p t e m b e r 1 9 2 0
s p u r l o s v e r s c h w u n
d e n . Seitdem soll sich Grupen der
sechzehnjährigen Dorothea Rohrbeck mit Liebesanträgen genähert haben, die aber,
wie erzählt wird, mit Abneigung erwidert wurden. Dorothea unternahm zwar einmal
mit ihrer Erzieherin eine Reise nach Grupens Heimat, nach Oldenbüttel bei
Itzehoe, und besuchte mit ihm von dort aus auch Hamburg, Sonst aber soll sie
bestrebt gewesen sein, des Onkels Gesellschaft zu meiden. Wenn Grupen auf
Schloß Kleppelsdorf kam, soll Dorothea ihre Erzieherin gebeten haben, in deren
Zimmer schlafen zu dürfen. Am 8. Februar d. J. fand sich Grupen wieder mit der
Großmutter, den beiden Stieftöchtern und der Stütze Mohr in Kleppelsdorf ein.
Montag, den
14.
Februar, um die Mittagsstunde
waren die Großmutter der beiden Mädchen, Frau
Eckert, ihr Schwiegersohn Peter Grupen und die Stütze Marie Mohr, die ein
Verhältnis mit Grupen gehabt haben soll, nebst der kleinen Irma Schade, der
dritten Enkelin der Frau Eckert und Schwester der Ursula Schade, im
Winterwohnzimmer i m e r s t e n
S t o c k des Schlosses versammelt.
Um 12 ¼ Uhr ging das Hausmädchen Mende, das kurz zuvor von einem Gange nach der
Post zurückgekehrt war, aus der Küche in dieses Winterwohnzimmer hinauf, um die
dort Anwesenden zu Tisch zu bitten. Fräulein Zahn, die Erzieherin Dorothea
Rohrbecks, welche im Nebenzimmer beim Briefeschreiben beschäftigt war, beauftragte
die Mende gegen 12 ½ Uhr, die beiden Mädchen, Dorothea Rohrbeck und Ursula
Schade, zu suchen und zum Essen zu holen. Die Mende begab sich in das im E r d g e s c h o ß liegende
G a s t z i m m e r , dessen
beide Fenster nach dem Park hinausgehen, und gewahrte dort Dorotheas Gestalt
vor dem Liegesofa an der auf der Skizze mit 1 X bezeichneten Stelle auf dem
Boden liegend, und in der Ecke zwischen einem Schrank und der zur benachbarten
Rollstube führenden Türe (auf der Skizze mit 2 X bezeichnet) die Gestalt der
Ursula Schade auf dem Boden. Die Menge glaubte, die beiden Mädchen spielten
Verstecken. Als sie auf ihren Anruf keine Antwort erhielt, und näher hinzutrat,
gewahrte sie z u i h r e m
E n t s e t z e n , d a ß D o r o t h e a e n t s e e l t i n
e i n e r B l u t l a c h e l a g
und die aus einer Stirnwunde blutende
U r s u l a m i t d e m
T o d e r a n g . Entsetzt rannte die Mende zunächst nach der
Küche, wo sie die K ö c h i n H i r s c h
verständigte, die dann nach dem Gastzimmer lief, und eilte dann selbst
wieder die Treppe nach dem ersten Stockwerk hinauf, wo ihr Peter Grupen, Frau
Eckert, die kleine Irma und die Mohr entgegenkamen, denen sie die Kunde von dem
Unglück zurief und rannte dann in das Zimmer zu Fräulein Zahn, die sofort die
Treppe hinuntereilen wollte, wo ihr Grupen mit der Schreckenskunde
entgegengetreten sein soll.
Im
Mordzimmer b e m ü h t e m a n
s i c h n u n u m
d i e b e i d e n O p f e r .
Dorothea
Rohrbeck hatte einen Schuß in den Hals und in die Brust und war bereits tot,
während Ursula Schade durch Kopfschuß tödlich verletzt war, aber noch lebte.
A n d e r l i n k e n
S e i t e d e r S c h a d e
l a g e i n R e v
o l v e r .
Die Köchin Hirsch soll ihn zuerst bemerkt
haben. G r u p e n n a h m
d i e W a f f e a u f
und legte sie auf den Tisch. Die Körper der Dorothea Rohrbeck und der
Ursula Schade wurden mit Hilfe Grupens
a u f B e t t e n g e l e g t . Der sofort telephonisch herbeigerufene
Sanitätsrat Dr. Scholz aus Lähn fand Dörte Rohrbeck schon tot vor. Der Ursula,
die noch röchelte, gab er Kampherspritzen zur Belebung der Herztätigkeit.
Grupen soll zu Dr. Scholz gesagt haben:
„ K ö n n e n S i e d e r
U r s u l a n i c h t e t w a s
g e b e n , d a ß s i e
z u m B e w u ß t s e i n k o m m t
u n d s a g e n k a n n ,
w i e e s g e w e s e n i s t ? “
Während Dr. Scholz noch mit der tödlich verwundeten Ursula (die um 3 Uhr
nachmittags starb) beschäftigt war, traf gegen 1 Uhr der telephonisch
herbeigerufene Postamtsvorsteher Grimmig aus Lähn am Tatorte ein. Er stellte
fest, daß die Waffe aus dem Tisch eine Selbstladepistole System „Walter“ Kal.
6.33 war. In der Meinung, die Waffe zu sichern, l e g t e
e r d e n S i c h e r u n g s f l ü g e l n a c h
v o r n h e r u m und übergab
die vermeintlich so gesicherte Pistole dem Justizobersekretär Klapper aus Lähn.
Er untersuchte dann die Waffe in seiner Wohnung in Gegenwart jenes Justizbeamten
und s t e l l t e d a b e i
f e s t , d a ß d i e
P i s t o l e e n t s i c h e r
t war. Es wird nun angenommen, daß n a c h
dem letzen tödlichen Schuß
d i
e W a f f e s c h o n
v o n a n d e r e r H a n d
g e s i c h e r t
sein müsse. Ein Punkt, der in der Verhandlung
weiterer Aufklärung bedarf. Auf die Frage von Grimmig, w e m
d i e S c h u ß w a f f e g e h ö r e , soll im zunächst erwidert worden sein, daß
sie nicht aus dem Hause sei. Der Eigentümer der Waffe stellte sich aber bald
heraus. Bei den Bemühungen um die sterbende Ursula stieß die Krankenschwester,
die dem Sanitätsrat Scholz behilflich war, das Kleid herunterzuziehen, auf
eine U n t e r b i n d e t a s c h
e unter dem Kleide. Dr. Scholz fand in
dieser Tasche e i n K ä s t c h e n m i t
1 9 P a t r o n e n Kal. 6.33
u n d e i n weißes
Briefkuvert
„An Großmutti!“
adressiert. Grimmig verlas sofort den Inhalt
des Briefes. D i e U r s u l a b i t t e t
i n d i e s e m v o m
9 . F e b r u a r d a t i e r t e n S c h r e i b e n d a r i n
d i e G r o ß m u t t e r , n i c h t
b ö s e z u s e i n ,
d a ß s i e d e m
V a t e r d i e W a f f e
g e n o m m e n h a b e
u n d e r k l ä r t , d e r
G r o ß m u t t e r h e l f e
n z u
w o l l e n , d a m i t s i e
s i c h a n D ö r t e
n i c h t m e h r ä r g e r e . Nach Verlesung des Briefes erklärte Grupen:
„ D a i s t
e s d o c h m e i n e
P i s t o l e . “
Nach Verlesung des Briefes an „Großmutti“
(Frau Eckert), der einen Mord an Dorothea und einen Selbstmord durch die Ursula
hinstellte, war die Tatsache, daß die Pistole aus dem Hause Peter Grupen stammte,
unzweifelhaft. Grupen will die Schußwaffe kurz vor der Abreise nach
Kleppelsdorf zum Selbstschutz für seinen Bruder Wilhelm gekauft und in
Oldenbüttel zurückgelassen haben. Peter Grupen soll seinem Bruder den nicht
einfachen Mechanismus der Waffe erklärt haben. Wilhelm G. will dazugekommen
sein, wie Ursula in Oldenbüttel die Pistole in der Hand gehabt habe. Als er
abends die ins Schubfach zurückgelegte Pistole habe herausnehmen wollen, sei
sie nicht mehr dort gewesen. Ueber das auffällige Verschwinden der Pistole und
warum er seinem Bruder nach Kleppelsdorf davon nichts berichtet hat, wird Zeuge
Wilhelm Grupen in der Verhandlung Auskunft geben müssen. Hat Ursula die
Schußwaffe und die Patronen mit nach Kleppelsdorf genommen oder Peter Grupen?
Die Waffentechnik in Verbindung mit der Art
der Schusswirkungen werden bei Beantwortung der Frage: W e r
w a r d e r T ä t e r ?
eine sehr große Rolle spielen, ebenso die Beschaffenheit der Schußwunden
und die
Fundstellen
der Patronenhülsen
im Zimmer usw. Es wird behauptet, daß es
schon n a c h d e r
L a g e d e r i m
M o r d z i m m e r a u f g e f
u n d e n e n G e s c h o ß h ü l s e
n u n m ö g l i c h s e i ,
d a ß U r s u l a d i e
z w e i S c h ü s s e , die von der Ofenseite her auf Dörte
abgegeben worden sind, a b g e f e u e
r t h a b e n k a n n ,
auch nicht den tötlichen Schuß auf sich selbst, da die Hülse dabei nur
in den Raum zwischen Wäscheschrank und Sofa am Fenster, niemals in die
entgegengesetzte, etwa 6 Meter entfernte Zimmerecke gelangt sein könnte. Ueber
all diese Fragen werden die Sachverständigen Gutachten abgeben auf Grund von
angestellten Schießversuchen usw. Darüber hinaus erhebt sich die natürliche
Frage, ob ein dreizehnjähriges Mädchen wie Ursula Schade, die gelegentlich vielleicht
einmal mit einem Kinderspielzeug geschossen hat, mit einer so schwierigen
Waffe, wie sie der Mechanismus der Selbstladepistole darstellt, treff- und
totsicher umzugehen wissen konnte. Dagegen soll Grupen ein sehr sicherer
Schütze sein. Er soll beim Preisschießen oft Preise davongetragen und im Kriege
seine Schießfertigkeit und seine starken Nerven erprobt haben. 1916 ist Peter
Grupen der linke Unterarm durch einen Granatsplitter zerrissen worden, sodaß
der Arm amputiert werden mußte, aber der rechte Arm blieb gebrauchsfähig. Dann
erhob sich die Frage: W e l c h e
n G r u n d s o l l t e
d i e U r s u l a z u
d e r f u r c h t b a r e n T a t
g e h a b t h a b e n ? Man stand vor einem Rätsel.
Bald trat das Gerücht auf, Dorothea Rohrbeck,
die alleinige Erbin der Herrschaft Kleppelsdorf, deren Vermögen mehrere
Millionen Mark betrug, sei das
O p f e r i h r e s
O n k e l s P e t e r G r u p e n
geworden, der gleichzeitig auch gegen sein
Stiefkind Ursula die Waffe gerichtet habe. Grupen wurde als des Doppelmordes
verdächtig, am Morgen nach der Tat verhaftet. Bei seiner Ueberführung nach
Hirschberg war es nur mit List möglich, ihn der Lynchjustiz einer großen
aufgeregten Menschenmasse zu entziehen. Man nahm an, daß Grupen durch den Mord
K l e p p e l s d o r
f a n
s i c h z u b r i n g e n
hoffte und gleichzeitig das an seiner
Stieftochter begangene Verbrechen vertuschen wollte. Aus dem Verwandtschaftsverhältnis
ist ersichtlich, daß, wenn Dorothea starb, ihre Großmutter, Grupens
Schwiegermutter, ihre Erbin sein mußte, und es heißt, daß Grupen auf die alte
Frau einen starken Einfluß ausgeübt haben soll. Er soll auch unmittelbar nach
der Auffindung der Toten zu Frau Eckert gesagt haben: „ W e i ß t
D u a u c h , d a ß
D u j e t z t H e r r i n
v o n K l e p p e l s d o r
f b i s t ? “
Wer ist
nun Peter Grupen?
Soweit bisher bekannt ist, steht Grupen im
Alter von 27 Jahren und war zuletzt Architekt in Oldenbüttel bei Itzehoe. Er
ist verheiratet mit einer verwitweten Frau Apotheker Schade, Tochter der Frau
Eckert, welche in erster mit dem Apotheker Schade in Charlottenburg verheiratet
gewesen ist. Aus dieser Ehe stammen die beiden Kinder Ursula und Irma. Ihr
Vater, der Apotheker Schade ist a u
f e i n e r J a g d
v e r u n g l ü c k t und es
haben sich an dieses Unglück auch manche Vermutungen geknüpft, welche indeß
bisher zu keiner Klarheit geführt haben.
F r a u G r u p e n i s t
s p u r l o s v e r s c h w u n
d e n ,
seitdem sie am 19.
September 1920 mit dem Angeklagten nach dem Bahnhof Itzehoe gefahren ist. Sie
soll, obgleich ein Passvisum nach Amerika, nach Angabe des amerikanischen
Konsulats für sie nicht erteilt ist, nach Amerika ausgewandert sein. Das Dunkel
über das Verschwinden der Frau Grupen ist bis heut noch nicht gelüftet. Zwei
Tage vor der Abreise der Frau Grupen ist diese sowie ihre Mutter mit ihrem
Manne, Peter Grupen, bei einem Notar in Itzehoe erschienen und dem Ehemanne
sind die auf dem Perleberger Apothekengrundstück ruhenden Hypotheken in recht
beträchtlicher Höhe abgetreten worden, als Gegenwert sollte der Mann Barzahlung
leisten. Am Tage vor ihrer Abreise hat Frau Grupen bei der L a n d e s s p a r k a s s e in Sude ihr gesamtes G u t h a b e n und auch das Sparguthaben ihrer b e i d e n
Kinder a b g e h o b e n und sich nach L ü b e c k
abgemeldet. Seitdem ist die Frau verschwunden. Man hat vermutet, daß
Grupen seine Frau ermordet hat und glaubte auch einmal eine Frauenleiche, die
bei Hamburg ans Land geschwemmt worden ist, als die der Frau Grupen erkannt zu
haben, doch wurde diese Annahme widerlegt auf Grund einer Aussage eines
Zahnarztes, der Frau Grupen kurz vor ihrem Verschwinden behandelt hat und nicht
den Beweis an der Leiche feststellen konnte, daß es sich um Frau Grupen handeln
konnte. Neuerdings wird behauptet, daß Briefe, in denen Frau Grupen ihre
Absicht, nach Amerika zu reisen. kundgibt, vorhanden sind.
Dieses rätselhafte und ungeklärte
Verschwinden der Frau hat Grupen, der schon durch die Auffindung der Waffe
verdächtig erschien, in Verbindung mit seinen augenscheinlichen Absichten auf
Dorothea Rohrbeck stark verdächtig gemacht. Außerdem nimmt, wie schon erwähnt,
die Anklagebehörde an, daß Grupen ein S
i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e n ,
welches er an seinem Stiefkinde Ursula begangen haben soll, d u r c h
d i e T a t v e r d e c k e n w o l l t e , während er gleichzeitig durch seine
Einwirkung auf die alte Frau Eckert sich
V e r f ü g u n g ü b e r d a s
r e i c h e E r b e v o n
M i l l i o n e n s i c h e r
n w o l l t e . Ebenso wie die alte Frau Eckert, soll auch
die S t i e f t o c h t e r U r s u l a , die ihrem ganzen Wesen nach ein frühreifes
und krankes Kind war, unter d e m E i n f l u ß G r u p e n s g e s t a n d e n h a b e n .
Sie hat auch am 9. Februar (demselben Tage, an dem der Brief an die
Großmutter geschrieben ist) in einem Briefe an eine Frau in Oldenbüttel
geschrieben, wie schön es in Kleppelsdorf sei, bei allerlei Spielen, guter
Ernährung und in der Unterschrift des Briefes ist nachträglich in die Worte
„Deine Ursula“ das zu dem ganzen Inhalt des Briefes nicht passende Wort „ t r a u r i g e “ eingefügt worden. Die Anklage nimmt an, daß Ursula bei dieser Einführung auf G e h e i ß
G r u p e n s g e h a n d e l
t h a t , w i e
e r a u c h b e i
d e r A b f a s s u n g d e s
B r i e f e s a n d i e
G r o ß m u t t e r s e i n e
n E i n f l u ß g e l t e n d g e m a c h t h a b e n
s o l l . Am 8. Februar, also
einen Tag vor Abfassung der beiden Briefe war Grupen nach Kleppelsdorf
gekommen.
Grupen
bestreitet
der Täter zu sein oder mit der Tat irgendwie
in Verbindung zu stehen und führt zum Beweise dafür, daß er nicht der Täter
sein k a n n , die alte Frau Eckert, die Stütze Mohr, mit
der er, wie die Anklage behauptet, ein Verhältnis gehabt haben soll, und die
kleine Irma Schade als Zeugen an. A l l e d r e i s o l l e n
b e k u n d e t h a b e n , d a ß
G r u p e n i n d e r
Z e i t , i n d e r
d i e T a t g e s c h e h e n i s t ,
d a s i m e r s t e n
S t o c k d e s S c h l o s s e s g e l e g e n e W i n t e r z i m m e r a u c h
n i c h t e i n e n A u g e n b l i c k v e r l a s s e n h a t ,
also
nicht
am Tatort gewesen sein kann.
Trotzdem ist die Anklage aufrecht erhalten
worden und zwar mit der Behauptung, d a
ß d i e Z e u g e n
i m h y p n o t i s c h e n B a n n e
G r u p e n s
gestanden haben, daß Grupen das Zimmer
tatsächlich verlassen, oder den unter seinem Einflusse stehenden Zeugen das
Bewußtsein suggeriert hat, den Raum n i
c h t verlassen zu haben. I s t
d a s m ö g l i c h ? Die Anklage scheint die Frage zu bejahen. Um
von dem in ersten Stock gelegenen Winterzimmer, in dem sich die drei Zeugen und
mit ihnen angeblich Grupen zurzeit der Tat befunden haben, nach dem Mordzimmer
zu gelangen und wieder zurückzukommen, bedurfte es für jemand, der die
Verhältnisse kannte, nur weniger Minuten. Ist aber die Beeinflussung der Zeugen
durch Hypnose in dem Umfange, daß sie in der vollen Ueberzeugung, die Wahrheit
zu sagen, die Unwahrheit bekunden, möglich? Ging der Einfluß Grupens auf seine
Umgebung so weit? Darauf soll die Verhandlung und vor allem Professor Moll aus
Berlin, ein hervorragender Sachverständiger auf dem Gebiet der Hypnose, Antwort
geben. Was, wenn nicht Ursula Schade und nicht Peter Grupen
e i n a n d e r e r d e r
T ä t e r ?
In das Mordzimmer war, wie die Zeichnung auf
den ersten Blick zeigt, auf die verschiedenste Weise zu gelangen, sowohl vom
Park aus, wie von der Vorder- und Hinterseite des Schlosses aus, allerdings
nicht durch die Fenster, da diese mit Eisenstäben vergittert sind, sondern nur
durch die … Türen, die in das Haus führen. Der Park, auf den das Mordzimmer
hinausgeht, ist nicht groß, und sowohl der eiserne Zaun vor dem Hauptportal,
wie die Mauer, die den Park umgibt, können leicht über(klettert) werden.
Indessen deutet bis jetzt, soweit wir unterrichtet sind, nichts daraufhin, daß
irgendjemand dies getan oder auch nur versucht hat. Die belastenden Anzeichen
liegen vielmehr innerhalb des Hauses.
War Peter Grupen der Mörder oder war es, wie
es nach dem Briefe an die Großmutter scheint, Ursula Schade? Wenn es die
letztere war, stand sie dann dabei unter hypnotischem Einfluß ihres Stiefvaters
und reichte dieser Einfluß auch auf die Großmutter sowie auf das Mädchen Marie
Mohr, oder kommt als Täter eine dritte Person in Frage, die in entfernteren
Beziehungen zu dem ganzen Verhältnis stand, aber von Peter Grupen beeinflußt
war, oder ist dieser ganz frei von Schuld zu sprechen und liegt hier nicht
vielmehr eine reine Kindertragödie vor? Kam außer der aufgefundenen Waffe noch
eine zweite, genau derselben Art, in Frage?
Dienstag, 6. Dezember 1921, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.
Beginn der Verhandlung.
Hirschberg, 5. Dezember 1921
Mit einem sonnenhellen, aber bitterkalten
Wintertag beginnen die Verhandlungen gegen
P e t e r G r u p e n , den Angeklagten im Kleppelsdorfer
Mordprozeß. Die Kälte hat offenbar den Andrang des Publikums stark eingedämmt;
nur spärlich kamen Neugierige und harrten an der Pforte des Gerichtsgebäudes
des Einlasses, der nur den Inhabern von Ausweiskarten gestattet wurde. Ein
großes Polizeiaufgebot sorgte dafür, daß ohne Erlaubnisschein niemand den
Zuhörerraum betrat.
Langsam füllte sich der Schwurgerichtssaal.
Auf einem Tische vor der Anklagebank lagen der Revolver, der am Tatort gefunden
worden war, Revolvergeschosse, die Leibwäsche der Dorothea Rohrbeck und der
Ursula Schade und einige andere Beweisstücke.
Am Richtertisch nahmen Platz der Vorsitzende,
Oberlandesgerichtsrat K r i n k e aus Breslau, Landgerichtsrat W i e t e r , Landgerichtsrat H e r z o g , Assessor
H u b r i c h (als Ersatzrichter),
Oberstaatsanwalt D r . R e i f e n r a t h . Der Berichterstatter-Tisch ist stark
besetzt. Eine größere Zahl auswärtiger, namentlich Berliner Journalisten, ist
erschienen.
Ansprache
des Vorsitzenden.
Pünktlich um 10 Uhr eröffnet der V o r s i t z e n d e die Verhandlung mit der Begrüßung der
Geschworenen. Die Tagung, sagte er in s
e i n e r A n s p r a c h e , werde an die Arbeitskraft und Pflichttreue,
Aufmerksamkeit und geistige Tätigkeit der Geschworenen erhebliche Anforderungen
stellen. Die Geschworenen hätten das Amt eines
R i c h t e r s auszuüben und
seien wie der Richter an das Gesetz gebunden. Wie der Richter, so habe auch der
Geschworene seine Ueberzeugung hinsichtlich der Schuldfrage auf freie
Beweiswürdigung aus dem gesamten Ergebnis der Hauptverhandlung zu stützen.
Hierauf müsse in diesem Prozeß besonders hingewiesen werden; denn die
Strafsache habe weit über die Grenzen Hirschbergs hinaus berechtigtes Aufsehen
erregt, sie sei Gegenstand öffentlicher Erörterungen gewesen und auch in der
Presse ausgiebig besprochen worden. Die Geschworenen müßten ihren Spruch auch
ohne Ansehen der Person fällen. Ein Verstands-, kein Gefühlsurteil werde von
ihnen erwartet. Es wäre ein Eingriff in das dem Staatsoberhaupt zustehende
Begnadigungsrecht, wenn die Geschworenen lediglich aus Mitleid oder sonstigen
unbestimmten Gefühlswägungen heraus einen Freispruch fällen und sich dadurch
über das Gesetz stellen würden. Er, der Vorsitzende, hoffe, daß es gelingen
werde, in der vorliegenden umfangreichen und schwierigen Sache das Recht zu
finden, das der wahren Gerechtigkeit dient.
Angeklagter
Grupen.
Der Vorsitzende ordnet nunmehr an, daß
der A n g e k l a g t e P e t e r
G r u p e n in den Saal zu
führen ist. In Begleitung eines Gefängnisbeamten erscheint der Angeklagte,
gekleidet in einem grauen Anzug. Ruhig, ohne daß ihm irgendwelche innere
Erregung anzumerken wäre, antwortet er auf die Frage des Vorsitzenden, ob er
der Architekt Peter Grupen aus Ottenbüttel sei, mit „Jawohl!“ Grupen nimmt auf
der Anklagebank Platz, den Blick fast unablässig auf den Richtertisch
gerichtet, hinter ihm ein Polizeibeamter. Als seine Verteidiger melden sich die
Justizräte D r . A b l a ß -
Hirschberg und D r . M a m r o t h - Breslau.
Die
Geschworenenbank.
Vor der Bildung der Geschworenenbank wird das
mit Schwerhörigkeit und Unabkömmlichkeit begründete Entlassungsgesuch des zum
Geschworenen berufenen Maschinenwärters Tautz aus Rothenbach genehmigt.
Ausgelost werden als Geschworene Mühlendirektor
R e i n s b e r g - Landeshut, Graf
S a u r m a - J e l t s c h auf
Schloß Wilhelmsburg, Kaufmann G o r m i
l l e - Hohenfriedeberg, Kaufmann Karl
R a d i s c h - Schönau, Rentier Julius
L i e b i g - Schreiberhau, Arbeiter Karl H e i n z e - Schmiedeberg, Bankdirektor B e c k e r t - Hirschberg, Kaufmann
Gustav F r i e s e - Alt-Reichenau,
Fabrikbes. Ernst T z s c h a c h e l -
Ruhbank, Buchhalter Albert B r ä u e r
- Rudelstadt, Kaufmann Johannes S p r i
n g e r - Friedeberg, Oberstleutnant D
u l i t z - Cunnersdorf, ferner als Ersatzgeschworene: Gemeindevorsteher
Weimann-Kauffung, Kaufmann Degenhardt-Hirschberg und Futtermeister
Grosser-Cunnersdorf. Der Vorsitzende macht die Geschworenen darauf aufmerksam,
daß sie den Geschworeneneid sowohl in der alten Form, als auch in der nach der
Verfassung zulässigen Form ohne religiösen Zusatz zu leisten berechtigt sind.
Zwei Geschworene machen hiervon Gebrauch.
Die
Zeugen.
Es beginnt der Aufruf der Zeugen und
Sachverständigen, die den Schwurgerichtssaal buchstäblich bis auf den letzten
Platz füllen, so daß eine junge Dame in Ohnmacht fällt. Unter den Zeugen
befinden sich u. a.: Erzieherin Fräulein
Z a h n , I r m a S c h a d e
(die jüngere Schwester der ermordeten Ursula), Frau Bankdirektor
Agnes E c k e r t , Frau Apothekenbesitzer M a r g a r e t e S c h a d e , Apothekenbesitzer S c h a d e , Alfred
R o h r b e c k , Wilhelm und
Heinrich G r u p e n , Fräulein
M o h r und Frl. M e n d e .
Die mit dem Angeklagten und mit den ermordeten
Mädchen verwandten Zeugen erklären, von ihrem Recht der Zeugnisverweigerung
keinen Gebrauch machen zu wollen. Auch die Zeugen weist der Vorsitzende auf die
Zulässigkeit hin, den Eid ohne religiöse Formel zu leisten.
Angekl.
G r u p e n stellt den Antrag,
den von der Staatsanwaltschaft als S a
c h v e r s t ä n d i g e n f ü r S u g g e s t i o n geladenen Gaswerksdirektor W r o b e l
a b z u l e h n e n . Dem
Ablehnungsantrage wird nach längeren Auseinandersetzungen zwischen dem Staatsanwalt
und den Verteidigern stattgegeben.
Hierauf begann die V e r n e h m u n g d e s
A n g e k l a g t e n über seine
persönlichen Verhältnisse.
Sodann Mittagspause bis 3 Uhr.
(Fortsetzung folgt.)
Mittwoch, 7. Dezember 1921, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
Der
Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.
Die
Vernehmung Grupens.
Hirschberg, 6. Dezember 1921.
Der erste Tag der Verhandlung war
ausschließlich dem Verhör des Angeklagten gewidmet. Noch aber ist die Vernehmung
nicht beendet. Am heutigen Dienstag wird sie, teilweise unter Ausschluß der
Oeffentlichkeit, fortgesetzt.
Grupen, ein breitschultriger, kräftig
gebauter junger Mann, tritt sicher und gewandt auf. Auch an guten Formen fehlt
es ihm nicht. Er verbeugt sich, wie er in den Saal geführt wird, nach allen
Seiten, er „bittet“ den Vorsitzenden, ihn unterbrechen oder auf dies oder jenes
noch einmal zurückkommen zu dürfen.
Grupen ist aber auch zweifellos ein Mann von
zielklarem festen Willen und hoher Intelligenz. Seine Antworten auf die Fülle
der vom Richter-, Staatsanwalt- und Verteidiger-Tisch auf ihn eindringenden
Fragen sind klar und werden meist ohne Stockung gegeben. Ab und zu sucht Grupen
nach dem Ausdruck.
Peinlich sucht er alles, was als Ausreden
gedeutet werden könnte, zu vermeiden. Als ihm vorgeworfen wird, schon im
vorigen Jahre bei der Ruderpartie auf der Alster in Hamburg die Dorothea
Rohrbeck absichtlich in Lebensgefahr gebracht zu haben, und ihm die Frage
vorgelegt wird, ob er beim Kentern des Bootes nicht selbst des Ertrinkens
ausgesetzt gewesen wäre, erwidert er ohne Stocken, die Bejahung der Frage läge
nahe, aber trotz des Verlustes des einen Armes sei er der Ueberzeugung, sich
schwimmend über Wasser halten zu können. Auch Widersprüche zwischen den
Aussagen der Zeugen und seiner Erklärung erschüttern ihn nicht. Er bleibt bei
seinen Behauptungen.
Nur ganz vereinzelt versagt Grupen. Auf die
Frage, wer ihn plötzlich, als er mit Fräulein Rohrbeck und Fräulein Zahn in
Hamburg weilte, um sein Vermögen gebracht habe, verweigert er in höflicher
Weise die Auskunft. Auf eine andere Frage, weshalb er erst jetzt mit der
Behauptung auftrete, daß Ursula in den letzten Tagen vor dem Morde auffällig
traurig gewesen sei, weiß er keine Antwort zu geben. Im Allgemeinen aber gibt
Grupen auf alle Fragen fest und ruhig Antwort, nur in den Erwiderungen auf die
Anfragen des Staatsanwaltes klingt ein Ton feindseliger Erregung durch.
Trotzdem: Die Vernehmung des Angeklagten hat
noch vieles unklar gelassen. Das Geheimnis, das das Verschwinden der Frau
Grupen umlagert, ist um nichts geklärt worden. Der Angeklagte deutet in
öffentl. Sitzung nur an, daß seine Frau abnorme sexuelle Anforderungen gestellt
hat und unzufrieden wegen der Nichterfüllung ihrer Wünsche gewesen wäre. Unklar
bleibt auch das Verhältnis zwischen Grupen und den beiden Kleppelsdorfer Damen.
Frl. Zahn wie auch Frl. Rohrbeck fühlten sich vom Vormund über Gebühr kurz
gehalten. Daraus entstand ein Prozeß. Grupen spielte sich als Helfer und
Beschützer der Damen auf, verhandelte hinter ihrem Rücken aber mit dem Vormund.
Dies und noch manche Einzelheit, die merkwürdige Gelassenheit und Untätigkeit,
mit der die Nachricht von dem Verschwinden der Frau Grupen durch die
Nächstbeteiligten aufgenommen wurde, bleiben zunächst noch völlig ungeklärt.
Im Einzelnen ist zu berichten:
Das
Sachverständnis in Hypnose.
Die
Verteidigung stellte den Antrag, den von der Anklagebehörde als
Sachverständigen für Suggestion geladenen Gaswerksdirektor W r o b e l - Hirschberg abzulehnen, weil
Herrn Wrobels Vernehmung im Vorverfahren gegen das Gesetz zustandegekommen sei
und weil Herr Wrobel auf dem Gebiete der Suggestion ein Amateur sei, der ein
Urteil von wissenschaftlichem Wert nicht abgeben könne. Herr Wrobel erklärt,
sich seit zwanzig Jahren theoretisch und praktisch mit Hypnose und Suggestion
beschäftigt zu haben. Die Bücher namhafter Gelehrter auf diesem Gebiete habe er
studiert, auch hätten ihn Hirschberger Aerzte zur Anwendung von Hypnose und
Suggestion im Heilverfahren herangezogen. Irgend ein Examen habe er nicht
gemacht. Oberstaatsanwalt Dr. R e i f e
n r a t h widersprach dem
Ablehnungsantrage. Die Anklagebehörde sei berechtigt gewesen, Herrn Wrobel im
Ermittelungsverfahren zu vernehmen. Das Gericht beschloß zunächst, den
Kreisarzt Medizinalrat Dr. S c h o l z
- Hirschberg und den Geh. Medizinalrat Dr.
M o l l - Charlottenburg über die Eignung des Herrn Wrobel als Sachverständigen
zu vernehmen. Beide Herren verneinen die Eignung. Das Gericht gibt nach langer
Beratung dem Ablehnungsantrage statt. Oberstaatsanwalt Dr. R e i f e n r a t h behält sich vor, Herrn Wrobel, der nunmehr
den Saal verläßt, a l s Z e u g e n
vernehmen zu lassen.
Der Vorsitzende beginnt mit der
Vernehmung
des Angeklagten.
Mit leiser, aber sicherer Stimme und spitzem
Akzent schildert Grupen seinen Lebenslauf. Am 20. August 1894 in Haseldorf bei
Pinneberg geboren, habe er dort die dreiklassige Volksschule besucht. Nach
vollendeter Schulzeit sei er zunächst in einem landwirtschaftlichen Betriebe
tätig gewesen und dann zu einem Maurermeister in die Lehre gegangen. Bei seiner
Gesellenprüfung sei seine Arbeit als die beste anerkannt worden. Während seiner
Ausbildungszeit habe er sich an Vergnügungen nicht beteiligt. Er habe die
besten Zeugnisse aufzuweisen. 1914 sei er als Kriegsfreiwilliger bei den
Königsulanen in Hannover eingetreten. Im Felde sei er an Typhus erkrankt und
vor Verdun habe er den linken Unterarm verloren. Nach seiner Entlassung aus dem
Lazarett habe er die staatliche Baugewerksschule in Hamburg besucht und im
Sommer praktisch gearbeitet. Auch im Maschinenbaufach habe er sich Kenntnisse
angeeignet: einige Monate sei er auf der Vulkan-Werft beschäftigt gewesen. Dort
habe er freiwillig seine Entlassung genommen, um sich dann als Bauführer in
Hamburg zu betätigen.
Zweimal
verlobt.
Vorsitzender: Es wird behauptet, daß Sie
mehrmals verlobt gewesen seien. - Angekl.: Das ist richtig. - Vorsitzender: Die
erste Verlobung ist aufgehoben worden, von wem? - Angeklagter: Von meiner Seite,
weil mich die Aeußerung meiner Braut: „Was soll ich mit dem Kriegskrüppel?“
verletzt hatte. - Vorsitzender: Auch Ihre zweite Verlobung ist auseinander
gegangen? und Sie sollen dem Mädchen gedroht, ihm sogar einmal einen Drohbrief
geschrieben haben? - Angeklagter: Ich habe niemals gedroht. Ich habe nur
geschrieben, daß ich die Verlobungsgeschenke zurückhaben möchte, sonst müßte
ich gerichtlich vorgehen. - Vorsitzender: Sie sollen das Mädchen, nach dem es
sich mit einem Anderen verlobt hatte, mit Erschießen bedroht haben? -
Angeklagter: Das ist frei erfunden! - Vors.: Hüten Sie sich, etwas
auszusprechen, das Ihnen dann von den Zeugen widerlegt werden könnte. -
Oberstaatsanwalt R e i f e n r a t h
: Als das Mädchen geheiratet hatte, ist
der Angeklagte nicht dann zu dem Ehemann gegangen und hat ihm in die Hand
versprochen, die Frau in Ruhe zu lassen? - Angekl.: Davon ist mir nichts
bekannt. - Vorsitzender: Warum ist nun die zweite Verlobung aufgelöst worden?
In der Voruntersuchung haben Sie gesagt, das junge Mädchen sei viel gereist und
nicht wirtschaftlich gewesen. - Angeklagter: Nein, ich war selbst schuld daran.
Frau
Schade = Frau Grupen.
Vorsitzender: Sind Sie damals nicht schon zu Frau
Gertrud Schade in Beziehungen getreten? - Angeklagter: Ich lernte Frau Schade
im August 1919 kennen. Veranlassung dazu hat eine Zeitungsannonce gegeben, die
ich aus Scherz hatte veröffentlichen lassen.
Vorsitzender, zu den Geschworenen gewendet:
Frau Gertrud Schade war die Tochter der Frau Bankdirektor Eckert aus zweiter
Ehe, Frau Rohrbeck die Tochter aus erster Ehe. Frau Rohrbecks Tochter ist die
verstorbene Dorothea Rohrbeck, diese also eine Enkelin der Frau Eckert und eine
Nichte der Frau Schade. Frau Schade soll ihren Ehemann, der Apothekenbesitzer
in Perleberg war, durch ein Jagdunglück verloren haben, stand aber nicht
alleine, hatte vielmehr ihr beiden Kinder Ursula und Irma, sowie eine
Pflegetochter Ruth bei sich.
Angeklagter: Frau Schade wohnte in Itzehoe.
Während des Krieges hatte sie ein Verhältnis mit einem Stabsveterinär.
Vors.: Frau Schade war 13 Jahre älter. Das
wußten Sie. Warum haben Sie sich mit ihr verlobt? Es ist doch selten, daß ein
Mann von Ihren Lebensjahren eine um 13 Jahre ältere Witwe mit drei Kindern
heiratet. - Angekl.: Ich hatte die Ueberzeugung, daß es eine wirklich gute Frau
sei; später bin ich anderer Ansicht geworden. - Vorsitzender: Sie sind also zur
Heirat geschritten aus Liebe, nicht aus Berechnung in Hinblick auf das Vermögen
der Frau Schade oder um Ihr gesellschaftliches Ansehen zu heben? - Angeklagter
verneint das letztere.
Vors.: Bei Frau Schade wohnte auch deren
Mutter, die Frau Eckert? War Frau Eckert mit der Heirat einverstanden? - Die
Antwort des Angeklagten ist unverständlich. Der Tag der Hochzeit sei der 22.
Dezember 1919 gewesen. Wir wohnten in Itzehoe im eigenen Hause, das ich einem
Umbau unterzog. - Der Vorsitzende stellt fest, daß Grupen schon als Bräutigam
Generalvollmacht sowohl von Frau Schade, wie auch von Frau Eckert erhalten
habe. Auf Grund dieser Generalvollmacht hat er sich 17 000 Mark aus einer
Hypothek abtreten lassen, das Geld aber, das den Kindern der Frau Schade
gehörte, an sich genommen. - Angeklagter: Ich habe auf der Quittung ausdrücklich
vermerkt, daß ich diese Summe den Kindern zur Verfügung stellen will. Wir haben
anfangs glücklich mit einander gelebt. Das Verhältnis trübte sich, als meine
Frau mit Forderungen auf ehelichem Gebiete kam, die ich nicht erfüllen konnte.
Meine Frau beschäftigte sich auch wenig mit dem Haushalt; sie war bestrebt,
viel herum zu reisen. - Vorsitzender: Sie haben in der Voruntersuchung gesagt,
daß noch ein anderer Grund mitgewirkt hätte, das Verhältnis nicht zum Besten zu
gestalten. - Angeklagter: Meine Frau hatte mir gestanden, ein Verhältnis mit
einem Fabrikbesitzer Schultz gehabt zu haben. Dieser Mann gehörte einer
Freimaurerloge an, bei der auch der verunglückte Schade Mitglied war. Mit dem
Fabrikbesitzer hatte meine Frau als Witwe eine Reise nach Köln gemacht und dort
mit ihm mehrere Tage in einem Hotel gewohnt. Ich habe ihr dieses Verhältnis
nicht besonders übel genommen. (Da der Angeklagte schwer verständlich wird, muß
er auf Anordnung des Vorsitzenden in der Mitte des Saales Platz nehmen.)
Vorsitzender: Was waren das für Forderungen,
die Ihre Frau an Sie stellte? - Angekl.: Meine Frau hatte stets Bier, Wein und
Liköre im Hause gehabt. Einmal hatte sie zu viel getrunken und im Rausch
stellte sie an mich Anforderungen, die kein Mensch erfüllen kann. Da sagte sie
mir, was der Fabrikbesitzer konnte, mußt Du auch tun können. Weiter hat sie mit
Angaben gemacht über das J a g d u n g
l ü c k ihres Mannes, das gar kein
Jagdunglück gewesen sei. - Vorsitzender: Es wird behauptet, daß auf der Jagd
auch jener Fabrikbesitzer zugegen gewesen sei. Darauf beziehen sich wohl die
Andeutungen, daß es sich nicht um einen Unglücksfall, sondern um einen absichtlichen
Mord handele. - Angeklagter: Meine Frau hat, wie ich schon sagte, die Andeutungen
im Rauschzustande gemacht. - Vorsitzender: Sie sind später mit Ihrer Frau von
Itzehoe nach Ottenbüttel gezogen. Die Anregung soll von Ihnen ausgegangen sein?
Angeklagter: Ich habe den Umzug nicht angeregt. Der Umzug war aber notwendig geworden,
weil das Wohnungsamt zur teilweisen Beschlagnahme der Räume in Ottenbüttel
schreiten wollte und es unzulässig war, daß wir über zwei Wohnungen verfügten.
- Vorsitzender: Während Sie im Umzuge begriffen waren, traf der
der
erste Besuch von Fräulein Dorothea Rohrbeck
und Fräulein Zahn ein. - Angeklagter: Wir
hatten nach Kleppelsdorf unsere Verheiratung mitgeteilt, die Mitteilung ist
aber kühl aufgenommen worden. Ich wollte daher anfangs den Besuch ablehnen. -
Vorsitzender: Der Besuch galt ja nicht Ihnen, sondern der Großmutter der
Dorothea Rohrbeck, der Frau Eckert. Angeklagter: Fräulein Zahn sagte: sie mach
eine Reise zu sämtlichen Verwandten, weil es deren Pflicht sei, ihm im Prozeß
gegen den Vormund Vielhack beizustehen.
Der V
o r s i t z e n d e bemerkt aufklärend:
Der Vater von Dorothea Rohrbeck hatte im Testament eine gewisse Summe zum
Unterhalt seiner Tochter ausgesetzt, aber mit dieser Summe konnte Frl. Zahn
wegen der Teuerungsverhältnisse, die inzwischen eingetreten waren, nicht
auskommen. Fräulein Zahn hat sich infolgedessen genötigt gesehen, die Hilfe der
Verwandten in Anspruch zu nehmen. Der Vormund hatte Fräulein Zahn gekündigt und
es war einen Anzahl Prozesse zwischen ihm und Fräulein Zahn entstanden.
Fräulein Zahn bestand darauf, daß sie im Testament als Erzieherin der Dorothea
Rohrbeck eingesetzt sei. - Angekl.: Fräulein Zahn hat mir gesagt, daß sie sich
einschränken und Schulden machen müsse. Ich habe ihr erwidert, sie möchte sich
an die Herren Pinge und Alfred Rohrbeck wenden, dann werde ich ihr ebenfalls
aushelfen. - Vorsitzender: Haben Sie sich nicht gleich angeboten, aus Ihrem
überreichen Einkommen einen Zuschuß zu geben? - Der Angeklagte bestreitet das.
- Vors.: Sie sollen bei der Unterredung mit Fräulein Zahn geäußert haben, daß
Ihre Frau krebsleidend sei. - Angeklagter: Das hat mir meine Frau selbst
gesagt. Ob ich es Fräulein Zahn gesagt habe, ist mir nicht erinnerlich. -
Vorsitzender: Sind nicht auch die Briefe zur Sprache gekommen, die Frau Eckert
an das Vormundschaftsgericht in Lähn geschrieben hat? - Angeklagter: Das mag
sein. - Vorsitzender: Ihre Schwiegermutter, die Frau Eckert, hat in diesen
Briefen gegen Fräulein Zahn Stellung genommen, später aber widerrufen und
schließlich den Widerruf ebenfalls widerrufen.
Vorsitzender: Fräulein Zahn behauptet, Sie
hätten ihr auf einem Ausfluge nach Ottenbüttel gesagt, Sie wollten sich von
Ihrer Frau scheiden lassen und wollten sie heiraten. - Angeklagter: Es ist
möglich, daß ich über das Verhältnis zu meiner Frau gesprochen habe, bestreite
aber, Fräulein Zahn einen Heiratsantrag gemacht zu haben.
Vors.: Sind Sie nicht mit den Damen auch nach
Hamburg gefahren? - Angekl.: Ja! - Vors.: Haben Sie den Damen dort Geschenke
gemacht? - Angekl.: Ich habe Fräulein Rohrbeck ein Paar Schuhe geschenkt. Dem
Fräulein Zahn habe ich das Geld für ihre Einkäufe ausgelegt. Sie hatte mich
darum gebeten und mir gesagt, sie würde es mir in Itzehoe zurückerstatten, hat
es aber nicht zurückgegeben.
Vors.: Sie hatten den Damen einen Gegenbesuch
in Aussicht gestellt und wollten mit Ihrer Frau nach Kleppelsdorf fahren! -
Angekl.: Ich bin am 6. September 1920 allein nach Kleppelsdorf gereist. -
Vors.: Wenn man verheiratet ist, macht man Gegenbesuche mit seiner Frau. -
Angekl.: Der Besuch galt in erster Linie der materiellen Hilfe für Fräulein
Rohrbeck. Ich habe auch in Kleppelsdorf die dringendsten Rechnungen bezahlt. -
Vors.: Ja, Fräulein Zahn spricht von 850 und 2000 Mark. - Angekl.: Die Summen
weiß ich nicht mehr genau.
Vors.: Bei dieser Gelegenheit sollen Sie
geäußert haben, Sie möchten sich in Kleppelsdorf oder Umgegend als Naturfreund
niederlassen? Sie wollten mit Fräulein Bauer, der Tochter des Gegenvormundes,
in Verkehr treten und die Stimmung der Vormünder erkundigen. - Angekl.:
Fräulein Zahn sagte mir, Fräulein Bauer könne keinen Mann bekommen. - Vors.:
Hatten Sie nicht auch geäußert, daß Sie die Verwaltung des Gutes Kleppelsdorf
übernehmen würden? - Angekl.: Davon ist keine Rede gewesen. Als ich hörte, daß
die Felder nicht richtig abgeerntet würden, habe ich nur gesagt, daß ich die
Bewirtschaftung anders machen würde. Zur Verwaltung des Gutes fehlten mir aber
die nötigen Kenntnisse vollkommen. Ich war zwei Tage in Kleppelsdorf und bin
nach Hause gefahren, nachdem ich den Besuch meiner Frau in Aussicht gestellt
hatte.
Das Verschwinden
von Frau Grupen.
Vors.: Was ist dann in Ottenbüttel passiert?
Hatte Ihre Frau irgend etwas angedeutet, was sie beabsichtigte? - Angekl.:
Meine Frau machte Andeutungen, daß s i
e n a c h A m e r i k a fahren wolle.
Vors.: Wir kommen nun zu dem V e r s c h w i n d e n I h r e r
F r a u . Da möchte ich Sie
bitten, sich möglichst ausführlich zu äußern. Es ist doch an und für sich ganz
wunderbar, daß eine Frau, die erst kurze Zeit verheiratet ist, Ihren Mann und
ihre Kinder verläßt, um nach Amerika zu gehen. - Angekl.: Sie hat keinen Grund
angeführt. - Vors.: Was sagten Sie als Ehemann? - Ich habe das nicht ernst
genommen. Ich habe es als Scherz aufgenommen.
Vors.: Am 17. September sind Sie mit Ihrer
Frau und Ihrer Schwiegermutter zum Notar nach Itzehoe gefahren. - Angekl.: Dort
hat meine Frau zwei Hypotheken im Betrag von 52 000 Mark auf meinen Namen
schreiben lassen. - Vors.: Haben Sie sich nicht auch von Frau Eckert
Generalvollmacht erteilen lassen? - Angekl.: Nur auf Wunsch meiner Frau.
Vors.: Sie waren also jetzt im Besitz einer
Generalvollmacht von Ihrer Frau, von Ihrer Schwiegermutter und ließen sich auch
noch Hypotheken abtreten. Haben Sie denn vor dem Notar erklärt, daß Sie den
Gegenwert für die Hypotheken gegeben haben? - Angekl.: Der Notar hat die Frage
aufgeworfen, ob der Gegenwert erledigt sei. Darauf hat meine Frau gesagt: Ja,
also eine Antwort gegeben, die nicht mit den Tatsachen übereinstimmte.
Vors.: Am 18. September sind Sie mit Ihrer
Frau wieder beim Notar gewesen. Was haben Sie da gemacht? - Angekl.: Da haben
wir die G ü t e r t r e n n u n g erklärt. - Vors.: Es ist doch wunderbar,
wenn Sie auf einmal ohne gerichtlichen Grund Gütertrennung vereinbaren, nachdem
Sie sich von Ihrer Frau und Schwiegermutter Generalvollmacht hatten geben
lassen. - Angekl.: Die Gütertrennung ist von meiner Frau gewünscht worden.
Ueber den Grund bin ich mir heute noch nicht klar. - Vors.: Ich auch nicht.
Was
passierte am 19. September,
der ein Sonntag war? - Angekl.: D a
i s t m e i n e F r a u
a b e n d s n a c h I t z e h o e g e f a h r e n . - Vors.: Wollen Sie sich nicht näher darüber
auslassen?
Angekl.: Meine Frau wollte angeblich n a c h
K l e p p e l s d o r f fahren.
- Vors.: Wie verabschiedete sich Ihre Frau von den Kindern und ihrer Mutter? -
Angekl.: Nach meiner Ansicht hat sie sich wie immer verabschiedet. Ich habe
dabei nichts beonderes gefunden.
Vors.: Hat Frau Eckert nicht eine Aeußerung
getan: ach, es sei so traurig, daß die Tochter wegfahre, und hat Ihre Frau
darauf nicht geantwortet: ach, ich fahre ja bloß nach Kleppelsdorf und bin bald
wieder da? - Angekl.: Das ist mir nicht erinnerlich.
Vors.: Nun fuhren Sie im Wagen mit Ihrer Frau
nach Itzehoe, acht Kilometer von Ottenbüttel. Nahmen Sie noch jemand mit? -
Angekl.: Ja, die beiden Dienstmädchen, die Kläschen und die Gnierakowski. -
Vors.: Lenkten Sie das Fuhrwerk selbst? - Angekl.: Ja. - Vors.: Wie war Ihre
Frau bekleidet? - Angekl.: Sie hatte einen grünen Hut. Ob sie einen Mantel hatte,
kann ich nicht genau sagen, aber einen Pelzkragen hatte sie mit. - Vors.: Wie
war die Frau unterwegs? - Angekl.: Es ist mir nichts aufgefallen.
Vors.: Unterwegs haben Sie Kläschen und dann
die Gnierakowski abgesetzt? Hat Ihre Frau auf dem Wege der Kläschen irgend
etwas gegeben? - Angekl.: Ich habe gesehen, daß meine Frau der Kläschen einen
Brief übergab. Sie äußerte dabei, daß in dem Briefe etwas bezüglich der Wäsche
enthalten sei. Ich habe mich infolgedessen um den Brief nicht weiter gekümmert.
Vors.: In welchem Zuge ist Ihre Frau
gefahren? - Angekl.: Das kann ich nicht sagen, weil ich am Bahnhof bei den
Pferden geblieben bin. - Vors.: Also Sie haben Ihre Frau nicht auf den Bahnsteig
begleitet? Hatte Ihre Frau nichts im Wagen zurückgelassen? - Angekl.: Ja, den
Pelzkragen.
Vors.: Sie sind dann nach Ottenbüttel
zurückgefahren. In der Voruntersuchung haben Sie ausgesagt, daß Sie eines der
Dienstmädchen, das Sie während der Fahrt abgesetzt hatten, im Vereinshause
abholen wollten? - Angekl.: Es kann möglich sein, daß ich dies dem Mädchen
versprochen habe, aber weil es spät geworden war, bin ich allein nach Hause
gefahren.
Vors.: Sie behaupten also, daß Sie vom
Bahnhof Itzehoe sofort nach Hause gefahren und dort geblieben sind. Was
passierte am nächsten Morgen? Ich möchte bemerken, daß s e i t
d e m 1 9 . S e p t e m b e r F r a u
G r u p e n v e r s c h w u n d
en i s t . A l l e
N a c h f o r s c h u n g e n n
a c h i h r h a t t e n
k e i n e n . Auch auf die
Nachrichten in den Zeitungen über den Tod ihrer eigenen Tochter hat sie kein
Lebenszeichen gegeben. - Angekl.: Frau Eckert sagte, sie glaube nicht, daß
meine Frau nach Kleppelsdorf gefahren sei. Daraufhin habe ich nach Kleppelsdorf
telegraphiert: „Trude nach dort abgereist.“
Vors.: Was hatte die Kläschen auf dem Abort
gefunden? - Angekl.: Einen Brief von meiner Frau. - Vors.: Was stand in dem
Briefe? - Angekl. zögernd: In dem Briefe waren Angaben gemacht, d a ß
s i e n i c h t n a c h
K l e p p e l s d o r f f a h r
e , sondern verreisen wolle. - Vors.:
Hat nichts von den Kindern und der Mutter daringestanden und davon, daß sie
nach Amerika gehe und daß die Mutter und die Kinder unbesorgt sein könnten? -
Angekl.: Das weiß ich nicht.
Vors.: Am 20. September war Ihr Geburtstag.
War da nicht eine kleine Feier in Aussicht genommen? - Angekl.: Nein, meine
Frau hat vor ihrer Abreise zum Ausdruck gebracht, daß der Geburtstag acht Tage
später gefeiert werden soll.
Der
Inhalt der Stahlkassette.
Vors.: Sie sind in dieser Zeit zu dem
Steuerbeamten Lange gegangen und haben ihm erzählt, daß Ihnen ein Schlüssel
zur S t a h l k a s s e t t e fehle. Was hatten Sie in der Kassette? -
Angekl.: Mein Geld. - Vors.: Lange hat Ihnen einen Rat gegeben, wie man die
Kassette ohne Schlüssel öffnen könne. Diesen Rat haben Sie auch befolgt. -
Angekl.: Ja, ich habe die Mädchen aus der Küche gerufen. Die Mädchen haben die
Kassette gehalten, ich habe dagegen geschlagen und da sprang die Kassette auf.
Ich sah, daß kein Geld darin war, sondern nur ein Kouvert und mehrere kleine
Zettel. Das Kouvert war an den Rechtsanwalt und Notar Reinicke in Itzehoe
gerichtet. - Vors.: Haben Sie sonst noch etwas gefunden? - Angekl.: Es lag ein
Zettel darin, eine A b r e c h n u n
g v o n d e r
S p a r k a s s e .
Vors.: Es ist festgestellt worden, daß F r a u
G r u p e n , bevor sie
verschwand, die E i n z a h l u n g e
n f ü r i h r e
K i n d e r I r m a u n d
U r s u l a u n d d a s
P f l e g e k i n d R u t h v o n
d e r S p a r k a s s e a b g e h o b e n und daß sie sich dann persönlich am 18.
September von Itzehoe n a c h L ü b e c k
a b g e m e l d e t hat. Frau
Grupen hatte sich vor ihrer Abreise auch bemüht, einen Anteilschein der Handelsgesellschaft
deutscher Apotheker über 17 000 Mk. abzusetzen. - Angekl.: Der Anteilschein ist
für 12 000 Mk. angeboten worden, meine Frau hat also unbedingt Geld haben
müssen.
Verteidiger Justizrat Dr. M a m r o t h wirft die Frage auf, ob Frau Grupen vor
ihrer Abreise sich hat Kleider ausbessern und Kostüme anfertigen lassen, und ob
sie viel in Schauspielerkreisen verkehre. - Vors.: Ist Ihre Frau während der
Kriegszeit Vereinen beigetreten und wollte sie nicht zur Bühne gehen? -
Angekl.: Schon in ihrer Jugendzeit wollte sie zur Bühne, hat aber von den
Eltern nicht die Erlaubnis erhalten. Vor ihrer Abreise hatte sie sich fünf Kleider
machen lassen und die Sachen in einen Koffer verpackt.
Vors.: Sie nehmen an, daß diese 60 000 Mk.
Ihre Frau mitgenommen hat? - Angekl.: Ja, meine Frau war immer bestrebt, sich
viele Barmittel zu verschaffen.
Vors.: Was geschah mit dem Kouvert, das Sie
in der Kassette gefunden haben? - Angekl.: Ich habe es zu dem Notar Reinicke
geschafft, der hat das Kouvert geöffnet, da waren verschiedene Briefe drin. Die
Briefe hat dann der Notar geöffnet. Es stand darin, d a ß
m e i n e F r a u m i c h
v e r l a s s e n h a t und die Briefe waren gerichtet an Boos,
Schade, Dorothea Rohrbeck, Frau Eckert, an einen Amtsrichter und an noch zwei
Personen.
Vors.: Haben Sie nun sofort der Frau Eckert
mitgeteilt, daß ihre Tochter nach Amerika gegangen sei? - Angekl.: Nein, mit
diesen Briefen bin ich nach Berlin gefahren zum Herrn Schade, dem Vater des
verunglückten ersten Mannes meiner Frau. Von Berlin fuhr ich nach Kleppelsdorf.
- Vors.: Sie hatten aber gehört, daß Ihre Frau in Kleppelsdorf nicht
eingetroffen sei? - Angekl.: Ich habe angenommen, daß sie sich verspätet und
inzwischen doch dort angelangt sei.
Der
Koffer der Frau Grupen.
Staatsanwalt: Warum schickten Sie ihr nicht
bald den Koffer nach? Die Frau hatte doch kein Stück Wäsche mit. - Angekl.: Das
konnte ich nicht wissen. - Vors.: Sie haben aber Ihrer Frau nach Kleppelsdorf
telegraphiert: Koffer noch hier. - Verteidiger Dr. Ablaß: War irgend etwas über
die Dauer der Reise nach Kleppelsdorf gesprochen worden? - Angekl.: Es waren
acht Tage vorgesehen. - Staatsanwalt: Der Angeklagte wußte ganz genau, daß der
Koffer in eine Waschanstalt nach Hamburg geschickt werden sollte und daß über
den Koffer gar nicht mehr zu verfügen war. Der Vorsitzende verliest den Brief,
den Frau Grupen auf der Fahrt zum Bahnhof Itzehoe dem Dienstmädchen übergeben
hatte und der an den Knecht Raske gerichtet war. Der Brief lautet: „Otto soll
morgen früh, den 20. 9. 20, wenn die Kinder zur Schule gefahren werden, den
Rohrplattenkoffer, der im Schlafzimmer steht, Inhalt schmutzige Wäsche, als
Eilgut auf meinen Namen nach Itzehoe-Bahnhof senden, wo derselbe abgeholt
wird.“ Staatsanwalt: Der Koffer hatte also für die Frau gar kein Interesse
mehr. Warum telegraphiert der Angeklagte: „Koffer noch hier.“ Warum ist der
Koffer, der als Eilgut abgesandt werden sollte, 14 Tage stehen geblieben? -
Angekl.: Der Transport des Koffers war mit dem Wagen, mit dem die Kinder zu
Schule fuhren, nicht möglich. Ich hätte einen besonderen Wagen stellen müssen,
aber die Pferde fehlten.
Vors.: Wann ist Ihnen der Zettel an Raske
ausgehändigt worden? - Angekl.: Meines Wissens habe ich ihn erhalten, bevor der
Abschiedsbrief bekannt wurde.
Vors.: Es ist auffallend, daß Sie, obwohl Sie
und Ihre Frau Bankkonten hatten, einen so großen Betrag von 60 000 Mark in der
Kassette verwahrten. - Angekl.: Der Betrag war kurz vorher eingegangen aus dem
Verkauf von Vieh.
Vors.: Von Berlin fuhren Sie nach
Kleppelsdorf. Am 26. September waren Sie dort. Was wollten Sie in Kleppelsdorf?
- Angekl.: Ich wollte Dörte bitten, zur alten Großmutter zu kommen. Ich nahm
an, daß Dörte als Enkelin der Großmutter etwas zur Seite stehen könnte.
Vors.: Was sagten Sie den Damen über das, war
in Ottenbüttel passiert war? - Angekl.: Ich habe erzählt, daß meine Frau mich
verlassen habe und daß sie Geäußert habe, nach Amerika zu wollen. - Vors.:
Haben Sie auch gesagt, daß die Frau nach Kleppelsdorf fahren sollte, um den
Damen Geld zu bringen? - Angekl.: Das kann möglich sein.
Vors.: Warum veranlaßten Sie Dorothea
Rohrbeck, zur Großmutter zu fahren, warum sollte Fräulein Zahn nicht mit? -
Angeklagter: Weil Fräulein Zahn mit Frau Eckert nicht gut stimmte.
Staatsanwalt: Ist es wahr, daß Ihre Frau 10
000 Mach nach Kleppelsdorf bringen wollte? - Angekl.: Das hat sie mir gegenüber
zum Ausdruck gebracht.
Mit
Dorothea Rohrbeck in Berlin.
Vors.: Sie fuhren also mit Fräulein Rohrbeck
nach Berlin. Was haben Sie dort gemacht? - Angekl.: Ich habe Fräulein Rohrbeck
zunächst im Christlichen Hospiz untergebracht und bin dann gegangen, eine
Wohnung zu suchen. Als ich zurückkam, ging ich mit Fräulein Rohrbeck und einer
Freundin von ihr in ein Restaurant. - Vors.: Als Sie mit den Damen in dem
Restaurant saßen, sollen Sie plötzlich aufgesprungen sein und gesagt
haben: D a g e h t
m e i n e F r a u v o r ü b e r ! - Angekl.: Ich habe damit zum Ausdruck
bringen wollen, daß die vorübergehende Frau Aehnlichkeit mit meiner Frau hatte.
- Vors.: Warum sind Sie aber sofort weggegangen? - Angekl.: Weil ich mit meinem
Anzug nicht für das vornehme Lokal paßte.
Vors.: Nun sollen Sie bei einer Frau in
Altona ein Zimmer für Sie und Ihre Nichte bestellt haben. - Angekl.: Ich habe
nur für Dörte für den T a g ein Zimmer bestellt, damit sie sich von der
Fahrt ausruhen konnte, während ich auf dem Versorgungsamt zu tun hatte.
Vors.:
D o r o t h e a R o h r b e c
k h a t o f f e n b a r e i n e
g r o ß e A n t i p a t h i
e g e g e n S i e
a u f d i e s e r F a h r t
b e k o m m e n u n d v o n
B e r l i n a u s a
n F r ä u l e i n Z a h n
g e s c h r i e b e n , s i
e m ö c h t e s o f o r t
n a c h k o m m e n , s o n s
t v e r z w e i f l e s i e .
- Angekl.: Ich bestreite, Fräulein Dorothea Rohrbeck Veranlassung
gegeben zu haben, diesen Brief zu schreiben.
Der
Abschiedsbrief von Frau Grupen an ihre Mutter.
Vors.: Sie kamen nun mit Dorothea Rohrbeck
bei der Großmutter in Itzehoe an. Was machten Sie dort? - Angekl.: Dort habe
ich Frau Eckert den Abschiedsbrief gegeben. - Der Vorsitzende legt dem
Angeklagten den Brief vor, der ihn wieder erkennt.
Vors.: Der Abschiedsbrief, den eine Tochter,
die nach Amerika geht, an ihre Mutter schreibt, lautet:
„Ottenbüttel, 12. September 20.
Meine liebe Mutter!
Wenn Du in den Besitz dieser Zeilen gelangst,
bin ich auf dem Wege nach Amerika, den ich ja schon des öfteren in Gedanken
zurückgelegt habe, wie Du aus meinen Bemerkungen entnehmen konntest. Lange
genug habe ich die Fessel in Deutschland getragen, und hat sich endlich mein
Künstlerblut dagegen aufgelehnt, indem ich Deutschland den Rücken kehre. Du
darfst nicht denken, daß Peter die Veranlassung zu diesem Schritt war,
respektive unser Zusammenleben. Denn den Plan hatte ich schon, bevor ich Peter
kennen lernte, und waren mir nur durch die Verhältnisse und meinen Besitz die
Hände gebunden. Peter wird für die Kinder sorgen und Dir helfen. Es küßt Dich
in Liebe
Deine Tochter Trude.“
Vors. zum Angeklagten: Haben Sie einen
Abschiedsbrief von Ihrer Frau bekommen? - Angekl.: Nein.
Vors.: War nun die Großmutter sehr erfreut
über den Besuch ihrer Enkelin? - Angekl.: Meines Erachtens war sie nicht sehr
erfreut, aber auch nicht traurig. - Vors.: Sie sind mit Fräulein Rohrbeck drei
oder vier Tage bei der Großmutter geblieben? Was geschah dann?
Die
Fahrt auf dem Alster - Bassin.
Angekl.: Wir fuhren nach Hamburg. Fräulein Zahn
war inzwischen nachgekommen. - Vors.: Auf dieser Reise haben Sie die beiden
Damen auf dem Alsterbassin gerudert? Es wird Ihnen zum Vorwurf gemacht, daß Sie
Dorothea Rohrbeck zweimal in Lebensgefahr gebracht haben. - Angekl.: Dörte hat
schon immer für eine Alsterfahrt geschwärmt. Ich habe ihr daher den Vorschlag
gemacht, nicht ins Theater zu gehen, sondern den Nachmittag zu einer
Ruderpartie zu benutzen. - Vors.: Es wird Ihnen zur Last gelegt, daß Sie immer
in die Wellen der Dampfer hineingefahren sind und dadurch das Boot in Gefahr
gebracht haben, so daß sogar einmal vom Dampfer gerufen wurde: Vorsicht! Es
kommen zwei Vorfälle in Betracht, einmal war Fräulein Zahn dabei. - Angekl.:
Fräulein Zahn war ängstlich, während die Dörte scherzte. - Vors.: Sie sollen
einmal das Ruder weggeworfen und sich dann lang in das Boot hingelegt haben, so
daß Fräulein Rohrbeck um Hilfe gerufen habe. - Der Angeklagte bezeichnet den
Vorfall als harmlos. Um das Ruder zu haschen, das dem Fräulein Rohrbeck
entfallen war, habe er sich stark nach vorn gelegt; sich lang hinzulegen, sei
bei der Konstruktion des Bootes ganz unmöglich. - Vors.: Fräulein Rohrbeck hat
sich zu einer ganzen Anzahl Personen ausgelassen, daß der Vorgang nicht so
harmlos gewesen sei. Sie will das sichere Gefühl gehabt haben, d a ß
S i e i h r n a c h
d e m L e b e n t r a c h t e t e n . - Angekl.: Ich kann nicht glauben, daß
Fräulein Rohrbeck so etwas gesagt hat. - Verteidiger Dr. Mamroth: Haben Sie
etwa das Mädchen mit seiner Angst geneckt? Der Angeklagte gibt dies als möglich
zu. Ueberdies sei er ein guter Schwimmer, aber die Vorgänge seien ganz
ungefährlich gewesen.
Vors.: Warum hatten Sie in Hamburg den Damen
erklärt, Sie müßten plötzlich zu Ihrer kranken Mutter? - Angekl.: Ich hatte Fräulein
Zahn 7500 Mark übergeben und ihr gesagt, daß ich unmöglich länger dableiben
könne. Bald würde ich aber in der Lage sein, ihr weitere Mittel zu übersenden.
Augenblicklich wäre ich wegen der Mitnahme der Gelder durch meine Frau hierzu
nicht in der Lage. Fräulein Zahn sagte, ich solle auf keinen Fall Gelder an das
Postamt in Lähn, sondern an die Post in Hirschberg adressieren, denn in Lähn
dürfe kein Mensch etwas davon wissen.
Eine
neue Reise Dorotheas.
Vors.: Nach Oldenbüttel zurückgekehrt, haben
Sie am 1. November Fräulein Rohrbeck 500 Mark übersandt mit der Aufforderung,
am nächsten Tage nach Berlin zu kommen. - Angekl.: Ich habe nach Kleppelsdorf
ein Telegramm gesandt und angefragt, ob eine Zusammenkunft in Berlin erwünscht
wäre. Darauf ist eine bejahende Antwort eingegangen.
Vors.: Bereits am 30. Oktober telegraphierten
Sie: Erwarte Dich bestimmt Dienstag abend 10 Uhr Wartesaal zweiter Klasse
Görlitzer Bahnhof. Sie kamen auf einmal auf dem Görlitzer Bahnhof mit dem Auto
vorgefahren und sagten, Sie müßten sofort nach Hamburg. Was sollten die Damen
mit Ihnen in Hamburg? - Angekl.: Dort hatte ich von einem Geschäftsfreund Geld
zu erwarten, mit dem ich Fräulein Zahn helfen wollte.
Vors.: Haben Sie den Damen nicht gesagt, Sie
müßten sie auch mitnehmen nach Itzehoe, dort brauchten Sie ihre Unterschrift in
einem Familienrat im Kampfe gegen den Vormund? - Angekl.: Fräulein Zahn hat
mich gebeten, an dem Familienrat teilzunehmen.
Vors.: Warum sind Sie aber von Hamburg nach
Kiel gefahren? - Angekl.: Weil bei den großen Ausgaben, welche Frl. Zahn
machte, der Aufenthalt in Hamburg teurer gewesen wäre, als die Fahrt nach Kiel.
Vors.: Haben die Damen auf dem Rückwege von
Kiel nach Hamburg davon gesprochen, daß Sie ihnen Geschenke machen wollten? Ob
sie etwa einen Weihnachtswunsch hätten? - Angeklagter: Ja! Die Dörte hat einen
Wunschzettel geschrieben und mit ausgehändigt. Fräulein Rohrbeck wünschte sich
verschiedene Kleiderstoffe. Dem Fräulein Zahn wollte ich eine jährliche Rente
von 10 000 Mark aussetzen.
Der Vorsitzende ersucht den Angeklagten um
nähere Angaben über die angeblichen großen Ansprüche des Fräulein Zahn und
ersucht ihn, sich dabei nicht in Widerspruch zu setzen mit den Aussagen, die
Fräulein Zahn beeiden werde. In der Voruntersuchung habe der Angeklagte auf
viele Fragen die Antwort verweigert, auf andere Fragen erklärt, darüber erst
mit Auskunft zu geben, wenn er sich mit seinem Verteidiger beraten habe. -
Verteidiger Dr. Ablaß bemerkt, er habe in der Voruntersuchung dem Angeklagten
gesagt, wenn er etwas nicht genau wisse, solle er angeben, sich darüber erst
später erklären zu wollen, um sich nicht in Widersprüche zu verwickeln und
dadurch einen ungünstigen Eindruck zu machen. - Vorsitzender: Man kann aber aus
dieser Erklärung andere Schlüsse ziehen. Welche Schlüsse die Geschworenen
ziehen, unterliegt nicht meiner Beurteilung.
Vors.: Weiß der Angeklagte nicht anzugeben,
wie groß die Ausgaben waren, die Fräulein Zahn gemacht? - Staatsanwalt: Warum
hat der Angeklagte die Damen überhaupt nach Berlin eingeladen, und warum ist er
nach Kiel anstatt nach Hamburg gefahren? - Angekl.: Ich bin nach Kiel gefahren,
weil mir der Aufenthalt der Damen in Hamburg zu teuer geworden wäre, außerdem
wollte ich in Kiel meine kranke Mutter besuchen.
Vors.: In Hamburg sollen Sie mit den Damen in
ein Absteigequartier gegangen sein? - Angekl.: Ich wußte nicht, daß es ein
solches Quartier ist und ich glaube es auch nicht. - Vors.: Die Damen sollen
sich hier aber gar nicht wohlgefühlt haben, auch das Zimmer gefiel ihnen nicht.
Wohnten Sie übrigens in derselben Wohnung? - Angekl.: Jawohl, aber in einem
anderen Zimmer. - Vors.: Sie sollen abends weggegangen sein und nachts an die
Tür der Damen geklopft haben? - Angekl.: Ich sah noch Licht in ihrem Zimmer und
wünschte ihnen „Gute Nacht“. Dabei habe ich an die Zimmertür geklopft. - Der
Angeklagte bestreitet dann, daß er, wie man ihm zum Vorwurf macht, in Hamburg
überhaupt ein Absteigequartier gehabt habe.
Vors.: Am anderen Morgen sollen Sie nun den
Damen erklärt haben, daß Sie ihnen finanziell nicht helfen könnten. - Angekl.:
Jawohl, ich schickte Fräulein Zahn eine Visitenkarte. - Der Inhalt der Karte
wird verlesen und lautet: „Liebe Berti! Ich werde um 10 Uhr nicht hier sein
können, da ich zu meinem Bruder zu einer notwendigen Besprechung muß.“ - Vors.:
Und zwei Stunden später schrieben Sie dann einen Brief, daß Sie in der ganzen
Voruntersuchung nichts darüber geäußert, daß Sie Ihr ganzes Vermögen verloren
hätten, und schickten ihnen 200 Mark, damit sie nach Hause fahren konnten. -
Der Angeklagte bejaht dies.
Grupen
nach der Abreise seiner Frau.
Vors.: Was haben Sie in Oldenbüttel über den
Verbleib ihrer Frau mitgeteilt? Haben Sie überhaupt Ermittelungen angestellt? -
Angekl.: Ich habe geglaubt, daß sie sich bei dem Fabrikbesitzer Schulz, mit dem
sie ein Verhältnis hatte, aushalte.
Vors.: Der Frau Eckert haben Sie gesagt, Ihre
Frau sei nach Hamburg, bei Vielhaak haben Sie gesagt, daß Sie mit Ihrer Frau
schiedlich friedlich auseinander gegangen seien. Einer anderen Frau haben Sie
gesagt, daß sie zu einer Freundin gefahren sei, und wieder einer anderen Frau,
daß sie zur Bühne gegangen sei.
Verteidiger
D r . A b l a ß fragt, ob es richtig sei, daß der F a b r i k b e s i t z e r den ehebrecherischen Verkehr mit G r u p e n s F r a u
auch nach dem Tode ihres ersten Mannes fortgesetzt habe, und ob Frau
Grupen aus Perleberg gegangen sei, weil sie von der Gesellschaft gemieden
wurde, und ob ein Verfahren gegen den Fabrikbesitzer wegen des angeblichen
Jagdunglücks des Schade geschwebt habe. Der Angeklagte bejaht das erstere, ob
aber ein Ermittelungsverfahren gegen den Fabrikbesitzer geschwebt hat, weiß er
nicht.
Ein Geschworener: Wie ist es möglich, daß der
Angeklagte innerhalb dreier Stunden sein ganzes Vermögen verloren hat? -
Angekl.: Ich hatte einem Geschäftsfreund großes Vertrauen entgegengebracht. -
Vors.: Wie groß war der Verlust? - Angekl.: Das weiß ich nicht genau.
Grupen
und Fräulein Zahn.
Vors.: Wir kommen jetzt zu einem anderen
Kapitel. Nachdem, was Sie uns bisher erzählt, Angeklagter, haben Sie für
Fräulein und Fräulein Rohrbeck sehr freundschaftliche Gefühle gehegt. Hinter
deren Rücken haben Sie aber ganz anders gehandelt. Am 14. September haben Sie
an V i e l h a c k geschrieben, daß Sie mit ihm in Verbindung
treten wollen. Was erzählten Sie nun dem Vormund? - Angekl.: Ich mußte
annehmen, daß die Sache mit dem Vormund nicht so schlimm sei. - Vors.: Haben
Sie dem Vormund nicht auch erzählt, daß Fräulein Zahn für die Erziehung der
Dörte nicht geeignet sei? - Angekl.: Jawohl, in einigen Punkten war ich auch
der Ansicht. - Vors.: Wieso? - Angekl.: Fräul. Zahn erzählte dem Kinde ihre
Liebesgeschichte. - Vors.: Was war das für eine Liebesgeschichte? - Angekl.:
Sie hätte zu Rohrbeck in näheren Beziehungen gestanden.
Vors.: Es ist richtig, daß sie in sehr nahen
Beziehungen zur Familie Rohrbeck gestanden hat, denn sie hat sich des Kindes
nach dem Tode der Mutter angenommen, und Rohrbeck hat sie noch auf dem
Sterbebett heiraten wollen. Angeklagter, Sie scheinen auch hier den Mund recht
voll genommen zu haben. - Angekl.: Ich möchte hier keine weiteren Erklärungen
abgeben.
Vors.: Sie haben weiter dem Vormund erklärt,
daß Fräulein Zahn zu viel ausgebe. Sie hätten ihr bereits 3000 Mk. gegen
Quittung gegeben, und nun wollte sie noch 8000 Mk. haben. Eine Quittung ist
aber tatsächlich nicht vorhanden. - Der Angeklagte erklärt hierzu, daß in der
Tat eine solche Quittung nicht vorhanden sei, daß ihn aber der Vormund deshalb
als Zeugen vorschlagen wollte in einem Prozeß, der zwischen dem Vormund und
Fräulein Zahn schwebte. Er habe aber gebeten, davon abzusehen, weil er erst
nach Kleppelsdorf fahren und Erkundigungen einziehen wollte.
Vors.: Auf der einen Seite machen Sie also
Geschenke, auf der anderen Seite stellen Sie sich dem Vormund zur Verfügung.
Sie haben dann dem Vormund geschrieben, daß Sie kommen wollen, tatsächlich sind
Sie aber erst am 12. Januar zu ihm gefahren und haben hier Fräulein Zahn
schlecht gemacht. U. a. haben Sie erzählt, daß Fräulein Rohrbeck zuviel
Zigaretten rauche usw. - Der Angeklagte erklärt hierzu, daß er es nicht für
recht gehalten habe, daß Fräulein Zahn es billigte, daß Dörte sich von dem
Taschengeld, das er, Grupen, ihr gegeben, sich sofort eine Zigarettenspitze
gekauft habe.
Die
Reise nach Kleppelsdorf.
Weiter wird festgestellt, daß Grupen nach
Kleppelsdorf geschrieben hat, Vielhack wolle ihn in dem Prozeß als Zeugen
nennen, die Dörte und Fräulein Zahn möchten deshalb nach Hamburg kommen.
Inzwischen hatte man in Kleppelsdorf erfahren, daß Grupen tatsächlich als Zeuge
benannt war, und Dorothea Rohrbeck fragte ihn deshalb brieflich, ob dies wahr
sei. Grupen schrieb dann, daß er eventuell auch nach Hirschberg kommen könne,
um mit dem Notar Rechtsanwalt Dr. Pfeiffer die Sache zu besprechen. Fräulein
Zahn teilte Grupen mit, er solle nach Hirschberg zum Notar kommen. Darauf
telegraphierte Grupen, er komme; ob die Großmutter vorübergehend mitkommen
dürfe.
Vors.: Was wollten Sie mit dem Rechtsanwalt
besprechen? - Angekl.: Ich war mißtrauisch geworden, ob die Angaben von
Fräulein Zahn auch stimmten. Der Vormund erzählte mir, daß man in Kleppelsdorf
zu große Ausgaben mache, während man mir dort gesagt hatte, der Vormund habe
den Wald, das Auto und die Pferde verschleudert, sodaß sie nicht einmal Pferde
hätten, um das Korn vom Felde abzufahren. Von Kleppelsdorf war die Antwort gekommen:
„Besuch willkommen.“
Darauf reiste der Angeklagte mit Frau Eckert,
der Ursula und Irma Schade, sowie der Stütze Mohr nach Kleppelsdorf.
Vors.: In Kleppelsdorf war der Empfang wohl
etwas kühl, weil fünf statt zwei Personen kamen. - Angekl.: Als wir in
Kleppelsdorf ankamen, haben wir lange warten müssen, ehe man uns ein Zimmer
anwies. Frau Eckert war darüber ehr ärgerlich, ebenso Ursula. Wie der
Angeklagte weiter erzählt, war Frau Eckert so erregt, daß sie sagte: Sie werde
es der Kleppelsdorfer Gesellschaft noch abgewöhnen, und es würde in
Kleppelsdorf, wie der Vormund gesagt hätte, noch ein Ende mit Schrecken nehmen.
Hierauf wurden zum besseren Verständnis für
die Geschworenen zwei Tafeln aufgestellt, auf denen die Grundrisse des
Schlosses aufgezeichnet waren. An Hand dieser Zeichnungen zeigte der Angeklagte
dann, daß seiner Familie im Erdgeschoß eine Wohnung angewiesen wurde und zwar
im sogenannten Schlafzimmer. Aus diesem führt eine Tür in die Plättstube, daran
anstoßend war das sogenannte Amtszimmer. Der Angeklagte selbst schlief im
zweiten Stock in einem anderen Flügel.
Keine
falsche eidesstattliche Versicherung.
Am 9.
Februar fuhr Grupen zum Rechtsanwalt Dr. Pfeiffer in Hirschberg. Dort sollte er
eine eidesstattliche Versicherung abgeben, daß ihm nichts davon bekannt sei,
daß die Rohrbeck für Fräulein Zahn einen Revers unterschrieben habe. Der Angeklagte
bemerkt weiter, daß er Frau Eckert nicht beeinflußt habe und daß er keine
falsche eidesstattliche Versicherung fallen gelassen.
Vors.: Womit vertrieben Sie sich in
Kleppelsdorf die Zeit? - Angekl.: Ich habe gelesen und hielt mich in der Regel
in den Räumlichkeiten des ersten Stockes auf. - Der Angeklagte gibt dann eine
nähere Erklärung der Räumlichkeiten im ersten Stock. Diese bestanden in einem
Schlafzimmer, einem Kinderzimmer, an das sich das sogenannte W i n t e r - W o h n z i m m e r schloß. Dieses hatte einen Ausgang nach dem
Kinderzimmer und einen durch ein Schrankzimmer auf den Flur. - Vors.: Haben Sie
in Kleppelsdorf Ausflüge gemacht? - Angekl.: Blos einmal, sonst war ich immer
zu Hause.
Die
Traurigkeit Ursula Schades.
Vors.: Was machten die Kinder? - Angekl.: Die
haben gelesen. Nachdem der Vorsitzende bemerkt, daß die Kinder recht vergnügt
gespielt haben sollen, fragt er den Angeklagten: In welcher Gemütsverfassung
war U r s u l a ? - Angeklagter: Sie war in Itzehoe manchmal
sehr traurig und hat öfter geweint. Ich habe wiederholt versucht, den Grund zu
erforschen, sie sagte ihn mir aber nicht. Auf der Fahrt hierher, - wir fuhren
zweiter Klasse, - hatte ich auch den Kindern gesagt, sie möchten sich etwas
hinlegen. Ursula tat es aber nicht. Während der Fahrt äußerte Ursula, sie freue
sich gar nicht mehr auf den Besuch, habe auch Dörte nicht mehr lieb, weil sie
so häßlich zur Großmutter sei. Ich glaube nicht, daß, wie man sagt, Ursula auf
der Fahrt vergnügt gewesen sei. - Vors.: Haben Sie bemerkt, daß Ursula eine
sogenannte Untertasche trug. - Angekl.: Das weiß ich nicht. - Der Angeklagte
gibt dann noch an, daß ihm Frau Eckert gesagt, Ursula habe in der Nacht vom 12.
zum 13. sehr unruhig geschlafen und sogenannte Angstzustände gehabt. Weiter
erklärt er, daß z w i s c h e n d e m
9 . u n d 1 4 .
F e b r u a r Ursula der Stütze
Mohr einen B r i e f gegeben habe, der eine Ueberraschung für die
Großmutter sei. Er weiß nicht, ob Ursula gesagt habe, sie möchte den Brief erst
morgen abgeben. Weiter wird festgestellt, daß Ursula einen B r i e f
a n e i n e F r a u
B a r t e l s in Itzehoe
geschrieben hat. In dem Briefe teilt sie mit, daß sie sich f r e u e ,
in Kleppelsdorf zu sein. Zum Schluß heißt es: „ E s
g r ü ß t S i e I h r e
U r s e l . „ Darüber stand das
offenbar erst später hineingeschriebene Wort:
„ t r a u r i g e “ . Der
Angeklagte weiß keine Erklärung dafür, warum Ursula geschrieben hat: „Ihre t r a u r i g e Ursel.“ Dieser Brief ist aber n i c h t
a b g e s c h i c k t worden,
sondern der Angeklagte hat ihn in seine Gesäßtasche gesteckt. - Vors.: Warum
haben Sie in der ganzen Voruntersuchung nichts darüber geäußert, daß Ursula
traurig war. - Angekl. schweigt.
Der
Angeklagte über den Mordtag.
Ueber die E r e i g n i s s e a m
1 4 . F e b r u a r , dem Mordtage, gibt der A n g e k l a g t e f o l g e n d e S c h i l d e r u n g : Im Laufe des Vormittags ist Fräulein R o h r b e c k mit I
r m a in der Stadt gewesen, von wo sie
gegen ½ 12 Uhr zurückkamen. Fräulein Rohrbeck ging in das Kinderspielzimmer,
während er sich im Nebenzimmer befand. Die Verbindungstür zwischen den beiden
Zimmern stand offen. Ich habe nicht gehört, daß Fräulein Zahn das
Dienstmädchen M e n d e mit einem Auftrage zur Stadt sandte. Ich
habe Mühle gespielt mit U r s u l a , die aber sehr unaufmerksam dabei war, dann
mit Irma. U r s u l a h a t
d a n n d a s Z i m m e r
v e r l a s s e n u n d s o l l
F r ä u l e i n R o h r b e c
k n a c h u n t e n
g e r u f e n h a b e n . Fräulein
Z a h n hat sich aus dem
Nebenzimmer mit mir über den Stand der Spielpartie der Mühle unterhalten. Kurze
Zeit darauf habe Fräulein Zahn Irma nach unten geschickt, um Dörte zu holen.
Irma hat erst die Mühlepartie zu Ende spielen dürfen. Ich sagte darauf zu
Fräulein Zahn: „Irma wird gleich gehen, wir sind sofort fertig.“ Irma ging auch
nach unten, f a n d a b e r
D ö r t e n i c h t . Sie kam zurück und wollte einen Apfel in den
Ofen werfen, konnte aber die Tür des Ofens nicht aufbekommen. Irma ging dann
nach dem Abort und warf den Apfel dort hinein, während ich mit der Stütze Mohr
weiter Mühle spielte.
Staatsanwalt: Der Angeklagte gibt also zu,
zeitweilig mit Frau Eckert und Fräulein Mohr
a l l e i n im Zimmer gewesen zu
sein.
Angekl.: Jawohl. Irma war zweimal kurze Zeit
außerhalb des Zimmers, das zweite Mal, nachdem die Mende uns zu Tisch gerufen
hatte. - Vors.: Fräulein Zahn wird bekunden, daß wiederholt die Tür geklinkt
hat?
Angekl.: Ja, Irma hat zweimal das Zimmer
verlassen und ist zweimal wieder hereingekommen.
Vors.: Das kann Fräulein Zahn nicht gemeint
haben. Sie selbst hatte ja das eine Mal Irma beauftragt, Fräulein Rohrbeck zu
suchen.
Vors.: Sind Sie nicht auch im Zimmer hin- und
hergegangen? - Angekl.: Ich habe Fräulein Zahn gebeten, von den Apfelsinen, die
ich im Mühlespiel verloren hatte, zwei zurückzugeben. Bloß zu diesem Zweck ging
ich i n d a s
N e b e n z i m m e r . Darauf
habe ich gemeinschaftlich mit Irma und der Mohr weitergespielt. Das
Dienstmädchen M e n d e kam herauf und sagte: „Es ist angerichtet.“
Als wir uns zum Essen begeben wollten,
k a m u n s d i e
M e n d e a u f d e r
T r e p p e e n t g e g e n mit den Worten: D i e
K i n d e r l i e g e n u n t e n ! “ Der Angeklagte will nicht gehört haben, daß
Fräulein Rohrbeck zu Ursula, als diese sie, die Rohrbeck, aus dem Zimmer geholt
hat, sagte: „Ursel, ich komme gleich mit.“ Er will auch das Aufstehen und
Weggehen der Rohrbeck nicht gesehen haben.
Angekl.: Nachdem die Mende uns entgegenkam
mit dem Schreckensruf, sind wir alle sofort nach unten gelaufen. Ich habe im
ersten Moment das Bedürfnis gehabt, einen Arzt herbeizurufen, deshalb lief ich
zum Telephon. Unterwegs traf ich Fräulein Zahn und sagte dieser, sie solle
einen Arzt rufen lassen. Ich ging dann in das Zimmer zurück und legte Dörte
aufs Bett.
Die
Sicherung der Mordwaffe.
Der Angeklagte gibt dann eine Beschreibung
des Zimmers und seiner Einrichtungsgegenstände. Daß ich aufgeregt war, ist bei
diesem Vorfall wohl verständlich. Als der Arzt kam, habe ich gebeten: Herr
Doktor, helfen Sie Ursel zuerst. - Vors.: Wo lag die Ursula? - Angekl.: Sie
kauerte am Schrank. - Vors.: Haben Sie Verletzungen gesehen? - Angekl.: Ja. Von
einem der Anwesenden wurde dann gesagt:
D o r t l i e g t d i e
P i s t o l e . - Vors.: Haben
Sie die Pistole aufgehoben? - Angeklagter: Ich glaube, daß ich sie aufgehoben
und auf einen in der Nähe stehenden Rohrplattenkoffer gelegt habe.
Vors.: H a b e n
S i e d i e P i s t o l e g e -
o d e r e n t s i c h e r t
? - Angekl.: Das weiß ich nicht. - Vors.: Die
Pistole soll gesichert gewesen sein! - Angeklagter: Es ist möglich, daß ich die
Pistole ganz mechanisch gesichert habe. Ich kann mich auf die Vorgänge nicht
mehr so genau besinnen. - Vors.: Wissen Sie nicht mehr, ob Sie den
Sicherungsflügel herumgelegt haben?
Angekl.: Das ist möglich, denn im Krieg ist uns ja immer und immer
wieder gesagt worden, daß man die Waffe sichern soll. - Vors.: Haben Sie sofort
erkannt, daß dies Ihre Waffe war? - Angekl.: Nein, weil ich die Pistole noch
nicht lange hatte.
Der
Brief „an Großmutti“.
Bei
der U r s u l a wurde bekanntlich eine S c h a c h t e l m i t
1 9 P a t r o n e n in einer
U n t e r b i n d e t a s c h e
und ein B r i e f gefunden. Der Brief kommt zur Verlesung. Er
lautet:
„Kleppelsdorf, 9.
Liebe Großmutti!
Sei mir nicht böse, daß ich Vati den Revolver
aus dem Schreibtisch genommen habe. Ich will Dir helfen, Du sollst Dich nie
mehr an Dörte ärgern. Als Vati Onkel Wilhelm das zeigte, habe ich zugesehen,
wie es gemacht wurde, da hab ich mir ihn nachher heimlich mitgenommen. Es grüßt
Dich und Vati. Ursel.“
Die Adresse des Briefes lautete: „ A n
G r o ß m u t t i . “
Vors.: Es soll dies derselbe Brief sein, der
schon mehrere Male von der Mohr der Großmutter gegeben werden sollte.
Vors.: Sie sollen zu Frau Eckert gesagt
haben: „ D a s o l
l e s
j a m e i n e P i s t o l e s e i n . “
- Angekl.: ich habe am Nachmittag zu Frau Eckert gesagt: „An der ganzen
Sache bin ich schuld, weil ich die Pistole nicht eingeschlossen habe.“ Frau
Eckert sagte mir darauf: „Beruhige Dich doch,
D u w a r s t d o c h
d i e g a n z e Z e i t
b e i m i r .“
Der Angeklagte gibt auf Befragen zu , daß er
zu Sanitätsrat Dr. Scholz gesagt hat: „Können Sie Ursel nichts mehr geben,
damit sie wenigstens aussagen kann, was sie dazu bewogen hat?“ - Vors.: Das
soll geschehen sein, n a c h d e m Ihnen der Arzt gesagt hatte, daß hier alle
ärztliche Kunst vorüber sei. - Angekl.: Wenn schon ich auch wußte, daß Ursel
vielleicht nicht mehr zu retten sei, so hatte ich den Arzt doch gebeten, ob er
sie nicht doch wenigstens noch einmal zum Bewußtsein erwecken könne.
Ein Geschworener; Wie lange Zeit mag
vergangen sein, bis der Arzt gekommen ist? - Angekl.: Das können ungefähr 20
Minuten gewesen sein.
Justizr.
A b l a ß : Ist die Wunde und das
Gesicht der Ursula abgewischt worden? - Angekl.: Ja, die Schwester hat mit
einem nassen Handtuch der Ursula das Gesicht abgerieben.
Vors.: Wie ist es
möglich, daß die Pistole dahin gekommen ist? - Angekl.: Ich habe mir den
Revolver gekauft, weil meine alte (hier
fehlt Text, aber das Schriftbild geht ununterbrochen weiter) Ich habe die
Pistole im Schreibtisch in Ottenbüttel aufbewahrt und habe sie meinem Bruder
übergeben, der mich während meiner Abwesenheit vertreten sollte. I c h w e i ß
n i c h t , w e r
d e n R e v o l v e r m i t
n a c h K l e p p e l s d o r
f g e n o m m e n h a t .
Das
Fach, in dem der Revolver lag, hatte ich für meinen Bruder offen gelassen. I c h
h a b e U r s u l a e i n m a l
b e i d i e s e m F a c h
g e s e h e n und ihr einen
Verweis erteilt und sie aus dem Zimmer gewiesen. Ich nehme an, daß sie den R e v o l v e r a n
s i c h g e n o m m e n und mit nach Kleppelsdorf genommen hat.
Auf die Frage, wie
Ursula den Revolver wohl transportiert habe, sagte der Angeklagte: Ich weiß es
nicht. Ich vermute, daß sie ihn im Mantel getragen hat und folgere dies daraus,
daß sie sich im Kupee nicht hinlegen wollte.
Sachverständiger
Kreisarzt D r . P e t e r s - Löwenberg: War die Waffe g e l a d e n , als Sie sie dem Bruder übergaben? - Angekl.:
Ja. - Verteidiger D r . A b l a ß :
Kann der Angeklagte selbst laden? - Angekl.: Wir haben uns beide daran
beteiligt.
Darauf wird die
Verhandlung um 8 Uhr abends auf Dienstag vertagt.
*
Dienstag-Sitzung.
Zu Beginn der
heutigen Sitzung wird die kommissarische Vernehmung einer in Ottenbüttel
wohnenden Entlastungszeugin beschlossen, die an Grippe erkrankt ist. Die Zeugin
soll bekunden, daß Grupen, als ihm nahegelegt wurde, nach dem Verschwinden
seiner Frau seine Stiefkinder zu verlassen, erklärt habe: „Nein, das tue ich
nicht, ich habe die Kinder lieb.“
Auf Anregung des
Sachverständigen, Geheimrat L e s s e r
, wird beschlossen, bei der morgen in
Kleppelsdorf stattfindenden Verhandlung
S c h i e ß v e r s u c h e an
einem lebenden Tier vorzunehmen, um festzustellen, ob eine Geschwulst bei
Schußwunden nur dann entsteht, wenn der Schuß aus nächster Nähe abgegeben
worden ist.
Als Zeugen sind heute
vorgeladen: Fräulein Z a h n , Herr
V i e l h a c k ,
Rechtsanwalt D r . P f e i f f e r , Frau
E c k e r t , Frl. M o h r ,
Landgerichtsrat D u b i e l und Photograph B l u m e .
Die Erbschaft von Kleppelsdorf.
Grupen wird hierauf
aufgefordert, nochmals eine Erklärung abzugeben über seine nach der Entdeckung
des Doppelmordes angeblich geplante Aeußerung zu Frau Eckert: „Weißt Du auch,
daß Du jetzt Erbin von Kleppelsdorf bist?“
Angekl.: Ich habe
diese Aeußerung nicht getan. Wir saßen abends gegen 8 Uhr im unteren Eckzimmer.
- Vors. (unterbrechend): Sie sollen die Aeußerung bereits nachmittags 3 Uhr
getan haben. - Angekl.: Das ist ausgeschlossen. Als wir abends zusammensaßen,
hat Frau Eckert davon gesprochen, daß Herr Alfred Rohrbeck jetzt nicht mehr so
große Sorge zu haben brauche, da er Erbe geworden sei. - Vors.: Hat Frau Eckert
mit Ihnen nicht davon gesprochen, wie im Falle eines Todes der Dorothea
Rohrbeck sich die Erbschaftsverhältnisse gestalten würden? - Angekl.: Ich habe
Frau Eckert an jenem Abend gesagt, daß sie Miterbin sei, daß ich ihr aber
gesagt hätte, wieviel auf sie entfalle, ist mir nicht bekannt. - Vors.: Es wird
behauptet, daß Sie kurz nach 3 Uhr, als Amtsgerichtsrat Thomas aus Lähn am
Tatort eingetroffen war, gesagt haben: „Die ganze Schuld an dem Verhängnis
liegt daran, daß ich die Pistole nicht eingeschlossen habe.“ - Angekl.: Ja, und
Frau Eckert beruhigte mich, indem sie sagte, ich könne doch nichts dafür, daß
die Ursula die Pistole an sich genommen habe.
„ B l e i b t b e
i E u e r e r A u s s a g e ! “
Dem Angeklagten wird
vorgehalten, daß er, als der Landjäger Klopsch im Flur des Schlosses
Telefonierte, hinzugetreten sei, und als ihn der Landjäger aufgefordert habe,
wieder in sein Zimmer zurückzugehen, geantwortet habe, „ich werde wohl
bewacht?“
In der Nacht zum 15.
wurde dem Angeklagten seine Verhaftung mitgeteilt. Der Landjäger Klopsch verbot
dem Angeklagten, sich mit Frau Eckert und dem Fräulein Mohr zu unterhalten. -
Vors.: Haben Sie bei der Abführung nicht gesagt: „ W e n n
I h r a u s s a g t , d a ß
I h r w i ß t , d a ß
i c h o b e n i m
Z i m m e r w a r , k o m m e
i c h m o r g e n w i e d e r
f r e i “ ? - Angekl.: Ich habe
nur gesagt, daß sich meine Unschuld sicherlich in einigen Tagen herausstellen
wird. - Vors.: Am nächsten Tage wurden Sie vom Gefängnis in Lähn wieder nach
Kleppelsdorf zurück- und von dort nachmittags nach Hirschberg gebracht. Da
haben Sie vom Landjäger Klopsch verlangt, sich von Frau Eckert und der Irma verabschieden
zu dürfen. - Angekl.: Ich bin mir nicht bewußt, daß ich das verlangt habe. Man
hat mich aber unten zum Abschied erwartet. - Vors.: Sie sollen beim Abschied
gesagt haben: B l e i b t b e i
E u e r e r A u s s a g e ! - Angekl.: Das ist möglich! - Vors.:
Landjäger Klopsch soll Ihnen verboten haben, von der Sache mit Ihren
Angehörigen zu sprechen. Dieses Verbot sollen Sie aber nicht beachtet, Sie
sollen trotzdem weiter gesprochen haben, und zwar in P l a t t d e u t s c h . - Angekl.: Es ist möglich, daß ich mit
Fräulein Mohr plattdeutsch gesprochen habe; sie solle sich vollkommen an die
Wahrheit halten und auch sagen, daß wir uns näher gestanden haben.
Vors.: Sie sollen vor
Ihrem Transport nach Hirschberg den Amtsgerichtsrat Thomas gefragt haben, ob
Frau Eckert, Fräulein Mohr und die kleine Irma bei ihrer Angabe bleiben, daß
Sie d i e g a n z e
Z e i t n i c h t v o n
I h r e m T i s c h e w e g g e g a n g e n seien? - Angekl.: Eine solche Frage hätte
ich nur stellen können, wenn mir bekannt geworden wäre, daß eine neue
Vernehmung der Drei stattgefunden hat, ich habe aber davon nichts gehört.
Ein Heiratsantrag?
Vors.: Nun will ich
Ihnen die bestimmte Frage vorlegen: Haben Sie jemals Fräulein Dorothea Rohrbeck
einen Heiratsantrag gemacht? - Angekl. (mit Entschiedenheit): Nein. - Vors.: Es
werden aber Zeugen auftreten, die bekunden werden, daß Fräulein Rohrbeck ihnen
mitgeteilt und auch geschrieben habe, daß Sie ihr einen Heiratsantrag gemacht
haben. - Angekl.: Ich bin fest überzeugt, daß dies die Zeugen nicht bekunden
können. Es wird ja auch möglich sein, einen solchen Brief, wenn er existiert,
vorzulegen. - Vors.: In der Voruntersuchung ist festgestellt worden, daß
Fräulein Rohrbeck der Oberschwester Grube, dem Frl. Zahn und auch Herrn Dr.
Baier Mitteilungen von Ihren Heiratsanträgen gemacht hat. - Angekl.: Einen
feststehenden Heiratsantrag habe ich Dörte Rohrbeck nicht gemacht. Ich habe
mich nur bereit erklärt, dem Fräulein Rohrbeck auf ihre Bitten hin meine
Unterstützung zuteil werden zu lassen, aber einen Heiratsantrag wollte ich
daraus nicht verleiten.
Ursula.
Sachverständiger
Geheimrat D r . L e s s e r
wünscht Aufklärung über das Temperament der Ursula Schade und ihr
Verhältnis zu dem Angeklagten. Der Angeklagte erklärt, Ursula sei häufigem
Stimmungswechsel unterworfen gewesen. Er habe schon 1919 von ihr den Eindruck
gewonnen, daß sie zu Schwermut neide, Zeitweise sei sie auch lustig gewesen.
Ueber das Verhältnis
der Dorothea Rohrbeck zu ihrer Großmutter Eckert äußert sich der Angeklagte
dahin, daß, wenn der Großmutter das Benehmen der Dörte nicht gefallen habe,
dies auf Fräulein Zahn zurückzuführen sei. - Vors.: Wenige Tage vor der Tat
soll eine Unterhaltung über das Verbleiben der Ursula auf Schloß Kleppelsdorf
stattgefunden haben. - Angekl.: Fräulein Zahn hat gesagt, die Kinder könnten in
Kleppelsdorf bleiben. Sie hat jedenfalls angenommen, daß dann die Kündigung vom
Vormund nicht durchgeführt werden würde.
Hypnose?
Verteidiger D r . A b l a ß : H a t
d e r A n g e k l a g t e s i c h
j e m a l s m i t H y p n o s e b e s c h ä f t i g t ? - Angekl.:
N e i n , n i e m a l s !
Der Schütze Grupen.
Vors. zum Angeklagten:
Sind Sie ein guter Schütze? - Angekl.: Ich habe vor meiner Militärzeit kein
Gewehr in Gebrauch genommen. Im Felde wurde ich mit dem Infanteriegewehr
ausgebildet und nachher habe ich in Itzehoe einen Revolver gehabt. Man kann
annehmen, daß ich verhältnismäßig gut schieße. Ich bin Ehrenmitglied der Schützengilde
in Ottenbüttel und habe erste und zweite Preise bekommen. - Vors.: Haben Sie
sich im Pistolenschießen geübt? - Angekl.: Davon ist mir nichts bekannt.
Ein Geschworener: War
Ursula Schade Linkshänderin? - Angekl.: Nein, Rechtshänderin.
Die Verhandlung
wendet sich nunmehr dem zweiten Teil der Anklage, dem von Grupen an seiner
Stieftochter verübten S i t t l i c h k
e i t s v e r b r e c h e n zu.
Die O e f f e n t l i c h k e i t wird während dieses Teiles der
Verhandlung a u s g e s c h l o s s e n
. Der Antrag des Staatsanwalts, die
Presse zuzulassen, wurde vom Gerichtshof abgelehnt. Auch die Pressevertreter
müssen den Saal verlassen.
(Fortsetzung folgt.)
Donnerstag, den 8. Dezember 1921, „Der Bote
aus dem Riesengebirge“
Der
Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.
Beendigung
der Vernehmung Grupens.
Frl.
Zahn als Zeugin.
Hirschberg, 7. Dezember 1921.
Am Dienstag wurde die Vernehmung des
Angeklagten Grupen zu Ende geführt. Der Eindruck, den man zu Anfang seiner
Vernehmung von ihm erhalten und den wir gestern geschildert, bleibt weiterhin
bestehen. Mit größter Spannung sah man am Dienstag nachmittag der Vernehmung
einer Hauptzeugin, der Erzieherin Fräulein
B e r t h a Z a h n , entgegen. Sie macht ihre Aussagen mit großer
Sicherheit, so weit ihr Gedächtnis reicht. Besonderes Interesse beanspruchten
einmal ihre Angaben über die angesichts des großen Vermögens der Dorothea
Rohrbeck geradezu empörend geringen Mittel, welche dieser und ihrer Erzieherin
zur Bestreitung des größten Teiles des Haushalts zur Verfügung gestellt worden
waren, und dann die Inszenierung der Reisen, zu denen Grupen die beiden Damen
unter Anknüpfung an ihre Geldverlegenheiten zu bestimmen wußte. 100 bis 150
Mark wöchentlich erhielt die Millionenerbin von Kleppelsdorf zur völlig ungenügenden
Bestreitung von Ausgaben, die jeder noch so wirtschaftlich denkende Mensch
unter diesen Umständen für höchst bescheiden und selbstverständlich halten
mußte. Der Vorsitzende, dessen Verhandlungsführung ihm bereits allgemeine
Sympathien verschafft hat, nahm auch Gelegenheit, diesen Punkt besonders zu
unterstreichen. Das Kapitel „Konfirmationskleid“ insbesondere ist schwer zu
begreifen. Daß der Angeklagte über manche Aussagen von Frl. Zahn weinig erbaut
ist, erscheint nahe liegend, indessen weiß er sich zu beherrschen. Ungeklärt
bleiben die Gründe, die Grupen veranlaßt haben, die beiden Kleppelsdorfer Damen,
angeblich um ihnen Geld zu geben, nach Berlin gelockt und von dort nach Hamburg
und Kiel, um den Ausdruck des Vorsitzenden zu gebrauchen, „verschleppt“ hat und
sie dann dort unter der falschen Angabe, sein Vermögen verloren zu haben,
plötzlich allein hat sitzen lassen. Zwischen den Aussagen Grupens und denen des
Frl. Zahn über diese dunklen Vorgänge klaffen mancherlei Widersprüche. Bis zum
Hauptereignis am Mordtage sind die Aussagen von Frl. Zahn am Dienstag noch
nicht vorgedrungen. am heutigen Mittwoch finden Besichtigungen und
Verhandlungen in K l e p p e l s d o r
f statt, worauf die Vernehmung von Frl.
Zahn am Donnerstag fortgesetzt werden dürfte.
Wir berichten über den weiteren Verlauf der
Verhandlung:
Die Verhandlung wendet sich nunmehr dem
zweiten Teil der Anklage, dem von Grupen an seiner Stieftochter verübten S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e
n unter
Ausschluß
der Oeffentlichkeit
zu. Grupen bestritt das ihm zur Last gelegte
Sittlichkeitsverbrechen an der 13 Jahre alten Stieftochter Ursula. Es steht
andererseits fest, daß die Ursula schwer geschlechtskrank war und auch der
Stiefvater ein Leiden hatte. Grupen konnte einen der Aerzte, wo das Kind in
Hamburg behandelt wurde, nicht näher bezeichnen. Ein anderer Arzt, Dr. Georg
Reyer-Hamburg, ist als Zeuge zur Stelle. Grupen behauptet im übrigen, daß die
Mutter das Kind anormal behandelt habe, was wohl ein Grund für ihr späteres
Verschwinden sei.
Grupens
Vermögensverhältnisse
werden nach Wiederherstellung der
Oeffentlichkeit erörtert. Der Angeklagte, der bekanntlich das Maurerhandwerk gelernt
hat, macht folgende Angaben: Sein erstes Geld verdiente er 1913 als Bauführer;
er habe damals sparsam gelebt und etwas zurückgelegt. 1919 erhielt er das
väterliche Grundstück in Haseldorf zum Geschenk, wogegen er sich zur Zahlung
einer jährlichen Rente von 1000 Mk. am seine Eltern verpflichtete. Auf der
Vulkanwerft hat er sich insofern gut gestanden, als er sich die Lebensmittel
zum Teil von Hause kommen lassen konnte. Dann ist er einige Zeit in der
Bootsbauerei seines Vaters tätig gewesen. In jener Zeit sind ihm vom Reiche
9000 Mk. für den im Kriege verlorenen Unterarm ausgezahlt worden. Später hat er
durch Gutachten bei Grundstücksverkäufen Nebenverdienste gehabt. Als er Frau
Schade heiratete, hatte er ungefähr 20 000 Mark Vermögen.
Vors.: Sie haben aber in Hamburg
verschiedentlich Darlehen aufgenommen. - Angekl.: Ja, der plötzlichen Verlegenheiten
habe ich mir einmal 700 und dann 2000 Mk. geborgt. - Vors.: Haben Sie sich vor
der Verlobung mit Frau Schade als sehr begütert ausgegeben? - Angekl.: Ich habe
nur den Eindruck erweckt, daß ich meine Zukunft nicht besorgt zu sein brauche.
- Der Angeklagte gibt eine eingehende Darstellung der Vermögensverhältnisse
seiner Frau und seiner Schwiegermutter, der Frau Eckert. Mit Angaben über seine
persönlichen Vermögensverhältnisse ist er sehr zurückhaltend.
Vors.: Sie haben Wertpapiere Ihrer Frau
verkauft. - Angekl.: Ich habe mich dazu für berechtigt gehalten, weil meine
Frau mein Vermögen mitgenommen hat. - Vors.: Haben Sie nicht auch den B r i l l a n t s c h m u c k I h r e r
S c h w i e g e r m u t t e r
verkauft? - Der Angeklagte setzt auseinander, daß er den Schmuck bei
einem Pfandleiher in Hamburg nach seiner Meinung für 5000 Mk. verpfändete; er
wollte den Schmuck wieder abholen und dann auf der Bank deponieren. - Vors.:
Nachdem Ihre Frau fort war, haben Sie auch ihr Pelzjackett und ihren
Regenmantel in Hamburg verpfändet. - Der Angeklagte bestätigt dies. - Staatsanwalt: Wie kommt es denn, daß der
Angeklagte den Regenmantel versetzen konnte; seine Frau hatte ihn doch bei
ihrem Verschwinden angehabt. - Angekl.: Meine Frau hatte bei der Abreise den
Regenmantel, der aus Zeltbahnstoff gefertigt war, über die guten Kleider
angezogen. Ich sagte bereits, daß sie den Pelzkragen im Wagen zurückgelassen hatte.
Beim Ausziehen des Regenmantels hat sie jedenfalls den Pelzkragen abgelegt und
ihn vergessen. - Staatsanwalt: Bisher hat der Angeklagte nie etwas davon
gesagt, daß auch der Regenmantel im Wagen zurückgelassen worden ist. Ich werde
auch unter Beweis stellen, daß der Angeklagte auch die R i n g e
seiner verschwundenen Frau verkauft hat. - Auf die Frage des Vorsitzenden
gibt der Angeklagte zu, das S i l b e
r seiner Frau, etwa 5 bis 8 Kg.,
verkauft zu haben.
Es tritt eine Mittagspause ein.
In der Nachmittagssitzung bemühen sich der
Vorsitzende und der Staatsanwalt, vom dem Angeklagten eine bestimmte …rung über
seinen j e t z i g e n V e r m ö g e n s s t a n d zu erhalten. Der Angeklagte erklärt,
hierüber genaue Auskunft nicht geben zu können, fügt aber hinzu, daß er die
Verteidigerhonorare aus eigenen Mitteln bezahle. Nach Erörterung eines
Testaments, das der Angeklagte einmal gemacht hat, wird die Vernehmung des Angeklagten
geschlossen und in die
Beweisaufnahme
eingetreten. Als erste Zeugin wird
d i
e E r z i e h e r i n F r ä u l e i n B e r t a
Z a h n
aufgerufen. Die 42jährige Dame erscheint in
Trauerkleidung. Sie bekundet:
Im Frühjahr 1905 kam ich als Hausdame und
gleichzeitig als Erzieherin der Dorothea Rohrbeck, die 1 ¼ Jahr alt war, nach
Kleppelsdorf. Damals lebte Herr Rohrbeck noch. Dörtes Mutter war ein
Vierteljahr nach der Geburt ihres Töchterchens gestorben. Vorher war Frau
Eckert ein Jahr im Hause. Ich hatte das Gefühl, daß Frau Eckert mich nicht gern
kommen sah. 1914 erkrankte Herr Rohrbeck. Wir begleiteten ihn nach Schandau in
ein Sanatorium, wo ich seine Pflege übernahm. Als er starb, hinterließ er als
Erbin seine einzige Tochter.
Das
Erbe
bestand aus dem Rittergut Kleppelsdorf nebst
Vorwerken sowie einer Besitzung in Tempelhof. Etwa 1 300 000 Mk. Barvermögen
waren vorhanden. Herr Rohrbeck hatte in seinem Testament vom März 1912
Herrn V i e l h a c k a l s
V o r m u n d seiner Tochter
eingesetzt. Das Testament enthielt auch einen Nachtrag ungefähr folgenden
Inhalts: „Ich bestimme hierdurch, daß über die Ausbildung, Erziehung und den
Aufenthalt meiner Tochter Dorothea lediglich Fräulein Zahn zu bestimmen hat und
zwar im Einverständnis mit dem Vormund.“
Verteidiger Dr. A b l a ß :
Es wird behauptet, daß Frau Eckert befürchtete, daß Herr Rohrbeck Sie
heiraten würde. Frau Eckert soll aber gewollt haben, daß ihre Tochter Gertrud,
die spätere Frau Schade, Herrn Rohrbeck heirate. - Frl. Zahn: Ja. Frau Eckert
hatte den Wunsch. So viel ich weiß, bestand auch eine ganz kurze
Verlobungszeit. - Dr. Ablaß: Frau Eckert soll auch die Befürchtung gehabt
haben, daß Ihr Bruder die Dörte heirate. Als Herr Rohrbeck erkrankt war, soll
Frau Eckert Ihnen vorgehalten haben, Sie sollten keine Erbschleicherei trieben.
- Frl. Zahn: Frau Eckert hat mir allerdings Erbschleichereigeschichten erzählt,
ich entnahm daraus, daß sie es nicht ohne Absicht getan hat. - Verteidiger
Dr. M a m r o t h : Ist es richtig, daß davon die Rede war, daß
Herr Rohrbeck Sie heiraten wollte. - Fräulein Zahn: Jawohl. In Schandau äußerte
er den Wunsch, daß wir als Verheiratete nach Hause fahren möchten. Darauf habe
ich gesagt, ich würde es gern tun. - Verteidiger Dr. A b l a ß :
Nach dem Tode des Herrn Rohrbeck soll Frau Eckert Sie sehr unfreundlich
empfangen haben, weil Herr Rohrbeck ihr sein Erbe ausgesetzt hatte. - Frl. Z a h n :
Ja. - Vors.: Sie kamen mit dem Vormund in Differenzen. - Frl. Zahn: Den
ersten Anlaß hierzu gab der Wunsch des Vormundes, die Hauslehrerin zu entfernen,
weil er deren Unterricht für Dörte nicht haben wollte. Ich war damit nicht
einverstanden, denn es war eine vorzügliche Lehrerin, und auch sonst eine angenehme
Hausgenossin. - Vors.: Der Vormund hat Ihnen auch den Vorwurf gemacht, daß Sie
zu viel Geld ausgeben. - Frl. Zahn: Ja. Er setzte
das
Haushaltsgeld
auf m
o n a t l i c h 1 0 0 0 M a r k
fest. Davon mußte ich sämtliche Ausgaben des Haushaltes, der Erziehung,
des Unterrichts und die Gehälter der Hausangestellten, die Kleidung, die Reisen
usw. bezahlen. Die Lehrerin bekam damals, es war im Sommer 1916, 100 Mark
monatlich. Die Gehälter machten die Hälfte meiner gesamten Ausgaben aus. -
Vors.: Sie haben früher gesagt, Fräulein Rohrbeck sei nicht ganz gesund
gewesen, wegen ihrer Schwäche hätte sie viel Fettes bekommen müssen. - Frl.
Zahn: Das ist richtig. Obwohl die Lebensmittelpreise stiegen, wurden meine
Ausgaben auf w ö c h e n t l i c h 1 2 0
M a r k festgesetzt. Davon
brauchte ich allerdings die Gehälter nicht zu bezahlen. Vom 1. Oktober 1920 ab
erhielten wir w ö c h e n t l i c
h s o g a r n u r
1 0 0 M a r k .
Vors.:
D i e M i l l i o n e n e r b i
n v o n K l e p p e l s d o r f e r h i e l t a l s o
w ö c h e n t l i c h 1 0 0 M a r k
f ü r d e n H a u s h a l t , und es wurde von Ihnen verlangt, d a v o n
n o c h d i e W i r t s c h a f t e r i n u n d
z w e i M ä d c h e n z u
b e z a h l e n ! - Frl. Zahn:
Die Gehälter machten monatlich 250 Mark aus, so daß mir g a n z e
1 5 0 M a r k f ü r
d e n H a u s h a l t ü b r i g
blieben.
Vors.: Wie kam der Vormund dazu, zu sagen,
daß Sie verschwenderisch gelebt hätten. - Frl. Zahn: Das weiß ich nicht. -
Vors.: Haben Sie sich nicht einmal an den Gegenvormund gewendet? - Frl. Zahn: Ja,
an Herrn B a u e r , der in den letzte Jahren Verwalter des Gutes
war. - Vors.: Es ist wunderbar, daß der Gegenvormund ein Angestellter des
Vormundes ist. - Frl. Zahn: Ich habe dies auch bei dem Vormundschaftsgerichts
zur Sprache gebracht, und da wurde mir gesagt: Sie sehen, daß es geht! Herr
Bauer hat mir mit Rat beigestanden und war sehr freundlich, als er sich noch in
Neuhof befand. Als er nach Kleppelsdorf kam, machte er mir zum Vorwurf, daß ich
nicht vorsichtig genug in meinem Verhältnis zu den Familienangehörigen des
Rohrbeckschen Hauses wäre.
Hier
e r l i s c h t p l ö t z l i c
h d a s e l e k t r i s c h e L i c h t
im Saale. Es werden Petroleumlampen herbeigebracht, die den Tisch des Gerichtshofes
und den Platz der Verteidiger spärlich beleuchten. Der Vorsitzende ordnet an,
auch für den Pressetisch Lampen herbeizuschaffen. In der Dunkelheit wird die
Verhandlung fortgesetzt.
Verteidiger Dr. A b l a ß
zu Frl. Zahn: Ist Ihnen bekannt, daß das Vormundschaftsgericht an seinem
Standpunkt festgehalten hat, daß Sie die Zerwürfnisse mit den Vormündern durch
Ihr taktloses Verhalten herbeigeführt haben. Der V o r s i t z e n d e wirft die Bemerkung dazwischen, es sei aber
auch bekannt, daß das Landgericht sich auf einen entgegengesetzten Standpunkt
gestellt habe. - Frl. Zahn: Ja, das Landgericht Hirschberg hat allen meinen
Klagen stattgegeben. - Vors.: Der Vormund hat Ihnen auch das G e h a l t
g e s p e r r t . - Frl. Zahn:
Das Landgericht hat aber im Wege der einstweiligen Verfügung angeordnet, daß
das Gehalt weiter gezahlt werden solle. - Verteidiger Dr. A b l a ß :
Diese Angelegenheit ist durch den Tod der Dörte Rohrbeck unentschieden
geblieben.
Vors.: Wie sind Sie zu den Beziehungen mit
dem Angeklagten gekommen? - Frl. Zahn: Dörte wurde 1920 konfirmiert. - Vors.:
Hatten Sie vorher etwa davon gehört, daß
F r a u S c h a d e sich mit dem Angeklagten verheiratet
hatte? Fräulein Zahn: Ja, sie hatte es
mir selbst geschrieben. Wir hatten die Verwandten gebeten, zur Konfirmation zu
kommen, aber sie sind nicht erschienen, ebenso wenig der Vormund. Wir
hatten d e n V o r m u n d g e b e t e n u m
M i t t e l z u r A n s c h a f f u n g e i n e s
Konfirmationskleides.
D a s
h a t e r z u r ü c k g e w i e s e n . Da gingen wir aufs V o r m u n d s c h a f t s g e r i c h t
, und es wurde mir gesagt, i c h
s o l l t e a u s d e n
a l t e n G e s e l l s c h a f
t s a n z ü g e n d e s V a t e r s
e i n K o n f i r m a t i o n s
k l e i d m a c h e n ! - Vors. (erstaunt): Aus den alten
Gesellschaftsanzügen des Vaters? Wer hat Ihnen das gesagt? Der Vormundschaftsrichter?
- Fräulein Zahn: Ja. Ich habe nun einen Antrag gestellt und mit Unterstützung
des Vormundschaftsrichters haben wir schließlich 800 Mark erhalten. Mit den 800
Mark habe ich nicht gereicht, denn Dörte brauchte außer dem Konfirmationskleid
ein Paar Stiefel und einige Wäschestücke, Leibwäsche hatte ich ihr selbst aus
Kinderbettwäsche gemacht. Dann wollten wir auch dem Geistlichen etwas geben,
aber
d a s V o r m u n d s c h a f t s g e r i c h t
schrieb, das sollte ich alles von dem
Haushaltsgeld nehmen. Ich habe die noch notwendigen Sachen zum Teil aus eigenen
Mitteln bestritten. - Vors.: Haben Sie sich in Ihrer Not nicht an Verwandte
gewendet? - Frl. Zahn: Ja, ich hatte an Herrn
P i n g e l geschrieben. Der hat
es nicht für richtig gefunden, daß ich mir Geld borge. Aber ich wußte nicht,
was ich machen sollte. Er hat mir auch einmal Geld geschickt. - Die Frage eines
Geschworenen, ob Frl. Zahn in ihrer Not und Bedrängnis sich auch an einen
ehemaligen Offizier in Lähn gewandt habe, ihr ein Darlehen gegen Bürgschaft zu
verschaffen, bejaht die Zeugin, und fährt fort: Im Juli 1920 wollten wir eine
Verwandtenreise antreten, weil Dörte noch niemals zu ihren Verwandten gekommen
war, außer zu ihrer Großmutter in Berlin.
W i r b a t e n d e n
V o r m u n d u m R e i s e g e l d . D a s
l e h n t e e r a b .
Da wandten wir uns an den jungen Herrn Pingel, der uns 2000 Mark sandte.
Am Tage vor der Beerdigung Dörtes hat sich der junge Herr Pingel, der aktiver
Offizier in Hannover war, erschossen.
In
Itzehoe und Ottenbüttel.
Wir fuhren am 27. oder 29. Juli zunächst zur
Großmutter nach Itzehoe. Wir wurden sehr herzlich, ganz gegen mein Erwarten,
aufgenommen. Am nächsten Tage entschloß sich Grupen, mit uns einige Tage nach
Hamburg zu fahren, um uns die Stadt zu zeigen. Auch damit waren wir gern
einverstanden. Ich hatte den Eindruck, von Grupen, daß an Geld nicht gespart zu
werden brauchte. Dörte bekam gleich am ersten Morgen in Itzehoe ein Paar
Stiefel. Ich sollte mir auch Geschenke
wünschen. Als ich mir in Hamburg eine Bluse kaufte und sie an der Kasse bezahlen
wollte, bat mich der Angeklagte, ihm die Freude zu bereiten, die Bluse zu
bezahlen.
Vors. (zur Zeugin): Sind Sie mit Dörte und
mit dem Angeklagten in der Zwischenzeit nicht mal nach einem anderen Orte
gefahren? - Frl. Zahn: Ja, nach Ottenbüttel, wo uns der Angeklagte sein Landgut
zeigen wollte. Es war das letzte Haus am Ende der Dorfstraße. Ich wunderte
mich, daß Frau Grupen in dieser Einsamkeit leben wollte, noch mehr aber
darüber, daß ein seinen Beruf ausübender Mann dorthin gehen konnte.
Vors.: Hat Ihnen der Angeklagte in
Ottenbüttel nicht erzählt, es wäre sein Wunsch, daß Sie seine Frau würden. -
Frl. Zahn: Ich weiß nicht, ob das in Ottenbüttel war. - Vors.: Hat der
Angeklagte in Hamburg nicht erzählt, er habe einen r e i c h e n O n k e l
i n A m e r i k a , den müsse er spätestens in den nächsten
Tagen aufsuchen wegen Erbschaftsverhältnissen, und es wäre sehr schön, wenn Sie
ihn begleiten würden. - Frl. Zahn: Ja, davon hat er gesprochen, aber er wollte
auch seine Frau mitnehmen. - Angekl.: Wir haben damals am Hamburger Hafen von
den schlechten Verhältnissen in Deutschland gesprochen; daß ich einen direkten
Vorschlag gemacht habe, nach Amerika zu fahren, ist nicht der Fall. - Frl.
Zahn: Es schien aber ein fester Plan des Angeklagten zu sein, denn er sagte,
daß eine Erbschaft geregelt werden müsse.
Vors.: Hat Ihnen der Angeklagte oder seine
Frau nicht einen Gegenbesuch versprochen? - Frl. Zahn: Ja, beide wollten im
September kommen. Anfang September kam aber nur Grupen. Er sagte, seine Frau
wäre mit dem Umzuge nach Ottenbüttel noch nicht fertig. In Kleppelsdorf gab er
mir 1000 Mark zur Bezahlung von zwei dringenden Rechnungen. Später habe ich
Geld in Raten von ihm erhalten, zusammen 4200 oder von 4800 Mark. Grupen wollte
sich als Sommerfrischler in Kleppelsdorf niederlassen und sich dem F r l .
B a u e r nähern, um die
Verhältnisse der beiden Vormünder zu erkunden. Nach zwei Tagen fuhr er aber
wieder weg. Er sagte, in nächster Zeit würde seine Frau kommen. Am 20.
September erhielt ich auch die Nachricht:
„ T r u d e g e s t e r n a b g e r e i s t . “ Wir erwarteten Frau Grupen am 20.
nachmittags 4 Uhr in Hirschberg. Da sie aber nicht eintraf, nahmen wir an, daß
sie sich in Berlin verweilt habe und später kommen würde. Auf unsere Mitteilung
an Grupen, daß seine Frau nicht gekommen sei, erhielten wir von ihm die
telegraphische Antwort: „ K o f f e
r n o c h h i e r . “
Einige Tage später erschien der Angeklagte wieder in Kleppelsdorf und
erzählte mir, daß seine Frau häufig von Amerika gesprochen habe und
wahrscheinlich nach Amerika gegangen sei. Er brachte Abschiedsbriefe seiner
Frau zum Vorschein, darunter ein an Dörte gerichtetes Schreiben. Der
Vorsitzende ordnete die Verlesung des Briefes an, welcher lautet:
„Ottenbüttel, 12. 9. 1920.
Liebe Dörte!
Ich sende Dir vor meiner Abreise nach Amerika
noch einen Abschiedsgruß, und wünsche Dir, daß sich Dein Leben in Zukunft
sonnig gestalten möge. Es wäre wohl das Beste ein lieber, guter Mann, der Dir
mit Rat und Tat zur Seite steht. N i m
m D i r O n k e l
P e t e r a l s g u t e s
B e i s p i e l , der sehr viel
verloren hat und jetzt viel verlieren wird und dennoch alle Lebensstürme
überwindet.
Die
herzlichsten Grüße von Deiner
Tante Gertrud.“
Es werden dann die
Abschiedsbriefe
der Frau Grupen
verlesen, die in der Kassette des Angeklagten
gefunden wurden. Sie sprechen sämtlich von der Absicht der Frau, nach Amerika
zu gehen.
Diese Schriftstücke sollen den Schreibsachverständigen
zur Begutachtung vorgelegte werden, ob sie von der Hand der Frau Grupen
herrühren. Auf Antrag des Staatsanwalts wird zu dieser Begutachtung auch der
Geheimrat Dr. M o l l hinzugezogen, um festzustellen, ob, wenn
Frau Grupen diese Briefe selbst geschrieben habe, die Schreiberin sich nicht in
einem Zustande der „ s e e l i s c h e
n U n f r e i h e i t “ gefunden habe.
Bei ihrer weiteren Vernehmung bekundet
Fräulein Zahn noch: Bald nachdem Frau Grupen verschwunden war, kam Grupen nach
Kleppelsdorf. Er erzählte, seine Frau habe ihm gesagt, sie sei am Vormittag des
19. September von Kleppelsdorf angerufen worden, sie solle bald nach dem Gelde
dort erscheinen. Infolgedessen sei die Frau schon am Nachmittag abgefahren und
habe sich offenbar sehr viel Geld eingesteckt. Von Kleppelsdorf ist aber Frau
Grupen nicht angerufen worden. Der Angeklagte war anscheinend über das
Verschwinden seiner Frau sehr gefaßt. Als Grupen wegfuhr, b a t
e r , d a ß D ö r t e
m i t f a h r e damit sie die Großmutter über den Verlust der
Tochter tröste. Da mir immer der Vorwurf gemacht worden war, daß ich Dörte der
Großmutter entfremde, ließ ich Dörte allein mitfahren. Auch tat uns Frau Eckert
leid, weil sie die Tochter verloren hatte. Allerdings bin ich dann auf die
Bitte der Dörte Rohrbeck nachgefahren.
Die Zeugin schildert dann
die
Fahrt mit Grupen und Dörte
von Berlin aus nach H a m b u r g und die gestern mit dem Angeklagten
eingehend geschilderte F a h r t a u f
d e m A l s t e r b a s s i n
. Sie hat zunächst den Eindruck gehabt,
daß sie der Angeklagte mit dem Rudern gegen die Dampferwellen nur aus Spaß
ängstigen wollte. Deshalb habe sie auch Dörte das zweite Mal allein mit Grupen
fahren lassen. Nach dieser zweiten Fahrt habe ihr allerdings Dörte gesagt,
daß s i e e i n e
f u r c h t b a r e A n g s t g e h a b t
u n d G r u p e n e i n
g a n z m e r k w ü r d i g e
s W e s e n g e z e i g t h a b e .
Aber damals sei auch Dörte noch der Ansicht gewesen, daß Grupen diese
Gefahr nicht absichtlich herbeigeführt habe. Im November hat allerdings
dann D ö r t e gesagt:
„Paß
auf, Grupen trachtet uns nach dem Leben.“
In Hamburg erklärte plötzlich der Angekl., er
müsse nach Kiel zu seiner kranken Mutter fahren, er werde das Geld, das er den
Damen versprochen hatte, mit der Post senden. Dieses Geld ist aber nie
angekommen, denn der Angeklagte hat es (wie er auch gestern zugegeben hat), gar
nicht abgesandt. Trotzdem hat er dann noch immer behauptet, er habe den Betrag
auf der Bank erhoben und bei der Post eingezahlt, es müsse also auf der Post
verloren gegangen sein.
Die
zweite Reise nach Hamburg.
Wie die Zeugin weiter behauptet, sandte Grupen
am 1. November telegraphisch 500 Mk. mit der Aufforderung, am nächsten Tage
nach Berlin zu kommen. Auf dem Görlitzer Bahnhof kam Grupen sehr spät an, als
die Damen schon in der Stadt Quartier suchen wollten. Es war im Auto und
nötigte die Damen fast gewaltsam zum Einsteigen. Unterwegs erklärte der
Angeklagte, sie m ü ß t e n s o f o r t
m i t n a c h H a m b u r g und von dort nach I t z e h o e fahren, da der dortige Rechtsanwalt für ihn
eine „Vollmacht zu einem Familienrat“ ausstellen solle, was aber „nur in ihrer
Gegenwart“ geschehen könne. Auf dem Lehrter Bahnhof stiegen sie in ein Abteil,
das verschlossen war, das Grupen aber öffnete, sodaß die drei in einem Abteil
allein waren, was der Zeugin nicht gefiel. Als Grupen mit Dörte allein reiste,
hat er dasselbe getan, er wurde aber damals von dem Schaffner aus dem Abteil
verwiesen. In Hamburg erklärte Grupen, daß er in geschäftlicher
Angelegenheit n a c h K i e l
fahren müsse, und er forderte sie zur Mitfahrt auf, damit sie sich
allein in Hamburg nicht zu sehr langweilten. Der Angeklagte bleibt dabei, die
Damen nach Hamburg nur deshalb mitgenommen zu haben, weil er nur dort das Geld
flüssig machen konnte und die Damen nicht die Zusendung des Geldes durch die
Post oder die Bank gewünscht hätten.
Vors.: Der Angeklagte behauptet, daß er
deshalb mit Ihnen nach Kiel gefahren sei, weil ihm der Aufenthalt mit Ihnen in
Hamburg zu teuer gewesen, da Sie zu hohe Ansprüche stellten. - Die Zeugin
bestreitet dies entschieden.
Auf der Fahrt nach Kiel waren die Drei in
vergnügter Stimmung und Dörte schrieb für das bevorstehende Weihnachtsfest
einen Wunschzettel an Grupen auf, der aber, wie der ganze Inhalt erweist, nur
scherzhaft gemeint war. Demgegenüber behaupten der Angeklagte und die Verteidiger,
daß es sich dabei um ernsthafte Wünsche der Dörte gehandelt habe, was aber die
Zeugin ganz entschieden bestreitet. Es hat den Damen auch mißfallen, daß Grupen
den Wunschzettel mit auffälliger Hast zu sich steckte.
Auf Veranlassung der Verteidigung wird hier
noch einmal die Frage der angeblich hohen
A n s p r ü c h e der beiden
Damen und ihr Geldverbrauch erörtert. Die Zeugin Zahn erklärt, daß sie 9 0 0 0
M a r k S c h u l d e n gemacht habe, sie weist aber im einzelnen
nach, daß es sich dabei um durchaus notwendige Ausgaben handelte, deren Höhe
durchaus nicht zu beanstanden ist.
In der
Hasselbrookstraße.
Frl. Zahn erzählt dann weiter: Als wir von
Kiel nach Hamburg zurückgekehrt waren,
f ü h r t e u n s G r u p e n
i n s e i n e P r i v a t w o h n u n g , was Dörte und mir nicht gefiel, aber wir
fürchteten, daß wir die Hotelrechnung nicht würden bezahlen können, wenn wir
seiner Einladung nicht folgten. Die Pension Hasselbrookstraße 37 machte auf die
Damen einen sehr befremdenden und unheimlichen Eindruck. Als Grupen dort in der
Nacht nach Hause kam, klopfte er an unsere Zimmertüre, wir haben aber nicht
geantwortet. Am nächsten Morgen sandte er mir eine Visitenkarte, auf der stand,
daß er zu einer wichtigen Besprechung müsse. Später erhielt dann Dörte einen
Brief von ihm, in dem er mitteilte, daß er
s e i n g a n z e s V e r m ö g e n v e r l o r e n habe und uns nicht mehr helfen könne.
(Grupen gibt übrigens zu, daß diese Schilderung stark übertrieben war.) Zweihundert
Mark für unsere Rückreise hatte er beigelegt. Wir fuhren sofort nach
Kleppelsdorf zurück und bedauerten Grupen. Wir boten auch Grupen und der
Großmutter mit den Kindern Wohnung auf Kleppelsdorf an, bis Grupen sich wieder
eine neue Existenz gegründet haben würde. Die Großmutter schrieb aber, sie
könnte jetzt im Winter nicht reisen und die Kinder müßten in die Schule gehen.
Von Grupen selbst hörten wir lange Zeit nichts, bis wir erfuhren, daß er vom
Oberlandesgericht
als
Gegenzeuge gegen uns
benannt sei. Seitdem hatten wir natürlich
eine große Abneigung gegen Grupen, der sich bis dahin als unser Helfer
aufgespielt hatte. Dörte hatte allerdings
s c h o n i m m e r e i n e
A n t i p a t h i e g e g e
n G r u p e n , und sie erklärte wiederholt, daß ihr sein
ganzes Verhalten unsympathisch sei.
Angekl.: Wie kommt es dann, daß sich sowohl
Fräulein Zahn wie Fräulein Rohrbeck gegenüber Bekannten sehr lobend über mich
ausgesprochen haben. - Verteidiger Dr. Mamroth: Widerstrebte es eigentlich nicht dem
Fräulein Rohrbeck und Ihnen, von einem Manne, der Ihnen so unsympathisch war,
Geld anzunehmen und darum zu bitten? - Zeugin: Das Geld hat uns Grupen
angeboten. Ich kann nur wiederholen, daß der Angeklagte dem Fräulein Rohrbeck d i r e k t
u n h e i m l i c h war und sie
wiederholt äußerte, daß sie3 das Gefühl habe, daß er i h r
n a c h d e m L e b e n
t r a c h t e . - Verteidiger
Dr. Mamroth: Vielleicht begann Ihre Antipathie erst, als Sie erfuhren, daß der
Angeklagte als Gegenzeuge gegen Sie in Betracht kam. - Zeugin: Nein, Dörte
hatte schon immer eine Abneigung gegen Grupen.
Der
letzte Besuch auf Kleppelsdorf.
Im Januar schrieb Grupen zu unserem Erstaunen
einen Brief. Er meldete sich für den 9. Februar an, es kam aber nicht nur Grupen
und die Großmutter, sondern auch noch die Stütze Mohr und die beiden Kinder
Irma und Ursula. Da dieser Besuch aber eher eintraf, als angenommen, waren die
Vorbereitungen für die Aufnahme nicht getroffen und die Stimmung war deshalb
kühl. Mit dem
Besuch
beim Anwalt
wollte Grupen wahrscheinlich den schlechten
Eindruck verwischen, den die Kenntnis von seinem Gegenzeugnis in Kleppelsdorf
gemacht hatte. Von einer eidesstattlichen Versicherung wurde nicht gesprochen.
Grupen bekundete bei dem Anwalt Dr. Pfeiffer, daß er von den Angaben im
Schriftsatz des Oberlandesgerichts nichts wüßte. Er machte dann den Eindruck,
als sei ihm eine große Last von der Seele genommen, als habe er sich in unseren
Augen wieder rehabilitiert. Bis zum 14. Februar war er fast ständig im Hause.
Er äußerte, es sei ihm unangenehm, daß man in Lähn von dem Verschwinden seiner
Frau wüßte, denn man würde sagen, er sei schuld daran. In diesen Tagen kam viel
Besuch nach Kleppelsdorf, und Grupen hielt sich dabei immer i m
H i n t e r g r u n d e , blieb
nur auf unseren besonderen Wunsch da oder kam wieder dazu. Am Sonntag
veranlaßte er uns zu einem Besuch der Lehnhausburg und wollte mit uns auf den
Turm. Wir erwiderten, dazu müsse man erst den Schlüssel aus dem Schlosse holen,
aber Grupen verschaffte sich gewaltsam Zugang zum Turm, was uns wegen unseres
Verkehrs mit der Familie Haugwitz sehr unangenehm war, so daß Dörte und ich
zurückblieben.
Ein G
e s c h w o r e n e r fragt, auf welche
Weise sich Grupen denn den Zugang zum Turme verschafft habe, denn es sei schon
das zweite Mal, daß man von einem gewaltsamen Oeffnen verschlossener Türen
durch ihn höre. - Fräulein Zahn weiß nichts darüber. Er hat gelegentlich
gefragt, ob wir denn immer unsere Zimmer zuschlössen? Wir haben seitdem stets
die Haustüren, die Schlafzimmertüren und die Türen zu den Nachbarzimmern neben
unseren Zimmern geschlossen gehalten. Grupen hat gesagt, er könne jede Tür
aufmachen, ein Fußtritt, und sie sei offen. - Der Angeklagte behauptet, zum
Turme in Lehnhaus führe eine Gittertür, durch die man hindurchgreifen könne.
Angekl.: Wenn ich Fräulein Zahn so unheimlich
erschien, wie kann sie dann von einem so unheimlichen Menschen 1000 Mk.
annehmen? - Zeugin: Wenn so viel Besuch kam, wie diesmal, kommen wir mit
unserem geringen Haushaltsgeld erst recht nicht aus. Ich habe das Geld, was er
uns anbot, mehrere Tage hindurch zurückgewiesen, aber er drängte es uns
geradezu auf, und ich sagte schließlich zu, um den Besuch wenigstens möglichst
gut zu verpflegen. Aber schließlich wurde das Geld doch nicht angenommen, denn
ich wollte kein Entgeld beanspruchen, um Frau Eckert zu beweisen, daß ich nicht
die egoistische Person sei, für die sie mich hielt.
Der Vorsitzende schließt nun kurz vor ½ 9 Uhr
die heutige Sitzung. Mittwoch Besichtigung und Vernehmungen in Kleppelsdorf.
*
Lokaltermin
in Kleppelsdorf.
Lähn, 7. Dezember. (Drahtm.)
Am Mittwoch vorm. ½ 10 Uhr versammelte sich
das Schwurgericht im Hirschberger Gerichtsgebäude. Da ein Autoomnibus erst mit
einstündiger Verspätung erschien, konnte die Abfahrt erst eine Stunde später
erfolgen, so daß man in Kleppelsdorf erst um ¾ 12 Uhr ankam.
Im ersten Wagen befanden sich der Angeklagte
und mehrere Polizeibeamte. Vor dem Schlosse in Kleppelsdorf hatte sich eine
Anzahl Zuschauer eingefunden, die Grupen mit Verwünschungen empfingen.
Bei dem Eintreten in das Schloß veränderte
sich die Gesichtsfarbe des Angeklagten in ganz merklicher Weise. Die
Verhandlungen begannen dann in einem im oberen Stockwert des Schlosses
gelegenen kleinen Saale.
Grupen behauptet, den Platz 1 in der Zeit, in
der die tat geschehen ist, nicht verlassen zu haben, während die Anklagebehörde
behauptet, daß er unbemerkt von Frl. Zahn, durch das Schrankzimmer (C) das
Winterzimmer verlassen hat und auf demselben Wege zurückgekehrt ist.
Freitag, den 9. Dezember 1921, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“
Der
Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.
Die
Verhandlung am Tatort.
Hirschberg, 8. Dezember.
Die Abfahrt aller zur Gerichtsverhandlung
gehörigen Persönlichkeiten nach Kleppelsdorf am Mittwoch Vormittag vollzog sich
nicht völlig glatt, denn, wie bereits berichtet, der eine Autoomnibus erschien
erst mit einstündiger Verspätung, so daß eine Stunde der sehr kostbaren Zeit
verloren ging, und dann hatte sich diesmal doch einiges Publikum angesammelt,
welches neugierig den Wagen umdrängte, in dem sich der Angeklagte befand.
Endlich ging die Fahrt los. Nach zwei
Sitzungstagen sind die Beteiligten eines Prozesses Mitglieder einer eigenartigen,
nur durch geistige Fäden verbundene Gemeinschaft. Richter, Geschworene, der
Angeklagte, die Zeugen, Sachverständige, Berichterstatter, sind wie die Figuren
eines Schachbretts mitten in der Entwicklung eines Spiels in gewissem Sinne von
einander abhängig geworden. Der Mittelpunkt, um den sich aller Gedanken drehen,
ist der Angeklagte. Man spricht nicht mit ihm, aber beobachtet ihn in seiner
merkwürdigen, nach keiner Seite ausdeutbaren Ruhe. Das frisch gesunde Gesicht,
der jugendlich energische Mund und die beiden scharfen wachsamen Augen, - alles
strotzt von Leben und Geistesgegenwart, und ist dennoch gebändigt von einem
Willen, dem es vielleicht nicht schwer wird, fest zu bleiben. Denn die Nerven
dieses Mannes - schuldig oder nicht - sind sicherlich eisern, das hat auch
wieder der Verlauf des heutigen Tages gezeigt.
Die Wagen rollen durch die hügelige
schneefreie Landschaft, die im Frühjahr, Sommer und Herbst von so intimem
Liebreiz ist und auch heute noch, am grauen Dezembertage, seine zeichnerische
Reize aufweist. Nach einer Stunde ist Lähn erreicht und sofort auch Schloß
Kleppelsdorf. Ein paar Dutzend Dorfbewohner erwarten die Gäste, - dem
Angeklagten wird das Wort „Mörder“ nachgerufen. Alle Teilnehmer an der Fahrt
betreten das Haus, zu dem auch das Publikum in zulässigem Umfange Zutritt hat.
Noch wird das verschlossene Mordzimmer nicht betreten; man begibt sich in den
Saal des ersten Stockes, wo durch Tische und Stühle die Szenerie des Gerichtssaales
hergestellt ist. Die Gerichtspersonen ziehen ihre schwarzen Talare über Pelze
und Wintermäntel. Kurz konstituiert sich die Sitzung, und man begibt sich
wieder in das unsere Erdgeschoß, zunächst in das Speisezimmer, das auf unserer
in der Sonntagsnummer veröffentlichten Skizze als Gartenzimmer bezeichnet ist,
dem die Veranda vorgelagert ist. Dann wird das Mordzimmer aufgeschlossen, das
vom Tage der Tat an bis heute unter Verschluß geblieben ist.
Im
Mordzimmer.
G r u p e n
ersucht beim Betreten des Zimmers den Vorsitzenden, ihn gegen eine
Zuhörerin zu schützen, die ihn „Mörder“ genannt hatte. O. L. R. K r i n k e
entsprach sofort seinem Wunsche mit den Worten: „Die Tat ist furchtbar,
die Erregung verständlich, eine Angeklagter ist aber noch kein Verurteilter.“
Im Zimmer liegen noch die Kissen auf den
Betten, auf die man die jungen Leichen gelegt hatte. Noch zeigt der Teppich
große schwarze Flecke: die Blutlachen. Noch liegt der Stuhl umgestürzt da. Mit
völliger Ruhe behält der Vorsitzende auch hier in dem engen Raume die Leitung
in der Hand.
Die
Lage der Leichen und die Wunden.
Zunächst wird durch die Dienstmädchen M e n d e
und H i r s c h dargestellt, wie die Körper gelegen haben.
Kreis-Medizinalrat D r .
P e t e r s - Löwenberg äußert
sich über den Leichenbefund. Die Kleidung der Dörte Rohrbeck war d r e i m a l d u r c h l ö c h e r t . Eine Schussöffnung befand sich an der
rechten Brust unter der Achselhöhle. Das Geschoß war quer durch die Brust in
den Hals gedrungen, wo an der linken Halsseite eine Ausschußöffnung
festgestellt wurde. Der zweite Schuß auf Fräulein Rohrbeck war ein Kopfschuß
mit der Einschußöffnung überm Genick. Das Geschoß ist am hinteren
Nasenrachenraum stecken geblieben. Dorothea Rohrbeck muß, so sagt Dr. Peters,
als sie erschossen wurde, sich nach links geneigt haben; hätte sie auf einem
Stuhl gesessen, hätte ihre Kleidung stark beblutet sein müssen. Als
Todesursache kommt Ersticken in Frage. Die Ursula Schade hat einen Schuß in die
rechte Stirn erhalten. Es war ein Steckschuß, die Kugel wurde im Gehirn unter
der Schädeldecke gefunden. Eine Kopfverletzung rührt vom Sturz gegen den
Schrank her.
Lange Zeit erforderten die Feststellungen
über die Lage der Leichen. Fräulein M e
n d e , die als erste die Bluttat
entdeckt hatte, behauptet, sie habe die Dörte nur am Arm gefaßt und beim Namen
gerufen. Dörte habe in der Mitte des Zimmers quer über dem Läufer gelegen, die
linke Wange in einer Blutlache, das Gesicht nach der Tür zum Speisezimmer
gerichtet. Ursula Schade befand sich, zusammengekauert, am Schrank, der neben
der Rollstube führenden Tür steht. Die Zeugin bestreitet, als sich Zweifel über
die Lage der Leichen ergaben, diese Lage verändert zu haben. Medizinalrat D r .
P e t e r s hält es für
wahrscheinlich, daß Dorothea Rohrbeck im Todeskampfe ihre Lage verändert habe.
Frl.
H i r s c h unterstützt die
Bekundungen der Mende. Beide Zeuginnen und auch Frl. Z a h n
sagen aus, daß Dörte Rohrbeck, als man sie fand, noch geatmet habe. Sie
haben die Dörte und die Ursula auf die Betten gelegt.
Sanitätsrat
D r . S c h o l z - Lähn ist als erster Arzt am Tatort gewesen.
Er fand Frl. Rohrbeck bereits tot vor. Der
A n g e k l a g t e stellt die
Zwischenfrage, ab Frl. Hirsch wisse, daß, als sie ins Mordzimmer kam, Dorothea
Rohrbeck sich noch bewegt habe. Frl. H
i r s c h : Dörte war noch warm und hat
noch geatmet. Gerüttelt habe ich sie nicht.
Vert.
D r . M a m r o t h stellt nach dem Hinweis des Staatsanwalts
auf den umgestürzten Stuhl, auf dem möglicherweise Dorothea Rohrbeck gesessen
hat, fest, daß 10 Personen unmittelbar nach der Tat im Mordzimmer versammelt
waren und sich dort bewegt haben. Auf seine Frage, ob am Tage nach der Bluttat
in dem Zimmer Veränderungen vorgenommen worden seien, erklärt Frl. Z a h n :
Am Tage nach der Tag wurden die Leichen aus den Betten genommen,
entkleidet und auf Tische in der Rollstube gelegt. Im Mordzimmer wurde nichts
aufgeräumt, es wurde bald vom Amtsvorsteher verschlossen. Grupen und seine
Schwiegermutter haben seit der dritten Nachmittagsstunde das Zimmer nicht mehr
betreten. Die Nacht nach dem Morde bin ich mit Schwester Auguste bis etwa früh
5 Uhr bei den Toten geblieben.
Der A
n g e k l a g t e bittet, den Sachverständigen
Dr. Peters veranlassen zu wollen, sich die Stellen der Blutspritzer genau
anzusehen. Er selbst nimmt die Blutspritzer in Augenschein.
Die
Schußwaffe.
Frl.
M e n d e gibt an, daß die
Pistole am linken Knie der Ursula Schade gelegen habe. Frl. H i r s c h
bestätigt dies.
Frl.
Z a h n : Als Grupen ins
Mordzimmer kam und die Leichen sah, sagte er:
„ D a i s t j a
g e s c h o s s e n w o r d e n
! “ Ich rief: „Wo ist die Waffe?“
Grupen ging zur Leiche der Ursula und hob den Revolver auf. Frau Eckert fragte
vorwurfsvoll: „Wie kommen die Kinder zu der Waffe?“
Postverwalter G r i m m i g - Lähn: Etwa um 12 ¾ Uhr war ich am Tatort.
Dörte Rohrbeck lag tot auf dem Bett. Als ich das Röcheln aus dem anderen Bett
vernahm und erschreckt dorthin sah, stand Frau Eckert, die neben Schwester
Auguste auf einem Stuhl saß, auf und sagte: „Ja, ich verliere z w e i
Enkelkinder.“ Ich fragte nach der Waffe. Die lag auf dem vor dem Liegesofa
stehenden T i s c h . Grupen selbst daß auf dem Sofa. Als alter
Jäger hielt ich es für meine Pflicht, den Revolver sofort zu sichern. Das
machte mir Schwierigkeiten, weil mir dieses Browningsystem nicht bekannt war.
Mit Mähe gelang es mir, den Sicherungsflügel herumzulegen. Ich beschlagnahmte
die Waffe und stellte zu Hause fest, daß ich sie nicht g e sichert, sondern e n t sichert hatte. Der Revolver hat
also g e s i c h e r t auf dem Tisch gelegen. In dem Magazin
befanden sich noch zwei Patronen. Während ich am Tatort war, wurde in den
Kleidern der Ursula Schade eine Patronenkästchen und der Brief an die
Großmutter gefunden. Der Brief wurde verlesen. Vor der Verlesung hatte auf
meine Frage, wem die Pistole gehöre, niemand eine Antwort gegeben. Nachher aber
brach Grupen in weinerlichem Tone in die Worte aus: „Es ist m e i n e
Waffe, da bin ich schuld an dem Verhängnis!“ Die Großmutter Eckert
beruhigte ihn: „Du kannst ja nicht dafür, Du hast ja die Waffe für Bruder
Wilhelm gekauft.“
Der A
n g e k l a g t e , vom Vorsitzenden
befragt, ob e r die Waffe vom Fußboden aufgehoben und wohin
er sie gelegt habe, erklärt: „Wenn ich überhaupt die Waffe aufgehoben habe, was
ich heute nicht genau weiß, so habe ich sie
a u f d e n R o h r p l a t t e n k o f f e r a m
O f e n g e l e g t . “ Er gibt zu, mit der Handhabung der Sicherung
Bescheid gewußt zu haben, weil er diese seinem Bruder erklärt habe. Mit dem
Revolver aber habe er nie geschossen.
Vert.
D r . M a m r o t h richtet an Frl. Zahn die Frage, wann die
Patronenhülsen gefunden worden seien. Frl.
Z a h n : Noch am Mordtage.
Angekl.
G r u p e n : Ich bitte, durch
Befragen der Zeugin Hirsch festzustellen, daß dies nicht stimmt. - Vors.: Wollen
Sie damit sagen, daß Frl. Zahn uns anlügt? - Vert. D r .
M a m r o t h (einlassend): Der Angeklagte will wohl nur
sagen, daß ein Irrtum vorliegt. - Frl.
Z a h n : Ich weiß, daß nach den
Patronen gesucht wurde, als Dörte noch auf dem Bett lag. - Frl. H i r s c h : Die Patronen wurden am Mordtage gesucht.
Herr Grimmig hat die Anregung dazu gegeben.
Verschlossen
oder nicht?
Ein G
e s c h w o r e n e r bittet um
Aufklärung, ob die hinter dem Mordzimmer liegende Rollstube verschlossen war.
Fräulein M e n d e : Ich hatte in der Rollstube den Ofen geheizt
und sollte schon um 11 ½ Uhr den Tisch zum Essen decken, weil Frl. Dörte, wie
immer Montags, nach Hirschberg fahren wollte. Sie ist aber nicht gefahren, weil
schlechtes Wetter war. Ich habe die Tür zur Rollstube nicht verschlossen. -
Frl. H i r s c h : N a c h
der Tat war die Tür verschlossen,
v o r h e r war sie aber offen.
- Vors.: Man nimmt an, daß ein Mörder die Türe hinter sich verschließt, damit
ihm das nicht getötete Opfer nicht nachlaufen kann. - Frl. M e n d e
bleibt bei ihrer Behauptung, die Tür nicht verschlossen zu haben. -
Frl. Z a h n : Es ist möglich, daß Frl. M o h r ,
die in der Rollstube mit Staubwischen beschäftigt war und die das
Staubtuch im Mordzimmer hat liegen lassen, die Tür verschlossen hat. - Ein G e s c h w o r e n e r : Wo hat der Schlüssel gesteckt? In der Tür
nach innen (nach dem Mordzimmer zu) oder auf der anderen Seite? - Frl. Z a h n
und die beiden Dienstmädchen M e
n d e und H i r s c h
erwidern, daß der Schlüssel nach innen, also auf das Mordzimmer zu,
gesteckt habe.
Die Zeugin
M e n d e bestätigt, daß Grupen,
als er die Treppe herunterkam, gerufen hat: „Berti, die Kinder!“ Der Angeklagte
bemerkt hierzu, daß er als erster nach Aerzten telephonieren wollte. Da er aber
die Fernsprechnummer nicht sogleich finden konnte, habe dies Frl. Zahn getan.
Der S
t a a t s a n w a l t wünscht von Frl.
Zahn zu wissen, ob die nach dem Park führende Tür der an das Speisezimmer
angebauten Veranda verschlossen gehalten worden sei. - Frl. Z a h
n : Die Verandatür war gewohnheitsmäßig
verschlossen, es wurde aber nicht täglich nachgesehen, ob dies auch wirklich
der Fall war. Die Verandafenster sind nur von innen aus zu öffnen, alle übrigen
Fenster im Erdgeschoß sind vergittert.
Die Verhandlung im Mordzimmer schließt damit,
daß a u f A n t r a g
d e s A n g e k l a g t e n die Entfernungen zwischen den Leichen und
den Fundstellen der Patronenhülsen mit dem Metermaß genau festgestellt werden.
Es ergibt sich, daß die Fundstellen von der Leiche der Ursula 5,66 Meter
entfernt sind.
Hierauf begibt sich das Gericht in die H a u p t k ü c h e . Dort lehrt die Besichtigung, daß es bei der
starken Bauart des Schlosses unmöglich sei, die im Mordzimmer gefallenen
Schüsse über den Flur hinweg durch die Vorküche zu hören.
Genau
wie zur Stunde des Mordes.
In den Räumen des ersten Stockwerkes wurden
Feststellungen getroffen, wo Grupen sich vor der Bluttat aufgehalten habe. Er,
Frau Eckert, Frl. Mohr und die kleine Irma mußten dieselben Plätze einnehmen,
die sie in der kritischen Stunde inne hatten. Dasselbe tat Frl. Zahn in ihrem
Zimmer, während Frl. Hirsch den Platz markierte, den Dorothea Rohrbeck
eingenommen hatte, bevor sie von Ursula Schade nach unten gerufen wurde.
Frl. M o h r wurde bei dieser Gelegenheit auf ihre
Zeugenpflicht aufmerksam gemacht, und vom Vorsitzenden gefragt, ob sie mit dem
Angeklagten verlobt sei. Sie v e r n e
i n t e das. Als auch der A n g e k l a g t e dies verneint, bemerkt ihm der Vorsitzende:
„Sie wissen ja, Sie hatten ihr die Heirat versprochen.“ I r m a ,
die zu weinen begann, sich aber auf das gütige Zureden des Vorsitzenden
bald beruhigte, machte Angaben über das Mühlespiel mit Grupen. Sie habe dabei
Aepfel gegessen und einmal Aepfelreste nach der Toilette getragen.
Staatsanwalt: Ich bitte den Angeklagten
Grupen zu entfernen und durch ein Phantom (Ersatzperson) zu ersetzen. G r u p e n
steht sofort auf und sagt: Das ist mir auch sehr angenehm! An seine
Stelle setzt sich ein Polizeikommissar. Nun geht ein Dienstmädchen hinaus. Eine
Weile darauf hörte man die Türe klinken und die Worte: D ö r t e ,
k o m m d o c h m a l
und die Antwort Dörte´s: G l e i
c h k o m m e i c h
. In der beinahe gespenstischen Stille
hörte man dieses Zwiegespräch, die letzten Worte, die vor acht Monaten zwei
unglückliche Menschenkinder sprachen, wie aus weiter Ferne. Dann hört man die
etwas deutlichere Stimme des Fräulein Zahn:
I r m a , s i e h d o c h
m a l , w o D ö r t e
i s t . - Grupen konnte alle
diese Worte aus dem Zimmer hören.
Auch die Zeitdauer des Verweilens der kleinen
Irma, als sie auf den Wunsch des Fräulein Zahn sich in das Erdgeschoß begeben
hatte, um nachzusehen, wo Dörte sei, wurde festgestellt. Sie brauchte dazu 1 ½
Minuten. Ein Erwachsener brauchte 59 Sekunden, um im gewöhnlichen Schritt von
Grupens Platz bis zum Tatort und zurück zu gelangen.
Dann ist der eigentliche Lokaltermin beendet.
Es ist ½ 3 Uhr. Der Vorsitzende verkündet, daß der gegenwärtige Besitzer des
Hauses allen Anwesenden einen Teller Suppe anbiete. Man nimmt dankend an und
begiebt sich zurück in den unteren Stock … … ..zimmer.
Schießversuche.
Nach der Mittagspause ersuchte zu Beginn der
Verhandlung im Saal der Schießsachverständige
W a l t e r , daß in dem
Mordzimmer Schießversuche mit der Mordwaffe gemacht werden möchten zur
Vorbereitung seines Gutachtens. Dem Antrage wird stattgegeben, auch der
Angeklagte ist damit einverstanden, bittet sogar darum. Die Schießversuche
wurden dann gemacht und dauern mehrere Stunden.
Die
Stimmung der Ursel.
Zeugin
M e n d e wird dann eingehend
über ihre Wahrnehmungen gefragt, die sie vom Eintreffen Grupens vom 8. Februar
an bis zum Mordtage hatte. Die Zeugin bekundet, daß der Empfang kühl und daß
Grupen bei seiner Anwesenheit fast immer im Zimmer war und gelesen oder Mühle
gespielt habe. Die kleine U r s u l
a war bei Tisch m e i s t
t r a u r i g und aß sehr wenig,
sie war a b e r a u c h
w i e d e r l u s t i g und tollte im Garten herum. Von einer
Verstimmung der Ursula gegen Dorothea Rohrbeck hat die Zeugin nichts bemerkt,
auch nichts von einem Revolver oder Patronen. Die Zeugin kam gegen ½ 1 Uhr von
der Post und rief bald darauf zum Essen. Im Uebrigen machte sie dieselben
Angaben wie am Vormittage.
Eine
neue Bekundung.
Vors.: War der Angeklagte nach dem Auffinden
der Leichen sehr aufgeregt? - Zeugin: Ja. Er sagte gleich zur Großmutter: „ D a
w e r d e i c h w o h l
d i e S c h u l d k r i e g e n . “ Dann setzte er sich aufs Sofa. - Verteidiger
Dr. Ablaß: Diese Aeußerung ist neu. Ich bitte, die Zeugin zu fragen, warum sie
früher davon nie etwas gesagt hat. - Zeugin: Ich wurde ja früher nie darum
gefragt. Auf eingehende Ermahnung, sich die Sache richtig zu überlegen, gibt
die Zeugin dann an, nicht mehr genau zu wissen, ob diese Worte vor oder nach
Verlesung des Briefes an die Großmutter gefallen seien. Der Zeugin ist
aufgefallen, daß, als sie Grupen nach der Tat gegen 3 Uhr zu der Vernehmung
durch den Amtsrichter rufen sollte, die Tür im Eßzimmer, wo sich G r u p e n
u n d F r a u E c k e r t
befanden, verschlossen war und auch auf Klopfen nicht gleich geöffnet
wurde. Sie will h i n t e r d e r
T ü r P a p i e r g e r ä u s c
h e gehört haben.
Die Zeugin
H i r s c h bekundet im
wesentlichen dasselbe wie am Vormittag. Sie hat sich, ebenso wie die Zeugin
Mende, gewundert, daß der Angeklagte am Tage vor dem Morde ihr 50 und der Mende
20 Mark Trinkgeld gegeben habe für die Mehrarbeit, die sie durch den Besuch zu
leisten hatten. Eine besondere Erregung hat sie dem Angeklagten nicht
angemerkt. Er war wie immer, auch kurz vor dem Morde. Die Zeugin hat gehört,
wie Fräulein Zahn nach dem Revolver fragte und wem er gehöre. Sie hat auch
gehört, daß Grupen sagte: das ist doch der Revolver, den ich gekauft habe!
Hierbei kam es bei einer kurzen Bemerkung des Verteidigers Dr. Ablaß: Sehr
richtig! zu einem Zusammenstoß zwischen dem Staatsanwalt und den Verteidigern.
Der Staatsanwalt wollte einen Gerichtsbeschluß herbeigeführt haben, daß solche
Bemerkungen unzulässig seien. Die Verteidiger stellten einen gleichen Antrag,
da der Oberstaatsanwalt mit einem Geschworenen während der Verhandlung
gesprochen habe. Der Vorsitzende bat, davon abzusehen, da doch alle lediglich
das Bestreben haben, die Wahrheit zu finden. Schließlich wurden denn auch von
beiden Seiten die Anträge zurückgezogen.
Der V
o r s i t z e n d e fragt die
Zeugin H i r s c h dann, ob sie noch sonst etwas Verdächtiges
gemerkt habe. Die Zeugin verneint das.
Das
Zeugnis des Arztes.
Zeuge Sanitätsrat D r .
S c h o l z machte Angaben über
seine Wahrnehmungen bei seinem Erscheinen im Schlosse, in das er sogleich gerufen
worden war. Er hörte, daß Grupen nach Verlesung des Briefes sagte: „Da bin ich
also doch schuld!“ Die Großmutter beruhigte ihn, was dem Zeugen auffiel, da sie
im Anblick ihrer erschossenen Enkel den Schwiegersohn tröstete. Der Zeuge
bestätigt, daß Grupen ihn gebeten, doch Ursel etwas zu geben, damit sie sagen
könne, wer es gewesen sei. - Vors.: Ist Ihnen das aufgefallen? - Zeuge: Ja. -
Wie Dr. Scholz weiter bekundet, hat er, der Zeuge, sofort gesagt: Hier liegt
Mord vor, kann hier niemand Aufschluß geben? Er hat dann Fräulein Zahn gefragt,
was sie darüber denken. Diese sagte ihm:
A c h G o t t , e s
g i b t s o b ö s e
M e n s c h e n i m H a u s e !
Von diesem Augenblicke an, so sagt der Zeuge, hatte ich d e n
A n g e k l a g t e n i m V e r d a c h t .
Ein Beisitzer: Wollte der Angeklagte mit
seiner Ruhe das gute Gewissen zeigen, oder war das fingiert? - Zeuge: Das
letztere nahm ich an.
zeuge Postverwalter Grimmig: Ich verkehre
seit zehn Jahren im Rohrbeckschen Hause und war in alle Verhältnisse
eingeweiht. Ich bin m i t d e r
v o r g e f a ß t e n M e i n u
n g am Mordtage hierher gekommen, daß
der Angeklagte G r u p e n d e r
M ö r d e r ist. Ich hatte mir
meinen Browning in die Tasche gesteckt mit der Absicht, den Täter
niederzuschießen, wenn er mir entgegentritt. Wäre ich n i c h t
mit der vorgefaßten Meinung hierher gekommen, dann hätte ich G r u p e n
n i c h t f ü r d e n
T ä t e r gehalten, d e n n
e r w a r r u h i g .
Dagegen konnte ich mir das V e r
h a l t e n d e r F r a u
E c k e r t nicht erklären, die
beim Anblick der beiden niedergeschossenen Enkel so ruhig war. - Vors.: War
Ihnen bekannt, daß der Angeklagte dem Fräulein Zahn und dem Fräulein Rohrbeck
unsympathisch war? - Der Zeuge bejaht dies, ebenso sie andere Frage, ob davon
gesprochen worden sei, daß Grupen der Dörte nach dem Leben getrachtet hat, und
daß sich die Damen vor ihm fürchteten.
„Dann
bin ich beruhigt.“
Amtsgerichtsrat T h o m a s
gibt als Zeuge an, daß ihn der Angeklagte vor seinem Transport nach
Hirschberg gefragt hat, ob die Untersuchung etwas Neues ergeben habe. Der Zeuge
hat erwidert: Eigentlich nichts. Die weitere Frage des Angeklagten, o b
F r ä u l e i n M o h r u n d
s e i n e S c h w i e g e r m u
t t e r b e i i h r e n
A u s s a g e n g e b l i e b e
n s i n d , hat der Zeuge bejaht. Darauf sagte der
Angeklagte: „ D a n n i s t
e s g u t , d a n n
b i n i c h b e r u h i g t . “ Etwas Auffälliges hat der Zeuge, als er im
Schlosse eintraf, bei Grupen nicht gefunden. Er setzte sich zunächst aufs hohe
Pferd, wurde aber sehr kleinlaut, als ihm mit der Verhaftung gedroht wurde.
Zeuge Kriminalbeamter L a c h n i t t - Hirschberg hat die Umgebung genau untersucht
und dabei keine Spuren gefunden, die darauf hindeuten konnten, daß jemand von
außen in das Mordzimmer gekommen sei.
Zeuge Justizobersekretär K l a p p e r - Lähn ist auf Wunsch des Zeugen Grimmig mit
nach dem Schlosse gegangen. Grimmig zeigte ihm dort den Revolver. Auf die Frage
des Zeugen, wem die Waffe gehöre, hat der Angeklagte gesagt: „Die Waffe gehört
mir, ich bin an allem Schuld, warum habe ich sie nicht in den Schreibtisch eingeschlossen.“
Dem Zeugen fiel auch das m e r k w ü r
d i g e B e n e h m e n d e r
G r o ß m u t t e r auf, die den
Angeklagten am Aermel streichelte und sagte: „Aber Peter, wie kannst Du das
sagen, Du kannst doch nichts dafür.“ In der Wohnung des Zeugen Grimmig hat der
Zeuge den Revolver entsichert. Dabei hat er festgestellt, daß Herr Grimmig am
Mittag den Revolver n i c h t g e s i c h e r t , s o n d e r n e n t s i c h e r t hat.
Zeuge Oberlandjäger K l o p s c h hat bald, nachdem er ins Schloß gerufen
worden war, den Eindruck gehabt, daß hier ein Mord vorliegt. Es fiel ihm d a s
g l e i c h g ü l t i g e B e n
e h m e n G r u p e n s u n d
d e r F r a u E c k e r t
auf. Erst als die Krankenschwester gegen 3 Uhr nachmittags sagte:
„Ursula hat ihren letzten Atemzug getan,“ da schien es den Beiden nahe zu
gehen. D e r Z e u g e
h i e l t d a s f ü r
K o m ö d i e , weil sie jeden
Augenblick den Amtsgerichtsrat erwarteten, der die Untersuchung einleiten
sollte. Auf die Frage, wer wird d e n
s c h ö n e n B e s i t z n u n
e r b e n , sagte F r a u
E c k e r t : „ D i e H ä l f t e
R o h r b e c k , d i e H ä l f t e
i c h . “
„Ihr
bleibt bei Eurer Aussage!“
Zeuge
K l o p s c h bestätigt,
daß G r u p e n , als er weggebracht werden sollte, zu F r ä u l e i n M o h r
u n d s e i n e r S c h w i e g e r m u t t e r g e s a g t
h a t : „ I h r b l e i b t
b e i E u e r e r A u s s a g e ! “ Trotz seines Verbotes an Grupen, so bekundet
der Zeuge weiter, das Sprechen zu unterlassen, hat Grupen der Mohr dann noch
etwas i n p l a t t d e u t s c h e r S p r a c h e gesagt, was ich aber nicht verstand.
Zeugin
Z a h n wird darüber befragt,
wie sich d e r A n g e k l a g t e i m
M o r d z i m m e r verhielt. -
Zeugin: Er war sehr aufgeregt und hat geweint. Ich konnte nur nicht begreifen,
daß ich erst dreimal habe Grupen bitten müssen, er möge mir helfen, Dörte aufs
Bett zu legen. Es machte dies auf mich einen merkwürdigen Eindruck, und ich
hatte das Gefühl, daß d e r T ä t e r
w o h l s e i n O p f e r
n i c h t a n f a s s e n w o l l t e . - Angekl.: Hat die Zeugin nicht zu Fräulein
Hirsch gesagt, ich solle bei Dörte nicht mithelfen? - Zeugin: Das habe ich
nicht gesagt. Ich hatte den Eindruck, es wäre Grupen unangenehm, bei Dörte zu
sein, denn e r k a m
n i c h t e i n e i n z i g e s M a l
z u r L e i c h e .
Sanitätsrat
D r . S c h o l z gibt dann noch Auskunft, wie die Wunde bei
der Schade behandelt worden ist. Es ist der Verwundeten ein U m s c h l a g a u f
d e n K o p f gelegt worden. Daß die W u n d e
a b g e w a s c h e n worden
wäre, hat er nicht gesehen, er hat es auch der Krankenschwester verboten. Wenn
an der Wunde P u l v e r s c h l e i
m gewesen wäre, hätte er ihn sehen
müssen.
Krankenschwester A u g u s t e H ö h n k e : Ich habe Ursula einen Umschlag um den Kopf
gemacht. D i e W u n d e h a b e
i c h n i c h t a b g e w i s c h t . Der Angeklagte war unruhig und war nur
besorgt um Ursula. Beide, Grupen sowohl wie Frau Eckert, waren ruhig, aber
traurig. Daß gesagt worden sei: „Nun bist Du ja Erbin von Kleppelsdorf“, habe
ich nicht gehört. - Verteidiger Dr. Mamroth: Hatten Sie den Eindruck, als ob
Grupen bei der Traurigkeit im Innern nicht recht dabei war? - Zeugin: Ich habe
nicht darauf geachtet.
Damit war die Verhandlung in Kleppelsdorf
beendet.
Bei der Abfahrt des Angeklagten aus dem
Gutshofe kurz nach 8 Uhr abends nahm eine
g r o ß e M e n s c h e n m e n
g e , die sich dort angesammelt hatte,
eine d r o h e n d e H a l t u n g g e g e n
G r u p e n an. Man drängte
gegen das Auto, und es wurden viele Verwünschungen gegen ich laut.
*
Die
Sitzung am Donnerstag.
Mit der Begutachtung der Echtheit der A b s c h i e d s b r i e f e der verschwundenen Frau Grupen sind Geheimrat M o l l
und Professor S c h n e i d e m
ü h l beauftragt worden. Der V o r s i t z e n d e bemerkt heute zu Beginn der Sitzung, daß
Grupen viele Briefe von seiner Schwiegermutter, Frau Eckert, habe schreiben
lassen, die er aber selbst unterschrieben habe. Der Angeklagte habe sich in der
Untersuchungshaft viel mit Dichten beschäftigt. Geheimrat Moll lehnt es ab,
diese dichterischen Ergüsse zur Schriftvergleichung zu benutzen, bittet
vielmehr um möglichst harmlose Briefe des Angeklagten. Diesem Wunsche wird
entsprochen. Auf besonderen Wunsch des Sachverständigen erhält er zur
Schriftvergleichung auch noch den Brief, den Frau Grupen an den Angeklagten auf
die bekannte Zeitungsanzeige hin geschrieben hat und der mit den Worten
beginnt: „Sehr geehrter Herr, zwar widerstrebt es mir, auf diesem Wege eine
Bekanntschaft zu machen . . . . . „
Schlussvernehmung
der Erzieherin Frl. Zahn.
Frl. Zahn: Am Sonntag (der Mord war Montags)
waren wir vormittags auf dem Lehnhausberg. Nach dem Mittagessen haben wir uns
wie gewöhnlich bis zum Kaffee zurückgezogen. Nach dem Kaffee saßen wir im
Kinderzimmer in ersten Stock. Die Tür nach dem Winterwohnzimmer war
eingeklinkt. Zwischen 2 und 3 Uhr hörten wir im Nebenzimmer sprechen, und Dörte
machte mich darauf aufmerksam, daß die
O f e n t ü r s e h r h ä u f i g
a u f - u n d z u g e m a c h t w u r d e .
Dörte begann Klavier zu spielen, und wir haben gemeinschaftlich
gesungen. Ursel stand scheu beiseite und schien sehr wenig fröhlich zu sein.
Grupen kam hinzu. Er war sehr lebhaft und redete vom Tanzen. Dörte wollte
tanzen, aber nicht mit Grupen. Auch ich lehnte es ab, mit ihm zu tanzen. Daher
hat er mit der Großmutter Eckert getanzt. Im Winterwohnzimmer zog mich Grupen
in ein Gespräch über Dörtes Charakter. Ich konnte ihm nur Gutes mitteilen.
Dörte selbst hat mich in jenen Tagen fast keinen Schritt verlassen, weil sie in
Unruhe war. Bei dem Gespräch mit Grupen hatte ich den Eindruck, daß er
wünschte, wir sollten uns seinen freieren Ansichten anschließen. Die
Unterhaltung gestaltete sich zu einem R
e l i g i o n s g e s p r ä c h . Ich
schlug daher abends vor, etwas aus Maltzahns Erbauungsbuch vorzulesen, um
Grupen zu überzeugen, daß man doch an Gott glauben könne und müsse. Ich las das
erste Kapitel, Dörte das zweite. Im Laufe des Abends fragte mich Grupen, ob es
vielleicht vorteilhaft wäre, wenn Ursel längere Zeit in Kleppelsdorf bleibe,
meine Erziehungsmethode gefalle ihm. Ich sagte zu, zumal Dörte die Ursel sehr
gern hatte. Für den nächsten Tag (Montag) war eine Autofahrt nach Schreiberhau
vorgesehen. Da aber Schneewetter war, wurde die Fahrt verschoben. Dörte ging
wie immer im Laufe des Vormittags die Postsachen holen, und zwar mit I r m a
S c h a d e .
Staatsanwalt: Hatten Sie den Eindruck, daß
die Kinder (Dörte und Ursel) gut miteinander standen? - Frl. Zahn: Die Kinder
standen sich immer gut. Dörte hatte beobachtet, daß Ursula ein auffallend
scheues und gedrücktes Wesen hatte. Dörte meinte, Ursel müsse eine Sorge haben.
Jedenfalls hatte die Traurigkeit der Ursula mit etwaigen Unstimmigkeiten der
Kinder nichts zu tun.
Ursulas
Krankheit.
Vors.: Frl. Zahn, wußten sie, daß Ursula
krank war? - Frl. Zahn: Ich glaube, beim ersten Besuch in Hamburg sprach Grupen
flüchtig davon, daß Ursula an Furunkeln leide. Später hat auch die Großmutter
über die Furunkeln zu mit gesprochen und auch gesagt, wo sie sitzen. Dies
geschah in Dörtes Anwesenheit, was mir sehr unangenehm war. Ursula sagte mir
auch: „ D e r g u t e
V a t e r f ü h r t d i e
B e h a n d l u n g s e l b s
t a u s . “
Die
Stunde der Tragödie.
Fräulein Zahn: Montag in der 12. Stunde saß
ich mit Dörte im Kinderzimmer. Ich rechnete an meinem Tisch. D ö r t e
saß an ihrem Tisch am Fenster und beschäftigte sich mit einer Modenzeitung.
Wir hatten eine Hochzeitseinladung erhalten, und für Dörte sollte ein Hochzeitskleid
angefertigt werden. Dörte war in dieser Stunde sehr vergnügt, schon monatelang
hatte sie sich auf die Hochzeit gefreut.
G r u p e n kam zweimal aus dem
Nebenzimmer zu uns, sah sich um und ging zurück.
J.-R. Dr. Ablaß (unterbrechend): Sie hatten
sich mit dem Angeklagten über religiöse Fragen unterhalten. Der Angeklagte soll
dabei erklärt haben, er glaube nicht an einen persönlichen Gott: er glaube an
ein höheres Wesen in dem Sinne, daß er „es“ die L i e b e
nenne. - Frl. Zahn: Ja, das hat der Angeklagte gesagt. - Vert. Dr.
Mamroth: Ist es richtig, daß der Angeklagte abends Nachtgebete mit den Kindern
verrichtet hat? - Frl. Zahn: Das ist in Itzehoe geschehen; ob auch in
Kleppelsdorf, das weiß ich nicht.
Frl. Zahn fortfahrend: Gegen 12 Uhr sandte
ich das Hausmädchen mit der Einschreibquittung, die mir Dörte von der Post
gebracht hatte, weg, um das Paket zu holen. Um diese Zeit kam Ursula an die Tür
meines Zimmers, machte die Tür auf und sagte:
„ D ö r t e , k o m m d o c h
m a l ! “ , worauf Dörte ging. Ursula sprach etwas hastig,
aber freundlich. Ich hatte ein ganz m e
r k w ü r d i g e s E m p f i n d e n dabei; denn erstens h a b e n
s i c h d i e K i n d e r
n i e u n t e n a u f g e h a l t e n , und zweitens hörte ich im Nebenzimmer, wo
Grupen, Irma, die Großmutter und die Mohr saßen, d i e
T ü r a u f - u n d
z u m a c h e n . Schritte hörte
ich von meinem Zimmer aus n i c h t
, weil überall T e p p i c h e liegen. Nach einer Minute ging ich ins
Nebenzimmer und veranlaßte Irma, nach Dörte zu sehen. Grupen sagte: „Irma wird
gleich gehen.“ Irma ging. Sie kam auch gleich wieder und sagte: „Ich kann Dörte
nicht finden. „ Ich hatte das Gefühl, daß Irma nicht weit gegangen war. Kurze
Zeit darauf mußte ich eine Gemüseschüssel besorgen und zu diesem Zweck durch
das Zimmer gehen, wo Grupen, Irma und die Mohr in Anwesenheit der Großmutter
Mühle spielten. Ob Ursula bei den Spielenden saß, weiß ich nicht. Als Dörte
noch mit mir im Zimmer saß, hat Grupen versucht, durch die offene Tür eine
Unterhaltung mit mir anzuknüpfen. Ich war darüber ärgerlich. Es waren ganz
nichtige Sachen, von denen er sprach. Als ich durch das Zimmer nach der
Gemüseschüssel ging, hat mich der Angeklagte sehr genau angesehen. Als ich der
Mende aufgetragen hatte, die Kinder zum Essen zu rufen, kam diese bald eiligst
zurück, riß die Tür auf und rief: „ D i
e K i n d e r l i e g e n
i m F r e m d e n z i m m e r !
“ Frl. Zahn gibt nun die bekannte
Schilderung von dem Auffinden der Leichen. Als sie Grupen und seine
Schwiegermutter veranlaßt hatte, das Zimmer zu verlassen, habe ihr Grupen beim
Hinausgehen die Hand entgegengestreckt, die sie aber nicht angenommen habe. Die
Zeugin bestätigt, daß Grupen den Revolver mitten auf den Tisch gelegt habe.
Angeklagter: Ich habe an dem kritischen Tage
keine Halbschuhe, sondern die Stiefel getragen, in denen ich hier vor Gericht
stehe.
Grupen
und Frau Eckert.
Frl. Zahn:
D a s V e r h ä l t n i s z w i s c h e n F r a u
E c k e r t u n d G r u p e n
war besonders herzlich. Ich habe ein solch inniges Verhältnis zwischen
Schwiegermutter und Schwiegersohn nie kennen gelernt. Auch anderen Personen ist
dieses außerordentliche Verhältnis aufgefallen. - Staatsanwalt: Haben Sie
gesehen, daß der Angeklagte auch seine Schwiegermutter auffallend zärtlich
gestreichelt hat? - Zeugin: Das Verhältnis war jedenfalls ganz außergewöhnlich.
Die zu Dörte getane Aeußerung des Angeklagten:
„ W a s w ü r d e t I h r
s a g e n , w e n n i c h
d i e G r o ß m u t t e r h e i r a t e ? habe ich allerdings nicht ernst genommen.
Sachverständiger Geheimrat Dr. Lesser:
Bestanden Differenzen zwischen Großmutter und Frl. Rohrbeck? - Frl. Zahn: Bei
dem Besuch in Itzehoe war das Verhältnis zwischen beiden sehr herzlich. Im
November 1919 war der Geburtstagsbrief von Großmutter an Dörte auffallend kühl
und das Verhältnis wurde ungünstiger. Allerdings lag in dieser Zeit der
Widerruf und die Zurücknahme dieses Widerrufs durch Frau Eckert.
Auf Befragen des Geheimrats Dr. Kesser sagt
Frl. Zahn dann ü b e r d i e
U r s u l a : Das Mädchen war
nach meiner Ansicht nicht von übermäßiger Intelligenz. Als sie im November mitkam,
war sie gegen früher merkwürdig verändert. Während sie früher fröhlich war,
erschien sie jetzt s e h r g e d r ü c k t u n d
s c h e u . Sie aß auch wenig.
Ursel war nicht frühreif und vorlaut, sondern ein artiges Kind. Das V e r h ä l t n i s z w i s c h e n D ö r t e
u n d U r s e l w a r
s e h r gut. Ich kann mir nicht
erklären, wie Ursel in dem Abschiedsbriefe an die Großmutter schreiben konnte,
sie solle sich nicht mehr über Dörte ärgern. Dörte hat jedenfalls die
Großmutter nicht schwer gekränkt. Ursel war ein gutartiges Kind, das ich einer
moralisch niedrigen Handlung nicht für fähig halte.
J.-R. Dr. Ablaß: Wie war Ursel k ö r p e r l i c h entwickelt?
Frl. Zahn: Sie war zart und schwächlich, langaufgeschossen und hager, so
daß man Mitleid mit ihr haben mußte. Ich hielt Ursel für ein leicht zu
beeinflussendes Kind, sie war sehr kindlich. Ich glaube, daß Ursel auch leicht
umzustimmen war.
Auf Befragen des Staatsanwalts sagt die
Zeugin noch, daß Ursel, aber auch die kleine Irma, anscheinend mit
schwärmerischer Liebe an ihrem Stiefvater, also dem Angeklagten, hingen.
Schreibsachverständiger Professor S c h n e i d e m ü h l verlangt von der Zeugin Auskunft über den
Eindruck, den sie von den Briefen der verschwundenen Frau Grupen hatte. Die
Verteidiger beantragen, diese Frage erst dann zuzulassen, wenn auch Professor
Dr. Jeserich anwesen sei. Der Sachverständige bemerkt dazu, daß Professor Dr.
Jeserich kein Gegensachverständiger für ihn sei, denn er habe sich schon seit
40 Jahren mit Schriftenvergleichung beschäftigt. Der Gerichtshof beschließt,
die weiteren Fragen zuzulassen.
Aus den Antworten der Zeugin auf die vielen
Fragen des Sachverständigen geht hervor, daß sie eine wesentlich A b w e i c h u n g i n
d e n S c h r i f t z ü g e
n der Briefe der Frau Grupen der
früheren und letzten Briefe bemerkt haben will. Die Schriftzüge in den letzten
Briefen waren gegen früher zu regelmäßig und immer kehrten dieselben
Redewendungen wieder. Es schien der Zeugin, als ob Frau Grupen auch geistig
eine andere geworden, nicht mehr so selbständig als früher war. Auch in ihrem
Aeußeren war sie nicht mehr so gepflegt als früher. Zwischen ihr (Zahn) und
Frau Grupen habe kein gespanntes Verhältnis bestanden.
Damit sie die Vernehmung der Zeugin Zahn
beendet. Es tritt eine Mittagspause bis 3 Uhr ein.
Freitag, den 9. Dezember 1921, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“
Hypnose
und Verbrechen.
Der Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf stellt
die Richter vor eine ganze Anzahl der schwierigsten, aber auch interessantesten
Probleme. Vor allem wird es sich darum handeln, durch Sachverständige
festzustellen, inwieweit ein hypnotischer Einfluß die Triebfeder für ein
Verbrechen sein kann, denn die Anklage behauptet ja, daß der Peter Grupen seine
Stieftochter Ursula durch Hypnose völlig unter seinen Willen gebracht habe, und
daß auch verschiedene Zeugen, wie die Großmutter der Ermordeten und das
Dienstmädchen, unter dem hypnotischen Banne des Angeklagten stehen.
Damit wird eins der dunkelsten Kapitel
unseres Seelenlebens und eine der umstrittensten Fragen auf dem Gebiet der
forensischen Psychiatrie aufgerollt, denn so wenig wie die Wissenschaft
überhaupt bisher weiß, worauf die Wirkung der Hypnose beruht, so wenig ist sie
sich klar über die Stärke und über die Grenzen des Einflusses, der durch
Hypnose ausgeübt werden kann. Der vor kurzem verstorbene Göttinger Psychologe
Verworn hat ausgeführt, daß das Wesen der Hypnose in einer gesteigerten
Suggestibilität besteht.
„Eine Suggestion“, so erklärt er, „ist eine
Vorstellung, die bei einer Person künstlich erweckt wird, ohne von ihr in dem
normalen Umfange der Kontrolle der Kritik unterworfen zu werden. Suggestibilität
ist die Fähigkeit, solche Suggestionen anzunehmen, und die Suggestibilität ist
groß, wenn die Vorstellungen, die wir auf diese Weise einem Menschen geben,
ganz besonders leicht und kritiklos angenommen werden. Das ist das eigentliche
Wesen der Hypnose.“
Suggestionen sind im täglichen Leben so weit
verbreitet, daß wir uns gar nicht über sie klar werden; sie spielen beim Kind
eine besondere Rolle, da es sich sehr leicht dem Einfluß solcher Suggestionen
hingibt und hauptsächlich auf diese Weise erzogen wird. Aber auch
Massensuggestionen wirken auf jedes Theaterpublikum, auf jede versammelte Menge
ein. Diese gewöhnliche Suggestibilität erscheint uns als etwas ganz
Natürliches; sie fällt erst auf, wenn sie einen unnormalen Grad erreicht, und
dann fangen wir an, von einem hypnotischen Zustand zu reden. Wie aber nun die
Hypnose einen so hohen Grad der Suggestion erreicht, daß sie den Willen ganz
ausschaltet, ist noch nicht genügend erklärt. Auch da gibt es gewisse Grenzen,
und in der Bestimmung dieser Einschränkung hypnotischer Macht liegt die
Hauptfrage bei ihrer Ausnützung für Verbrechen. „Verbrecherische Suggestionen“,
sagt der Wiener Gelehrte Wagner-Jauregg in seinem Buch „Telepathie und Hypnose
im Verbrechen“, „werden nur dort e r n
s t l i c h verkommen, wo sie auf
gleichberichtete Ansätze und Anlagen treffen. Die Theaterverbrechen, die bei
Versuchen und Vorstellungen gelingen, sind keine Prüfsteine, denn das „moderne“
und „stehlende“ Medium weiß doch zumeist irgendwie um den wahren Sachverhalt“.
Jedenfalls ist man bei neuesten englischen und amerikanischen Versuchen nicht
imstande gewesen, eine sittlich gefestigte Persönlichkeit durch Hypnose zur
Verübung ungesetzlicher Handlungen zu bringen.
Das „Hypnose-Verbrechen“ hat zunächst durch
seine Verwendung in der Literatur Aufsehen erregt, am meisten durch du Mauries
Roman „Trilby“. Doch schon im Jahre 1863 behandelt ein Schauspiel „Der
polnische Jude“ von Erdmann Chatrian dies Thema, in dem ein Mörder durch
Hypnose in diesem Stück zum Geständnis gebracht wurde. Der bekannte und auch im
Grupen-Prozeß als Sachverständiger fungierende Psychiater Albert M o l l
hat jedoch einen derartigen Fall für unglaublich erklärt, und jedenfalls
ist der Versuch, durch Hypnose Geheimnisse herauszulocken, ebenso unsicher wie
verwerflich. Die Richter verwerten auf diese Weise erzwungene Geständnisse
nicht. In verschiedenen großen Prozessen ist der Zusammenhang zwischen Hypnose
und Verbrechen eingehend behandelt worden, ohne daß bisher unter den
Sachverständigen Einstimmigkeit erreicht wurde. Wie A. Memminger in seinem Buch
„Hakenkreuz und Davidstern“ hervorhebt, fand der erste Hypnose-Prozeß in Deutschland
im Jahre 1894 in München statt. Es handelte sich um einen polnischen
Hypnotiseur Czinski, der eine 38jährige, sehr hübsche Millionären, die Baronin
Helene von Zedlitz-Neukirch, zunächst wegen ihres Kopfwehs behandelte und dann
so völlig in seine Gewalt brachte, daß sie sich mit ihm trauen ließ. Bei der
Verhandlung erklärten verschiedene Psychiater, es sei durchaus möglich, daß
Czinski die Dame durch Hypnose vollkommen in seine Gewalt gebracht habe; dem
aber trat der Bonner Professor Fuchs entgegen, und der Verteidiger erklärte,
die Verliebtheit der Baronin in den interessanten Polen sei durchaus nichts so
Ungewöhnliches, daß sie nur durch den geheimnisvollen Vorgang der Hypnose
erklärt werden könne. Das Gericht verzichtete denn auch darauf, den in einem Liebesverhältnis
möglichen hypnotischen Einfluß abzugrenzen, und sprach den Polen von diesem
Teil der Anklage frei.
Am eingehendsten ist wohl das hypnotische
Problem vor Gericht in dem Pariser Mordprozeß
B o m p a r d besprochen worden.
Die Lebedame Bompard hatte die Ermordung eines reichen Freundes auf das
genaueste vorbereitet und sollte ihren Geliebten Eyraud durch hypnotische
Mittel zur Ausführung des Mordes angestiftet haben. Unter den Sachverständigen
standen sich zwei „Schulen“ gegenüber: die Pariser Aerzte unter der Führung
Charcots erklärten die Möglichkeit einer derart suggerierten Mordtat für
ausgeschlossen; die Professoren von Ranch, in ihrer Spitze Bernheim, hielten
die Verübung eines Mordes durch Suggestion durchaus für möglich. Die Pariser
Zeitungen erklärten damals, daß dadurch überhaupt jede sittliche und rechtliche
Verantwortung der Uebelthäter aufgehoben werde, daß dann auch Adam beim
Sündenfall schuldlos gewesen sei, „der Prozeß des ersten Menschenpaares
revidiert und das Menschgeschlecht wieder ins Paradies eingesetzt werden
müsse“. Die Geschworenen lehnten die Möglichkeit der Hypnose ab und
verurteilten Eyraud zum Tode.
Sonnabend, den 10. Dezember 1921, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“
Der
Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.
Dramatische
Zwischenfälle.
Der
Vormundschaftsrichter als Zeuge.
Hirschberg, 9. Dezember.
Die Verhandlung am Donnerstag war reich an
bewegenden Momenten. Irma, der toten Ursel kleine Schwester, belastete ihre
Stiefvater schwer. Sie bekundete, überraschen für alle Prozeßbeteiligten, d a ß
G r u p e n in der Zeit, da
Dörte und Ursel den Tod gefunden haben,
d o c h d a s W i n t e r z i m m e r i m
e r s t e n S t o c k v e r l a s s e n h a t .
Die starke Bewegung, die dabei durch den Zuschauerraum ging, erschien
durchaus begreiflich, wurde doch hier zum ersten Male eine fühlbare Bresche in
die Mauer gelegt, mit der der Angeklagte sich bisher zu umgeben gewußt hat. Er
suchte die Aussage der kleinen Irma dadurch zu entkräften, daß er das Kind als
verlogenen Charakter hinstellte, doch wurde diese Unterstellung durch weitere
Zeugenaussagen zurückgewiesen.
Von ganz andrer Art waren die Aussagen des
Amtsgerichtsrats T h o m a s - Lähn, welcher hier weniger als die den
Tatbestand des Mordes feststellende und verhaftende Amtsperson erschien, als
vielmehr als V o r m u n d s c h a f t
s r i c h t e r , der seine Ansichten
über das, was ein junges Mädchen in der Lage von Dorothea Rohrbeck mindestens
beanspruchen durfte, äußern mußte. Ohne seinem guten Glauben irgendwie nahe
treten zu wollen, müssen wir doch gestehen, daß wir selten ein solches Maß von
Weltfremdheit gefunden haben, wie es sich hier offenbarte. Vom 1. April 1919 ab
sollte Frl. Zahn den Haushalt ausschließlich der Gehälter mit 120 Mark wöchentlich
bestreiten, und vom 1. Oktober 1920 ab einschließlich der Gehälter mit 100
Mark! Das geht an sich schon über die Hutschnur, aber noch viel weiter geht,
daß es Herrn Vormundschaftsrichter Thomas nicht möglich war, einzusehen, daß
hier ein Widerspruch klaffte, dem nachzugeben und den zu beseitigen doch wohl
einiger Grund vorlag. Der Vorsitzende machte kein Hehl aus seiner Verwunderung,
und es wird wohl nicht viel Menschen im Saale gegeben haben, die ihm darin
nicht zu folgen vermochten. Daß besonders die Damen des Zuschauerraumes nicht
damit einverstanden waren, daß man aus seidenen Herrensporthemden seidene Mädchenkonfirmationsblusen
machen soll, wenn man Millionenerbin ist, kann man ihnen ebenfalls nicht
verdenken. Zur Entdeckung des Täters dienten ja alle diese Dinge nicht, aber
sie warfen ein sehr grelles Licht auf die Verhältnisse, unter denen Dörte
Rohrbeck samt ihrer Erzieherin zu leben genötigt war, und aus diesen
Verhältnissen heraus werden ja erst beider Beziehungen zu dem Angeklagten
verständlich.
Dörtes
Angst.
In der Nachmittagssitzung wurde zunächst
Oberschwester Emma K u b e aus Lähn vernommen. Dörte Rohrbeck hat ihr
im Dezember die Erlebnisse bei der A l
s t e r f a h r t erzählt und schon
damals von den Heiratsanträgen gesprochen, die ihr Grupen gemacht habe. Dörte
sagte zur Oberschwester: „Weißt Du, G r
u p e n ist ein g a n z
s c h l e c h t e r K e r l
. Ich habe dir vor einigen Monaten von
dem reichen Onkel erzählt, über den wir uns freuten, aber das ist ja alles
anders. Bei der Alsterfahrt hat er die Ruder fortgeworfen, daß ich Angst
bekamt. Ich glaube, es war auf mein Leben angesehen.“ Als die Oberschwester
einwandte: „Dörte, du machst Scherz“ erwiderte Dörte in bestimmtem Tone: „Nein
nein. Und die H e i r a t s a n t r ä g
e ! Es ist mir direkt unheimlich
geworden. Ich dankte Gott, als ich wieder fort war.“ Die Zeugin bekundet weiter:
Grupen hat in Kleppelsdorf nicht den Eindruck eines gebildeten Mannes gemacht.
Im Februar ist die Zeugin krank gewesen. Da habe Dörte sie eines Tages
aufgeregt besucht und ihr mitgeteilt, daß Grupen mit der Großmutter, Ursula,
Irma und einer Stütze auf Schloß Kleppelsdorf eingetroffen sei. Die Zeugin hat
sich über Grupens Besuch in Kleppelsdorf deshalb gewundert. weil ihr bekannt
geworden war, welche zweifelhafte Rolle Grupen in dem Prozeß der Erzieherin
Zahn gegen den Vormund gespielt haben soll. Der Dörte hat sie den Rat gegeben,
nicht allein im Hause zu bleiben und die
S i l b e r s a c h e n w e g z
u s c h l i e ß e n . Dörte sagte:
„Denke dir, er will unser Gut bewirtschaften, und er hat mir wieder einen H e i r a t s a n t r a g gemacht. Grupen döst so vor sich hin und tut
gar nichts. Ach, du liegst geborgen in deiner Ecke, und mich g r u s e l t s , wenn ich in mein Haus gehe!“ - Die Zeugin
bekundet weiter: Dörte liebte Frl. Zahn mit kindlicher Anhänglichkeit. Als
neunjähriges Kind hat sie ihr zum Geburtstag für 1,50 Mk. einen Fingerhut und
noch etwas Schönes kaufen wollen. Ich sagte: „Für 1,50 Mk. wirst du nicht viel
bekommen.“ Da antwortete Dörte: „Mehr darf ich nicht ausgeben. Es ist von
meinem Taschengeld, und wenn ich mehr ausgebe, würde Frl. Zahn sich nicht
freuen.“ Frl. Zahn hat keinen Luxus getrieben, und die Dörte ist durch ihre
Schlichtheit aufgefallen. Die Zeugin hat, weil der verstorbene Rohrbeck sie
gebeten, nach seinem Tode ihre Hand über Dorothea zu halten, stille Erkundigungen
darüber eingezogen, wie Frl. Zahn wirtschaftet. Sie hat aber nie etwas für Frl.
Zahn Ungünstiges feststellen können. Von der Großmutter sagte die Zeugin: Ja,
das war nicht das Ideal einer Großmutter. Von Liebe kann ich da gar nicht
sprechen; ein zärtliches Verhältnis bestand nicht zwischen Dörte und Frau
Eckert. Dörte, ein sein empfindendes Kind, hat zu mir sehr wenig von ihrer
Großmutter gesprochen.
Die
Aussagen der Irma Schade.
Als nächste Zeugin wird die zwölfjährige I r m a
S c h a d e , Schwester der
Ursula, aufgerufen. Der Staatsanwalt beantragt, während dieser Vernehmung den
Angeklagten
aus dem Saale zu entfernen,
weil die kleine Irma in Tränen ausgebrochen
sei, als sie sich beim Lokaltermin neben Grupen setzen sollte. Verteidiger Dr.
Ablaß widerspricht dem Antrage, dem aber das Gericht nach kurzer Beratung
stattgibt mir der Begründung, es sei zu befürchten, daß die jugendliche Zeugin
nicht die Wahrheit sagen werde, wenn der Angeklagte, ihr Stiefvater, im Saale
verbleibe. Der Angeklagte wird abgeführt.
I r m a
S c h a d e macht von ihrem
Zeugnisverweigerungsrecht keinen Gebrauch. Sie hat ihren Stiefvater schon in
Kellinghusen gesehen, bevor er sich mit ihrer Mutter verheiratete. Grupen ist
gut zu den Kindern gewesen, haben ihnen aber manchmal auch Schläge gegeben,
besonders dann, wenn sie auf seine Fragen nicht gleich antworteten. Die Ursel
hat der Stiefvater besonders gern gehabt.
Ueber das
V e r s c h w i n d e n d e
r M u t t e r weiß Irma nicht viel zu sagen. Nach dem Kaffee
ist die Mutter plötzlich aufgestanden mit den Worten: „Ich muß schnell weg!“
Sie hat sich von den Kindern so verabschiedet, wie zu einer Reise von ein paar
Tagen. Ueber Ursulas Eigenart befragt, äußert sich Irma dahin, daß Ursel immer
ein bißchen traurig gewesen sei und immer gleich geweint habe. - Vorsitzender:
War es eine Heulliese? - Zeugin: Ja. Sie weinte immer über jedes kleine
Bischen. - Die Zeugin bejaht auch die Frage, ob der Stiefvater abends mit den
Kindern gebetet habe.
Auf der Fahrt nach Kleppelsdorf mit dem
Stiefvater, der Großmutter, Ursula und der Stütze Mohr habe letztere nicht
schlagen können. weil Irma, wie sie aussagt, mit dem Kopfe auf dem Schoße der
Ursula geruht habe. - Vors.: Hast Du dabei etwas bemerkt, daß Ursula etwas
Hartes in der Unterbindetasche hatte? - Zeugin: Nein. - Vors.: Weißt Du, was
ein Revolver ist, kennst Du auch Patronen? - Zeugin: Ja. - Vors.: Hast Du bei
Ursula jemals einen Revolver und Patronen gesehen? - Zeugin: Nein.
Bei der Ankunft in Kleppelsdorf hat die Großmutter
sich darüber gewundert, daß niemand nach dem Bahnhof gekommen war, weder Dörte,
noch Fräulein Zahn. Irma erzählt, wie sie am Tage vor dem Morde mit Ursula und
Dörte im Garten gespielt habe. Dörte hat sich über Ursel sehr gefreut. - Vors.:
Wer hat Euren Reisekoffer gepackt? - Irma: Die Großmutter. Den Schlüssel zum
Koffer hatte der Vater. Wir brachten die Sachen, die mitgenommen werden
sollten, einzeln an, und Großmutter packte sie ein. Anfangs hat Irma mit Ursula
in einem Zimmer geschlafen, später mußte Ursula bei der Stütze Mohr schlafen.
Am Montag (dem Mordtag) bin ich mit Dörte zur Post gegangen. Auf dem Rückwege
haben wir uns Apfelsinen gekauft. Wieder im Schlosse angelangt, ist Dörte
sofort zu Fräulein Zahn ins Zimmer gegangen, ich in das Zimmer, wo Grupen mit
der Großmutter und der Mohr saß. Ursula kam mir auf dem Korridor entgegen mit
der Frage: „Wo seid Ihr so lange geblieben?“ Sie hatte auf die Apfelsinen
gewartet, ist aber gar nicht traurig gewesen. Ursula ist darauf nach unten
gegangen. Als ich mich an den Tisch zum Mühlespiel setzte, hörte ich, daß
Fräulein Zahn mir sagte, ich solle Dörte und Ursula suchen. Ich ging hinunter
zum Eßzimmer, rief Ursel und Dorte, erhielt aber keine Antwort. Dann ging ich
in die Küche, wo mir die Mädchen sagten, daß sich auch dort Ursel und Dörte
nicht befänden.
Eine
schwerwiegende Aussage.
Ich ging dann wieder hinauf und wollte einen
Apfel essen, da er aber schlecht war, wollte ich ihn in den Ofen werden. Auf
Veranlassung von Ihm trug ich den Apfel zum Abort und warf ihn dort hinein.
We kam dann hinter mir der
ins
Schrankzimmer
(große Bewegung im Saale), wo Er dann
geblieben ist, weiß ich nicht. Ich kam allein zur Stube zurück. Wann Er
zurückgegangen ist, weiß ich nicht. Ich weiß aber, daß er vorher eine Apfelsine
in das Nebenzimmer trug und auf Dörtes Schreibtisch legte.
Der Vorsitzende fragt die Zeugin wiederholt
und eindringlich, unter Hinweis auf das achte Gebot, ob sie bei der Behauptung
bleibe, daß G r u p e n i h r
n a c h g e g a n g e n sei. Sie
bleibt dabei. Auf die Frage eines Geschworenen, ob der Stiefvater sie mit dem
Apfel zum Abort g e s c h i c k t habe, antwortete sie mit einem
bestimmten „ J a “ .
Verteidiger Dr. Mamroth: Du bist schon
dreimal vernommen worden. hast aber davon nichts gesagt. - Vors. (zur Zeugin):
Warum hast Du früher nichts davon gesagt, daß Dein Vater Dich mit dem Apfel
weggeschickt hat und daß er Dir gefolgt ist? - Zeugin: Ich hatte es vergessen. Aber gestern beim Termin im Schlosse ist es
mir eingefallen. Niemand hat es mir eingeredet.
Verteidiger Dr. Ablaß: Ist Dir Dein Vater
oder Deine Mutter lieber gewesen? - Zeugin: Ich habe beide gern gehabt. -
Vors.: Warum hast Du gestern im Schlosse geweint?
Zeugin:
Weil ich Angst vor ihm hatte.
Der Angeklagte wird hierauf wieder in den
Saal geführt und es wird ihm die Aussage der Irma verlesen. Er erklärt darauf:
Als Irma den Apfel wegwerfen wollte, habe ich nur die Tür zum Schrankzimmer
aufgemacht, bin aber i m Z i m m e r
g e b l i e b e n . Die Irma ist
schon als kleines Kind eine v e r s t o
c k t e L ü g n e r i n gewesen. Sie hat einmal der Großmutter ein
Portemonnaie weggenommen, das Geld vernascht und die Tat erst nach langen
Ermahnungen nach vier Tagen eingestanden.
Grupens
stechender Blick.
Verteidiger Dr. Ablaß regt an, d e m
V a t e r i n s G e s i c h t zu sagen, daß er ihr nachgefolgt sei. - D e r
S t a a t s a n w a l t w i d e
r s p r i c h t dieser Anregung und
bittet den Sachverständigen Geheimrat Dr. Moll zu befragen, ob gegen die
Anregung des Verteidigers nicht Bedenken bestehen. Im Zuhörerraum entsteht
große Aufregung. I r m a b e g i n n t z u
w e i n e n , läuft von dem in
der Nähe der Anklagebank stehenden Zeugenstuhle weg und klammert sich wie
Schutz suchend an einen vor der Geschworenenbank sitzenden Sachverständigen. -
Verteidiger Dr. Ablaß stellt den f o r
m e l l e n A n t r a g , daß Irma ihre Bekundung dem Angeklagten ins
Gesicht sage. - Staatsanwalt: Der Antrag ist unzulässig. Es steht nirgends im Gesetz,
daß ein Zeuge dem Angeklagten Bekundungen ins Gesicht sagen muß. - Geheimrat
Dr. Moll: Bei dem stechenden Blick des Angeklagten muß ich mich g e g e n
den Antrag des Verteidigers aussprechen.
Der Gerichtshof zieht sich zur
Beschlußfassung zurück und verkündet nach längerer Beratung die A b l e h n u n g des Antrages des Verteidigers unter Berufung
auf die Strafprozeßordnung und auf die Ansicht des Sachverständigen Dr. Moll,
daß sonst die Wahrheit beeinträchtigt werden könnte.
Die Vernehmung der Irma Schade schließt
damit, daß sie auf Veranlassung des Geheimrats Lesser sich die U n t e r b i n d e t a s c h e mit Patronen und Revolver anlegen muß, um
festzustellen, ob Ursula Schade die Tasche mit diesem Inhalt getragen haben
kann, ohne daß es auffallend gewesen wäre. Irma sagt, daß die Tasche sie im
Gehen belästige und immer gegen die Beine schlage.
Irmas
Charakter.
Es folgt die Vernehmung von F r a u
E r n a L u x , Schwägerin der verschwundenen Frau Grupen.
Die kleine Irma ist von ihr als Pflegekind angenommen worden. Die Zeugin
verneint die Frage des Vorsitzenden. ob der Irma die Bekundung, Grupen sei ihr
beim Forttragen des Apfels nachgegangen, eingeredet worden sei. Als Irma vor 14
Tagen die Zeugenvorladung erhalten habe, habe sie ihr erzählt, daß Grupen ihr
in der grauen Jacke gefolgt sei. - Vors.: Was ist die kleine Irma für ein Kind?
- Zeugin: Ein sehr liebes Kind. Ich habe sie seit Februar im Hause, aber auch
schon früher kennen gelernt. - Vors.: Haben Sie die Irma auf Lügen ertappt? -
Zeugin: Auf kleinen Kinderlügen, eine wirkliche Schlechtigkeit habe ich bei ihr
noch nicht bemerkt. - Vors.: Hat sie auch mal was genommen? - Zeugin: Ein paar
Blaubeeren hat sie genascht.
Hier
e r l i s c h t wieder das e l e k t r i s c h e L i c h t .
Der
Vormundschaftsrichter.
Amtsgerichtsrat T h o m a s - Lähn wird jetzt bei fast völliger Dunkelheit
des Saales vernommen, so daß die Berichterstattung über den ersten Teil seiner
Vernehmung sich keine genaueren Aufzeichnungen machen kann. Es entwickelt sich
eine von sehr verschiedener Weltanschauung zeugende Wechselrede zwischen dem
Vorsitzenden und dem Zeugen, deren Inhalt im Wesentlichen die
Ernährungs-
und Kleidungsverhältnisse
der Millionenerbin D o r o t h e a R o h r b e c k ist. Der Zeuge war mit mehreren
Unterbrechungen während der Kriegszeit, wo er mehrfach eingezogen war, V o r m u n d s c h a f t s r i c h t e r
. Er war in Uebereinstimmung mit dem
Vormund Vielhack der Ansicht, daß in Kleppelsdorf unter Fräulein Zahn zu große
Ausgaben gemacht würden. Zum Erstaunen des Vorsitzenden bekennt der Zeuge, daß
er tatsächlich der Meinung war, daß sich
a u s d e n S a c h e n
d e s v e r s t o r b e n e
n R o h r b e c k hätten
K l e i d u n g s s t ü c k e f
ü r D o r o t h e a machen lassen, - a u s
s e i d e n e n S p o r t h e m
d e n eines Herren ließen sich
doch B l u s e n für den Konfirmationstag eines jungen
Mädchens machen! (Starke Bewegung beim weiblichen Element im Zuschauerraum
worauf wieder eine Rüge des Vorsitzenden erfolgt.) Der Zeuge bestreitet aber
ausdrücklich, daß er der Meinung gewesen sei, aus den Kleidern des Herrn Rohrbeck
hätte das K o n f i r m a t i o n s k l
e i d für Dorothea selbst gemacht
werden sollen, denn dafür seien 800 Mark ausgeworfen worden.
Wie der Zeuge weiter bekundet, kamen dann die
neuen Steuern und rund 621 000 Mark Reichsnotopfer, so daß sich das Kapital
verringerte. Der Vormund bekam zunächst jährlich 2000 Mark und Ersatz der
Reisekosten, sowie 15 Mark Tagegelder bei Reisen. - Vors.: Und wie oft kam da
der Vormund nach Kleppelsdorf? - Zeuge: Jährlich höchstens zweimal. Später
stellte der Vormund den Antrag, seine Entschädigung auf 4000 Mark zu erhöhen,
was aber zu hoch erschien, so daß ich die Festsetzung auf nur 3000 Mark
durchsetzte. - Vors.: Ist es eigentlich nicht bedenklich, daß der Gegenvormund
Bauer, der doch die Rechte des Mündels gegen den Vormund vertreten soll, als
Gegenvormund gewissermaßen der Untergebene des Vormundes war? - Zeuge: Diese
Bedenken habe ich auch gehabt: da aber keine Beschwerden kamen, habe ich mich
damit abgefunden. - Vors.: Von dem Mündel und der Erzieherin lagen jedenfalls
viele Beschwerden vor.
Der Zeuge macht dann nähere Angaben über die
Gelder, die Fräulein Zahn für den Haushalt und die Erziehung erhielt. Im Jahre
1915/16 wurden an Fräulein Zahn 26 000 Mark gezahlt, wofür sie Gärtner, Köchin
und die beiden Dienstmädchen bezahlten mußte. Fräulein Zahn selbst erhielt
monatlich (200) Mk. 1916/17 waren es rund 24 000 Mark, dann wieder 24 000, dann
21 000, dann 29 900. Im ersten und im letzten Falle sind die Naturalien
eingerechnet, in den anderen Fällen nicht. - Vors.: Es ist doch merkwürdig: je
größer die Teuerung wurde, desto niedriger wurden die dem Mündel zugebilligten
Unterhaltungsgelder. Und mit 100 Mark wöchentlich wollten die beiden Damen
auskommen? - Zeuge: Sie erhielten ja auch noch Naturalien. Herr Rohrbeck hatte
10 000 Mark für die Erziehung seiner Tochter ausgesetzt. - Vors.: Damit hatte
er doch sicherlich nur die Ausgaben für die
E r z i e h u n g gemeint, aber
nicht die Kosten für den gesamten Unterhalt. - Zeuge: Der Vormund und ich waren
jedenfalls der Meinung, daß damit der g
a n z e U n t e r h a l t gemeint sei. Jedenfalls war der Vormund der
Ansicht, daß die beiden Damen mit diesem Gelde auskommen konnten. - Vors.: Wie
erklären Sie aber dann die Tatsache, daß die beiden Damen von Verwandten und
Bekannten Geld borgen mußten? - Zeuge: Ich habe von dieser Tatsache erst kurz
vor dem Tode der Dorothea Rohrbeck erfahren. Jedenfalls haben die Damen wohl
über die Verhältnisse gelebt. Rohrbeck hatte bestimmt, daß seine Tochter e i n f a c h b ü r g e r l i c h erzogen werden sollte. (Heiterkeit im
Zuschauerraum, die vom Vorsitzenden wieder gerügt wird.) - Vors.: Können Sie
bestimmte Tatsachen angeben, daß die beiden Damen zu viel Geld ausgegeben
haben? - Zeuge: Bestimmte Tatsachen kann ich hierfür nicht anführen, aber die
Zahl der Dienstboten war wohl zu groß. - Vors.: Um das Schloß im Stande zu
halten, mußten doch auch Leute da sein. Und die 120 Mark, die die beiden Damen
zuletzt für ihren Haushalt erhielten, mußten sie sich noch wöchentlich von
Herrn Bauer holen? - Zeuge: Das gefiel mir ja auch nicht.
Vors.: Der Vormund hat dann Fräulein Zahn
wiederholt gekündigt, obwohl in dem Testament stand, daß sie die Erziehung des
Fräuleins bis zu deren Mündigkeit leiten sollte. Glaubten der Vormund und Sie,
daß Sie hierzu ein Recht hatten? - Zeuge: Das war jedenfalls die Ansicht des
Vormundes und meine auch. - Vors.: Ihre Ansicht, aber die oberen Gerichte waren
jedenfalls anderer Ansicht. (Heiterkeit, die der Vorsitzende rügt.) Weshalb
wollte der Vormund Fräulein Zahn entlassen? - Zeuge: Er war der Ansicht, daß
ihm Fräulein Zahn das Mündel e n t f r
e m d e . - Vors.: Aber der Vormund
hatte doch gar keine persönlichen Beziehungen zu Fräulein Rohrbeck! Er was doch
nur ein früherer Jagdgast des Herrn Rohrbeck.
Vors.: Nach den bei den Akten befindlichen
Attesten des Dr. Kreisel in Breslau war Dorothea Rohrbeck leidend und sollte
gute Verpflegung und Aufenthalt auf dem Lande haben. Trotzdem wollte der
Vormund, daß sie in ein Pensionat nach der Stadt gehen sollte, was ihr gewiß
gesundheitlich nicht zuträglich gewesen wäre. - Zeuge: Ich hatte auch dagegen
Bedenken, deshalb war ich gegen diesen Plan, zum mindesten war ich dafür, daß
dann nur ein Pensionat in Frage komme, in welchem alle Vorbedingungen für ärztliche
Beaufsichtigung vorhanden waren. Dabei muß ich aber erwähnen, daß Fräulein Zahn
selbst die Absicht hatte, mit Dorothea in die Stadt zu ziehen, da war ihr der
Stadtaufenthalt nicht bedenklich; der Widerstand kam erst, als Dorothea
Rohrbeck allein in die Stadt gehen wollte. - Vors.: Stand es nicht im
Widerspruch mit den Bestimmungen des Testaments, wenn man Fräulein Zahn von
Fräulein Rohrbeck trennen wollte, zumal zwischen den beiden doch das innigste
Verhältnis bestand? - Zeuge: Der Vormund war jedenfalls der Ansicht, daß er
dies tun dürfe. - Vors.: Das war seine persönliche Ansicht. - Zeuge: Der
Vormund hielt die Erziehung durch Fräulein Zahn nicht für ganz unbedenklich.
Fräulein Zahn hat z. B. alle Streitigkeiten, die sie mit dem Vormund hatte, der
Dorothea erzählt. - Vors.: Das war doch bei dem innigen Verhältnis zwischen den
beiden ganz natürlich. Es ist auch die Rede, daß Fräulein Zahn sich taktlos
gegen den Vormund benommen haben soll. - Zeuge: Ich habe diesen Ausdruck
gebraucht, weil bei Anwesenheit des Vormundes die beiden Damen nach Hirschberg
fuhren, wie er annahm, zu einer Musikstunde. Später stellte sich allerdings
heraus, daß eine zahnärztliche Behandlung der Grund der Reise war, so daß sich
der Vorwurf der Taktlosigkeit nicht aufrechterhalten läßt.
Verteidiger Dr. Ablaß: Der Zeuge hat nach
bestem Gewissen pflichtgemäß gehandelt, da er die Darstellung des Vormundes,
den er für einen durchaus glaubwürdigen Ehrenmann halten mußte und in dessen
Angaben er natürlich nicht den geringsten Zweifel setzen konnte, für richtig
hielt. Eine Verpflichtung für ihr, die Verhältnisse im einzelnen zu prüfen,
hatte er als Vormundschaftsrichter nicht. - Vors.: Er hätte sich doch wohl
selbst Gewißheit über die Verhältnisse verschaffen können, zumal die vielen
Beschwerden kamen. - Zeuge: Ich hatte keine Veranlassung, an der Richtigkeit
der mir vom Vormund gegebenen Unterlagen zu zweifeln.
Verteidiger Dr. Ablaß: Wie haben sich die
Einnahmen gegenüber den Ausgaben gestellt? Es ist doch so, daß der Vormund und der
Zeuge der Ansicht waren, daß die Ausgaben nicht in dem richtigen Verhältnis zu
den Einnahmen standen, so daß zu der Zeit, wo mit dem Alter des Mündels die
Ausgaben größer wurden, nicht mehr das nötige Kapital vorhanden war. Die Herren
waren der Ansicht, daß sich wohl eine Herabsetzung der Kosten für den Haushalt
erzielen ließe. - Vors.: Es wäre wohl die Pflicht des Zeugen gewesen, genaue
Erkundigungen einzuziehen, zumal so viele Beschwerden eingingen, darunter sogar
eine vom Waisenrat.
Die
Kastanienbäume als „Grund zum Selbstmord“.
Zeuge: Es sollten im Park einige alte
Kastanienbäume geschlagen werden, weil sie morsch waren und ihr Sturz drohte.
Dorothea Rohrbeck, die sehr in diesen Bäumen hing, kam nicht zu mir, sondern
ging zu dem Waisenrat und ließ durch diesen für die Bäume bitten. Ich habe dies
dem Vormund geschrieben und erhielt die Antwort, daß die Bäume doch beseitigt
werden müßten, weil sie beim Sturz das Dach beschädigen konnten. Am Tage vor
der Tat wurde dies Fräulein Rohrbeck mitgeteilt. Als ich am nächsten Tage
nachmittags gegen 3 Uhr auf dem Bahnhof von der Tat hörte, ging mir durch den
Kopf, ob nicht Fräulein Rohrbeck aus Schmerz über die Nichterfüllung ihrer
Bitte Selbstmord verübt haben könnte. Ich gab daher, als ich in dem Schlosse, in
das ich mich sofort begab, zu Fräulein Zahn diesem Gedanken Ausdruck. Auf dem
Wege zum Schlosse gaben allerdings die Herren, die mich abholten, auch anderen
Vermutungen Ausdruck. Auch wurde mir damals schon Grupen als wahrscheinlicher
Täter genannt. - Vors.: Der Gedanke, daß ein junges Mädchen wegen einer solchen
Sache Selbstmord verüben könnte, ist dich eigentlich wohl etwas sehr
fernliegend.
Der
Vormundschaftsrichter über Fräulein Zahn.
Zeuge: Es war ja auch nur eine Vermutung, die
mir damals durch den Kopf ging. Fräulein Zahn war k u r z
n a c h d e r T a t
n i c h t d i e g e r i n g s t e E r r e g u n g anzumerken, während ich selbst angesichts
der Leichen in einer furchtbaren Aufregung war. Ich habe nie eine Frauensperson
gesehen, die in einer solchen Situation so ruhig war. Da kam mir der Gedanke,
ob denn die Liebe des Fräulein Zahn zu Fräulein Rohrbeck vielleicht doch nicht
so groß war.
Fräulein
Z a h n , die im Zuschauerraum
ist, ruft aus: Das ist zuviel! Ich kann nicht mehr! und bricht in heftiges
Weinen aus. Mit Erlaubnis des Vorsitzenden verläßt sie den Saal.
Zeuge Thomas: Ich kann nur erklären, daß ich
an Fräulein Zahn keine Erregung bemerkt habe, war mir auffiel. Er gibt
allerdings auf Vorhalten des Vorsitzenden zu, daß es sich bei Frl. Zahn auch um
die Starrheit des Schmerzes handeln konnte. - Verteidiger Dr. Ablaß bezeichnet
den Zeugen als in Fragen des Taktes geradezu vorbildlich.
Ein G
e s c h w o r e n e r wünscht
Aufklärung, welche Vermutungen der Zeuge über die Tat gehabt hat, ob ihm auf
dem Wege vom Bahnhof nicht auch schon mitgeteilt worden sei, daß hier ein Mord
vorliege. - Zeuge: Auch diese Vermutung wurde geäußert; ich habe ja dann auch
in der Nacht Grupen verhaftet. Zeuge erklärt nochmals, daß Fräulein Zahn eine
bewunderungswürdige Ruhe an den Tag gelegt habe. - Vors.: Ich habe vorhin nach
dem Ton Ihrer Aussage die Empfindung gehabt, als wollten Sie an Fräulein Zahn
eine üble Kritik üben.
Eine
Erklärung der Geschworenen.
Ein G
e s c h w o r e n e r : Im Namen aller
Geschworenen wünsche ich zu erklären, daß wir uns der Beurteilung des Herrn
Vorsitzenden über die Aussage des Zeugen anschließen. - Verteidiger Dr. Ablaß:
Ich beantrage die P r o t o k o l l i e
r u n g des Beschlusses der
Geschworenen. - Es entspinnt sich eine Debatte zwischen dem S t a a t s a n w a l t , der meint, daß hier kein richtiger Beschluß
der Geschworenen vorliegt, und dem Verteidiger
D r . A b l a ß , der betont, daß die Tatsache, daß die Geschworenen
diese Erklärung abgegeben haben, doch nicht zu leugnen sei. - Der Gerichtshof
berät darüber, nachdem er sich zurückgezogen, und der Vorsitzende verliest die
nach Wiedererscheinen erfolgte E i n t
r a g u n g i n d a s
P r o t o k o l l , welche dem
Wunsche des Verteidigers entspricht und feststellt, daß der Zeuge an Frl. Zahn
keine ungünstige Kritik üben, sondern nur sein Erstaunen über ihre
Selbstbeherrschung zum Ausdruck bringen wollte.
Nochmals
das Haushaltsgeld.
Zeugin
Z a h n gibt dann nochmals die
Beträge an, die ihr der Vormund mit Genehmigung des Vormundschaftsrichters als
Haushaltsgeld zugebilligt hat. Vom 1. Juli 1916 bekam ich monatlich 1000 Mk.,
wovon ich alle Ausgaben zu decken hatte. Auf einer Konferenz der Vormünder und
des Vormundschaftsrichters war dieser Betrag festgesetzt worden. Es wurden als
Gesamtausgaben 18 000 Mk. festgesetzt, 12 000 Mk. erhielt ich in bar, 6000 Mk.
wurden für Naturalbezüge aus dem Gut gerechnet. Vom 1. April 1920 ab bekam ich
wöchentlich 1 2 0 M a r k
a u s s c h l i e ß l i c h der
Gehälter, vom 1. Oktober 1920 wöchentlich
1 0 0 M a r k e i n s c h l i e ß l i c h der Gehälter! Das reichte natürlich nicht
aus.
Dann wird noch Güterdirektor B a u e r -
Kleppelsdorf, der Gegenvormund, vernommen, aber nur über seine Beobachtungen
am Mordtage. Er kam erst später hinzu, da er an diesem Tage in Löwenberg war.
Er hat dann als Amtsvorsteher das Mordzimmer versiegelt. Sonst bekundet der
Zeuge nichts wesentliches. Ueber seine Tätigkeit als Gegenvormund wird er nicht
vernommen.
Hierauf wird die Weiterberatung auf Freitag
vertagt.
*
Sitzung
am Freitag.
Vernehmung
von Marie Mohr.
Die Sitzung am Freitag wird mit der
Vernehmung der Stütze M a r i e M o h r
eingeleitet. Die 21 Jahre alte Zeugin wird unter Aussetzung der
Vereidigung vernommen.
Vors.: Sie haben in der Voruntersuchung
gesagt, Sie glaubten alles, was der Angeklagte sage. Vor dem Untersuchungsrichter
haben Sie auf erklärt, daß Sie gar nicht wüßten, warum alles niedergeschrieben
werde, Sie hielten das für eine große Papierverschwendung. Mit Rücksicht auf
diese Aeußerungen und auf Ihr Verhältnis zu dem Angeklagten muß ich Sie ganz
besonders darauf aufmerksam machen, daß Sie hier die reine Wahrheit zu sagen haben.
- Oberstaatsanwalt D r . R e i f e n r a t h beantragt, während der Vernehmung der Zeugin
den A n g e k l a g t e n a u s
d e m S a a l z u
e n t f e r n e n . - Die V e r t e i d i g e r erheben
E i n s p r u c h . Sie
befürchten keine Beeinflussung der Zeugin durch den Angeklagten. -
Geheimrat D r . M o l l
hält die Besorgnis einer Beeinflussung für b e g r ü n d e t . Es handle sich um ein junges Mädchen, das zu
dem Angeklagten in sehr intimen Beziehungen gestanden habe. - Das G e r i c h t l e h n t
d e n A n t r a g d e s
S t a a t s a n w a l t s a b
, es behält sich aber vor, den
Angeklagten abführen zu lassen, sobald die Befürchtung einer Beeinflussung
begründet erscheint. Geheimrat Moll wird gebeten, dem Gerichtshof mitzuteilen,
wann etwa dieser Zeitpunkt eintreten sollte. Der Vorsitzende ersucht die
Zeugin, zu den Geschworenen gewendet zu sprechen.
Frl.
M o h r , die an einer
Mandelentzündung erkrankt ist und daher schwer verständlich ist, bekundet: Im Dezember
1920, also nach dem Verschwinden der Frau Grupen, bin ich in Grupens Haus als
Stütze gegangen, und zwar auf Wunsch meiner Mutter, während der Vater dagegen
gewesen ist. Die Ursel ist ein liebenswürdiges Kind gewesen; die Leute
erzählten, daß Ursel auf ungesatteltem Pferde geritten sei. In der Hand des
Kindes habe ich nie eine Schußwaffe gesehen, auch nicht ein ähnliches
Spielzeug. Auf der Reise nach Kleppelsdorf habe ich keinerlei Wahrnehmungen
gemacht, daß Ursula e i n e n R e v o l v e r o d e r
e i n P a t r o n e n k ä s t c
h e n u n t e r d e n
K l e i d e r n trage. Auch beim
Spielen und Schaukeln der Kinder im Park habe ich nie wahrgenommen, daß Ursula
einen harten Gegenstand bei sich trage. In Kleppelsdorf ist Ursula n u r
z e i t w e i s e t r a u r i
g gewesen. Frau Eckert hat sich über
den kühlen Empfang in Kleppelsdorf aufgeregt. Der Empfang ist deshalb so
unfreundlich gewesen, weil Grupen und Frau Eckert mit den Kindern unangemeldet
gekommen waren. Frau Eckert hat auch gesagt: „Ich habe schon recht, daß ich in
Kleppelsdorf nicht gern gesehen bin. Dörte ist ebenso verschwenderisch wie Frl.
Zahn, und es kann schon stimmen, was Herr Vielhack geschrieben habe, daß es
einmal ein Ende mit Schrecken nehmen werde.“ Erst habe ich mit Irma, dann mit
Ursula im Amtszimmer geschlafen. Ursula hatte die ersten Nächte bei der
Großmutter Eckert zugebracht. Frau Eckert klagte aber, daß Ursula schwer träume
und unruhig schlafe. Frau Eckert erzählte auch, daß Ursel sie einmal nachts
geweckt habe mit der Frage: „Wo ist der Karton?“ Ursel hat damit den
Bücherkarton gemeint. Wenige Tage nach der Ankunft in Kleppelsdorf schrieb
Ursel an eine Frau Bartel einen Brief. Da er nicht richtig war, habe ihn Ursel
zerrissen und noch zweimal geschrieben und sich dann sehr gefreut, als er ihr
gelungen war. Am 9. oder 10. Februar hat mir Ursula
einen
Brief an Großmutter
übergeben und gesagt, das wird
eine
große Ueberraschung für Großmutti
sein. Ursula forderte aber den Brief zurück
und sagte, Großmutter solle ihn erst übermorgen erhalten. Am nächsten Tage
wollte Ursula, daß ich den Brief noch nicht abgebe, weshalb ich ihr ihn wieder
zurückgab.
Staatsanwalt: Was hatten Sie für einen
Eindruck, als die Ursel sagte: das soll eine Ueberraschung für Großmutter sein?
- Zeugin: Ursula war s e h r v e r g n ü g t d a b e i . - Vors.: Hat damals der Angeklagte von dem
Brief etwas gehört? - Zeugin: Nein.
Verteidiger Dr. Ablaß: Ist die Ursula einmal
nachts an das Bett der Großmutter gegangen und hat sie dabei geweint? - Der
Staatsanwalt weist darauf hin, daß dieser Vorgang im Zusammenhang stehe mit
Dingen, die in geheimer Sitzung zu beraten seien. - Der Verteidiger ist damit
einverstanden.
Die Z
e u g i n bestreitet, die Rollstube
jemals verschlossen zu haben.
Hat
Grupen das Zimmer verlassen?
Vors. (mit erhobener Stimme): I s t
d e r A n g e k l a g t e d e r
k l e i n e n I r m a , als sie den Apfel nach dem Abort trug, n a c h g e g a n g e n ?
Zeugin:
N e i n !
Vors.: Ist Grupen aber nicht aufgestanden und
hat er der Irma nicht die Tür zum Schrankzimmer aufgemacht?
Zeugin:
N e i n . - Vors..: Der Angeklagte hat es gestern selbst
gesagt! Ist Grupen im Zimmer hin und her gegangen?
Zeugin:
N e i n , wir haben Mühle
gespielt.
Verteidiger Dr. Mamroth: Sie haben schon in
der Voruntersuchung erklärt, Sie seien bereit, jederzeit zu beschwören, daß
Grupen das Zimmer nicht verlassen habe.
Ein Beisitzer macht die Zeugin darauf aufmerksam,
daß sie in ihrem heutigen Verhör verschiedene Fragen nicht mit derselben
Genauigkeit beantwortet hat, wie die, ob Grupen das Zimmer verlassen habe.
Die Z e u g i n erwidert, sie habe andere Sachen vergessen,
weil sie unwichtig seien.
Vors.: Hat der Angeklagte später nicht
gesagt: e s i s t
g u t , d a ß w i r
a l l e g e s a g t h a b e n ,
d a ß i c h i n
m e i n e m Z i m m e r w a r ? -
Zeugin: Ich kann mich darauf nicht erinnern.
Verteidiger Dr. Ablaß weist darauf hin, daß
die Zeugin schon in früheren Vernehmungen erklärt habe: „Ich weiß, daß Grupen
nicht hinausgegangen ist, weil wir Mühle gespielt haben.“
Sachverständiger Dr. Moll (zur Zeugin): Haben
Sie die Unterhaltung gehört, die der Angeklagte mit Fräulein Zahn im
Nebenzimmer geführt hat? Der Angeklagte soll Fräulein Zahn dabei gefragt haben,
was Küßchen auf plattdeutsch heißt.
Zeugin kann sich hierauf nicht erinnern.
Angeklagter: Ob sie wisse. daß er die von
Irma gebrachten Apfelsinen zu Fräulein Zahn in das Nebenzimmer getragen und
diese gefragt habe, ob sie die Apfelsinen schälen und zuckern wolle. - Zeugin:
Das kann sein. - Vors.: Ich mache Sie darauf aufmerksam. daß Sie in der
Voruntersuchung erklärt haben, a l l e
s z u
g l a u b e n , w a s d e r
A n g e k l a g t e s a g e
. Ueberlegen Sie sich Ihre Aussagen.
Angeklagter: Ich bitte darum, daß die Zeugin
jede Rücksicht auf mich fallen läßt. - Vors.: Das ist ganz selbstverständlich.
Die Zeugin hat gar keine Rücksicht auf Sie zu nehmen.
Frl.
M o h r bekundet weiter, daß sie
sich gegen Abend im sog. Amtszimmer mir Frau Eckert, der kleinen Irma und
Grupen eingeschlossen habe. - Vors.: Warum ist zugeschlossen worden? - Zeugin:
Das weiß ich nicht.
Vors.: Hat der Angeklagte nicht gesagt: Es
ist doch gut, daß wir zusammen waren, da wird meine Unschuld bald an den Tag
kommen.
Zeugin: Kann sein, daß er es gesagt hat. -
Auf wiederholtes Befragen erklärt die Zeugin:
I c h w e i ß e s
n i c h t .
Vors.: Was hat Grupen zu Ihnen gesagt, als er
abgeführt wurde? Zeugin: Ich solle die
Wahrheit sagen, dann wird sich seine Unschuld bald herausstellen. Vors.: Hat er
nicht gesagt, daß er, wenn Sie bekunden, daß er oben war, bald wieder frei sein
werde? - Zeugin: Das weiß ich nicht! - Vors.: Aber überlegen Sie es sich genau.
Ein anderer Zeuge bekundet diese Aeußerung. - Zeugin: Ich weiß es nicht.
Plattdeutsch.
Vors.: Was sagte Grupen zu Ihnen, als er am
nächsten Tage nach einer nochmaligen Vernehmung im Schloß nach Hirschberg
abgeführt wurde? - Zeugin: Das weiß ich nicht. - Auf wiederholtes Befragen
erklärte die Z e u g i n , daß der Angeklagte gesagt habe, ich solle
die Wahrheit sagen, daß wir oben im Zimmer zusammen waren. - Vors.: Als der
Landjägermeister Klopsch dem Angeklagten das weitere Sprechen verbot, hat da
der Angeklagte nicht p l a t t d e u t
s c h g e s p r o c h e n , und was? - Zeugin: Ich weiß es nicht. - Auf
wiederholtes Befragen des Vorsitzenden sagt die Zeugin schließlich: Der Angeklagte
wird seine Ermahnung, die Wahrheit zu sagen, wiederholt haben. - Vors.: Da
brauchte doch der Angeklagte nicht plattdeutsch zu sprechen. Hat er wirklich
das gesagt? - Zeugin: Es kann sein.
Die Z
e u g i n muß dann die Worte: Sag die
Wahrheit, dann komme ich bald heraus! in Plattdeutsch sprechen. Sie spricht
dies aber so aus, daß alle Anwesenden die Wort verstehen, während der
Landjägermeister Klopsch die Worte des Angeklagten damals nicht verstanden hat.
- Der Angeklagte spricht die Worte plattdeutsch aus, die er damals gesprochen
haben will: „Segg de Wohrheet un gif man tau, dat wi tausamen verköhrt hebben.“
Diese Worte kann, besonders bei dem Tonfall des Dialekts, niemand im
Gerichtssaal verstehen. - Sachverständiger Dr. Peters: Ich verstehe auch
plattdeutsch. Diese Worte lauten: Sag die Wahrheit, und gib nur zu, daß wir
zusammen verkehrt haben. - Zeugin: Ja, das hat er gesagt. - Vors.: Es ist doch
merkwürdig, vorhin habe ich Sie so eingehend gefragt, was der Angeklagte gesagt
hat, und Sie haben immer und immer wieder versichert, daß Sie es nicht mehr
wüssten, und jetzt wissen Sie es auf einmal.
Weiter gibt die Zeugin an, daß Frau Eckert
das Gepäck für Kleppelsdorf eingepackt hat. Sie hat nicht bemerkt, daß die
Ursula etwas unter ihrer Kleidung versteckt hatte. Während die Zeugin immer
behauptet hatte, daß die Sachen in einem Reisekorb gewesen sind, bekundet Frl.
Zahn, daß dies nicht richtig ist, es sei ein Rohrplattenkoffer gewesen. Die
Zeugin Mohr gibt dies dann auch zu.
Es folgen dann eine Reihe von Fragen der
Sachverständigen nach dem G e m ü t s z
u s t a n d d e r U r s u l a . Auch diese Zeugin bekundet, daß Ursel oft
traurig war.
Auf Befragen des Schießsachverständigen gibt
die Zeugin an. daß der Angeklagte in Ottenbüttel S c h
i e ß ü b u n g e n m i t e i n e m
R e v o l v e r angestellt hat.
Als wieder nach einer Aussage eine Bewegung
im Zuschauerraum entsteht, bittet der Verteidiger D r .
A b l a ß den Vorsitzenden,
gegen solche Kundgebungen einzuschreiten. - Vors.: Ich habe schon wiederholt
solche Kundgebungen gerügt und werde unnachsichtlich bei jeder Kundgebung des
Beifalls oder Mißfallens den Zuschauerraum
r ä u m e n lassen.
Der A
n g e k l a g t e b e a n t r a g
t s e l b s t kurz vor 1 Uhr den A u s s c h l u ß d e r
O e f f e n t l i c h k e i t ,
der auch erfolgt.
(Fortsetzung folgt.)
Sonnabend, 10. Dezember 1921, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“
(Woher
Kleppelsdorf seinen Namen hat)
Für Geschichtsforscher dürfte es nicht
uninteressant sein, zu hören, daß der Kleppelsdorfer Hof, in alten Schriften
auch Klöppelsdorfer Hof oder Klepperhof genannt, davon seinen Namen hat, daß
einst auf demselben die schweren Rüstpferde, - Klepper genannt - standen, die
zur Burg Lehnhaus gehörten.
Sonnabend, den 10. Dezember 1921, „Der Bote
aus dem Riesengebirge“
Peter
Grupen.
Wer als Zuhörer und Zuschauer in einen
Schwurgerichtssaal geht, in dem ein Mordprozeß zur Verhandlung steht, pflegt
sich auf Grund von Berichten, aus Lebenserfahrungen aller Art und auch nach
seinem Phantasie- und Empfindungsvermögen heraus schon ein Bild von der
Persönlichkeit des Angeklagten in einer Art Strichmanier entworfen zu haben.
Mit vorgefaßter Meinung von dem „Kerl“, der´s wohl gewesen sein wird, gehen
sehr viele in den Saal. Neugierig, wie er wohl aussehen und wie er sich
benehmen wird gegenüber der Wucht der Anklage, sind alle und interessant ist
ein des Mordes Angeklagter immer besonders für denkende und fühlende Menschen,
die über seelische und soziale Probleme nachsinnen und wissen, daß die
Handlungen, ja die Worte und Gedanken der einzelnen immer in einem gewissen
Zusammenhange mit dem Charakter der Zeit stehen, und jeder, auch der ärgste
Verbrecher, doch immer noch ein Bruchteil des Volkes ist. In einem völkischen
Zustande, bei dem man tagtäglich auf Habgier stößt, in einer Nachkriegszeit, in
welche die natürlichen Wirkungen der Nichtschätzung von Menschenleben noch
nachzittern, wird ein Mord und ein dieses Verbrechens angeklagter Volkgenosse
wahrscheinlich etwas anders angesehen, wie in ganz normalen Zeiten, und
dennoch: das Wörtlein Mord! wird immer die Spannung hervorrufen, die z. B.
Schiller in einem Satze seiner „Räuber“ zum Ausdruck bringt: „Wie eine ganze
Hölle von Furien um das Wort flattert!“ Gespannt sind die Leute immer, ob dem
den Mordes Angeklagten etwas anzumerken ist von der Angst, in der er ja nach
dem „allgemeinen Empfinden“ befangen sein muß. Man erwartet jedenfalls „Szenen“
und auf das Auftreten des Hauptakteurs in der Tragödie menschlicher Verirrungen
ist jedermann neugierig, wißbegierig.
Es ist eine alte Erfahrung, daß zu allen
Zeiten sich Frauen ganz besonders lebhaft für energische willensstarke Männer
interessieren. Im Kleppelsdorfer Mordprozeß haben wir die erwartete Zusammensetzung
des Publikums, d. h. vorwiegend Frauen. „Ganz anders“ haben sich zweifellos
viele Besucher des Saales den des Mordes an zwei jungen Mädchen angeklagten
Peter Grupen vorgestellt. Man erwartete wohl einen durch zehnmonatliche Untersuchungshaft
mitgenommenen Mann mit funkelnden „Hypnotiseur-Augen“ etc. „Andere sehen doch
so blaß aus.“ hörte ich eine Dame hinter mir flüstern. Nun, Peter Grupen sieht
erstaunlich blühend aus, mit roten Backen im runden Gesicht, das ein blondes
Schnurrbärtchen ziert, das für den strammen 27jährigen Mann fast zu klein
geraten ist. Er erinnert in seiner ganzen militärischen Haltung noch an den
ehemaligen Hannoverschen Ulanen, der den Krieg mitgemacht hat. Im linken Aermel
steckt der Oberarmstumpf des zerschossenen Armes, mit dem rechten Arm stützt
sich Peter Grupen bei stundenlangem Stehen leicht auf eine Stuhllehne, wenn er
im Raume vor den Geschworenen steht, die seine etwas dünne und hohe Stimme bei
dem schnellen Sprechen so besser verstehen als von der Anklagebank her. In
seiner eleganten, hellen Gürteljoppe, mit dem blendend weißen Stehkragen und
dem modernen Schlips, in den tadellosen hohen Ledergamaschen, kurz in der
gesamten „Aufmachung“, könnte Peter Grupen, wenn er nicht in seiner
Bewegungsfreiheit und Abreise durch den fatalen Mordverdacht behindert wäre,
sich getrost in ein Auto setzen, z. B. nach Krummhübel oder Schreiberhau
fahren, um dort als kreditfähiger und anspruchsvoller Fremder von einem
Obergastwirtsgehilfen sofort freudig taxiert und bedient zu werden. Ja, so
„forsch“ sieht Peter Grupen aus, der ehemalige Maurerpolier,
Vulkanwerftzeichner, Bauführer, Kleingutsbesitzer aus Ottenbüttel, dieser
blonde Holsteiner, geboren am 20. September 1894 als Sohn eines Bootsbauers in
Haseldorf bei Pinneberg, in der Gegend von Altona, der „eheverlassene“ Gatte,
der … seit seinem Geburtstage 1920 verschollenen Frau, der angeblich nach
Amerika ausgewanderten ehemaligen Apothekerwitwe und Mutter der erschossenen
Ursula. Dies Stiefkind des Glücks ist ganz gewiß von einer Kugel aus der
kleinen Selbstladepistole Grupens tödlich getroffen worden. Ob sie Selbstmord
verübt, auch die Dörte Rohrbeck erschossen hat, wie der bei ihr aufgefundene
Brief an Großmutti Eckert besagt, das ist die große Rätselfrage.
Peter Grupen aber, der Angeklagte, kämpft
jetzt um sein Leben vor den Geschworenen. Eine Hundertschaft von Indizien aus
der Anklageschrift des Staatsanwalts zielt und schießt auf ihn, Peter Grupen
wehrt sich sehr gewandt und läßt sich nie verblüffen, er versucht Zug um Zug
Verdachtsgründe zu widerlegen mit häufig ohne weiteres einleuchtenden, wenn
auch nicht immer überzeugenden Darlegungen, die durch ein erstaunliches
Gedächtnis von Einzelheiten gestützt werden. Mit einer gewissen Eleganz, ja stellenweise
mit einer juristisch-logischen Sicherheit des Ausdrucks, weiß er kniffliche
Fragen zu beantworten, ja kennzeichnet sogar zuweilen mit kritischer Schärfe
gegnerische Wendungen, wendet mit Vorliebe das Wort logisch an. Er benimmt sich
wie ein geschulter Diskussionsredner und hält sich dabei an die durchaus
berechtigte Weisung seines Verteidigers Justizrats Dr. Ablaß, der selbst
betont, daß er dem Angeklagten dringend geraten habe, nie die Lehre zu
vergessen: Was bei einem Zeugen als Irrtum ausgelegt werden kann, kann dem
Angeklagten, wenn der sich widerspricht, als Schuldbekenntnis in die Wagschale
fallen und ihn zu Unrecht belasten. Also der Angeklagte hält sich in den
Grenzen vorsichtiger Abwägung. Mit gesellschaftlich üblichen Umgangsformen weiß
Peter Grupen Bescheid, er hat sich bisher stets bei Einwendungen oder
Unterbrechungen angemessener Wendungen bedient, nur zuweilen gegenüber dem
Staatsanwalt zeigt er eine gereizte Schärfe. Alles in Allem: Bei der Vernehmung
zeigt der Angeklagte Peter Grupen eine große rednerische Gewandtheit, die
jedenfalls geeignet ist, das Interesse an seiner Persönlichkeit und an dem
Prozesse überhaupt zu vertiefen. Die Bekundungen der Zeugen und
Sachverständigen werden ja vermutlich manche Behauptung erschüttern, aber der
erste Eindruck, wie sich auch das Ergebnis der Verhandlung des schwierigen
Indizienprozesses weiter gestalten mag, wird sicherlich bei sehr vielen
Zuhörern haften bleiben: Dieser Peter Grupen erleichtert seinen beiden
bewährten Verteidigern das Leben, er ist selbst ein hervorragender Verteidiger
in eigener Sache.
Sonntag, den 11. Dezember 1921, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“:
Der
Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.
Der
Vormund.
Hirschberg, 10. Dezember.
In der Verhandlung am Freitag sollte anfänglich
Frau Eckert vernommen werden, und man sah dieser Vernehmung mit Spannung
entgegen, doch mußte sie auf Sonnabend vertagt werden. Einen sehr breiten Raum
nahm statt dessen die Vernehmung des Vormundes
V i e l h a c k ein.
Am heutigen Vormittag wurde dann Frau E c k e r t
vernommen und machte dabei hochbedeutsame Aussagen.
Im Einzelnen ist zu berichten:
Die Nachmittagssitzung beginnt mit der
Vernehmung von Dörte Rohrbecks Vormund, dem 65 Jahre alten Hauptmann a. D. E r i c h
V i e l h a c k aus
Charlottenburg. Der verstorbene Rohrbeck ist mein Jagdfreund gewesen. Daß ich
zum Vormund der Dorothea bestellt war, habe ich erst durch Fräulein Zahn
erfahren. Diese schrieb mir, daß Rohrbeck krank in einem Sanatorium in Schandau
liege und bat mich, ihn zu besuchen.
Rohrbecks
Testament.
Der Zeuge schildert nun, unter welchen
Umständen das Testament des sterbenden Rohrbeck zustande kam, und wie er, der
Zeuge, sich bemühte, dabei Frl. Zahns Stellung zu sichern, weil er sich sagte,
es werde mit ihr ein leichteres Arbeiten sein als mit den Verwandten.
Vors.: Die 10 000 Mark sollten für die E r z i e h u n g sein? - Zeuge: Dieser Ansicht war ich nicht.
Ich nahm an, daß mit den 10 000 Mark der
g a n z e U n t e r h a l t bestritten werden sollte. Mit Einwilligung
des Vormundschaftsrichters wurde die Summe für den gesamten Haushalt auch auf
18 000 Mk. erhöht. Damit sollte sie schalten und walten, wie sie wollte, aber
sich auch unter allen Umständen begnügen.
Vors.: Sie hätten aber berücksichtigen
müssen, daß alles teurer geworden ist. Warum haben Sie nicht beim Vormundschaftsgericht
beantragt, das Haushaltsgeld zu erhöhen. - Zeuge: Weil ich dieser Ansicht nicht
war. Wir alle haben uns einschränken müssen.
Vors.: Wußten Sie, daß Fräulein Rohrbeck
leidend war? - Zeuge: Ja, deshalb wollte ich auch Fräulein Rohrbeck bald in
eine Pension geben. Aber Frl. Zahn wollte durchaus nicht. Anfangs dachte ich
gar nicht daran, sie zu entfernen. Aber Dörte wurde von mir gewaltsam fern
gehalten. Kleppelsdorf, Gieshübel und Kuttenberg waren 1200 Morgen, wovon 600
unter dem Pfluge. An Barvermögen waren allerdings 1 1/3 Millionen Mark
vorhanden. Frl. Zahn kam nie mit dem Gelde aus und hat nach meiner Ansicht sehr
schlecht gewirtschaftet.
Vors.: Mit der Bewirtschaftung des Gutes
hatte Frl. Zahn ja nichts zu tun, davon verstand sie auch nichts. Es kommt uns
darauf an, von Ihnen zu wissen, ob Fräulein Zahn mit den 18 000 Mark auskommen
konnte. - Zeuge: Ich hielt es für unbedingt notwendig, daß Fräulein Zahn damit
auskomme.
Der
Vormund über Dörtes Erziehung.
Vors.: Warum wollten Sie das Kind von
Fräulein Zahn entfernen? - Zeuge: Weil sie es nicht so erzog, wie ich es
wünschte. Ich wollte Dörte möglichst lange ihre Kindlichkeit erhalten und dafür
sorgen, daß sie möglichst mit ihresgleichen in Verkehr trete.
Vors.: Warum haben Sie Fräulein Zahn
gekündigt? - Zeuge: Weil sie mir immer entgegenarbeitete und ich dem Vater
versprochen hatte, daß das Kind zu einer tüchtigen, soliden Hausfrau erzogen
werden solle.
Vors.: Inwieweit hat Frl. Zahn Ihren
Intentionen nicht entsprochen? - Zeuge: Auf direktem Wege konnte ich keine
Aufklärung über die Erziehung in Kleppelsdorf erhalten. Ich mußte mich auf
Hintertüren verlegen. Infolgedessen schrieb ich an Fräulein Christians, die
früher ein Vierteljahr lang Erzieherin in Kleppelsdorf war. Fräulein Christians
erzählte mir allerlei Kleinigkeiten von Kleppelsdorf, es würde schlecht
gegessen und schlecht gewirtschaftet. Fräulein Zahn sei aber stolz auf eine
unglaubliche Menge Konserven, die sie eingeweckt hatte und die noch für drei Jahre
reichen. - Vors.: Die Konserven waren wohl vorbereitet, weil Dörte in Pension
gehen sollte. - Zeuge: Zucker sei nie auf den Tisch gekommen, obwohl Fräulein
Zahn 10 Zentner gekauft hatte. - Vors.: Durch das Einwecken ist sicher viel
Zucker draufgegangen.
Zeuge: In Erziehungsfragen war Fräulein Zahn
sehr merkwürdig. Auf dem Spazierwege ist Dörte immer 20 Schritt vor und 20
Schritt hinter ihr gegangen. Auf eine Frage von Fräulein Christians äußerte
Fräulein Zahn: Lassen Sie nur das Kind gehen, es grübelt gern. - Vors.: Hören
Sie mal, das ist doch aber alles Klatsch!
Dörtes
„Verlobung“.
Zeuge: Fräulein Christians hat auch erzählt,
daß D ö r t e m i t
e i n e m L e u t n a n t M a t t h ä i v e r l o b t sei. Dieser ist dann gefallen, was Dörte
nicht erfahren sollte, aber sie erfuhr es in Lähn doch, kam heulend nach Hause
und ist wochenlang nicht fähig gewesen, dem Unterricht zu folgen. - Vors.: Eine
richtige Verlobung wird es wohl nicht gewesen sein? - Zeuge: Das Bild des
Leutnants hat auf ihrem Schreibtisch gestanden. - Der Vorsitzende bestätigt,
daß dies noch nach dem Tode der Dörte der Fall gewesen sei. - Zeuge: Ich habe
es für unverantwortlich gehalten, daß Fräulein Zahn ein vierzehnjähriges Kind,
von dem sie wußte, daß ihre Verwandtschaft leidenschaftlich veranlagt war, in
Liebesaffären verwickelte. - Vors.: Haben Sie wirklich an die Liebesgeschichte
geglaubt? - Zeuge: Ja. - Vors.: Aber weitere Ermittelungen haben Sie nicht
angestellt? Zeuge: Leutnant Matthäi war
ja tot.
Wie
sich der Vormund weiter informierte.
Staatsanwalt: Wenn Fräulein Christians Sie
nun schmählich belogen hätte, so würde Ihr Urteil über Fräulein Zahn und die
Dörte auf ganz falscher Grundlage aufgebaut sein. - Zeuge: Allerdings. - Vors.:
Warum haben Sie sich nicht bei anderen Leuten erkundigt, z. B. bei der
Oberschwester Kube, die mit den Verhältnissen in Kleppelsdorf ausgezeichnet
bekannt war. Oberschwester Kube ist seit 20 Jahren in Lähn und hat gestern ein
tadelloses Zeugnis über Fräulein Zahn gegeben. - Zeuge: Ich war v o n
a n d e r e r S e i t e g e w a r n t w o r d e n , a u f
d a s Z e u g n i s v o n
O b e r s c h w e s t e r K u b
e e t w a s z u g
e b e n . Sie soll im Hause des Herrn
Rohrbeck eine allzu vertraute Rolle gespielt haben. (Beweg. im Zuschauerraum)
Staatsanwalt: Wer hat Sie gewarnt? - Zeuge:
So oft ich in Lähn war, von der Oberschwester Kube habe ich nie etwas gehört. -
Vors.: Mit wem haben Sie in Lähn gesprochen? - Zeuge: Mit keinem Menschen.
(Allgemeines Kopfschütteln im Saale) - Vors.: Als Vormund hätten Sie sich nicht
einseitig auf die Ansichten einer ehemaligen Angestellten verlassen dürfen.
Ein Geschworener fragt den Zeugen, warum er
sich über die Verlobungsgeschichte, an der kein wahres Wort sei, nicht bei der
Familie des Leutnants Gewißheit geholt habe. - Zeuge: Ich habe von der ganzen
Liebesaffäre erst Kenntnis bekommen, nachdem der Leutnant tot war, und hatte
keine Veranlassung, mich hinterher noch zu informieren. - Vors.: Doch, Herr
Vormund, Sie waren immer einseitig informiert. Ihr Mündel hat bis zum Tode des
Vaters mit dessen Wissen und Willen unter Fräulein Zahn gestanden.
Staatsanwalt (zum Zeugen Vielhack): Wenn Sie
nun erfahren, daß Ihre Informationen unrichtig waren, hätten Sie sich dann
anders zu Fräulein Zahn gestellt? - Zeuge: Ich hatte gar nicht die Absicht,
beide zu trennen. Hätte Fräulein Zahn das Kind in meinem Sinne erzogen, so
hätte sie ewig in Kleppelsdorf bleiben können. Aber Frl. Zahn wollte mich
rausgraulen. Es war meine Pflicht, so zu handeln, wie ich es für richtig hielt.
Die
Konfirmation und der Vormund.
Vors.: Es ist nun zur Sprache gekommen, daß
Sie bei der K o n f i r m a t i o
n der Dörte nicht zugegen gewesen
waren. - Zeuge: Mir war ja die Erziehung abgenommen, ich hatte also bei der
Konfirmation nichts zu suchen. Ich war ausgeschaltet und nur noch
Vermögensverwalter. Wenn ich zur Konfirmation gekommen wäre und mich an den
Tisch gesetzt hätte, und ich hätte da vielleicht ein Loblied auf Fräulein Zahn
gehört, - stellen Sie sich d i e Situation vor. (Heiterkeit im Zuschauerraum)
Vors.: Sie sollen keine Mittel bewilligt
haben zur Beschaffung der Konfirmationskleider. - Zeuge: Ich habe mich auf den
Standpunkt gestellt, die 18 000 Mark m
ü ß t e n reichen. Extraausgaben habe
ich rücksichtslos nicht bewilligt, sondern immer auf das Vormundschaftsgericht
verwiesen. Ich durfte keinen Pfennig mehr bewilligen, weil ich sonst über das
Testament hinausgegangen wäre.
Verteidiger Dr. Ablaß: Herr Vielhack hat
einmal dem Vormundschaftsgericht berichtet, wenn der Hausstand in Kleppelsdorf
fünf Jahre so weitergeführt werde, so würde Dörte gezwungen sein, Kleppelsdorf
zu verlassen, weil die Einnahmen die Ausgaben nicht deckten. - Zeuge: Das war
meine Ueberzeugung. Im Gute ist schlecht gewirtschaftet worden. - Vors.: An der
Wirtschaft im Gute ist Frl. Zahn nicht schuld. - Zeuge: Nachdem ich auf dem
Gute die Buchführung eingeführt hatte, wurde festgestellt, daß in einem Jahre
2500 Liter Milch in die Wirtschaft gegangen sind, davon 1376 Liter in die
Hauswirtschaft. Außerdem wurden zwei Schweine zu 5 Zentner in den Haushalt
geliefert. - Staatsanwalt: Sie sagten ja selbst, daß Sie viel Eingewecktes im
Schlosse gefunden haben, da sind doch die Schweine gut verbraucht worden. -
Zeuge: Zwei Schweine von je 2 ½ Zentner sind für ein Landhaus wahrhaftig nicht
zu viel. (Heiterkeit und Stimmung: Na also!)
Der
Vormund und Grupen.
Die Vernehmung des Herrn Vielhack wendet sich
nunmehr der Frage zu, wie er mit Grupen bekannt geworden sei. Zeuge: Ich habe
Grupens Verlobungsanzeige bekommen. Bald war in Kleppelsdorf viel von „Onkel
Peter“ die Rede. Im September 1920 erhielt ich von Grupen einen Brief, worin er
mir seinen Besuch ankündigte, um sich mir
i n m e i n e m P r o z e ß
g e g e n F r l . Z a h n
z u r V e r f ü g u n g zu stellen. Er halte es für seine verwandtschaftliche
Pflicht, gegen die Erziehung Dörtes durch Fräulein Zahn einzuschreiten. -
Vors.: Die Erziehung Dörtes ging ihn doch herzlich wenig an. - Zeuge: Grupen
erzählte mir weiter, daß Dörte in alle Liebeleien von Frl. Zahn eingeweiht sei.
- Vors.: Haben Sie das geglaubt? Haben Sie etwas von den Liebeleien gehört? -
Zeuge: Ich habe gehört, daß Dörte Bücher lese, die nicht für junge Mädchen
geschrieben sind. Frl. Zahn soll auch eine Verlobung zurückgewiesen haben, um
bei dem Kinde zu bleiben. - Vors.: Nun, das ist doch höchst ehrenvoll.
Zeuge: Grupen hielt die Erziehung Dörtes für
unpraktisch. - Vors.: Grupen ist doch Maurerpolier, wie konnte er sich berufen
fühlen, über die Erziehung zu urteilen? - Zeuge: Ich nahm an, daß er aus guter
Familie sei. Er war ja Architekt.
Zeuge: Grupen erzählte mir, Frl. Zahn hätte
zwei Eisen im Feuer. Sie unterhalte mit verheirateten Leuten Beziehungen. Mit
wem, wollte er nur vor Gericht sagen. In der Bibliothek von Dörte sollten nach
dem Urteil von Herrn Pingel „ s e h
r b ö s e B ü c h e r “ sein. Grupen behauptete ferner, er habe Frl.
Zahn 3000 Mk. geborgt, um ihr Vertrauen zu erringen. Den Schuldschein hierüber
habe Dörte unterschrieben. Er habe Frl. Zahn Geld gegeben, denn er sei ein
reicher Mann und könne das Geld missen, wenn er es nicht wiederbekomme. Und
dann erzählte er mir von einem Revers, den Dörte unterschrieben habe und durch
den Frl. Zahn 10 000 Mk. Jahresrente ausgesetzt würden. Grupen habe der Dörte
Vorhaltungen gemacht, daß sie den Revers unterschrieben habe, worauf sie sagte:
„Ich unterschrieb ihn und werde ihn wiederholen, wenn ich majorenn bin.“ Er bat
mich, von diesen Mitteilungen dem Frl. Zahn gegenüber zu schweigen, damit ich
sie nicht mißtrauisch mache. Als Grupen wegging, sagte ich ihm: „ E m p f e h l e n S i e
m i c h I h r e r F r a u
G e m a h l i n . “ Darauf hat er nichts erwidert. Bei einer zweiten
Unterredung erzählte Grupen von T a n z
s t u n d e n in Kleppelsdorf, trotz
des Verbotes, wodurch die Gesundheit der Dörte systematisch untergraben würde.
Staatsanwalt: Der Angeklagte hat gesagt, Frl.
Zahn unterhalte ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann, und er werde bei
Gericht den Namen nennen. Will er das jetzt tun? - Angekl.: Darüber lehne ich
eine Erklärung ab.
Staatsanwalt: Grupen hat sich als reicher
Mann aufgespielt und gesagt, er könne das Geld, was er dem Frl. Zahn borge,
missen. - Angekl.: Ich habe nur gesagt, daß ich das Geld entbehren könne. Ich
verfügte damals über eine Viertelmillion mit meinem Grundbesitz. - Vors.: Sie
haben aber erklärt, daß Ihre Frau Ihnen 60 - 70 000 Mk. mitgenommen habe.
Zeuge: Auf eine Frage n a c h
s e i n e r F r a u erwiderte Fr., sie hätten sehr glücklich miteinander
gelebt. Aber ihre Leidenschaft für die Bühne und ihre Leidenschaftlichkeit
überhaupt sei so groß gewesen, daß er eingesehen habe, die Ehe würde doch über
kurz oder lang in die Brüche gehen. Daher habe er schließlich zugestimmt und
ihr noch 60 000 Mk. auf die Reise mitgegeben. Seine Frau hätte ihn geheiratet,
weil er ein sehr reicher Mann sei und sie ihre Kinder versorgt wissen wollte.
Vors. (zum Angekl.): Ihre Frau ist mit Ihrem
Einverständnis abgereist? - Angekl.: Nein. Wenn ich dem Zeugen eine andere
Darstellung gegeben habe, so bitte ich, sich in meine Lage zu versetzen. Man
braucht doch nicht über alles den Leuten Auskunft zu geben.
Zeuge: Grupen sagte mir damals, er hätte an
einer Ehe genug. Er würde die Großmutter bei sich behalten, die Kinder hingen
schwärmerisch an ihm. Die Ursel und die Irma stritten sich jeden Morgen, wer
ihm den Kaffee besorgen solle.
Staatsanwalt (zum Zeugen Vielhack): Wunderten
Sie sich nicht darüber, daß Ihnen der Angeklagte aus freien Stücken Intimitäten
über seine Frau erzählte. Er war Ihnen ja fremd. - Zeuge: Ja, ich habe mich
darüber gewundert, aber über das Vorleben der Frau Grupen habe ich schon früher
von den Offizieren meines Regiments Verschiedenes gehört. - Angekl.: Mir war
bekannt, daß meine Frau in Berliner Kreisen sich nicht des besten Rufes
erfreute.
Die Vernehmung des Vormundes ist nun beendet.
Die
eidesstattliche Versicherung.
Rechtsanwalt
D r . P f e i f f e r gibt nun Auskunft über den Prozeß, den Frl.
Zahn gegen den Vormund Vielhack führte, und in dessen Verlaus die besondere
Verstimmung der Damen Zahn und Dorothea Rohrbeck gegen Grupen deshalb Platz
gegriffen hat, weil dieser in dem Prozeß plötzlich als Gegenzeuge gegen sie vom
feindlichen Vormund genannt erschien, obwohl er sich bisher immer als
freundlicher Helfer aufgespielt hatte. In dem Prozeß hat Frl. Zahn bekanntlich
gegen den Vormund gesiegt. Die Schilderung des Zeugen läßt die große
Hartnäckigkeit erkennen, mit welcher der Vormund den Prozeß führte. Die
einzelnen juristischen Seiten dieser ganzen Prozessgeschichte interessieren im
übrigen wenig. Die Damen wollten, nachdem sie Grupen als falsch erkannt, nichts
mehr mit ihm zu tun haben. Grupen schrieb nun, die Damen sollten nach Hamburg
kommen, er werde ihnen das Reisegeld schicken, und dann werde er alles klarstellen.
Der Zeuge hatte den Eindruck, als wenn Grupen in der ganzen Sache nicht ehrlich
gehandelt hätte. - Auf die Frage des Vorsitzenden bestreitet G r u p e n , daß er sich dem Vormund als Gegenzeugen
angeboten habe. - Zeuge Dr. Pfeiffer: Die Damen wollten nicht reisen, wollten
auch Grupen nicht empfangen, sondern wollten, daß dieser nach Hirschberg zu mir
komme, und das geschah auch am 9. Februar, wo Grupen dann die eidesstattliche
Versicherung abgab, daß er zu Vielhack keine Aeußerung getan habe, die diesen
berechtigte, ihn, Grupen, als Gegenzeugen gegen Frl. Zahn zu nennen. - G r u p e n
bestreitet auch heute, daß er zum Vormund gesagt habe, daß Dorothea
einen Revers zugunsten Frl. Zahn hinsichtlich einer Rente von 10 000 Mk. für
diese unterschrieben habe, obwohl die Rede von einem solchen Revers gewesen
sei.
Staatsanwalt: Hat der Angeklagte die
eidesstattliche Erklärung deshalb abgegeben, weil er wußte, daß man ihn nicht
länger im Hause Kleppelsdorf dulden werde, wenn er es nicht täte? - Grupen:
Nein. - Vert. Justizrat Dr. Ablaß: Ist es richtig, daß sich Grupen die
Erklärung so lange überlegte, weil er sich in einer gewissen Verlegenheit
befand, aber jedenfalls o h n e die Absicht, sich den Aufenthalt in
Kleppelsdorf zu sichern? - Grupen: Ja. Selbstverständlich war ich dann froh,
daß die Sache endlich geklärt war.
Frl. Zahn: Es war die Rede davon, daß auch
Frau Eckert eine solche eidesstattliche Versicherung abgeben solle, man hatte
auch sie in Verdacht, und Grupen äußerte das auch von ihr und auch von seiner
Frau, daß eine von ihnen Vielhack die anstößigen Mitteilungen gemacht haben
könne. Ueber das Verbleiben von Grupen in Kleppelsdorf haben wir uns zwar
gewundert, aber wie hielte ihn doch nun nicht mehr für schuldig, daß er
falsches Spiel gespielt.
Die
Kognakflasche.
Hauptm.
T s c h u n k e vom
Reichswehrministerium in Berlin hat bei seiner Schwester gehört, wie die anwesende
Dorothea Rohrbeck ihre Furcht vor dem Angeklagten äußerte, und zwar nach der
Fahrt von Kleppelsdorf nach Berlin. Dorothea erzählte auch, daß Grupen eine
Flasche mit Kognak der Großmutter gegeben habe, die verdächtig war.
Verteidiger Dr. Mamroth: Da ich der Presse
sogar die Nachricht verbreitet worden ist, daß der Angeklagte wegen
Giftmordversuches an seiner Schwiegermutter angeklagt sei, so bitte ich um die
Feststellung, daß es sich hier um ein ganz harmloses Getränk handelte. - Vors.:
Nach der Untersuchung handelt es sich um ein Getränk, das etwas Bittermandelöl
enthält, aber zur Vergiftung keineswegs geeignet ist. - Staatsanwalt: Die
Anklagebehörde ist nie der Ansicht gewesen, daß es sich hier um einen Giftmordversuch
handelt, sie erwähnt die Sache nur, um zu zeigen, w e l c h e
F u r c h t d i e D a m e n
in Kleppelsdorf vor dem Angeklagten hatten, daß sie ihm einen Giftmordversuch
zutrauten. - Verteidiger Dr. Mamroth: Und uns beweist es, daß man selbst diese
ganz harmlose Sache gegen den Angeklagten verwendet.
Nochmals
die „sehr bösen Bücher“.
Rittergutsbesitzer P i n g e l , der jetzige Besitzer von Kleppelsdorf, ein
Verwandter der ermordeten Schloßherrin, bekundet, daß ihm der Angeklagte erzählt
habe, er werde sich von seiner Frau scheiden lassen, u m
F r ä u l e i n Z a h n z u
h e i r a t e n . Fräulein
Rohrbeck habe ihm erzählt, daß ihr Grupen sehr unsympathisch sei. Bald nach der
Tat hat der Zeuge den Garten und Park des Schlosses von Kleppelsdorf
untersucht, aber keine Spuren gefunden, die darauf hindeuten, daß von außen
jemand in das Schloß eingedrungen sei. - Vors.: Was waren das für Bücher in der
Bibliothek? - Zeuge: Moderne Romane, aber keine Bücher, die das geschlechtliche
Gebiet berühren.
Gemeindevorsteher D ö r i n g - Kuttenberg kann nur aussagen, daß Dorothea
vor dem Besuch Grupens große Angst gehabt hat. Bei Frau R o h d e -
Erdmannsdorf hat sich Frau Eckert beklagt, daß ihr Dorothea durch Frl.
Zahn entfremdet werde. Werkführer B r ü
c k n e r - Lähn kann bekunden, daß
Dorothea die Großmutter nicht leiden konnte. Rittergutsbesitzer A l f r e d
R o h r b e c k aus Zielenzig,
ein Bruder des verstorbenen Rohrbeck, hat nur festgestellt, daß sich nach dem
Morde in Park und Garten nichts Verdächtiges fand.
In
Berlin bei Dressel.
Fräulein
S e i d e l aus Berlin war eine
Freundin der Dorothea Rohrbeck und war mit ihr zusammen, als diese mit dem
Angeklagten auf der Durchreise nach Hamburg in Berlin war. Grupen, der sich in
einem Gespräch mit Dorothea sehr abfällig über den Vormund Vielhack äußerte,
führte die beiden jungen Damen zu Dressel zum Speisen, ging aber bald wieder
aus dem Lokal, mit dem Vorgeben, er habe auf der Straße seine Frau gesehen und
wolle ihr folgen. Er gab den Damen 150 Mk.; die Zeche betrug allerdings 156
Mk., so daß, wie die Zeugin zur allgemeinen Heiterkeit erzählte, die Damen noch
6 Mk. zuzahlen mußten, wofür sie aber kein Trinkgeld gaben. Grupen hatte ihnen
nachher 100 Mark und Schokolade geschenkt. Am Abend hatten sich die Drei zu
einem Besuch des Berliner Theaters verabredet, Grupen erschien sehr
unpünktlich, bezahlte aber dann noch die Eintrittskarten. Der Angeklagte wollte
die Zeugin, die damals die Handelshochschule besuchte, a l s
P r i v a t s e k r e t ä r i n
m i t e i n e m m o n a t l i c h e n G e h a l t
v o n 7 5 0 M a r k
m i t n a c h H a m b u r g n e h m e n , worauf diese aber nicht einging. Sie hatte
nicht den Eindruck, daß sich Dörte vor ihrem Onkel fürchtete. - Angekl.: Die
Zeugin sollte nicht zu mir, sondern zu einem Bekannten in Stellung kommen. Von
Dressel bin ich weggegangen, weil ich mich in meinem Anzug in dem feinen Lokal
genierte. - Zeugin: Später schrieb mir Dörte: Sei froh, daß Du nicht mit nach
Hamburg gefahren bist, Grupen hat mir auf der Fahrt einen Heiratsantrag
gemacht.
Fräulein
M a g d a M o h r , eine Schwester der Stütze Mohr aus
Ottenbüttel, bekundet, daß sich Frau Eckert über ihre Enkelin Dörte beklagt
hat. Frau Eckert sagte auch, der Vormund werde schon recht haben, wenn er sage,
in Kleppelsdorf werde es noch ein Ende mit Schrecken nehmen. Grupen war im Orte
gut bekannt, genoß einen guten Ruf und war sehr kinderlieb. Er hat nicht
unsolide gelebt. - Vors.: Der Angeklagte hat doch sehr oft sein weibliches
Dienstpersonal gewechselt und eigentlich doch jedem bei ihm ich Stellung
befindlichen Mädchen die Heirat versprochen. - Die Zeugin kann hierüber nichts
bekunden. - Im Wesentlichen die g l e i
c h e A u s s a g e macht die
M u t t e r der beiden Mohr,
Frau Hofbesitzer Mohr aus Ottenbüttel.
Hypnose?
Bemerkenswert ist die Aussage der
Lyzeallehrerin Fräulein K i e f e r
t aus Itzehoe, in deren Klasse die U r s u l a
S c h a d e von Michaelis 1920
bis Februar 1921 gegangen ist. Sie sagt aus: In einer Stunde, aber nicht bei
mir, ist von der Hypnose gesprochen worden. Dabei sagte Ursula Schade: i h r e
M u t t e r k e n n e e i n e n
M a n n , w e n n d e r
j e m a n d f e s t a n s
e h e , s o m ü ß t e
d i e s e r m a c h e n , w a s
d e r M a n n w o l l e .
Wenn er aber die Augen wegwende, dann sei es vorbei. Sie nannte auch die
Straße, in der dieser Mann wohnen sollte, es war eine Querstraße von der Wohnung
Grupens. Ursula erklärte, den Namen des Mannes dürfe sie nicht sagen. Das erste
Mal sagte Ursula, sie selbst kenne auch den Mann, später jedoch, nur ihrer
Mutter sei der Mann bekannt. Möglich sei allerdings, daß auch ein Magnetiseur
gemeint sein konnte, der dort wohnte, aber die Daten von dessen Zuzug und der
Aeußerung der Ursula seien unsicher. Ursula war ein körperlich zartes Wesen,
sehr gut, aber auch sehr empfindlich. Sie gehörte zu den schwachen
Schülerinnen, war aber sehr fleißig, und da sie von Hause tüchtig angehalten
wurde, kam sie auch in der Schule mit. Sie war immer fröhlich und beteiligte
sich auch an den Spielen der anderen Kinder.
I c h h a l t
e e s
f ü r u n m ö g l i c h , d a ß
d i e s e s K i n d j e m a n d
n i e d e r g e s c h o s s e n
h a t o d e r d a ß
s i e d i e H a n d h a b u n g e i n e s
R e v o l v e r s a u c h n u r
k a n n t e . Ich kann mir nicht
vorstellen, daß das Kind auch nur auf den Gedanken einer solchen Tat kommen
konnte. I r m a ist körperlich kräftiger, sonst aber auch
ein gutes Kind, soweit ich das beurteilen kann.
Hierauf wurde nach 9 Uhr die
Weiterverhandlung auf Sonnabend vertagt.
*
Sitzung
am Sonnabend.
Bei Eröffnung der Sonnabend-Sitzung teilte
der Vorsitzende mit, daß am M o n t a
g voraussichtlich während der ganzen
Dauer der Verhandlung d i e O e f f e n t l i c h k e i t a u s g e s c h l o s s e n sein wird. Die für Montag ausgestellten
Eintrittskarten sind für Mittwoch gültig.
Rechtsanwalt
D r . P f e i f f e r bekundet noch, die Postkarte gelesen zu
haben, die Dorothea Rohrbeck auf der mit Grupen nach Berlin unternommenen Reise
an Frl. Zahn gerichtet hat und die mit den Worten schließt: „Komme bald, sonst
hänge ich mich.“ Der Zeuge habe sich sehr darüber gewundert, wie Dorothea
Rohrbeck so aufgeregt schreiben konnte. - Frl.
Z a h n erklärt sich bereit, die
Karte dem Gericht einzureichen.
Justizrat Dr. Mamroth richtet an Frl. Seidel
die Frage, ob Dörte in Berlin tatsächlich so verängstigt gewesen sei, wie die
Zeugin behauptet habe, und wie sie sich die Karte erklären könne. - Zeugin:
Dörte war sehr fröhlich, wenn Grupen nicht dabei war.
Frau
Eckert als Zeugin.
Unter großer Spannung erfolgt jetzt die
Vernehmung der 77 Jahre alten Frau Agnes Eckert, Schwiegermutter des
Angeklagten. Die Vereidigung wird ausgesetzt.
F r a u E c k e r t erklärt, ihr Verhältnis zu dem verstorbenen
Herrn Rohrbeck sei ein gutes gewesen, aber die Liebe der Dörte habe sie nicht
gewonnen. Die Dörte habe mehr zu den Verwandten des Fräulein Zahn gehalten, als
zu ihren eigenen Verwandten. Zwischen Frau Gertrud Schade, der Tochter der
Zeugin aus zweiter Ehe, und Herrn Rohrbeck habe ein gutes Verhältnis bestanden.
Als Frau Schade Witwe geworden war, habe Herr Rohrbeck sich mit ihr verlobt und
eine Reise mit ihr nach Berlin unternommen, bald darauf aber das
Verlobungsverhältnis gelöst. Der Tod meines Schwiegersohnes Schade wurde auf
einen Unglücksfall auf der Jagd zurückgeführt, es hat aber auch eine U n t e r s u c h u n g g e g e n
d e n S e i f e n f a b r i k a
n t e n S c h u l t z aus Perleberg stattgefunden, der meiner
Tochter Unterricht in der Buchführung erteilte, und mit ihr auch eine Reise
gemacht hatte. Gertrud war sehr liebevoll zu mir. Die Bekanntschaft mit Grupen
ist, wie mir meine Tochter erklärte, durch eine Heiratsanzeige zustande
gekommen.
Angekl.: Ist es wahr, daß die Zeugin gesagt
habe, wenn das Verhältnis der Tochter zu ihr nicht besser würde, würde sie sich
das Leben nehmen.
Zeugin: Das ist mir gar nicht eingefallen.
Ich habe nach der Verlobung meiner Tochter mit Grupen ihr 24 000 Mk. zur
Verfügung gestellt, um sich eine Villa zu kaufen.
Staatsanwalt: Hatte Ihre Tochter nach dem
Tode des Mannes nicht auch ein Verhältnis mit dem Stabsveterinär Reske?
Zeugin: Ja. Es ist ein Jammer, daß er
gestorben ist, denn er meinte es sehr herzlich zu meiner Tochter.
Vors.: Was hielten Sie von Grupen?
Zeugin: Er hatte einen sehr netten Eindruck
gemacht und wir haben es ihm hoch angerechnet, daß er meine Tochter mit ihren
drei Kindern heiraten wollte. Die Hochzeit fand im September 1919 in Itzehoe
statt. Ich wohnte in demselben Hause. Grupen war furchtbar wenig zu Hause, er
befand sich viel auf Reisen. Das Verhältnis zwischen ihm und meiner Tochter war
in der ersten Zeit gut. Später verschlechterte es sich, es gab allerlei
Differenzen. Einmal rief mich sogar meine Tochter in der Nacht zu Hilfe, ich
weiß aber nicht mehr, was vorgefallen war. Grupen wollte immer allein reisen. Zu
den Kindern war er stets gut. Die Ursel war ein stillen, ruhiges Kind. Sie war
traurig, als ihr Vater gestorben war. Als mir der Besuch von Dörte und Frl.
Zahn angekündigt wurde, war ich sehr erfreut. Ich habe aber von dem Besuch
nicht viel gehabt, denn Grupen drängte die Damen zur Fahrt nach Hamburg. In
Ottenbüttel hatte Grupen meiner Tochter ein Pferd geschenkt, und Dörte und Frl.
Zahn haben darauf geritten, und sind sehr vergnügt dabei gewesen.
Vors.: War Ihre Tochter Gertrud krebsleidend?
- Zeugin: Nein. - Vors.: Der Angeklagte behauptet, er hätte Ihre Tochter nicht
geheiratet, wenn er etwas von dem Leiden gewußt hätte. - Zeugin: Ich habe von
dem Leiden keine Ahnung.
Vors.: Sie haben mal B r i e f e
a n d a s A m t s g e r i c h t L ä h n geschrieben, worin Sie sich über die Erziehung
der Dörte durch Frl. Zahn ungünstig aussprachen. - Zeugin: Ja! Der Angeklagte
hat auf meine Anregung geschrieben. Diese Briefe sind nach dem Besuch Dörtes in
Itzehoe dann aus Anregung des Angeklagten widerrufen worden, weil, wie dieser
sagte, das Dörte schaden könnte. Später wurde
d i e s e r Widerruf von der
Großmutter a b e r m a l s w i d e r r u f e n und zwar wieder auf Anraten des Angeklagten.
Dieser Brief ist g e g e n i h r e
U e b e r z e u g u n g
geschrieben worden, sie hat es sehr bereut.
Vors.: Was ereignete sich in den Tagen des
17., 18. und 19. September? Wir kommen jetzt zu dem V e r s c h w i n d e n I h r e r
T o c h t e r .
Frau Eckert: Am 17. sollte ich eine Hypothek
von 37 000 Mk. an Grupen übertragen. - Vors.: Warum denn? Zeugin: Das ist es
eben, warum war ich denn so dumm? - Vors.: Sie hatten dem Angeklagten doch auch
schon Generalvollmacht gegeben, ebenso wie Ihre Tochter. - Zeugin: Ja. Weil ich
mit den Steuergeschichten usw. nicht Bescheid wußte.
Vors.: Was ereignete sich nun am 19.
September? - Zeugin: Meine Tochter schrieb an diesem Tage und sagte am
Nachmittag, sie fährt nach Kleppelsdorf.
Vors.: Hat Ihre Tochter einmal davon
gesprochen, daß sie eine größere Reise unternehmen wollte? - Zeugin: Ja, sie
sagte öfter, Deutschland gefällt mir nicht mehr, ich gehe nach Amerika, dann
hole ich Euch nach. Die Zeugin hat das für Scherz gehalten. Die Reise nach
Kleppelsdorf war ihr ganz unklar. Frau Grupen verabschiedete sich sehr
flüchtig, so, als wenn sie nur wenige Tage weg wollte. Als der Angeklagte am
Abend zurückkam, hat sie Grupen nicht mehr gesprochen, erst am nächsten Tage.
Im Schlafzimmer stand ein Koffer mit Wäsche, der bahnlagernd nach Hamburg
geschickt werden sollte. Zwei Tage darauf fuhr Grupen nach Kleppelsdorf, um,
wie er angab, Dörte zu holen. Der Zeugin hat der Angeklagte nichts davon
gesagt, daß seine Frau Abschiedsbriefe geschrieben, in denen sie sagt, daß sie
nach Amerika geht.
Vors.: Angeklagter, konnten Sie denn Ihre
Schwiegermutter nicht besser trösten, als Frl. Rohrbeck? - Angekl.: Ich wollte
erst Nachforschungen anstellen, ehe ich der Frau Eckert etwas von dem
Verschwinden ihrer Tochter sagte, während dieser Zeit sollte Dörte die
Großmutter trösten.
Vors.: Glaubten sie denn, daß Ihre Tochter
nach Amerika gegangen sei? - Zeugin: Ich glaubte, daß es eine fixe Idee von ihr
gewesen sei.
Vors.: Haben Sie denn nie Nachforschungen
angestellt?
Zeugin: Grupen sagte mir, er habe einen
Detektiv in Hamburg mit den Nachforschungen beauftragt, der hat erforscht, daß
es F r a u G r u p e n
g u t g i n g e . Außerdem erzählte er soviel Schlechtigkeiten
von ihrer Tochter, daß sie schon selbst nicht mehr nachforschen wollte. Der
Angeklagte hat ihr auch häßliche Bilder von ihrer Tochter gezeigt. Die Zeugin
fährt weinend fort, daß sie damals gesagt hat:
„ A c h G o t t , w a s
i s t d e n n a u s
m e i n e r T o c h t e r g e w o r d e n ? “ Angesehen hat sie die Bilder nicht. Einmal
hat sie geschrieben an Schade, wo ihre Tochter wohl sein könnte? Diesen Brief
hat ihr der Angeklagte verboten abzuschicken und geäußert: „Wenn Du diesen
Brief abschickst, sind wir beide fertig!“ Die
F a h r t i m F e b r u a r n a c h
K l e p p e l s d o r f kam ihr
überraschend. Sie richtete sich auf etwa acht Tage dort ein. Unterwegs hat ihr
der Angeklagte gesagt, es wird wohl etwas länger dauern, sie solle nur sagen,
es sei wegen des Umzugs in Itzehoe. Die Zeugin gibt dann an, daß sie die Koffer
nach Kleppelsdorf selbst gepackt hat. Ursel ist an den Koffer nicht
herangekommen. Die Zeugin hat auch nicht gesehen, daß Ursel etwa in der
Unterbindetasche etwas auffälliges gehabt hat.
Vors.: Hat die Ursel mit einem Revolver
einmal geschossen? - Zeugin: Nein. Ich habe aber einen Revolver und Patronen im
Schreibtisch bei Grupen gesehen und daß er diesen Revolver dem Bruder übergeben
hat wegen etwaiger Einbrecher. - Vors.: Haben Sie vor der Reise gesagt: In
Kleppelsdorf werde es einmal ein Ende mit Schrecken geben? Zeugin: Nicht daß ich wüßte. Ich erinnere
mich nicht, das jemals gesagt zu haben. Frl. Mohr und Frau Mohr bekunden
hierauf, daß diese Aeußerung von Frau Eckert getan worden sei. Die Zeugin entsinnt
sich trotzdem nicht darauf. - Ein Geschworener ersucht, den Angeklagten selbst
zu befragen, ob die Geschichte mit dem Detektiv zutreffe und ob er der
Schwiegermutter erzählt habe, der Detektiv habe erforscht, die Tochter sei mit
einem reichen Manne durchgegangen und es ginge ihr gut.
Angeklagter: Ich habe keinen Detektiv
beauftragt. Ich habe das der Frau Eckert nur erzählt, weil ich die Schwiegermutter
beruhigen wollte. (Bewegung.)
Ein Geschworener fragt weiter nach den
unzüchtigen Photographien. Die Frage soll in nichtöffentlicher Sitzung beantwortet
werden.
Vorsitzender: Welches Benehmen zeigte Ursel
in Kleppelsdorf? - Frau Eckert: Sie war heiter, nur einmal weinte sie, als sie
einen Brief, den sie an Frau Bartels geschrieben hatte, noch einmal schreiben
sollte. Sie weiß nicht, wer der Ursel den Auftrag zum Schreiben des Briefes
gegeben habe.
Vors.: Ist Ihnen am Tage vorher etwas an
Ursel aufgefallen? - Frau Eckert: Es war mir merkwürdig, daß Ursel traurig war,
wenn sie nicht mit dem Angeklagten zusammen war, sie hing mit großer Liebe an
ihm, s i e w a r
w i e g e b a n n t a n
d e n M a n n . Daß das Verhältnis Ursels zu Dörte ein
abneigendes war, hat die Zeugin nicht gemerkt; sie bestätigt aber, daß Ursel in
der Nacht zum 14. Februar schlecht geträumt hat. Die Tür von der Rollstube zu
dem Fremdenzimmer habe sie nicht verschlossen. Als wir oben mit Grupen
zusammensaßen, war anfangs auch die Ursula dabei.
Die
Vorgänge am Mordtage.
Frau Eckert: Am 14. Februar saß ich im
sogenannten Winterwohnzimmer und häkelte. Grupen spielte mit der Mohr Mühle,
Ursula saß auf dem Sofa und las. Dann war Ursula weg, ich habe ihr Weggehen
nicht beobachtet. Dann spielte Frl. Mohr mit der Irma, während der Angeklagte
mehrmals im Zimmer auf und ab ging. Er sprach auch mit dem im Nebenzimmer
befindlichen Fräulein Zahn. Irmgard stand dann auf, um die Reste von einem
Apfel, den sie gegessen hatte, wegzubringen. Auch der Angeklagte war
aufgestanden und ich habe angenommen, daß er vielleicht der Irma den Ofen zeigen
wollte, in den sie die Apfelreste werfen sollte. D a n n
h a b e i c h e i n i g e
Z e i t d e n A n g e k l a g t e n n i c h t
i m Z i m m e r g e s e h e n , v i e l l e i c h t b i n
i c h a u c h e t w a s
e i n g e n i c k t . Ich habe
ihn nicht das Zimmer verlassen sehen oder hören. Die Zeit, in der ich den Angeklagten
nicht beobachtet habe, würde nach meiner Ansicht genügen, die Tat unten zu
verüben. U r s u l a t r a u e i c h
a u f k e i n e n F a l
l d i e T a t
z u . Ich halte es sogar
für vollständig ausgeschlossen, daß die körperlich sehr schwache Ursel, die
nicht einmal eine schwere Kanne heben konnte, die Tat überhaupt ausführen
konnte.
Vorsitzender: Aber bei Ihren früheren Vernehmungen,
besonders in Kleppelsdorf, haben Sie doch erklärt, daß Sie beschwören könnten,
der Angeklagte habe überhaupt nicht das Zimmer oben verlassen, auch nicht auf
Minuten.
Zeugin: Damals glaubte ich noch nicht, daß
die furchtbare Tat, wie ich beim Lokaltermin erfahren, in so wenigen Minuten
ausgeführt sein kann. Ich nahm an, daß es sich um eine Viertelstunde handeln
müßte. Nachträglich bin ich an der Zuverlässigkeit meiner Wahrnehmung in
Zweifel geraten und halte jetzt die Behauptung aufrecht, daß ich Grupen ein
paar Minuten aus den Augen verloren hatte.
Auf Antrag des Verteidigers D r .
A b l a ß wird ein von der
Zeugin an Wilhelm Grupen gerichteter Brief vom 15. Februar verlesen, in dem es
u. a. heißt:
Ein furchtbares
Unglück kam über uns. Ursel hat aus Peters Schreibtisch den Revolver
mitgenommen und gestern nachmittag die Dörte und sich selbst erschossen. Ist
das nicht entsetzlich? Damit nicht genug, hat man Peter verhaftet, da man der
Ursel das nicht zutraut. In der Zeit des Unglücks waren wir mit Irma oben im
Wohnzimmer, war wie beide beschwören können. Also muß sich ja seine Unschuld
herausstellen.
Die Zeugin verneint die Frage des
Verteidigers Dr. Ablaß, ob sie sich in den kritischen Momenten in einem hypnotisierten
Zustande befunden hätte, und fügte hinzu, sie sei überhaupt nicht zu
hypnotisieren.
Die Vernehmung der Frau Eckert geht fort.
Dienstag, den 13. Dezember 1921, „Der Bote
aus dem Riesengebirge“
Der
Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.
Weitere
Zeugenvernehmung.
Hirschberg, 12. Dezember.
Sonnabend nachmittag ist die Vernehmung der
Frau Eckert, der Schwiegermutter des Angeklagten, soweit ihre Aussagen für die
öffentliche Sitzung geeignet sind, zu Ende geführt worden. Ihre Bekundungen
brachten noch mancherlei bemerkenswerte Einzelheiten. Am Montag sollte währen
des ganzen Tages die Oeffentlichkeit ausgeschlossen bleiben. Die Verhandlung
war aber zunächst wieder öffentlich und brachte einige interessante Aussagen.
Bestätigt wurde weiter die Angst Dörtes vor dem Angeklagten, und bestätigt
wurde auch die bereits von dem Vorsitzenden bekundete Auffassung, daß die
Verlobung Dörtes mit Leutnant Matthäi lediglich eine Mädchenschwärmerei war.
Die bedeutsame Aussage von Frau Eckert, daß Grupen das Zimmer in den Minuten
vor der Mordtat verlassen hat, wird, nachdem sie selbst bereits von ihrer
Schläfrigkeit gesprochen, durch die Aussage von Rittergutsbesitzer Lux über ein
zur Prüfung der Beobachtungsfähigkeit der Beteiligten vorgenommenes Experiment
in bemerkenswerter Weise beleuchtet. Im Anschluß daran machte
Gaswerksdirektor W r o b e l auf Grund eines praktischen Versuchs
beachtenswerte Aussagen über die Beeinflussungsfähigkeit der drei Zeugen, die
für den Aufenthalt Grupens in den kritischen Minuten in Frage kommen, der Frau
Eckert, der Stütze Mohr und der kleinen Irma. Zum Schluß der Vormittagssitzung
bekundeten die beiden Untersuchungsrichter Näheres über Grupens Verhalten in
der Voruntersuchung. Beide Untersuchungsrichter sind auf Grund des ihnen vorliegenden
Materials zu der Ueberzeugung von der Schuld des Angeklagten gekommen. Montag
nachmittag wird unter Ausschluß der Oeffentlichkeit verhandelt.
Aus der weiteren
Vernehmung
der Frau Eckert
am Sonnabend Nachmittag tragen wir im
Einzelnen noch nach:
Fr. Eckert: Der Angekl. hat, als er am Abend
des Mordtages abgeführt wurde, zu mir gesagt: „Wenn Du sagst, daß ich im Zimmer
war, bin ich morgen wieder frei.“ Auch hat er gesagt: „Wenn Ihr bei Eurer
Aussage bleibt, bin ich morgen wieder frei.“ Mir ist nichts davon bekannt, daß
Wertpapiere der Frau Grupen in Hamburg von dem Angeklagten abgehoben worden
sind.
Die Zeugin bekundet weiter, daß im Laufe des
Nachmittags am Mordtage der Angeklagte geäußert hat: Weißt Du auch, daß Du
jetzt Herrin von Kleppelsdorf bist? Hier wird noch einmal Oberlandjäger K l o p s c h - Lähn gehört, der erklärt, daß er im Laufe
des Nachmittags dir Frau Eckert gefragt habe, wer nun den schönen Besitz erbe,
worauf er die Antwort erhielt: Der Bruder des verstorbenen Herrn Rohrbeck und
ich. Ich habe gefragt, um im Interesse der Untersuchung Einblick in die
Familienverhältnisse zu erhalten. Frau Eckert kann sich auf dieses Gespräch
nicht mehr erinnern, während der Angeklagte behauptet, diese Antwort auf die
Frage des Landjägers sei die Bemerkung, die er getan haben sollte.
Oberlandjäger Klopsch erklärt aber, daß der Angeklagte nicht anwesend war, als
er die Frage an Frau Eckert richtete.
Ueber
das Verschwinden der Frau Grupen
macht die Zeugin folgende Angaben: Der 19.
September war ein Sonntag. Meine Tochter saß vormittags am Schreibtisch. Nach
dem Kaffeetrinken sagte sie mir, daß sie nach Kleppelsdorf fahre. Damit hatte
sie mich nicht überraschend, denn schon vorher war über diese Absicht
gesprochen worden. - Vors.: Hat Ihre Tochter früher irgend etwas von einer l ä n g e r e n Reise gesagt? - Zeugin: Ja, sie sagte, in
Deutschland gefalle es ihr nicht mehr, sie gehe nach Amerika. Wenn es ihr dort
gefalle, hole sie uns nach. Ich habe das für Scherz gehalten. - Vors.: Wie verabschiedete
sich denn Ihre Tochter? - Zeugin: Ganz flüchtig, gar nicht herzlich. Auch von
den Kindern verabschiedete sie sich wie sonst und nicht, als ob sie eine
längere Reise vorhabe. - Vors.: Hatte sie Schmuck und Ringe mitgenommen? -
Zeugin: Darauf habe ich nicht geachtet. Meine Tochter hatte nur einen
Handkoffer bei sich. - Vors.: Hat sie sich vor ihrer Abreise Kleider machen
lassen? - Zeugin: Nein, sie hat sich nur vier Kleider modernisieren lassen. -
Vors.: Wann kam der Angeklagte zurück? - Zeugin: An demselben Tage. Er hat aber
erst am nächsten Tage mit mir gesprochen.
Schmucksachen
und Kleider
Vors.: Hat der Angeklagte gearbeitet und die
Haushaltskosten bestritten? - Zeugin: Der Angeklagte sprach viel von seiner
Bautätigkeit, auch von einem Kompagnon. Meinen
S c h m u c k wollte er in
Dänemark verkaufen. Tatsächlich hat er ihn
v e r s e t z t und mir
gegenüber behauptet, den Schmuck habe seine Frau nach Amerika mitgenommen. Die
Silbersachen meiner Tochter wollte er bei einer Hamburger Bank in Sicherheit
bringen. Ich habe ihm dabei geholfen, es zu verpacken. Aber er hat das Silber
versetzt. Die Saloneinrichtung, die meine Tochter vor der Verheiratung mit
Grupen besaß, ist von den Eheleuten gemeinsam verkauft worden. Grupen hat nach
dem Verschwinden seiner Frau gesagt, er verfüge über ein Vermögen von einer Viertelmillion.
Ursel und Irma seien ihm das Liebste auf der Welt. Er hat ein Testament
gemacht, und die Kinder als seine Erben eingesetzt. Drei Finderringe seiner
Frau hat er zu einem Goldarbeiter gebracht, um sie verändern zu lassen. Auch
die g o l d e n e A r m b a m d u h r s e i n e r
F r a u hat er zum Umarbeiten zu
einem Goldarbeiter getragen, und als er von mir später nach dem Verbleib der
Uhr gefragt wurde, habe er geantwortet: „Denke Dir, das goldene Armband ist dem
Goldarbeiter aus dem Arbeitszimmer g e
s t o h l e n worden!“ (Heiterkeit im
Zuhörerraum) Der von der Frau Grupen zurückgelassene K o f f e r , der nach einem an den Knecht Raske (Roske?)
gerichteten Zettel schmutzige Wäsche enthielt und nach Hamburg in eine
Waschanstalt geschafft werden sollte, ist von der Zeugin vierzehn Tage nach der
Abreise der Frau Grupen geöffnet worden. In dem Koffer befanden sich die K l e i d e r , die sich Frau Grupen hatte umändern
lassen, s e h r s c h ö n e s S c h u h z e u g , ein alter Schmuckkasten ohne wesentlichen Inhalt
und s a n d e r e Wäsche. - Vors.: Hat der Angeklagte nicht davon
gesprochen, daß von der Hamburger Güterexpedition nach dem Koffer gefragt
worden sei? - Zeugin: Ja, er hat gesagt, er gibt hundert Mark, wenn er erfahre,
wer nach dem Koffer gefragt habe.
Vors.: Hat der Angeklagte zu Ihnen gesagt,
seine Frau habe sich nach Lübeck abgemeldet? - Zeugin: Das hat er mir erzählt.
Vors.: Hat der Angeklagte, als er schon in
der Untersuchungshaft saß, Ihnen nicht einen Brief geschrieben, in dem er Ihnen
eine strafbare Handlung vorwarf? - Zeugin: Ja, es handelte sich um Wäsche
meiner Tochter und um meine eigene Wäsche. Er behauptete, ich hätte beim Aussortieren
Wäsche, die meiner Tochter gehöre, an mich genommen. - Vors.: Wollte er Ihnen
mit diesem Briefe drohen und Sie einschüchtern, daß Sie gewisse Aussagen nicht
machen? - Zeugin: Das weiß ich nicht.
Angekl.: Die Zeugin hat mir eine
eidesstattliche Versicherung zugehen lassen, daß sie ein Anrecht auf die
gesamte Wäsche habe. - Zeugin: Ich weiß nicht, daß ich eine solche
eidesstattliche Versicherung abgegeben habe.
Vors.: Ich muß eine Zwischenfrage stellen:
Was ist die kleine Irma für ein Kind? - Zeugin: Irma ist w i e
j e d e s K i n d . Sie hatte mir einmal beim Staubwischen 5 0
M a r k e n t w e n d e t und sich dafür Verschiedenes gekauft. Sie
hat wegen dieser Unredlichkeit fürchterliche Hiebe erhalten, sowohl von ihrem
Vater wie von mir. Seitdem ist nichts mehr vorgekommen. - Angekl.: Irma hat oft
gesagt, sie habe keine Schularbeiten auf.
Zeugin: Davon ist mir nichts bekannt.
Vert. Dr. Ablaß (zur Zeugin): Es wird
behauptet, daß Ihre Tochter das ganze Vermögen des Pflegekindes Ruth Reske zu
ihren Gunsten beiseite geschafft habe. - Zeugin (entrüstet): Meine Tochter hat
nicht einen Schritt getan, um die Ruth Reske um ihr Vermögen zu bringen.
Aus dem
Absteigequartier
Der nächste Zeuge, Schneidermeister
August W a r n i n g aus
Hamburg soll u. a. Aussagen über das Verschwinden der Frau Grupen machen
können. - Vors.: In Hamburg wurde einmal die Leiche einer Frau angeschwemmt,
die einen schweren Schnitt durch den Hals hatte. Ein Dienstmädchen soll Ihnen
gesagt haben, daß sie die Leiche kenne. - Zeuge: Ich weiß davon nichts, kenne
auch den Namen des Dienstmädchens nicht. Ich weiß nur, daß Grupen in meinem
Hause sein Absteigequartier hatte. - Vors.: Wissen Sie, ob Grupen einmal einen
langen Gummischlauch mit in sein Absteigequartier mitgebracht hat? Es wird
behauptet, daß er damit die Damen vergiften wollte. - Zeuge: Davon ist mir
nichts bekannt.
Frau Elise
W a r n i n g , die Frau des
Vorzeugen, kann nichts Wesentliches bekunden. Grupen hat einmal bei ihr für
Frl. Zahn und Dorothea Rohrbeck ein Zimmer gemietet. Am andern Tage hat Grupen
durch einen Dienstmann einen Brief an die Damen gesandt und ihnen mitgeteilt,
daß er in einer dringenden Geldangelegenheit schnell abreisen mußte. Frl. Zahn
hat darauf gesagt: „Das ist komisch.“ Als Frl. Zahn fragte, was für das
Quartier zu bezahlen wäre, habe ich geantwortet, daß Grupen das Zimmer gemietet
und auch bezahlt habe.
Vert. Dr. Mamroth: Ist es richtig, daß Grupen
Ihnen gesagt hat, eine der Damen esse sehr gern Hamburger Räucheraal, Sie
möchten ihr daher zum Abendbrot Räucheraal bringen? - Zeugin: Ja. - Ueber das
Auffinden der Frauenleiche in einem Hamburger Wasserloch hat die Zeugin von
anderer Seite nur ein Gerücht gehört.
Der Staatsanwalt behauptet, Grupen habe noch
andere Wohnungen in Hamburg gehabt. - Angeklagter: Das bestreite ich
entschieden. - Staatsanwalt: Wir werden die Zeugen darüber hören. - Vert. Dr.
Ablaß (zur Zeugin): Ist Grupen einmal mit
d e r k l e i n e n U r s u l a
bei Ihnen gewesen? - Zeugin: Ja, er sagt mir, die Ursula sei krank, und
sie hat auf dem Sofa schlafen müssen. Einen Gasschlauch habe ich bei Grupen
nicht gesehen.
Eine
Bitte an die Presse.
Der Vorsitzende bemerkt, daß in diesem Prozeß
eine große Menge Schreiben und Telegramme mit allerlei Behauptungen bei den
Behörden einlaufen. Auch bei Frau R e i
c h s p r ä s i d e n t E b e r t ist ein Schreiben eingegangen, von dem eine
Abschrift bei den Akten ist.
Oberstaatsanwalt Dr. Reiffenrath bittet im
Interesse aller Prozeßbeteiligten die Presse, Eindrücke irgendwelcher
persönlicher Art nicht zu veröffentlichen, insbesondere nicht über die Persönlichkeit
des Angeklagten. Artikel, wie „Peter Grupen“ und „Hypnose und Verbrechen“ im
Boten, brächten auf falsche Gedanken. Wir haben den Wunsch, daß die Presse nur
über Tatsachen und über den Gang der Verhandlungen berichte.
Justizrat Dr. Ablaß äußert sich als
Verteidiger in ähnlichem Sinne. Für einen Strafprozeß ist die Stimmung das Gefährlichste,
was es gibt. Stimmungsberichte bringen etwas heraus, was dem Angeklagten
derartig nachteilig sein kann, daß er sagt: Ich möchte nicht mehr versuchen,
mein Recht zu wahren. Wenn die gelesenste Hirschberger Zeitung immer schreibt:
„Der Doppelmord in Kleppelsdorf“, so gibt es keinen Leser, der nicht sagt: Hier
ist ein Doppelmord begangen worden. Ob ein Doppelmord vorliegt, das ist aber
doch erst die Frage, über die wir am Schlusse des Prozesses Gewißheit haben
werden. Die Presse sollte den Standpunkt der Objektivität nicht verlassen und
alles vermeiden, was Stimmung g e g e
n gen Angeklagten macht.
Der Vorsitzende erklärt, daß er sich den
Ausführungen des Staatsanwalts und des Verteidigers anschließe.
Hierauf wird die Verhandlung bis Montag
Vormittag vertagt.
*
Die
Sitzung am Montag.
Die Montagssitzung eröffnet der Vorsitzende,
Oberlandesgerichtsrat K r i n k e
, mit einigen geschäftlichen Mitteilungen,
worauf in zunächst öffentlicher Sitzung die Zeugenvernehmung wieder aufgenommen
wurde.
Oberstaatsanwalt D r .
R e i f e n r a t h richtet vor
dem Zeugenaufruf an den Angeklagten die Frage, ob es richtig sei, daß seine
verschwundene Frau am 5. Juni 1882 i
n B e r l i n geboren sei. - Angekl.: In Berlin? Das kann
stimmen.
Nochmals
die Kognakflasche und anderes.
Frau Oberst
S e m e r a k gibt Auskunft über
eine Unterredung, die sie im Januar d. J. mit Dorothea Rohrbeck gehabt hatte.
Fräulein Rohrbeck hat ihr erzählt, daß sie den Inhalt einer Kognakflasche
untersuchen lassen wollte. Als die Zeugin nach dem Grunde fragte, antwortete
Dörte: „Ich fürchte, daß Grupen mir nach dem Leben trachtet.“ Nach der Ursache
zu dieser Befürchtung befragt, erzählte Dörte die Alsterpartie. Grupen habe
damals durchaus keinen Spaß gemacht, als er sein Ruder fortwarf. Die Zeugin
bekundet weiter, es sei unwahr, daß Frl. Zahn das Verhältnis Dörtes mit dem
Leutnant Matthäi begünstigt habe; es habe sich dabei überhaupt nur um eine
Mädchenschwärmerei gehandelt.
Rittergutsbesitzer L u x :
Es fiel mir auf, daß Frau Eckert, als wir nach dem Morge in dem
Winterzimmer saßen, wo am 14. Februar Mühle gespielt wurde, am Ofen saß,
einnickte und wieder aufwachte. Ich kam auf die Idee, festzustellen, ob es der
Frau Eckert auffalle, wenn jemand die Tür öffne und das Zimmer verlasse. Ich ging
durch das Billardzimmer hinab bis zum Fremdenzimmer. Nach etwa 50 Sekunden kam
ich zurück und hatte n i c h t den Eindruck, daß Frau Eckert meine
Abwesenheit bemerkt hätte. - Vors.: Wie ist der Charakter der kleinen Irmgard
Schade, die Sie in Pflege genommen haben? - Zeuge: Ich habe viel Freude an dem
Kinde. Es ist geradezu empörend, daß dem Kinde wegen einer einfachen Lüge
Eigenschaften beigemessen werden, die es tatsächlich gar nicht hat. - Vert. Dr.
Mamroth: Kannten Sie die Mutter der Irma Schade? - Zeuge: Bei einem Besuch
gewann ich den Eindruck, in einem sehr geordneten Hauswesen zu sein. Meine Frau
hat mir einmal von der Angelegenheit des Fabrikbesitzers Schultz erzählt, sonst
ist mir über Frau Schade nichts bekannt geworden. - Staatsanwalt: Hatten Sie
den Eindruck, daß die Mutter sehr an den Kindern hing? - Zeuge: Ja, den
Eindruck bestätigte der geordnete Zustand der Sachen der Kinder.
Frau Hotelbesitzer M e i s t e r e r n s t aus Altona: Im September 1920 wünschte Frau
Grupen bei ihr ein Zimmer. Da das Hotel aber besetzt war, ging Frau Grupen fort
und ließ eine Pelzjacke zurück, die Pelzjacke ist nach einigen Wochen von
Grupen abgeholt worden. Grupen selbst bestellte auch im September, nachdem
seine Frau dagewesen war, ein Zimmer mit zwei Betten. Beim Oberkellner meldete
er sich als „Architekt Peter Grupen mit Nichte“ an. Die Zeugin beauftragte den
Oberkellner, dem Grupen, wenn er wiederkomme, zu sagen, daß die Nichte ein besonderes
Zimmer haben müsse, weil es sich um ein noch nicht sechzehnjähriges Mädchen
handelte. - Vert. Dr. Mamroth: Wollte nicht Grupen das Zimmer nur für einen Tag
haben, damit Frl. Rohrbeck sich von der Nachtreise ausruhe, während er
Besorgungen erledige? - Zeugin: Das weiß ich nicht.
„Desto
besser kann ich schießen.“
Gutsverwalter S c h ö p k e aus Buckow bei Berlin hatte mit Grupen eine
Unterredung, als er mit Dörte der Großmutter Eckert einen Besuch abstattete.
Grupen rühmte sich ein guter Schütze zu sein, der wiederholt Schießpreise
bekommen habe. Als ihn der Zeuge darauf hinwies, daß er nur einen Arm habe,
bemerkte Grupen: „ D e s t o b e s s e r
k a n n i c h s c h i e ß e n . “ Dörte habe sich auf den Besuch der
Großmutter gefreut, es sei ihr aber unangenehm gewesen, daß Grupen mitgekommen
war. Zeuge hat die Ursula in Kleppelsdorf kennen gelernt. Ursel habe einen
scheuen Eindruck gemacht, sei aber für freundliche Worte durchaus zugänglich
gewesen. Zeuge weiß auch, daß Frl. Zahn gesagt hat: „Es ist furchtbar, daß
dieser Mann (Grupen) in unserem Hause ist!“
Die
Unterbindetasche?
Eine
Schülerin, die auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft mehrere Tage Ursulas
Unterbindetasche mit dem Revolver und den Patronen getragen hat, sagt aus, daß
sie dabei beim Gehen und bei häuslichen Verrichtungen sehr behindert worden
sei.
Beeinflussungsexperimente?
Gaswerksdirektor W r o b e l
hat im Auftrage des Staatsanwalts festzustellen versucht, ob die
Stütze M o h r , Frau
E c k e r t und die kleine I r m a
leicht oder schwer zu beeinflussen sind, ob sie unter dem Einfluß des
Angeklagten stehen und wie ihre Aussagen bezüglich des Verlassens des Zimmers
durch Grupen zu bewerten sind. Die Versuche wurden im Winterwohnzimmer an dem
bekannten Tische, an dem Mühle gespielt worden war, vorgenommen. Sowohl die
Irma wie Frau Eckert haben im Zustande suggestiver Beeinflussung nicht bemerkt,
daß der den Versuchen beiwohnende Oberstaatsanwalt das Zimmer verließ. Die
Stütze Mohr ist zwar, wie die übrigen Beteiligten, mit den Experimenten des
Zeugen wohl einverstanden gewesen, hat aber den Versuchen Widerstand entgegengesetzt;
sie war nicht dazu zu gewesen, die Brillantnadel auf der Krawatte des Zeugen
fest anzusehen, sie sah vielmehr immer vorbei. Es mußte daher bei ihr von den
Beeinflussungsversuchen Abstand genommen werden. Frl. Mohr hat damals dem
Zeugen gegenüber ganz entschieden bestritten, daß Frl. Zahn beim Mühlespiel
durch das Zimmer gegangen sei, dagegen hat sie wiederhold die Aeußerungen
Grupens wiedergegeben: „Es ist gut, daß wir zusammen waren und daß Ihr wißt,
daß ich das Zimmer nicht verlassen habe.“ Zum Schluß schildert der Zeuge ein an
Dorothea Rohrbeck bei einer gesellschaftlichen Veranstaltung vorgenommenes
Experiment auf dem Gebiete der Wachsuggestion.
Die
Untersuchungsrichter.
Nach einer kurzen Pause wird
Landgerichtsrat P i e t s c h vernommen, der eine kurze Zeit die
Vernehmungen vorgenommen hat. Der Zeuge bekundet, daß Grupen gesagt habe, er
hätte bei dem Auffinden der Leichen die Schußwaffe aufgehoben, gesichert und
auf den Tisch gelegt. - Der Angeklagte bemerkt hierzu, daß er sich zunächst
infolge der Aufregung nicht mehr genau auf das Auffinden der Waffe erinnern
konnte. Erst später nach gründlicher Prüfung und auf wiederholtes Befragen habe
er erklärt, wenn er den Revolver aufgehoben habe, dann habe er auch möglicherweise
den Sicherheitsflügel umgelegt. Eine bestimmte Erklärung hierüber habe er aber
nicht abgegeben und auch nicht abgeben können. An den Zeugen richtet der
Vorsitzende die Frage, ob er bei der Vernehmung des Angeklagten den Eindruck
hatte, daß dieser die Absicht hegte, den Gang der Untersuchung zu erschweren,
oder ob er bestrebt war, die Sache aufzuklären. Der Zeuge erklärt hierzu, daß
der Angeklagte damals auf die Frage, wo seine Frau sei, keine Antwort gegeben
und den Zeugen vielmehr dabei sehr scharf angesehen und erklärt habe: Ich kann
darüber nur in der Hauptversammlung Auskunft geben. Ich fürchte, mit meiner
Auskunft meiner Frau und anderen Personen Ungelegenheiten zu bereiten. Ich
hatte den Eindruck, daß der Angeklagte etwas zu verheimlichen hatte und
verheimlichen wollte. Es schien, als ob sich der Angekl. auf mich stürzen
wollte. Ferner hat der Angekl. bestritten, mit den beiden Dienstmädchen intim
verkehrt zu haben. - Der Angeklagte bestreitet, die Absicht gehabt zu haben,
sich auf den Zeugen zu stürzen. - Dem Zeugen Pietsch ist noch aufgefallen, daß
der Angeklagte die aus dem Gefängnis gesandten Briefe mit einer sehr schönen,
regelmäßigen Schrift geschrieben hat. Grupen behauptet hierzu, daß er im
Gefängnis die Briefe viel sorgfältiger schreiben konnte, weil er mehr Zeit
hatte. Auf Befragen des Verteidigers Dr. Ablaß erklärt der Zeuge P i e t s c h noch, daß er auf Grund des vorgelegten
Materials den Angeklagten für schuldig gehalten habe.
Der nächste Zeuge ist der Geheimrat D u b i e l , der die Untersuchung in der Hauptsache
geführt hatte. Auch er ist auf Grund des vorliegenden Materials zu der
Ueberzeugung von der Schuld des Angeklagten sowohl bezüglich des Mordes als
auch des Sittlichkeitsverbrechens gekommen. Der Angeklagte war bei seinen
Vernehmungen sehr gesprächig, aber sehr vorsichtig und er hütete sich, sich
festzulegen. Der Zeuge bekundet dann, daß er nach der Tat eine Zusammenkunft
der Stütze Mohr mit dem Bruder des Angeklagten, Wilhelm Grupen, verhindern
wollte, beide hätten sich aber trotzdem getroffen. Ob und was sie aber für ihre
Aussagen vereinbart haben, kann der Zeuge nicht angeben.
Mittagspause.
Mittwoch, den 14. Dezember 1921, „Der Bote
aus dem Riesengebirge“
Kleppelsdorfer
Mordprozeß.
Spiritistische
Gerüchte über Frau Grupen.
Hirschberg, 13. Dezember.
Montag nachmittag wurde unter Ausschluß der
Oeffentlichkeit verhandelt. Vorher war die Vernehmung des Untersuchungsrichters
zu Ende geführt worden. Der Angeklagte verlor bei dieser Gelegenheit einen
Augenblick die Ruhe, mit der er bisher in starker Selbstbeherrschung dem Gang
der für alle Prozeßbeteiligten gleich anstrengenden Verhandlung gefolgt war. Er
schlug mit der Faust auf den Tisch und gebrauchte dabei zum ersten Male in all
den Tagen die Wendung: „Ich bin unschuldig.“ Am heutigen Dienstag wurde
zunächst weiter unter Ausschluß der Oeffentlichkeit verhandelt. Frau Grupens
angebliche anormale Veranlagung, die nach des Angeklagten Behauptung das eheliche
Verhältnis unhaltbar gemacht haben soll, war dabei Gegenstand der
Beweisaufnahme. Im weiteren Verlauf der Sitzung gab der Vorsitzende Aufklärung
über den Ursprung der seit Sonnabend in der Stadt umlaufenden Gerüchte, daß die v e r s c h w u n d e n e F r a u
G r u p e n s i c h i n
d e r W e s t s c h w e i z a u f h a l t e . Nach der Mitteilung des Vorsitzenden befand
sich unter den vielen Zuschriften, die bei ihm täglich eingehen, auch ein
Schreiben der Breslauer Staatsanwaltschaft, wonach sich bei ihr ein Herr
Eichler gemeldet habe, der Auskunft über den Aufenthalt der vermißten Frau
Grupen geben könne. Frau Grupen soll sich in Turni (Westschweiz) aufhalten. Auf
Veranlassung der Hirschberger Staatsanwaltschaft ist Eichler in Breslau
polizeilich vernommen worden, wobei sich herausstellte, daß das Gerücht über
den Aufenthalt der Frau Grupen d a
s E r g e b n i s e i n e r
s p i r i t i s t i s c h e n S
i t z u n g i s t . Der Gerichtshof hat unter diesen Umständen
davon abgesehen, Herrn Eichler als Zeugen nach Hirschberg zu laden.
Aus den weiteren Aussagen des U n t e r s u c h u n g s r i c h t e r
s D u b i e l heben wir hervor: Als Grupen seinem Bruder
Wilhelm gegenüberstand, weinte er und vermochte nicht zu sprechen. Ich hatte
den Eindruck, daß Wilhelm Grupens Frau glaubte, ihr Mann würde auch verhaftet
werden. Auf Veranlassung des Angeklagten habe ich die Stütze Mohr garüber vernommen,
was sie von der „Ueberraschung“ (Ursulas Brief an Großmutti) wisse. Mir war es
aufgefallen, daß die Mohr bei ihrer ersten Vernehmung nichts gesagt hatte von
dem Briefe, der bei Ursula, als sie im Sterben lag, gefunden worden ist. Auf
meine Frage, was sie von dem Briefe wisse, antwortete die Mohr ganz
gleichgültig: „Ach so, der Brief.“
Verteidiger Dr. Mamroth: Schlossen Sie aus
diesem Vorgange, daß der Angeklagte, der Sie zu der Vernehmung der Mohr über
diesen Punkt veranlaßt hat, bemüht gewesen ist, die Ermittelungen zu fördern? -
Zeuge: Meines Erachtens handelte es sich hier um einen Umstand, den der
Angeklagte zu seinen Gunsten festgestellt wissen sollte. - Verteidiger Dr.
Mamroth: Meinen Sie, daß die Mohr, die geneigt sein soll, für den Angeklagten
Günstiges zu sagen, den Brief absichtlich verschwiegen hat? - Zeuge: Das weiß
ich nicht, ich wunderte mich aber darüber, daß die Mohr einen so wichtigen
Umstand nicht von selbst erwähnt hat.
„Ich
bin unschuldig.“
Angeklagter (erregt): Obwohl mir der
Staatsanwalt gesagt hat, er sei fest überzeugt, daß ich den Brief an Großmutti
geschrieben habe, habe ich den Untersuchungsrichter auf den Brief aufmerksam
gemacht und ihn ersucht, die Mohr darüber zu vernehmen. Der Herr Staatsanwalt
bringt den Brief mit meiner Schuld vage in Verbindung. Meine Schuldfrage steht
nicht fest und (der Angeklagte schlägt heftig mit der Faust auf den Tisch) ich
behaupte: ich bin unschuldig. - Staatsanwalt: Ich bitte festzustellen, daß ein
Widerspruch besteht zwischen den Erklärungen, die der Angeklagte am Sonnabend
bezüglich der Briefe Ursulas an Frau Barthel gab, und seinen Aussagen über
diesen Punkt bei der Vernehmung durch den Untersuchungsrichter. Am Sonnabend
sagte der Angeklagte, er habe die Ursula nicht veranlaßt, an Frau Barthel zu
schreiben. In der Voruntersuchung behauptete er das Gegenteil.
Der Vorsitzende stellt aus den
Untersuchungsakten folgende Niederschrift fest: „Dem Angeschuldigten wurde der
bei Ursula vorgefundene Brief an Großmutti und sein eigenes Schreiben an seinen
Bruder Wilhelm Grupen vorgelegt, um die Uebereinstimmung der Schriftzüge
festzustellen. Er erklärte: Ich habe den Brief an Großmutti nicht geschrieben,
er ist meiner Ueberzeugung nach von Ursula geschrieben. Zwecks
Schriftvergleichung wurde ihm der Brief der Ursula an Frau Barthels vorgelegt.
Er erklärte: Ich hatte sie beauftragt, an Frau Barthels und deren Tochter in
Itzehoe je einen freundlichen Brief zu schreiben. Ursula schrieb den einen Teil
des Briefes an Frau Barthels, den anderen an die Tochter. Ich riß beide Seiten
des Briefes auseinander und befahl Ursula an Frau Barthels und an die Tochter
je einen Brief zu schreiben. Ursula schrieb einen zweiten Brief an Frau
Barthels und benutzte den alten als Konzept. Der erste Brief muß in meiner
schwarzen Hose stecken.
Der Angeklagte bemerkte hierauf, er gebe zu,
die Ursula zu dem Briefe an Frau Barthels
v e r a n l a ß t , aber
nicht b e a u f t r a g t zu haben.
Staatsanwalt (zu Frau Eckert): Der Angeklagte
behauptete doch am Sonnabend, S i
e hätten die Briefe an Frau Barthel
veranlaßt. - Frau Eckert: Ich bin immer vorgeschoben worden.
Ein Geschworener: Ist festgestellt, daß die
Haustüren dauernd verschlossen waren, besonders am Mordtage? - Frl. Zahn: Wir
hielten beide Haustüren unter Verschluß. Die Tür in das sogenannte Eßzimmer war
offen, die Verandatür war verschlossen. - Angeklagter: War die Tür nach dem
kleinen Hof verschlossen? - Frl. Hirsch: Die Eingangstür vom kleinen Hof zum
Küchenflur war stets verschlossen, ebenso die Tür vom Küchenflur zur Rollstube.
Auf Antrag des Staatsanwalts wird nunmehr die
Oeffentlichkeit
ausgeschlossen.
Im Einverständnis mit den Prozeßbeteiligten
bleiben die Pressevertreter im Gerichtssaal.
Die Beweisaufnahme wendet sich dem
angeblichen Sittlichkeitsverbrechen an Grupens Stieftochter Ursula zu. Hierüber
wird zunächst Frau E c k e r t vernommen. Die Ursula klagte eines Tages
über Schmerzen, der Angeklagte erzählte ihr davon und fuhr mit dem Kinde zu
einem Arzt. Grupen gab ihr als Ursache des Leidens eine harmlose Angelegenheit
an. Ein Gehilfe des Angeklagten behandelte dann das Kind unter Grupens Leitung.
Frau Eckert hat das damals als lobenswert empfunden, zumal niemand anders da
war.
Die kleine Ruth R e s k e ,
jetzt in Berlin-Zehlendorf bei den Großeltern, eine Pflegetochter der
Frau Grupen, berichtet, daß die Frau des Angeklagten einmal von Amerika sprach
und zu ihrem Mann sagte: „Wenn Du artig bist, Peter, nehme ich Dich mit.“ Die
Ruth, offenbar ein sehr gewecktes Kind, erklärte heute, daß sie diese Aeußerung
für Scherz gehalten habe.
Es erscheint dann ein damals 19 Jahre
altes D i e n s t m ä d c h e n des Angeklagten. Ihr hat Grupen die Ehe
versprochen, schon wie seine Frau noch bei ihm war. Die Zeugin hatte den Angeklagten
gern und trat in engere Beziehungen zu ihm. Von einem Vergehen Grupens an
seiner Stieftochter oder einer anormalen Handlung der Mutter der Ursula
gegenüber weiß die Zeugin nichts.
Weiterhin werden noch einige Mädchen
vernommen, die sich durch Eheversprechungen des Angeklagten verleiten ließen,
mit ihm in nähere Beziehungen zu treten. Eins dieser Mädchen war in ähnlicher
Art wie der Angeklagte und die kleine Ursula erkrankt. Ueber den Zusammenhand
dieser Erkrankungen wurden gutachterliche Aeußerungen nicht abgegeben.
Um 8 ½ Uhr wird die Verhandlung auf Dienstag
½ 10 Uhr vertagt.
*
Dienstag-Sitzung.
Am Dienstag wurde zunächst in
nichtöffentlicher Sitzung weiter verhandelt. Eine intime Freundin der
verschwundenen Frau Grupen bekundet, daß der Angeklagte einmal zu seiner Frau
gesagt habe: Durch Scheidung gehen wir nicht auseinander, n u r
d i e W a f f e k a n n
u n s t r e n n e n ! Der Angeklagte habe damit einen S e l b s t m o r d durch Erschießen gemeint: die Zeugin sei
aber fest überzeugt, daß er Komödie spielte. Das Verhältnis zwischen den
Eheleuten sei überhaupt nicht so gewesen, wie es nach außen hin schien, und wie
es hätte sein sollen. Hinter verschlossenen Türen wird auch dann W i l h e l m G r u p e n , der Bruder des Angeklagten vernommen, der
einen anormalen Vorgang zwischen der F
r a u des Angeklagten und der U r s u l a
beobachtet haben will.
Die m
e d i z i n i s c h e n S a c h v e r s
t ä n d i g e n sprachen sich in ihrem
Gutachten sehr zurückhaltend über die Wahrscheinlichkeit des dem Angeklagten
zur Last gelegten Sittlichkeitsverbrechens aus. Die Möglichkeit eines intimen
Verkehrs Ursulas mit dem Angeklagten wurde zugelassen, weil ein solcher Verkehr
sich im Rahmen der Diagnose befindet.
Der Angeklagte erklärte sich mit dem Antrage
eines Sachverständigen, von ihm eine Blutsprobe zur Feststellung einer gewissen
Krankheit zu entnehmen, einverstanden.
Mittagspause.
Um ½ 4 Uhr wird die Oeffentlichkeit wieder hergestellt.
Donnerstag, den 15. Dezember 1921, „Der Bote
aus dem Riesengebirge“
4 Seiten ziemlich hell, aber Sonderausgabe zu
dunkel mit Durchschimmern der Rückseite
Die
Tragödie auf Schloß Kleppelsdorf.
Das
Verschwinden der Frau Grupen.
Hirschberg, 14. Dezember.
In der Nacht zum Sonntag hofft man, das
Urteil fällen zu können. Ob das Programm inne gehalten werden kann, steht
freilich noch dahin. Es sind noch eine große Zahl Zeugen zu vernehmen, und die
Sachverständigen, deren eine stattliche Zahl an der Gerichtsstätte versammelt ist,
werden für ihre Ausführungen auch längere Zeit beanspruchen. Die Echtheit der
Briefe, die Lage der Patronenhülsen, die Bahn der Geschosse, die Art der
Wunden, die Frage der hypnotischen und suggestiven Beeinflussung und noch
manches andere mehr bedarf noch der Klärung durch Gutachten. Einen vollen Tag,
wenn nicht mehr, dürfte die Vorbereitung und Durchführung der Plädoyers erfordern.
Die Verhandlung selbst zeichnet sich trotz
der Ueberanstrengung, die sie für alle Beteiligten bedeutet, auch heute noch
wie am ersten Tage durch die ruhige und sachliche Form der Wahrheitsermittelung
vorteilhaft von manchen Verhandlungen in jenen Zeiten aus, als Vertreter der
Anklagebehörden ihre vornehmste Aufgabe in der Verfolgung politisch unbequemer
Personen erblickten. Oberlandesgerichtsrat Krinke, klar und klug in seiner
Fragestellung, manchmal nicht ohne Ironie und Humor, aber stets von gütiger
Milde, die auch bei den peinlichsten Fragen die Befangenheit der Zeuginnen
rasch zu bannen versteht, erweist sich immer mehr als Verhandlungsführer großen
Schlages. Er ist von unerschütterlicher Geduld, und nur, wenn Zeugen, und noch
obendrein solche, die vor Gericht zu verkehren gewohnt sind, ihre Aussagen in
den Bart murmeln, klingt durch seine Ermahnungen, deutlich zu sprechen, ein
Unterton der Unzufriedenheit durch.
Dienstag nachmittag ist unter gewaltigem
Andrange des Publikums die Oeffentlichkeit der Verhandlung wieder hergestellt
worden. Es kamen Dienstag und Mittwoch zunächst die Zeugen, die über das
Verschwinden der Frau Grupen etwas zu bekunden wissen, zur Vernehmung.
Apothekenbesitzer Otto S c h a d e - Berlin (Vater des ersten Mannes der
verschwundenen Frau Grupen): Ostern 1920 stellte mir meine Schwiegertochter
Gertrud den Angeklagten als ihren Ehemann vor. Grupen machte einen günstigen
Eindruck auf mich und nannte mich „Vater“. Auch erklärte er mir, daß er eine
bessere Frau als Trude nicht hätte finden können. Wenige Tage nach dem 19.
September fragte der Angeklagte bei mir telephonisch an, ob er mich im Wartesaal
des Potsdamer Bahnhofs sprechen könnte. Ich war einverstanden. Als Grupen kam,
richtete er an mich die Frage: „Hast Du Nachricht von Trude?“ Auf meine
verneinende Antwort sagte er: „Denke Dir, sie ist fort nach Amerika!“ Ich
ersuchte ihn, weiter zu erzählen, sobald meine Frau gekommen sei. Da wehrte er
ab, und als meine Frau früher als erwartet kam, war er s e h r
b e s t ü r z t . Grupen
äußerte, er habe seiner Frau ein angenehmes Leben bereiten, ihr ein Reitpferd
kaufen wollen und für den Haushalt 50 000 Mk. hergegeben. 80 000 Mk. hätte er
auf der Bank, in kurzer Zeit würde er Millionär sein. Meine Schwiegertochter
hat zu mir niemals davon gesprochen, daß sie
n a c h A m e r i k a gehen wolle. Zur B ü h n e
hatte sie ein gewisses Talent, aber es praktisch zu betätigen, ist nie
ihre Absicht gewesen.
Vors.: Hat der Angeklagte Nachforschungen
nach seiner Frau angestellt? - Zeuge: Der Angeklagte sagte mir, er hätte einen
Detektiv mit Ermittelungen beauftrag, über den Erfolg hat er mir nichts
mitgeteilt. Die Abschiedsbriefe seiner Frau hat er mir gezeigt. Ich erklärte
ihm s o f o r t , daß
T r u d e u n m ö g l i c h d i e s e
B r i e f e g e s c h r i e b e
n haben könne. Eine solche G e m ü t s r o h e i t kann ich Trude nicht zutrauten. (Der
Vorsitzende ersucht den Zeugen Wilhelm Grupen den Saal zu verlassen, weil er
morgen nochmals eingehend vernommen werden soll.) Das Verhältnis meiner
Schwiegertochter mit dem Fabrikbesitzer
S c h u l t z ist uns bekannt
geworden; wir haben ihr, als sie uns um Verzeihung bat, um des Familienfriedens
willen, verzeihen. Das Verhältnis mit Schultz hatte sie erst nach dem Tode
meines Sohnes.
Frau Margarethe S c h a d e , die Gattin des Vorzeugen, hat den
Angeklagten bei seinem ersten Besuch als sehr zurückhaltend kennen gelernt. Vor
der Zusammenkunft auf dem Potsdamer Bahnhof hatte Grupen telegraphisch bei uns
angefragt, ob seine Frau bei uns wäre. Die
A b s c h i e d s b r i e f e ,
die er uns zeigte, kamen mir m e
r k w ü r d i g k ü h l vor. Wenn meine Schwiegertochter wirklich
nach Amerika gegangen sein sollte, so kann sie es nur in g e i s t i g e r U m n a c h t u n g getan haben, denn sie hing sehr an ihren
Kindern. - Vorsitzender: Sie waren bei der Beerdigung in Kleppelsdorf. Was
haben Sie dort der M a r i e M o h r
weggenommen? - Zeugin: Einen Muff und einen Pelzkragen, um beides der kleinen
Irma zu geben. Der Muff war Eigentum meiner Schwiegertochter, bezüglich des
Pelzkragens kann ich das nicht bestimmt behaupten. Ueber die Glaubwürdigkeit
und Aufrichtigkeit der kleinen Irma kann die Zeugin, ebenso wie ihr Ehemann,
aus eigener Erfahrung, nichts Nachteiliges sagen. Die R u t h
R e s k e habe ihr gegenüber
darüber geklagt, daß der Vater (Grupen) sie geschlagen habe, wenn sie mal etwas
nicht nach seinem Willen ausgeführt hatte; auch hätte sie schwer arbeiten
müssen. Die Reise, die Ruth mit dem Vater nach Berlin gemacht habe, sei ihr
(Ruth) schrecklich gewesen, weil der Vater sich mir viel Damen eingelassen
habe.
Bürovorsteher Johann G i l b -
Itzehoe hatte auf Wunsch des Angeklagten die in einem Kuvert
verschlossenen Abschiedsbriefe seiner Frau entgegengenommen. Der Angeklagte sei
sehr niedergeschlagen gewesen, obwohl er noch nicht wußte, was in den Briefen
stand. Der Zeuge bestätigt, daß die Besitzung Grupens in Ottenbüttel ein einsames
Häuschen sei, etwa 200 Meter von der Dorfstraße.
Der
„geknickte Ehemann“.
Rechtsanwalt und Notar R e i n e c k e - Itzehoe: Ich habe die notariellen Akten über
die Uebertragung von Hypotheken der Frau Eckert und der Frau Grupen an den
Angeklagten aufgenommen, desgleichen über die Gütertrennung. Die Akte erfolgten
am 17. und 18. September. An dem Wesen der Frau Grupen ist mir nichts
aufgefallen. Als mir mein Bürovorsteher das Kuvert mit den Abschiedsbriefen der
Frau Grupen übergab, fiel mir auf, daß kein Abschiedsbrief an den Angeklagten
dabei war. Als ich Grupen von dem Inhalt der Briefe Kenntnis gegeben hatte,
machte er auf mich den Eindruck eines „
g e k n i c k t e n E h e m a n n e s “
. Da ich es für unmöglich hielt, daß
Frau Grupen mit 72 000 Mk., die sie nach Angabe des Angeklagten mitgenommen
haben soll, bei dem schlechten Valutastande nach Amerika kommen kann, gab ich
dem Angeklagten den Rat, sofort Nachforschungen anzustellen, damit die Frau
nicht etwa im Sumpf untergehe. „Sie müssen“, sagte ich zu Grupen, „alle Hebel
in Bewegung setzen, um auf die Spur Ihrer Frau zu kommen. Erkundigen Sie sich
bei den Schiffsgesellschaften, fragen Sie auch bei dem Fabrikbesitzer Schultz
an, ob er etwas von dem Aufenthalt Ihrer Frau wisse.“ Nach vierzehn Tagen
beauftrage mich Grupen mit der Einleitung der Ehescheidungsklage. Als ich im
Februar von dem Morde in Kleppelsdorf las, da machte ich mir meine e i g e n e n G e d a n k e n und
l e g t e m e i n M a n d a t
f ü r G r u p e n n i e d e r . Ich wurde dann Abwesenheitspfleger der
verschwundenen Frau Grupen und habe als solcher u. a. das von dem Angeklagten
verpfändete Silber eingelöst.
Vors.: Angeklagter, haben Sie die Ratschläge
des Zeugen befolgt? - Angekl.: Ich war in Berlin. - Vors.: Ich frage, ob Sie in
Hamburg, wie es Ihnen der Zeuge geraten hat, bei der Dampfergesellschaft waren?
- Angekl.: Ich war in Berlin. Der Zeuge hatte mir auch gesagt, ich solle mich
nach der Abreise des Schultz erkundigen, der doch vielleicht mit meiner Frau
durchgegangen war. Ich habe dann Frau Schade gefragt. - Vors.: Frau Schade, hat
der Angeklagte Sie nach Schultz gefragt? - Fr. Schade: Er hat mich nur gefragt,
ob der Schultz damals allein mir meinem Sohn auf der Jagd war, als er
verunglückte.
Vors.: Was haben Sie sonst noch unternommen,
um Ihre Frau zu finden? - Angekl.: Ich habe Herrn Rechtsanwalt Reinecke
gebeten, sich bei der Polizei zu erkundigen. - Zeuge: Ich habe bei der Polizei
telephonisch angefragt und den Bescheid bekommen, sie sei nach Lübeck
abgemeldet.
Vors.: Und was haben Sie sonst getan, um Ihre
Frau zu finden? - Angekl. (schweigt).
Vors.: Wollten Sie denn nun von Ihrer Frau nichts mehr wissen? -
Angekl.: N e i n .
Vert. Dr.
M a m r o t h stellt fest, daß
der Angeklagte von den anempfohlenen Maßnahmen nur unterlassen habe, die
Schifffahrtsgesellschaften zu befragen. Die Aussprache mit den Berliner
Verwandten habe der Zeuge anempfohlen und der Angekl. befolgt. - Vors.: Der
Herr Zeuge hat uns geschildert, daß Sie vollkommen geknickt waren. - Zeuge:
Helle Tränen hat er geweint. - Vors. (fortfahrend): Und hier vor Gericht sagten
Sie eben, daß Sie von Ihrer Frau nichts mehr wissen sollten - das ist doch ein
Widerspruch. - Angekl.: D a n n i s t
d a s e b e n e i n
W i d e r s p r u c h .
Vors.: Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß
die Geschworenen aus diesem Widerspruch Schlüsse ziehen können. - Angeklagter
(nervös): Man weiß eben nicht, was das für eine Frau war - und ich wünsche
keinem - -
Weg ist
das Geld!
Staatsanwalt: Ist Ihnen bekannt, daß der
Angeklagte vom Gefängnis aus noch immer mit der Generalvollmacht über das
Vermögen der Frau Eckert verfügte? - Angekl.: Dann muß man eben x = 0 setzen,
sonst stimmts nicht. - Staatsanw.: Das Vermögen der Frau Eckert soll dich (103
000?) Mark betragen haben. Wo ist das Geld? - Vors.: Weg! (Heiterkeit) -
Angekl.: Frau Eckert hat nichts gehabt. Die
109 000 Mark in Wertpapieren gehörten meiner Frau und nicht Frau Eckert. Ueber
dieses Geld hat meine Frau zum größten Teil verfügt, oder es ausgegeben. -
Vors.: Der Angekl. hat diesen Standpunkt allerdings immer eingenommen.
Bankier
G u l d a c k e r - Itzehoe: Am
18. September ist Frau Grupen in meinem Geschäft gewesen. Da ich nicht anwesend
war, hinterließ sie, daß sie am Montag, den 20. September, wiederkommen wollte.
Etwa eine Woche nach dem Verschwinden der Frau Grupen ist der Angeklagte in
großer Erregung zu mir gekommen und hat erzählt, daß seine Frau verschwunden
sei und daß er sie in Berlin gesucht habe. Bei einer späteren Gelegenheit hat
mir Grupen gesagt, seine Frau sei zu einer Freundin gefahren. Ueber Grupens
persönlichen und geschäftlichen Ruf ist mir Nachteiliges nicht bekannt
geworden. Daß Frau Eckert kein Geld hatte, um die von dem Angeklagten versetzten
Brillanten einzulösen, ist dem Zeugen nicht bekannt.
Was die
Kellinghusener sagen.
Amtgerichtsrat L e m m e
aus Kellinghusen (wo Frau Schade eine Zeitlang gelebt hat) stellt der
kleinen Ursula ein ähnliches gutes Zeugnis aus, wie die Lyzeallehrerin. Ursula
sei ein zartes Kind gewesen, habe kaum einen Revolver halten können.
Vert. Dr. Ablaß: Wie langen haben Sie die
Ursula gekannt? - Zeuge: Ich? Ich habe sie nicht gekannt. Ich weiß das nur von
meiner Frau und die hat es von anderen Damen.
Dr. Ablaß: Haben Sie nicht eine Eingabe
gemacht, der Angeklagte habe sich viel mit Maurerarbeiten beschäftigt und es
sei die Vermutung aufgetaucht, daß er die Leiche seiner verschwundenen Frau
eingemauert habe. - Zeuge: Ja, das sagen die Leute so.
Vert. Dr. Ablaß: Haben Sie nicht auch
berichtet, bei einem Umzuge habe Grupen einen Schrank vom Wagen gestoßen, damit
seine Frau erschlagen werde. - Zeuge: Ja, meine Frau sagte mir, die Leute
sagten, Frau Haffner hätte erzählt, sie hätte bei dem Umzuge nach Itzehoe
mitgeholfen. Als sie sich im Zimmer befand, habe sie plötzlich von der Straße
her den Schrei einer weiblichen Person gehört. Sie sei zunächst an die Tür
gestürzt, habe diese aber v e r s c h l
o s s e n vorgefunden. Dann sei sie an
das Fenster geeilt und habe gesehen, daß von dem vor dem Hause stehenden Möbelwagen
ein Schrank gefallen war. Durch das Herablassen des Schranks h ä t t e
F r a u G r u p e n s c h w e r
v e r l e t z t w e r d e n k ö n n e n . Der Frau Haffner sei es aufgefallen, daß,
als sie auf den Schrei zu Hilfe eilen wollte, die Tür verschlossen gewesen sei.
- Vors.: Aus eigener Kenntnis wissen Sie also nichts? - Zeuge: Neun! - Vors.:
Dann verzichten wir wohl auf den Zeugen?
Ein
Schuß ins Kleppelsdorfer Herrenzimmer.
Der Vorsitzende teilt mit, daß ein bei ihm
soeben eingegangenes Schreiben ihn veranlasse, an F r l .
Z a h n einige Fragen zu
richten. In dem Schreiben wird behauptet, daß einmal d u r c h s
F e n s t e r a u f D o r o t h e a R o h r b e c k g e s c h o s s e n worden sei.
Frl. Zahn: Im Oktober 1919 - der Angeklagte
war damals in Kleppelsdorf - wurde abends um ½ 10 Uhr durch das offene Fenster
des Herrenzimmers geschossen. Es war ein Schrotschuß. Wir haben es uns damals
nicht erklären können und nahmen an, daß der Schuß mehr dem Herrn Bauer gelten
sollte. - Vors.: Ist es richtig, daß
Frl. Dörte durch den Schuß verletzt worden ist? - Zeugin: Dörte saß ja gar
nicht in dem Zimmer, sie saß zwei Zimmer weiter und spielte Klavier. - Vors.:
In dem Schreiben wird unterstellt, daß der Angeklagte den Schuß abgegeben habe.
Dörte soll dem Frl. Semerak erzählt haben, sie sei an der Nase verletzt worden.
- Staatsanwalt: Der Fall ist schon in der Voruntersuchung bekannt geworden.
Der
Koffer.
Hierauf wird der Knecht Otto R o s k e -
Ottenbüttel vernommen. Am 19. September habe er in Itzehoe das Gespann
mit Grupen, seiner Frau und dem Dienstmädchen Kläschen gesehen. Als er um ½ 12
Uhr nachts nach Hause kam, habe er von der Kläschen den Zettel erhalten mit dem
Auftrage der Frau Grupen, den im Schlafzimmer befindlichen Koffer mit
schmutziger Wäsche zur Bahn zu schaffen. Grupen habe gesagt, der Koffer soll
nicht fortgeschickt werden, wir hätten andere Beschäftigung. - Staatsanwalt:
Ich stelle fest, daß der Angeklagte keinen Auftrag gegeben hat, den Koffer
fortzuschaffen. - Vert. Dr. Ablaß: Der Koffer konnte nicht fortgeschafft werden,
weil der Wagen, der die Kinder zur Schule brachte, zu klein war und für ein
anderes Gespann andere Beschäftigung vorlag.
Ein B
e i s i t z e r (zum Zeugen): Sie haben
also den Koffer mit einem anderen Wagen nicht fortgeschafft, weil Sie hierzu keinen
Auftrag von Grupen hatten? - Zeuge: Ja. - Ein Geschworener: Konnte Grupen das
Pferd selbst ausspannen? - Angekl.: Ich bin allein imstande, die Gurte zu
lösen. - Zeuge R o s k e bestätigt, daß Grupen die Pferde allein
ausspannen könne.
Der
Abschiedsbrief und die Kassette.
Dienstmädchen G n i w a k o s k i macht Bekundungen über das Auffinden des in
der Toilette gefundenen A b s c h i e d
s b r i e f e s der Frau Grupen an Frau
Eckert. Auf dem zerknüllten Briefentwurf haben auch die Worte gestanden: „Liebe
Dörte, sei stets gut zu Deiner Großmutter.“ Die Zeugin hat auch bei dem Oeffnen
der Geldkassette durch Grupen mitgeholfen. Als die Kassette aufsprang. sei
Grupen blaß gewesen, aber erst am nächste Tage habe er davon gesprochen, daß in
der Kassette 6 0 0 0 0
M a r k f e h l t e n . Die Kläschen habe ihr erzählt, Grupen hätte
ihr, als er vom Notar aus Itzehoe zurückkam, gesagt, seine Frau sei nach
Amerika verschwunden. Aber früher schon habe Grupen zu Kläschen geäußert, seine
Frau sei krank und würde nach Ansicht des Arztes n u r
e i n o d e r z w e i
J a h r e l e b e n .
Dienstmädchen K l ä s c h e n : Bei der Abfahrt nach Itzehoe am 19.
September, dem Tage, an dem Frau Grupen verschwunden ist, sind die Eheleute fröhlich
und vergnügt gewesen. Ich fuhr mit, um in Itzehoe ins Vereinshaus zu gehen.
Dort sollte ich um 8 Uhr sein, und ich hätte noch Zeit gehabt, mit zum Bahnhof
zu fahren. F r a u G r u p e n
h a t t e e i n e n Z e l t b a h n m a n t el m i t .
Nachdem ich Grupen den in der Toilette gefundenen Zettel gegeben hatte,
fuhr er mit dem aus der Kassette genommenen Kuvert zum Notar und bei seiner Rückkehr
sagte er: „ M e i n e F r a u
i s t w e g , i c h
b i n f r e i ! “ - Vors.: Hatten die Eheleute manchmal Streit
gehabt? - Zeugin: Ja, in der letzten Zeit. Einmal hat Grupen seine Frau
„Frauenzimmer“ geschimpft, weil sie die Frau seines Bruders Wilhelm nicht
grüßen wollte. - Vors.: Hat Frau Eckert nicht zu Frau Grupen gesagt: Mir ist so
Angst, daß du reisest! - Zeugin: Ja, Frau Grupen sagte aber: habe keine Bange,
ich komme bald wieder. Dau weißt ja, d
a ß i c h n i c h t
l a n g e o h n e m e i n e n
M a n n l e b e n k a n n . - Die Zeugin hat auch gehört, daß
Grupen, als seine Frau einmal von einer längeren Reise sprach, sagte: Spukt Dir
Amerika schon wieder im Kopf?
Zwischen den beiden Mädchen und dem
Staatsanwalt entspinnt sich eine längere Aussprache darüber, ob sie nicht, wie
sie früher bekundet haben, den Eindruck hatten, daß der Briefentwurf
absichtlich auf die Toilette gelegt worden ist, damit er dort gefunden werden
solle, und ob die Mädchen nicht a b s i
c h t l i c h z u r O e f f n u n g d e r
K a s s e t t e h i n z u g e z
o g e n worden sind, damit sie als
Zeugen über den Inhalt der Kassette dienen könnten. Die Mädchen vermögen über
die Eindrücke keine klare Auskunft zu geben. Beide wissen nicht, wer ihnen, als
sie nachts mit Roske nach Hause zurückkehrten, das Tor aufgemacht hat. Die Kläschen
bekundet, daß sie den Zettel am Sonntag, den 19. September, v o r
d e r A b f a h r t der Frau Grupen gefunden hat, während sie früher
erklärt hat, ihn erst am nächsten Tage, also am Montag, gefunden zu haben.
Kriminaloberwachtmeister J a r c h o w - Itzehoe bekundet: Die Kläschen habe bei
ihrer ersten Vernehmung erklärt, sie habe den Eindruck gehabt, daß der
zerknüllte Abschiedsbrief absichtlich so in der Toilette niedergelegt worden
sei, um bald gefunden zu werden.
Pastor
T u s c h e - Patschkau gibt
Auskunft über den Charakter der kleinen
I r m g a r d S c h a d e . Irmgard habe ihm im Religionsunterricht
stets Freude gemacht und er habe Veranlassung gehabt, sie vor anderen Kindern
zu loben. Nicht ein einziges Mal habe er sie auf einer Lüge ertappt. Es habe
ihn aufs tiefste empört, als er hörte, daß Irma als Lügnerin hingestellt werde.
Frau
Grupens Glück.
D r .
M ü n z aus Itzehoe: Zwischen
Frau Grupen und ihren Kindern hat ein herzliches Verhältnis geherrscht. Frau
Grupen ist eine gebildete, liebenswürdige Frau gewesen, die ihren Haushalt sehr
in Ordnung gehalten hat und selbst schwere Arbeit nicht scheute. Sie hat sogar
im Garten Bäume gefällt. Um ihre Kinder war sie sehr besorgt, besonders um die
Ursel, die ein langaufgeschossenes, mageres, blutarmes Kind war. Die Kinder
hingen mit gleicher Liebe an ihrer Mutter. Sie waren stets fröhlich und artig.
Bei einem Besuch traf ich die damalige Frau Schade weinend an. Sie sagte mir:
„Soeben habe ich ein Telegramm erhalten, daß mein Verlobter (Stabsveterinär
Reske) an Influenza gestorben ist.“ Bei einem späteren Besuch empfing mich Frau
Schade mit den Worten: „Sie sind Zeuge meines Unglücks gewesen; nun sollen Sie
auch Zeuge meines Glücks sein - und stellte mir Grupen als ihren Verlobten vor.
Anfangs wunderte ich mich darüber wegen des Mißverhältnisses der Jahre, aber
ich hatte den Eindruck, daß sie aus Edelmut gehandelt hatte, weil Grupen im
Kriege den einen Arm verloren hat. Ueber den Ruf, den Frau Grupen bei den
Offizieren in Perleberg genossen haben soll, ist dem Zeugen damals nichts
bekannt geworden. - Ich halte es für ganz ausgeschlossen, daß Frau Schade ihre
Kinder länger als höchstens 14 Tage hätte verlassen können.
Vors.: Halten Sie es für möglich, daß Frau
Schade das mit der Ursel gemacht hat, was hier behauptet worden ist. - Zeuge:
Das möchte ich stark bezweifeln. Sie war eine lebhafte, aber edle Frau. - Vert.
Dr. Ablaß. Halten Sie die Frau für fähig, die Tochter ihres Verlobten, die Ruth
Reske, um ihr Vermögen zu bringen? - Zeuge: Nein.
Geheimrat Moll (zum Zeugen): Können Sie aus
Ihrer Erfahrung bestätigen, daß Frauen, die in ihrem Liebesleben sehr
temperamentvoll sind, doch brave Frauen und gute Mütter sein können? - Zeuge:
Das möchte ich voll unterschreiben. Eine Frau kann heftig in ihren
Liebesbeteuerungen, aber trotzdem reinen Herzens sein.
Vert. Dr. Mamroth: Können Sie aus Ihrer
Erfahrung bestätigen, daß Männer zwischen 25 und 27 Jahren von gesunder
Konstitution, und sinnlicher Veranlagung, vor denen sozusagen kein Mädchen
sicher ist, doch recht brave und nützlich Mitglieder der menschlichen
Gesellschaft sein können? - Zeuge: Das möchte ich nicht ohne weiteres unterschreiben.
Wenn es sich um jüngere Männer unter 25 Jahren handelt, möchte ich auch diese
Frage bejahen. Im allgemeinen sind die Männer ja polygam veranlagt.
Hierauf wurde die Sitzung auf Mittwoch
Vormittag ½ 10 Uhr vertagt.
*
Die
Sitzung am Mittwoch.
Die Schneiderin E h l e r s - Itzehoe kennt Frau Grupen seit Juni 1920.
Sie hat für Frau Grupen ein Dirndlkleid angefertigt, Anfang September aus vier
alten Kleidern neue angefertigt und ein Kostüm umgearbeitet, auch eine rote
Bluse geliefert. Neue Stoffe hat sie zu den Kleidern nicht verarbeitet. - Staatsanwalt:
Ich bitte, die Zeugin Frau Mohr zu befragen, wie sie zu ihrer Bekundung
gekommen ist, Frau Grupen habe sich vor ihrem Verschwinden vier n e u e
Kleider machen lassen. - Auf die entsprechende Frage des Vorsitzenden
erklärt Zeugin F r a u M o h r :
Ich hatte Fräulein Ehlers so verstanden, daß sie neue Kostüme gearbeitet
habe.
Die nächste Zeugin, Frau Luzie H a f f n e r macht Bekundungen über das Eheleben des
Angeklagten. Zehn Tage, nachdem Grupen mit seiner Frau die Zeugin besucht
hatte, wobei das Ehepaar einen zufriedenen Eindruck machte, hat die Zeugin in
Itzehoe einen Gegenbesuch gemacht. Da ist sie furchtbar enttäuscht gewesen.
Frau Grupen ärgerte sich schwer über die Unpünktlichkeit ihres Ehemannes. Sie
hatte auch bei großen Unpünktlichkeiten Befürchtungen, daß ihm ein Unglück
zugestoßen sein könnte. da er nur einen Arm hat. Grupen habe auch einmal nach
Ottenbüttel fahren und sich dort erschießen wollen. Die Frau habe ihn deshalb
in sein Zimmer eingeschlossen, Grupen aber habe die T ü r
e i n g e s c h l a g e n .
Den V o r f a l l m i t
d e m S c h r a n k beim Umzuge nach Itzehoe stellt die Zeugin
als harmlos dar: sie habe nicht den Eindruck gehabt, daß Grupen etwas Böses im
Schilde führte.
Vors.: Hat Frau Grupen Ihnen erzählt, daß sie
mit ihrem Mann eine nachträgliche Hochzeitsreise nach Amerika machen wolle, und
zwar zu einem reichen Onkel des Angeklagten?
Zeugin: Ja. - Frl. Zahn: Der Angeklagte hat
mir beim Besuch in Itzehoe erzählt, er habe ich Amerika einen sehr reichen
Onkel, der ihn besonders im Erbe bevorzugt hätte. Der Angeklagte wollte
spätestens im Juni 1921 abreisen. Seine Frau wollte er mitnehmen, und er fragte
mich und Frl. Dörte, ob wir ihn begleiten wollten. Daß er mit seiner Frau nach
Amerika fahren wolle, hielt ich für Ernst, die Aufforderung an Dörte und mich,
ihn zu begleiten, für Spaß.
Zeugin
H a f f n e r : Grupen hat in
Ottenbüttel viel a u f V ö g e l
g e s c h o s s e n . Die
Ottenbüttler behaupten, Grupen habe seine Frau in einen Keller eingemauert.
Zeuge
B o o s - Tempelhof, Bruder der
Frau Eckert, sagt aus, er habe geglaubt, daß zwischen den Grupenschen Eheleuten
ein gutes Einvernehmen herrsche. Frau Grupen habe ihren Mann sehr geliebt, der
Angeklagte war ruhiger. Als ich hörte, Frau Grupen sei mit 70 000 Mark nach
Amerika gegangen, sagte ich mir, daß mit tausend Dollar in Amerika nichts
anzufangen sei und daß der Sachverhalt ein anderer sein müsse. Ich schrieb
meiner Schwester, sie möchte alles tun, um das Verschwinden der Frau Grupen
aufzuklären. Meine Schwester antwortet mir: „Peter besorgt alles.“ Es wundert
mich auch, daß der Angeklagte, obwohl er die Ehescheidung beantragt hatte,
verwandtschaftliche Besuche in Kleppelsdorf machte. Der B r u d e r
des Angeklagte habe in Ottenbüttel auf ihn, den Zeugen, einen u n h e i m l i c h e n E i n d r u c k gemacht, so daß der Zeuge annahm, Wilhelm
Grupen wisse von der Tat in Kleppelsdorf mehr als sein Bruder Peter. - Ein
Geschworener: Kann der Zeuge aussagen, welcher der beiden Brüder der
willensstärkere ist? - Zeuge: Nein.
Auch
dem Kindermädchen die Ehe versprochen.
Die Zeugin
G n i w a k o w s k y wird auf
ihren Wunsch nochmals vernommen, weil sie in ihrer gestrigen Aussage etwas
vergessen habe. Das Verhältnis mit der Kläschen hatte der Angeklagte schon vor
dem Verschwinden seiner Frau. Als Kläschen aber erfuhr, daß Grupen a u c h
s e i n e m K i n d e r m ä d c
h e n C h a r l o t t e M ü l l e r
d i e E h e v e r s p r o c h e n hatte, habe sie ihn zur Rede gestellt.
Darauf sei es zu einer Auseinandersetzung zwischen Grupen und der Müller
gekommen, wobei diese ihm um den Hals gefallen sei. Auch dies sei passiert, als
Frau Grupen noch nicht weg war.
Staatsanwalt: Hat Grupen die Kläschen schon
so behandelt, als wäre es sein Frau, sodaß Frau Grupen sich darüber geärgert
hat? - Zeugin: Das weiß ich nicht.
Vors. (zum Angeklagten): Nun, was sagen Sie
zu diesen Dingen? Von der Charlotte Müller haben wir bisher überhaupt noch
nichts gehört.
Angekl.:
V o n d i e s e n V o r g ä n g e n h a b e
i c h n i c h t s b e m e r k t . (Heiterkeit bei den Zuhörern.)
Vert. Dr. Ablaß: Ist die Zeugin draußen im
Flur von anderen Zeugen auf die jetzt bekundeten Vorgänge aufmerksam gemacht
worden? Man kämpft hier anscheinend gegen dunkle Mächte. Vielleicht genügt es,
daß ich an das Gewissen der Zeugin appeliere.
Vors.: Ich weiß nicht, wie wir Gespräche
unter den Zeugen verhindern können. Ich bin aber bereit, die Zeugen darauf
aufmerksam zu machen, daß sie möglichst wenig über diesen Fall untereinander
sprechen. Von verschiedenen Zeugen liegen mir schriftliche Anträge vor,
nochmals vernommen zu werden, weil sie glauben, etwas vergessen zu haben. Ich
habe die Leute, da es sich um Unwesentliches handelte, beruhigen können: nur in
einem Falle wird dem Antrage auf nochmalige Vernehmung stattgegeben.
Oberstaatsanwalt Reifenrath: Die
Staatsanwaltschaft muß unter allen Umständen Wert darauf legen, daß jeder
Zeuge, dem nachträglich etwas einfällt, dies uneingeschüchtert hier zur
Kenntnis bringt. Es kommt nicht darauf an, den Täter aus der Schlinge zu
ziehen, sondern ihn zu ermitteln und ihn zu überführen.
Vert. Dr. Ablaß: Auf der Verteidigerbank
sitzen keine Menschen, die die Absicht haben, einen Angeklagten aus der
Schlinge zu ziehen.
Vors.: Das nehme ich als ganz
selbstverständlich an.
Vert. Dr. Mamroth: Es ist nicht die Aufgabe
des Verfahrens, den Angeklagten zu überführen, sondern die Wahrheit
festzustellen.
Vors. (zur Zeugin Kläschen): Was hat Ihnen
der Angekl. erzählt, als er vom Notar aus Itzehoe kam? - Zeugin: Er sagte,
seine Frau wäre weg. - Vors.: Hat er nicht gesagt: „Nun können wir heiraten?“ -
Zeugin: Soviel ich weiß: nein!
Dann wird der Bruder des Angekl. H e i n r i c h G r u p e n
vernommen, der erklärt, von seinem Zeugnisverweigerungsrecht keinen
Gebrauch machen zu wollen. Es wird ein Brief verlesen, den der Zeuge am 25.
Oktober 1920 an den Angeklagten gesandt hat. In dem Briefe wird der Angeklagte
von dem Zeugen aufgefordert, seinen Verpflichtungen gegenüber der Mutter nachzukommen,
die er bei der Uebernahme des elterlichen Hauses übernommen hat. Ueber den
Inhalt des Briefes selbst wird der Zeuge am Nachmittag ausführlich vernommen
werden.
Frau
Grupen und Herr Schultz.
Der nächste Zeuge ist Herr v .
T o b o l t , Direktor der
landwirtschaftlichen Schule in Perleberg. Er gehörte mit zu einem Freundeskreis,
zu dem auch der Apothekenbesitzer Schade und dessen Frau, die spätere Frau
Grupen, gehörte. Als 1911 Herr Schade auf der Jagd tödlich verunglückt war, nahm sich der
Fabrikbesitzer S c h u l t z, der auch mit zu diesem Freundeskreis
gehörte, der Frau Schade an. Er führte ihr die Bücher und stand ihr bei, doch
gewann er ihr Vertrauen offenbar mehr, als erlaubt war. Die andern Herrschaften
brachen infolgedessen den Verkehr mit Frau Schade und Herrn Schultz ab, dem
auch nahegelegt war, a u s d e r
L o g e a u s z u t r e t e n
. Bald darauf zog Frau Schade nach
Berlin und Herr Schultz mit seiner Frau nach Frankfurt a. M. Ob Frau Schade mit
Herrn Schultz eine Reise unternommen hat, weiß der Zeuge nicht. Nach seiner
Kenntnis ist das Verhältnis zwischen der Frau Schade und Herrn Schultz e r s
t n a c h d e m
T o d e d e s H e r r n
S c h a d e e n t s t a n d e n
.
Frau Zahntechniker S t u b b e
aus Itzehoe war Nachbarin von Grupen. Sie war der Ansicht, daß die Ehe
zwischen dem Angeklagten und seiner Frau anfangs sehr glücklich war. Frau
Grupen hielt offenbar viel von ihrem Manne, dem sie auch viel zu Gefallen getan
hat. Ob das auch von seitens des Angeklagten der Fall war, weiß die Zeugin
nicht anzugeben. Frau Grupen war sehr fleißig, sie hat gearbeitet wie ein Mann.
Die Familie zog viel um, sodaß es sehr viel Arbeit gab.
Frl.
W e s t e r m a n n aus Itzehoe
hatte den Eindruck, daß die ihr gut bekannte Frau Eckert stark inter dem Einfluß
des Angeklagten stand. Bei Grupen war ein furchtbar unruhiger Haushalt durch die
vielen Umzüge. Der Zeugin ist der Angeklagte unheimlich vorgekommen, doch kann
sie für diese Ansicht keine bestimmte Begründung angeben. Als Frau Grupen
verschwunden war, hatte die Zeugin gleich Verdacht gegen den Angeklagten. Als
sie später nach der Kleppelsdorfer Sache diesen Verdacht gegen Frau Eckert
äußerte, sagte diese: warum haben Sie das nicht früher gesagt! Die Umzüge
erschienen der Zeugin mitunter wenig begründet, so der letzte Umzug von Itzehoe
nach Ottenbüttel.
Frau Margarete D i s t e l aus Rostock bei Kellinghusen war eine gute
Freundin der Frau Grupen, die sie als tüchtige Hausfrau und gute Mutter
schilderte. Sie hatte die Empfindung, daß die beiden Eheleute nicht ui einander
paßten. Bei einem Besuch der Zeugin benahm sich der Angeklagte auch nicht
passend, er widersprach fortgesetzt seiner Frau, als wenn er sie reizen
wollte.
Von einer Amerikareise hat Frau Grupen nie
gesprochen, im Gegenteil hatte sie erklärt, sie ließe sich Kleider machen, da
sie im Winter 1921/22 in Gesellschaft gehen wollte. Eine dramatische Begabung
hatte Frau Grupen, das zeigte sie bei ihren Vorträgen, aber von ihrer Absicht
zur Bühne zu gehen, ist der Zeugin nichts bekannt. Frau Grupen liebte Schmuck
und trug alle Tage ihre wertvollen Ringe.
Die Zeugin hält es für unmöglich, daß Frau
Grupen ihren Kindern etwas Unanständiges zugemutet hätte. Frau Grupen soll eine
edle Frau gewesen sein.
Zeuge Heinrich S c h m i d t - Ottenbüttel: Grupen war mein Nachbar. Er
sagte mir, er könne mal mein Schwiegersohn werden. Da habe ich ihm geantwortet:
„Dazu gehört erstens die Ehescheidung von Ihrer Frau, zweitens die Zuneigung
meiner Tochter, drittens Klarheit über Ihre Gegenwart und Zukunft.“ - Vors.:
„Da haben Sie ihm die richtige Antwort gegeben.“ - Zeuge (fortfahrend): Grupen
hat mir später im Vertrauen gesagt, daß seine Frau im Auslande sei; er hätte
sie schon gesucht, aber nicht gefunden. Das Geld, das die Frau mitgenommen
habe, könne er verschmerzen. Frau Grupen, mit der ich viel verkehrt habe, kann
ich nichts Schlimmes nachsagen. Aber auch der Angeklagte ist in Ottenbüttel gut
beleumundet. - Staatsanwalt: Haben Sie nicht bei der polizeilichen Vernehmung
erklärt, Grupen sei in sittlicher Beziehung nicht einwandsfrei und habe bei
jeder Gelegenheit Frauenzimmer um sich? - Zeuge bestreitet, dies gesagt zu
haben.
Bei Frau
R e r h ä u s e r in Hamburg hat
der Angeklagte gewohnt. Er sagte dort, daß er sich reich verheiraten wolle, und
im Dezember teilte er mit, daß seine Frau nach Amerika gegangen sei. Die Zeugin
hat ihm gegenüber gleich zum Ausdruck gebracht, sie könne es nicht glauben, daß
Frau Grupen, von der sie die beste Meinung hatte, ihre Kinder verlasse.
Was
Grupen für Geschäfte machte.
Frau
W o l g a r t - Hamburg, eine
frühere Verlobte des Angeklagten: Grupen hatte ein unruhiges Leben. Heute wollt
er dies, morgen das. Einmal wollte er ein
L u f t s c h a u k e l g e s c h ä f t
errichten. Zu diesem Zweck hatte er sich mit der Hand in der Uhr (Uhr in der Hand) vor eine Luftschaukel
gestellt, um festzustellen, wieviel der Besitzer in zwei Minuten einnehme. Auch
einen M i t t a g s t i s c h wollte er anfangen. Er kaufte a l t e
R ä d e r durch Zeitungsinserate
und verkaufte sie wieder. Von der Kleiderverwertungsstelle bezog er K l e i d e r und veräußerte sie ebenfalls. Er sagte, er
wolle den D o k t o r m a c h e n
und eine V i l l a k a u f e n .
Vors.: Hatte er denn die Mittel dazu? -
Zeugin: Er sagte, er bekäme E r w e r b
s l o s e n u n t e r s t ü t z u n g
und habe bei den Eltern ein Sparkassenbuch über 2000 Mk. Auch ein P f e r d e g e s c h ä f t hat er einmal gemacht, und als ihm sein
Vater sagte, daß man dabei leicht hereinfallen könne, antwortete er: Da müßte
ich nicht Peter Grupen heißen. Einen R
e v o l v e r hatte er in der Schublade
verwahrt. - Staatsanwalt: Wie kam denn der Angeklagte zu den Kleidern aus der
Kleiderverwertungsstelle. das muß doch ein unlauteres Geschäft gewesen sein?
Zeugin: Unter falschen Angaben u n d
m i t S c h o k o l a d e hat er in der Kleiderverwertungsstelle von
der Verkäuferin bekommen, was man sonst nur gegen Bezugsschein erhält. Eines
Tages überraschte er mich durch die Mitteilung, daß er sich mit Frau Schade
verlobt hätte. Da habe ich ihm den Ring zurückgegeben, und da er ihn nicht
annehmen wollte, den Rind in die Tasche von seines Vaters Mantel gesteckt.
Vors.: Hatte er nicht einen e i g e n e n M a n t e l ? - Zeugin:
N e i n , er kam im Mantel
seines Vaters. Seinen eigenen Mantel hatte er im Pfandhaus v e r s e t z t . - Staatsanwalt: Die Verlobung mit Ihnen
machte er also im Paletot des Vater. - Zeugin: Ja. - Vors.: Also als Sie noch
seine Verlobte waren, teilte Ihnen Grupen mit, daß er sich mit Frau Schade
verlobt habe? - Zeugin: Ja, er sagte mir, das Verhältnis mit Frau Schade sei
nicht ohne Folgen geblieben. Er müsse die Dame heiraten. Und ich solle
zurückstehen. Er wollte monatlich eine Entschädigung für die Anschaffungen
zahlen, die ich in Erwartung der Heirat gemacht hatte, ich erhielt aber nur
einmal 100 Mark. Nach einigen Monaten telephonierte er mich an, und sagte, ich
solle noch zu ihm halten, denn seine Frau sei krank und w ü r d e
n i c h t l a n g e l e b e n .
Vors. (zum Angeklagten): Bestätigt es sich,
daß Sie mit Frau Schade sich verlobten, während Sie mit der Zeugin noch verlobt
waren? - Angekl.: Darüber will ich keine Angaben machen. - Vors.: Wollen Sie
nicht der Wahrheit die Ehre geben und den Grund sagen, warum Sie sich mit Frau
Schade verlobten? - Angekl.: Im Interesse der Zeugin und im Interesse meiner
Frau gebe ich darüber keine Erklärung ab.
Der von der Verteidigung geladene Zeuge
Karl F r i t z l a r soll darüber Auskunft geben, ob Frau Eckert
zu ihm gesagt habe, Grupen sei unschuldig an dem Kleppelsdorfer Morde. Eher
halte es Frau Eckert für möglich, daß ihn bei dem Verschwinden seiner Frau eine
Schuld treffe. - Zeuge: Darauf kann ich mich nicht entsinne.
Hierauf tritt die Mittagspause bis ½ 4 Uhr
ein.
Freitag, den 16. Dezember 1921, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Der
Revolver.
Hirschberg, 15. Dezember
Die Zeugenvernehmung ist auch am Mittwoch
noch nicht zu Ende geführt worden. Zunächst wurde noch weiter über das
Verschwinden der Frau Grupen und allerhand Geschäfte verhandelt. Am späteren
Abend wurde der Bruder des Angeklagten, Wilhelm Grupen, vernommen und über die
angebliche Entwendung der Selbstladepistole durch die kleine Ursula Klarheit zu
schaffen versucht. Die Aussagen der beiden Brüder, des Angeklagten und des
Zeugen, gingen dabei nicht unwesentlich auseinander. Man entsinnt sich, daß der
Angeklagte kurz vor der Abreise nach Kleppelsdorf seinem Bruder, während die
kleine Ursel dabei stand, den Mechanismus der Waffe erklärt haben und den
Revolver dann in eine unverschlossene Schublade seines Schreibtisches gelegt
haben will. Später, so hatte der Angeklagte weiter bekundet, sei er mit seinem
Bruder in das Zimmer zurückgekehrt und da habe die kleine Ursel am Schreibtisch
gestanden. Wilhelm Grupen dagegen erklärte gestern, a l l e i n
in das Zimmer zurückgekehrt zu sein und das K i n d
m i t d e r W a f f e
i n d e r H a n d
getroffen zu haben. Er habe der Ursel die Waffe abgenommen und sie dabei
ernstlich verwarnt. Demgegenüber blieb der Angeklagte dabei, mit im Zimmer gewesen
zu sein und den Revolver nicht in der Hand des Kindes gesehen zu haben.
In der Nachmittagssitzung am Mittwoch wurde
die Beweisaufnahme mit der Vernehmung des Kriminal-Oberwachtmeisters J a r c h o w - Hamburg fortgesetzt. Der Zeuge hat sich an
den Nachforschungen nach Frau Grupen beteiligt und festgestellt, daß für Frau
Grupen Pässe oder sonstige Auswandererpapiere nirgends ausgefertigt worden
sind. Die Auswanderung nach Nordamerika ist noch heute sehr schwierig, und auch
Auswanderer nach Südamerika unterliegen einer sehr strengen Kontrolle. Der
Zeuge hält es für ausgeschlossen, daß Frau Grupen auf normale Weise nach
Amerika gekommen ist.
Zerbrochene
Ringe.
Den Verkauf der Ringe von Frau Grupen hat der
Angeklagte dem Zeugen anfangs verschwiegen, dann aber zugegeben, daß er sie
einem Goldarbeiter, von dem er 5000 Mk. geliehen hatte, für 1000 Mk. Restschuld
verkauft habe. Z w e i R i n g e
w a r e n z e r b r o c h e n , so daß der Verdacht bestand, die Ringe
wären g e w a l t s a m v o m
F i n g e r g e z o g e n worden. Nach dieser Richtung konnten
Feststellungen nicht getroffen werden.
Kriminal-Oberwachtmeister G i e s e -
Itzehoe: Frau Grupen hat sich laut Meldeamtsregister am 18. September
1920 n a c h L ü b e c k
abgemeldet. Es konnte nicht ermittelt werden, ob sie die Abmeldung s e l b s t
vollzogen hat. In Lübeck ist Frau Grupen n i c h t
angemeldet worden. Die Möglichkeit, daß Frau Grupen mit einem
gefälschten Paß nach Amerika gelangt ist, kann nicht von der Hand gewiesen
werden, eine Wahrscheinlichkeit liegt
aber nicht vor. Nach dem Verschwinden der Frau Grupen hat Zeuge zunächst
Ermittelungen bei Frau Mohr angestellt, die über den Angeklagten sehr günstig
urteilte, bezüglich der Frau aber behauptete, daß sie sittlich nicht
einwandsfrei sei. Der Gemeindevorsteher von Ottenbüttel hat über beide Eheleute
günstig geurteilt.
Vorsitzender: Die Einzigen, die ungünstig
über Frau Grupen geurteilt haben, waren also die Mohrs? - Zeuge: Jawohl.
Verteidiger Dr. Ablaß: Ist irgend etwas
darüber festgestellt worden, ob sich der Angeklagte jemals mit H y p n o s e beschäftigt hat? - Zeuge: Darüber wurde
nichts ermittelt, es hat niemand etwas davon bemerkt.
Frau
S u d e n - Hamburg, eine
76jährige Frau: Grupen hat mit meinem Neffen in einem Hamburger Lazarett
gelegen und hat um die Hand meiner Nichte Bertha angehalten, der Vater war aber
damit nicht einverstanden; Grupen sollte erst auf der Baugewerkschule sein
Examen ablegen, und das Mädchen wäre auch noch zu jung. Nach vier Jahren, im
November 1920, kam Grupen wieder zu uns. Wir hatten in der Zwischenzeit, und auch
aus der Zeitung, gehört, daß Grupen mehrer Male verlobt war. Als er zu uns kam,
sagte er zu mir: Seine Frau sei tot, die beiden Kinder gingen wieder zurück zur
Familie, und er sei jetzt ein freier Mann, hätte auch so viel verdient, daß er
nicht mehr zu arbeiten brauche. Grupen fragte nach meiner Nichte Bertha und verlangte
wiederholt das Mädchen zu sprechen, was ich aber nicht zugab, er solle
wiederkommen oder schreiben.
„Ich
kann ohne Dich nicht leben!“
Frau Wilhelmine K r u s e -
Haseldorf: Ich war mit Grupen verlobt und habe ihn viel mit
Lebensmitteln unterstützt. Da Grupen mit einem anderen Mädchen ein Verhältnis
anknüpfte, hob ich die Verlobung auf. Als ich mit meinem jetzigen Mann verlobt
war, kam Grupen nach Haseldorf geradelt und traf mich auf der Straße. Er fragte
mich, ob ich Verkehr habe. Ich sagte, daß ich mit Kruse, meinem jetzigen Mann
verkehre. Da erwiderte er: „Den bekommst Du nicht. Du machst mich unglücklich,
ohne Dich kann ich nicht leben“, zog einen
R e v o l v e r und setzte ihn
mir auf die Brust. Ich dachte, er wollte mich erschießen, siel ihm um den Hals
und sagte aus Angst, daß ich wieder mit ihm verkehren wolle. Grupen verlangte,
daß wir alle Wochen zusammen kämen; er würde für mich sorgen, ich solle nur in
Stellung gehen, besonders nach Berlin, denn ich müßte mehr gebildet werden. Ich
verkehrte aber nicht mit ihm, denn ich hatte Angst vor ihm und wollte auch
Kruse treu bleiben. Grupen hat auch gewollt, daß ich m e i n e
A u s s t e u e r nach seiner
Wohnung schaffe, auch fragte er n a c
h m e i n e m S p a r k a s s e n b u c h . Da ich nicht mit ihm zusammen kam, schrieb
er mir einen Brief, der meinen Mann veranlaßte, der Sache ein Ende zu machen.
Ich gab Grupen seine Geschenke zurück, und mein Mann legte noch 60 Mk. dazu,
und dann hat G r u p e n d i e
G e s c h e n k e s e i n e r n ä c h s t e n B r a u t
g e s c h e n k t . (Heiterkeit,
auch bei Grupen.) Grupen besuchte uns darauf und versprach meinem Manne in die
Hand, daß er von mir lassen wolle.
Angeklagter: Ich bitte die Zeugin zu fragen,
ob es richtig ist, daß ich ihr bei Stellenwechsel und zur Bestreitung anderer
Ausgaben Mittel gegeben habe. - Zeugin: Das ist richtig.
Zeuge Peter
K r u s e , der Ehemann der
Zeugin, macht im Wesentlichen dieselbe Aussage. Die 60 Mk. waren für Grupens
Auslagen für eine Bluse, Theater, Bahnfahrt etc. Grupen habe ihm gesagt, seine
Braut könne jeden anderen heiraten, nur ihn, den Zeugen, nicht.
Der Staatsanwalt stellt fest, daß der
Angeklagte bisher das Vorkommnis mit dem Revolver bestritten hat, es jetzt aber
zugibt.
Dr. B
e i e r - Lähn: Am Tage nach dem Morde
hat mir Frau Eckert die Mitteilung von dem Verschwinden der Frau Grupen
gemacht. Sie hat erst geglaubt, ihre Tochter sei nach Kleppelsdorf gefahren,
dann habe ihr Grupen gesagt: nach Amerika, auf Grund eines Briefes, den sie
aber nicht gelesen habe. Ich sagte zur Frau Eckert: „Wie konnten Sie sich, als
Sie von dem Verschwinden Ihrer Tochter erfuhren, so ohne weiteres mit der
Nachricht Ihres Schwiegersohnes zufrieden geben? Sie hätten doch selbst
Nachforschungen anstellen sollen.“ Frau Eckert erklärte mir darauf, ihr
Schwiegersohn hätte durch einen Hamburger Detektiv festgestellt, daß seine Frau
auf ein Schiff gegangen und nach Amerika gefahren sei, und daß es ihr gut gehe.
Frau Eckert erzählte, weiter ihr Schwiegersohn hätte ihr häßliche Briefe und
Photographien von seiner Frau gezeigt, worauf sie ausgerufen habe: „Wenn das
alles wahr ist, dann habe ich keine Tochter mehr!“
Sachverständiger Professor M o l l :
Sind es die Bilder, von denen behauptet wird, sie wären d u r c h s
S c h l ü s s e l l o c h
aufgenommen worden? - Angeklagter: Es sind die Bilder, die ich im
kleinen Schreibtisch meiner Frau vorgefunden habe.
Zeuge (fortfahrend): Grupen hat sich nach
Frau Eckerts Aussage s c h l e c h
t ü b e r D o r o t h e a R o h r b e c k geäußert und gesagt, es sei ein ganz
verdorbenes Mädchen, die Liebschaften mit Offizieren habe. Ich hatte das
Gefühl, daß Grupen Frau Eckert von ihrer Tochter und der Enkelin abbringen
wollte. Die Offiziere, die mit Kleppelsdorf verkehrten, haben Dorothea immer
als Kind behandelt. Von Grupen ist Dörte im Anfang sehr eingenommen gewesen,
weil er in Hamburg sehr liebenswürdig gewesen sei, dann aber ist er ihr sehr
unsympathisch geworden, besonders nachdem sie gehört hatte, daß er sich dem
Vormund als Kronzeuge zur Verfügung gestellt hatte. Grupen habe unsaubere Hände
und unsaubere Wäsche gehabt. Er renommierte mit seinem großen Architekturbüro
in Hamburg, mit seiner Villa usw. Grupen hat Frl. Zahn Dörte gegenüber auf der
Hamburger Fahrt schlecht zu machen gesucht, worüber diese sehr empört war, da
Frl. Zahn ja der einzige Mensch sei, der es gut zu ihr meine; Grupen sagte auch
zu ihr, daß Frl. Zahn i h m einen Heiratsantrag gemacht habe. Als ich
mich, so sagte Dörte, darauf empört in eine andere Ecke des Abteils setzte,
machte er m i r einen Heiratsantrag. Sie erzählte mir auch,
sagt der Zeuge weiter, von ihrer Furcht nach der Alsterfahrt, wegen der
Kognakflasche und war überzeugt, daß Grupen ihr nach dem Leben trachtete.
Verteidiger Dr. Ablaß: Ist Frau Eckert, als
sie mit Ihnen am Tage nach dem Morde sprach, dabei geblieben, daß G r u p e n
n i c h t a u s d e m
Z i m m e r gegangen sei? -
Zeuge: Jawohl. Dörte schilderte mir auch, wie Grupen immer mit dem Gelde
herumgeworfen habe.
Angeklagter: Ich weise es zurück, daß ich
Dörte Rohrbeck in der hier bekundeten Weise schlecht gemacht haben soll. - Der
Zeuge bleibt dabei, daß sich Frau Eckert in diesem Sinne zu ihm geäußert habe.
- Verteidiger Dr. Ablaß: Kann das nicht auf Aeußerungen des Vormundes
zurückzuführen sein. - Zeuge: Das weiß ich nicht.
Das
Verhalten der Frau Eckert.
Frau
D r . B e i e r bekundet: Frau Eckert hat gesagt: „Wenn ich
wüßte, daß meine Tochter tot ist, würde
i c h G r u p e n f a l l e n
l a s s e n . “ Sie bedauerte
Grupen sehr, der „ a r m e P e t e r “
war ihr geradezu die Hauptsache. Als mein Mann sagte: „Aber die Dörte
ist doch tot und die Ursel“, sagte Frau Eckert: „Ach, die Dörte hat mich nie
gemocht!“ Ich hatte den Eindruck, als meinte Frau Eckert, sie könne, wenn sie
erst wisse, daß ihre Tochter tot sei, dann kein Mitleid mehr mit Grupen haben.
Am Abend des 15. Februar, als man zu Tisch ging, fragte Frau Eckert, ob die
Herren vom Gericht auch bei Tisch seien. Als ich bejahte, sagte Frau
Grupen: „ A c h , d a n n
m u ß i c h s e h e n ,
d a ß i c h m i r
n i c h t s m e r k e n l a s s e . “ Mir ist ferner aufgefallen: als ich ins
Zimmer trat, hatte Frl. M o h r die
I r m g a r d auf dem Schoß, und
als ich diese fragte, ob sie nicht doch wüßte, daß Grupen das Zimmer verlassen
habe, sagte die Mohr: „Grupen hat das Zimmer nicht verlassen, n i c h t
w a h r , I r m a ? “ Und immer wieder bei meinen Fragen nahm die
Mohr das Wort v o r Irma, und einmal s c h ü t t e l t e sie sogar das Kind, um es zu einer Antwort
zu bringen. Auch hat die Mohr von dem Augenblick, als Grupen verhaftet war,
gegen Frl. Z a h n Stellung genommen, sie auch nicht mehr
gegrüßt, auch mich nicht, wohl, weil ich den Kindern etwas nahe stand. Dörte
hat mir erzählt, sie hatte den Eindruck, als wäre die Hamburger Reise gar nicht
nötig gewesen, und als bei der Großmutter erzählt wurde, die Tante sei in ein
Sanatorium, da hätten beide wohl ein bischen geweint, aber dann war alles
wieder wie sonst, und sie seien gar nicht traurig gewesen. Dörte sagte auch, es
sei ihr alles vorgekommen wie Theater.
Verteidiger Dr. Ablaß: Hat Frau Eckert am 15.
Februar gesagt, sie wisse ganz genau, daß Grupen das Zimmer nicht verlassen
habe? - Zeugin: Ja.
Die 24 Jahre alte H a r t j e , die bei dem Angeklagten in Stellung war, hat
von ihm eine g o l d e n e A r m b a n d u h r geschenkt erhalten, die sie noch besitzt. -
Der Angeklagte gibt zu, daß es die Uhr seiner Frau sei.
Verteidiger Dr. Ablaß: Hat Grupen Ihnen
einmal einen Brief an Herrn Boos vorgelesen, worin Frau Eckert schrieb, sie
habe nur noch Aerger auf der Welt; hier wie in Kleppelsdorf, das beste sei, sie
nehme sich das Leben! - Zeugin: Ich glaube, nein. - Der Angeklagte richtet
verschiedene Fragen an die Zeugin, ob sie sich an dies oder das erinnere, doch
kann diese nichts Bestimmtes sagen.
Verteidiger Dr. Mamroth: Erinnern Sie sich,
daß der Angeklagte Sie einmal gebeten, sich der Ursula anzunehmen, weil diese
immer so traurig sei. - Vors.: War denn Ursula traurig? - Zeugin: Jawohl, aber
auch wieder sehr vergnügt. Ich dachte anfänglich, sie sei traurig wegen
des Verschwindens der Mutter, was sich dann
abschwächte.
Auf eine Frage von Geheimrat L e s s e r
nach dem Schulbesuch der Kinder sagt die Zeugin, daß alle drei Kinder
anfänglich nicht in die Schule gegangen seien, sie sollten aber dann einen
Hauslehrer erhalten, und inzwischen besuchten sie die Dorfschule.
Ueber
Holland.
Zeugin
H a r t j e : Grupen kam Anfang
Oktober (am 19. September verschwand Frau Grupen) zu meinem Vater und sagte,
daß seine Frau tot sei, ich solle ihm den Haushalt führen. Grupen erzählte mir
dann, daß seine Frau ihm mit einem Offizier ausgerückt sei, und zwar ü b e r
H o l l a n d nach Amerika, wo
sie an Syphilis gestorben sei.
Vors.: So schnell soll das gegangen sein? -
Zeugin: Grupen sagte mir, daran könne man in ein paar Tagen sterben. Eine
Sterbeurkunde könne er nicht beschaffen, denn sie sei in Amerika unter falschem
Namen aufgetreten.
Angekl.: Meine Frau kannte in Holland eine
Frau Seifenfabrikant D r a l l e . - Verteidiger Dr. Mamroth: Der Angeklagte
hat nur von der Möglichkeit gesprochen, daß seine Frau über Holland gefahren
sei. - Vors.: Der Angeklagte hat hiervon aber noch gar nichts erwähnt. Haben
Sie sich nach Ihrer Frau in Holland erkundigt? - Angekl.: Ich nicht, aber Frau
Neugebauer. - Er gibt im Uebrigen zu, daß es stimmen könne, was die Zeugin
gesagt hat.
Die
Uhren und Ringe der Frau Grupen.
Auf die Frage eines Geschworenen nach den
Uhren der Frau Grupen sagt der Angeklagte: Meine Frau hatte zwei goldene
Armbanduhren und eine Nickeluhr.
Frau Eckert, die wieder in den Saal gerufen
wird: Meine Tochter hatte meines Wissens
n u r e i n e goldene Armbanduhr, die sie auf Reisen wohl
immer trug. Ob auch am Tage der Abreise, kann ich nicht sagen.
Es folgt eine weitere Auseinandersetzung über
die R i n g e und die
P e l z s a c h e n der Frau
Grupen, die später als versetzt bei Pfandleihern aufgefunden wurden.
Insbesondere verdichtet sich das Interesse um den M a n t el
und den P e l z k r a g e n
, den Frau Grupen mit auf dem Wagen
hatte, den sie aber angeblich im Wagen zurückgelassen hat. Der Angeklagte behauptet
zuerst, die Gegenstände in seinen Schrank getan zu haben, zieht aber dann diese
Aussage h a l b z u r ü c k .
Vors.: Angeklagter, Sie müssen die Wahrheit
sagen, Sie können auch die Aussage ablehnen; wenn Sie aber widersprechende
Aussagen machen, müssen Sie darauf gefaßt sein, daß die entsprechenden Schlüsse
gezogen werden.
Beim
Pfandleiher.
Pfandleiher
L a n g e - Hamburg: Im März 1920
kam der Angeklagte, den ich vorher nicht kannte, das erste Mal zu mir. Er
brachte Schmucksachen mit Brillanten zur Beleihung. Ich taxierte die Sachen auf
6000 Mark. Der Angeklagte war damit einverstanden und nahm Pfandschein und
Geld. - Vors.: Hat er gesagt, daß er die Brillanten im Auftrage seiner Frau
verpfände? - Zeuge: Nein. Später versetzte er bei mir einen Regenmantel und
einen Pelzkragen, am 6. Dezember eine Menge Silber für 2300 Mark. - Vors.: Ist
der Angeklagte vorher bei Ihnen gewesen wegen der Pfandscheine über die
Brillanten? Er behauptet nämlich, seine Frau hätte die Pfandscheine
mitgenommen, weshalb er die Pfänder sperren lassen wollte. - Zeuge: Nein. -
Vors.: Hat der Angeklagte das Silber nur deshalb bei Ihnen gelassen, weil er
die Absicht hatte, es in einer Bank zu deponieren, die aber geschlossen gewesen
sei? - Zeuge: Das glaube ich nicht.
Angekl.: Ich habe damals bei dem Silber zum
Ausdruck gebracht, daß es in den nächsten Tagen wieder abgeholt werden würde.
Am Gelde konnte mir nichts lieben, denn ich hatte damals Geld genug.
Staatsanwalt (zum Zeugen): Davon ist keine
Rede, daß Sie ihm das Geld für das Silber aufgedrängt hätten? - Zeuge: Nein. -
Angekl.: Die Pfandscheine habe ich, nachdem ich sie vergeblich gesucht hatte,
in meinem Schreibtisch vorgefunden. Ich habe sie kurz vor meiner letzten Reise
nach Kleppelsdorf meinem Bruder übergeben. - Staatsanwalt: In der
Voruntersuchung hat der Angeklagte die Auskunft über die Pfandscheine
verweigert. - Angekl.: Weil ich das Versetzen nicht gern eingestehen wollte.
Als mein Bruder die Pfandscheine der Staatsanwaltschaft ausgehändigt hatte,
habe ich mich darüber nicht mehr ausgeschwiegen.
Frau
Grupens Vermögen.
Rechtsanwalt und Notar R e i n i c k e - Itzehoe äußert sich über das von Frau Grupen
hinterlassene Vermögen. Die Pfandscheine über die Brillanten und das Silber
habe er eingelöst, der Pelzkragen und der Regenmantel waren verfallen. Aus dem
in Ottenbüttel verkauften Mobiliar und der Wäsche der Frau Grupen wurden 29 000
Mark gelöst. Die Hypotheken gehörten nicht mehr der Frau Grupen, denn die hatte
sie an den Angeklagten abgetreten. Ueber das Vermögen der Frau Eckert kann
Zeuge näheres nicht angeben. - Staatsanwalt: Die von Frau Grupen gemieteten S t a h l f ä c h e r waren
l e e r ! - Vors. (zum
Angeklagten): Was haben Sie in die Ehe eingebracht? - Angekl.: Nur meine
persönlichen Sachen und die Sachen meines Vaters.
Uhrmacher August H e i n e -
Hamburg: Ich habe den Angeklagten kennen gelernt, als er in Hamburg die
Baugewerkschule besuchte. Er war aus das angewiesen, was er von seinem Vater
bekam. Ich habe ihm damals öfter ausgeholfen, einmal mit 500 Mk., die er zur
ersten Zahlung auf eine Lebensversicherung brauchte. Das war Weihnachten 1919,
kurz vor seiner Verheiratung mit Frau Schade. Dann habe ich ihm 2000 Mk.
geliehen, die er wie die früheren Darlehen zurückzahlte. Vier oder fünf Monate
nach seiner Verheiratung lieh er sich 4000 Mk. Darauf brachte er mir drei
goldne Ringe und einen Platinring. Zwei Ringe waren zerbrochen. Er sagte, ich
solle die Ringe reparieren, er wolle sie einer Dame schenken, weil seine Frau
nach Amerika verschwunden sei. Nach einiger Zeit kam er wieder und sagte, ich
solle die Ringe behalten für die tausend Mark, die er mir von den 4000 Mark
noch schuldete.
Vors.: Angeklagter, wozu brauchten Sie vor
Weihnachten die 4000 Mark? Sie hatten sich doch am 24. Dezember 1920 bei der
Perleberger Kreditbank gegen Verpfändung einer Hypothek für 25 000 Mark
laufenden Kredit verschafft? - Angekl.: Die 4000 Mark brauchte ich zu
geschäftlichen Besorgungen. - Vorsitzender: Was waren dies für geschäftliche
Besorgungen? - Angekl.: Das kann ich heute nicht mehr sagen. - Der Zeuge bejaht
die Frage des Staatsanwalts, ob die zerbrochenen Ringe nur durch große Gewalt entzwei
gegangen sein können.
Zeuge Bautechniker H a d j e
ist von dem Angeklagten angenommen worden, der angab, ein Baubüro zu
haben oder errichten zu wollen. In Wirklichkeit hatte er aber kein Baubüro, sondern
er hat nur einige Häuser gekauft, ausgebaut und dann weiterverkauft. Da der
Zeuge im Baufach fast nichts zu tun hatte, führte er auch haus- und landwirtschaftliche
Arbeiten aus. Sein Gehalt als Bautechniker hat er regelmäßig erhalten. - Vors..
Wie kommt das: Sie haben doch ebenso wie der Angeklagte die Baugewerkschule
besucht und nennen sich nur Bautechniker, während der Angeklagte sich als
Architekt bezeichnet? - Zeuge: Das weiß ich nicht. - Staatsanwalt: Haben Sie
sich denn nicht gewundert, wovon der Angeklagte eigentlich lebt? - Zeuge: Ja, das
war mir ein Rätsel.
Amtsgerichtsrat L e m m e -
Kellinghusen berichtet als Grundbuchrichter über die Grundstückskäufe
und -verkäufe, die die frühere Frau Schade in Rostock vorgenommen hat. Sie hat
dort zwei Grundstücke gekauft und mit einigem Gewinn verkauft.
Wilhelm
Grupen,
der Bruder des Angeklagten, wird als Zeuge
aufgerufen. - Verteidiger Dr. Mamroth bittet, daß er sich zunächst einmal gegen
die Geschworenen wendet, weil ein Zeuge oder eine Zeugin erklärt habe, Wilhelm
Grupen habe ein unheimliches, stechendes Auge. - Der Zeuge berichtet zunächst
über die Vermögensverhältnisse seines Bruders. Als dieser vom Militär entlassen
wurde, dann die Baugewerksschule besuchte und auf der Vulkanwerft tätig war,
hatte er kein Vermögen. Während der Schulzeit wurde er von mir mit
Lebensmitteln und kleineren Geldbeträgen unterstützt. Als er die Schule
verließ, bezog er Erwerbslosenunterstützung. Dann erzählte mir der Angeklagte,
daß er einige gewinnbringende Geschäfte gemacht habe. Auch bei dem Verkauf des
elterlichen Grundstücks wird er 17 bis 20 000 Mark verdient haben. Schließlich
hat der Zeuge auch mit dem Angeklagten und noch mehreren Teilnehmern
verschiedene Grundstücksgeschäfte gemacht, bei denen Gewinne erzielt worden
sind. Bei den unsicheren Angaben des Zeugen ist es trotz aller Bemühungen
schwer, über die einzelnen Geschäfte Klarheit zu bekommen. Tatsache ist aber,
daß der Angeklagte als er im Gefängnis saß, dem Bruder eine Hypothek von 78 000
Mark überschreiben ließ. Früher hatte der Zeuge behauptet, daß er tatsächlich
Forderungen in dieser Höhe an seinen Bruder hatte. Heute gibt er an, daß er
nach sorgfältiger Ueberlegung doch zu der Erkenntnis gekommen sei, daß seine
Forderung bei weitem nicht so hoch war. - Vors.: Warum mag Ihnen wohl Ihr
Bruder die Hypothek übertragen haben? - Zeuge: Das weiß ich nicht. - Vors.: Ich
weiß es auch nicht! (Heiterkeit.)
Vors.: Ihr Bruder hat Ihnen dann auch
Generalvollmacht erteilt. Warum wohl? - Zeuge: Das ist mir auch aufgefallen. -
Angekl.: Die Generalvollmacht habe ich meinem Bruder erteilt, weil wir
gemeinsame Geschäfte machten und ich wegen meines Armes öfters leidend war und
ich mich einer Operation unterziehen wollte. Da sollte mich mein Bruder
vertreten.
Vors.: Als Ihr Bruder nach Kleppelsdorf fuhr,
hat er Ihnen einen Brief übergeben. Was war in dem Briefe? - Zeuge: Drei
Pfandscheine, die ich dann dem Gericht eingeschickt habe.
Der
Revolver.
W i l h e l m G r u p e n
sagt weiter aus: Als ich vor der Abreise meines Bruders nach Kleppelsdorf
in Ottenbüttel war, übergab er mir einen Revolver zu meiner Sicherheit, das das
Gehöft einsam liegt. - Vors.: Wie hat Ihnen der Angeklagte den Revolver übergeben? - Zeuge: Er hat mir die
Handhabung des Revolvers erklärt. - Vors.: War der Revolver geladen? - Zeuge:
Ich kann nicht sagen, daß der Revolver geladen war, ich kann aber auch nicht
sagen, daß er nicht geladen war. Bei der Handhabung des Revolvers war ich
behilflich. Ich kannte aber die Handhabung des Revolvers nicht.
Vors.: Als alter Soldat kannten Sie sich mit
dem Revolver nicht aus, u n d d i e
k l e i n e U r s u l a s o l l t e
e s v e r s t e h e n ? - Zeuge: Ich habe den Revolver dann nicht
mehr in der Hand gehabt. - Vors.: Was hat der Angeklagte gemacht? - Zeuge zeigt
vor, wie der Sicherungsflügel herumgedreht wird. - Vors.: Waren Patronen in dem
Revolver? - Zeuge: Das weiß ich nicht. - Vors.: Aber Sie sollten doch den
Revolver benutzen. - Zeuge: Ich hatte keine Angst und glaubte, ich würde ihn
nicht nötig haben. - Vors.: Haben Sie die Erklärung des Angeklagten verstanden?
- Zeuge: Nachdem ich jetzt das Ding wieder sehe, verstehe ich es.
Staatsanw.: Hat der Bruder geladen oder
nicht? - Zeuge: Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er geladen war oder
nicht. - Staatsanw.: Hat der Bruder die Waffe gespannt? - Zeuge: Das weiß ich
nicht, da ich mit dem Dinge nicht umzugehen verstehe. - Vors.: Ja, aber hätten
Sie dann damit schießen können? - Zeuge: Ja, ich glaube doch.
Ein Geschworener: In diesen Angaben des Zeugen
liegt doch ein W i d e r s p r u c h
. - Vert. Dr. Mamroth: Ein Widerspruch
ist hier nicht enthalten. - Zeuge: Ich wollte abends den Revolver noch einmal
nachsehen. - Staatsanw.: War die Waffe
g e s i c h e r t ? - Zeuge: Das
weiß ich nicht.
Vert. Dr. Ablaß: Ist es richtig, daß der
Angeklagte zu Ihnen gesagt hat: „Wir sind hier auf einem einsamen Hofe, und
deshalb habe ich mir die Waffe zu unserem Schutze angeschafft?“ - Zeuge: Ja. -
Vert. Dr. Ablaß: Hätten Sie sich die Waffe später angesehen? - Zeuge: Ja. Vert.
Dr. Mamroth: Hätten Sie d a m a l
s die Waffe gebrauchen können, und
kennen nur heute, weil inzwischen lange Zeit vergangen ist, die Handhabung
nicht mehr erklären? - Zeuge: Ja. - Vert.: Hätten Sie d a m a l s
sofort schießen können? - Zeuge: In dem Augenblick, als mir die Waffe erklärt
wurde, wußte ich damit umzugehen. - Staatsanw.: Weshalb wollten Sie sich dann
die Waffe noch einmal abends ansehen? - Zeuge gibt keine Antwort.
Der S
t a a t s a n w a l t beantragt nun,
den Zeugen zu beauftragen, d e n R e v o l v e r m i t
s c h a r f e n P a t r o n e
n z u
l a d e n u n d z u
s i c h e r n . - Vors.: Daß
hier im Saale mit scharfen Patronen geladen wird, gestatte ich nicht. - Vert.
Dr. Mamroth: Ich beantrage die Ablehnung, da damit nichts bewiesen wird. -
Vors.: An sich wäre die Sache schon wichtig, da doch die kleine U r s u l a
n u r d a b e i g e s t a n d e n h a t
u n d s c h o n d e n
M e c h a n i s m u s b e g r i
f f e n h a b e n s o l l ?
- Vert. Dr. Mamroth: Die Ursula soll ja dann den Revolver auch selbst in
der Hand gehabt haben. - Vors. (zum Angekl.): Wie war der Revolver? - Angekl.:
Er war schußfertig, nur der Sicherungsflügel war herumzulegen.
Staatsanw.: Da der Zeuge behauptet, daß er
heute noch nicht ohne Schwierigkeiten laden und sichern kann, beantrage ich,
daß er dies hier vormacht.
Der G
e r i c h t s h o f zieht sich zur B e r a t u n g zurück und verkündet dann den Beschluß, daß
dem Antrag des Staatsanwalts stattgegeben wird. Der Zeuge zeigt dann die
Handhabung des Ladens, Spannens, Sicherns und Entsicherns, was ihm auch
gelingt. Der Staatsanwalt beantragt, morgen dieses Experiment mit
Exerzierpatronen zu wiederholen, da das Sichern und Spannen mit Patronen
schwieriger sei als ohne Patronen. (Grupen zeigt hierbei eine lächelnde Miene.)
Vors.: Was geschah nun mit dem Revolver? -
Zeuge: Der Angeklagte legte ihn in das Schubfach des Schreibtisches zurück. -
Vors.: W a r U r s u l a
d a b e i ? - Zeuge: J a .
U r s u l a s t a n d r e c h t s
v o n u n s u n d
g u c k t e z u . - Vors.: Hat sie die Manipulationen gesehen,
die mit dem Revolver vorgenommen wurden? - Zeuge: Ja. - Vors.: Wurde das Schubfach,
in das der Revolver gelegt wurde, verschlossen? - Zeuge: Das weiß ich nicht,
ich glaube nicht. - Vors. (zum Angekl.): Wie war es? - Angekl.: Wahrscheinlich
nicht, denn ich habe das Schubfach f ü
r m e i n e n B r u d e r
o f f e n g e l a s s e n .
Vors.: Was geschah weiter? - Zeuge: Ich ging
hinaus und kam nochmals in das Zimmer. D a s t a n d U r s u l a
a m S c h r e i b t i s c h u n
d h a t t e d e n
R e v o l v e r i n d e r
H a n d . I c h n a h m
i h r d e n R e v o l v e r w e g
u n d v e r w a r n t e s i e .
- Vors.: Der Revolver war doch geladen? - Zeuge: Ich weiß nicht, ob er
geladen war. - Vors.: Und dann? - Zeuge: Habe ich den Revolver wieder in das
Schubfach gelegt. - Vors.: Haben Sie dann wenigstens das Fach verschlossen? -
Zeuge: Nein, es ging nicht zu verschließen. - Vors.: War das nicht eine sehr
große Unvorsichtigkeit, den Revolver wieder in das unverschlossene Fach zu
legen, nachdem Sie gesehen hatten, daß ihn das Kind in der Hand gehabt hat? -
Zeuge: Ich habe mir später auch Vorwürfe deshalb gemacht. Ich habe auch das
Kind verwarnt.
Vors.:
D e r A n g e k l a g t e b e h a u p t e t , Sie seien zusammen in das Zimmer gekommen,
und Ursula habe n u r a m
S c h r e i b t i s c h g e s t
a n d e n , a b e r d i e
W a f f e n i c h t i n
d e r H a n d g e h a b t . - Zeuge: Nein, ich war allein
im Zimmer mit der Ursula. - Vors. (zum Angeklagten): Wie war es? - Angekl.: Ich
bin auch heute noch der Ansicht, daß wir zusammen in das Zimmer gekommen sind
und Ursula die Waffe nicht in der Hand hatte. - Zeuge: N e i n ,
U r s u l a h a t t e d i e
W a f f e i n d e r
H a n d . Es ist aber möglich,
daß d e r A n g e k l a g t e h i n t e r
m i r i n s Z i m m e r
g e k o m m e n i s t . - Staatsanwalt: Haben Sie dann wenigstens
nachgesehen, ob die Waffe geladen war oder nicht? - Zeuge: Nein, wir haben uns
dann später aber große Vorwürfe deshalb gemacht.
Verteidiger Dr. Marmroth: Haben Sie vielleicht
deshalb von weitere Vorsichtsmaßnahmen abgesehen, weil Sie annahmen, daß Grupen
mit seiner Familie bald abreise? - Zeuge: Ja, der Vorfall war w e n i g e
S t u n d e n v o r d e r
A b r e i s e . - Vors.: Konnten
Sie denn nicht den Revolver in ein anderes Fach legen? - Zeuge: Nein, die
anderen Fächer waren verschlossen, weil mein Bruder seine Sachen darin hatte.
Verteidiger Dr. Mamroth: Wann haben Sie dann
bemerkt, daß der Revolver nicht mehr da war? - Zeuge: Abends, da ich zu Bett ging.
- Staatsanwalt: Nachdem Sie am Nachmittag den Revolver in der Hand des Kindes
gesehen und abends sein Fehlen feststellten, haben Sie dann nicht
wenigstens s o f o r t n a c h
K l e p p e l s d o r f g e s c
h r i e b e n , damit kein Unheil geschieht?
- Zeuge: N e i n , darüber habe ich mir auch Vorwürfe gemacht.
Aber mein Bruder wollte in ein paar Tagen zurückkommen. - Vors.: I n z w i s c h e n k o n n t e
i n K l e p p e l s d o r f a l l e s
t o t g e s c h o s s e n s e i
n .
Verteidiger Dr. Ablaß beantragt nun, durch
den Angeklagten vorführen zu lassen, ob er mit einem Arm den Sicherungsflügel
herumlegen kann. Grupen tritt aus der Anklagebank und zeigt dem Gerichtshof und
den Geschworenen, daß er dies mir Leichtigkeit ausführen kann.
Ein Geschworener: Der Zeuge weiß nicht, ob
der Revolver geladen war, und der Angeklagte hat behauptet, daß er einen Rahmen
mit Patronen in den Revolver gesteckt hat. - Angekl.: Ja. Das habe ich mit
Hilfe meines Bruders getan. - Ein Geschworener: Kann der Angeklagte mit einer
Hand die Patronen einführen? - Ein anderer Geschworener: Hat der Zeuge die
Patronen eingeführt? - Zeuge: Jawohl, ich bin dabei behilflich gewesen. - Vors.
(zum Zeugen): Vorhin wußten Sie nicht, was Ihr Bruder mit dem Revolver gemacht
hat, und jetzt sagen Sie: Ich habe die Patronen mit hineingetan. - Ein
Geschworener: Wenn der Zeuge jetzt weiß, daß Patronen in den Revolver getan wurden,
weiß er dann nicht, ob er geladen war? - Zeuge: Jetzt entsinne ich mich, daß
wir Patronen hineingetan haben. - Geschworener: Und daß er geladen war? -
Zeuge: Dessen erinnere ich mich nicht.
Verteidiger Dr. Ablaß: Und daß der Revolver
gespannt war? - Dem Zeugen wird das Spannen vorgemacht. - Zeuge: So viel ich
mich erinnere, hat dies mein Bruder gemacht.
Die weitere Vernehmung des Zeugen wird dann
auf Donnerstag früh ½ 10 Uhr vertagt.
*
Die
Sitzung am Donnerstag.
Im Gerichtssaal ist heute die weiße Leinwand
aufgespannt, auf der die bei der Leichenschau aufgenommenen L i c h t b i l d e r vorgeführt werden sollen.
Wilhelm
Grupen,
der Bruder des Angeklagtem wird weiter
vernommen. Der Zeuge hat im Ermittelungsverfahren erklärt, sein Bruder habe ihm
5000 Mark aus dem Erlös des väterlichen Hauses versprochen. Heute bestreitet er
dies. Ueber das Verschwinden der Frau Grupen hat ihm sein Bruder nähere
Umstände nicht mitgeteilt.
Geheimrat
M o l l : Haben Sie einmal in
Ottenbüttel in dem Zimmer geschlafen, in dem die Kinder Grupens schliefen? -
Zeuge: Ja, auf der Chaiselongue. - Geheimrat
M o l l : Der Angeklagte hat
gestern behauptet, sein Bruder habe nicht im Zimmer der Kinder geschlafen.
Vors. (zum Zeugen): War Ursula bei der
Erklärung des Revolvers zufällig da, oder hatte sie der Angeklagte gerufen?
Zeuge: Ursula war schon vorher am Schreibtisch. - I r m a
S c h a d e behauptet, Wilhelm
Grupen habe neben den Kindern im Bett geschlafen, auf das Liegesofa ist Ursula
gebettet worden. - Zeugin H a t j
e bestätigt diese Aussage. - Vors. (zum
Zeugen): Sie haben gehört, daß Ihre Aussage im Widerspruch steht mit der
Bekundung der kleinen Irma und der eidlichen Aussage des Frl. Hatje. - Zeuge:
Ich bitte Frl. M o h r darüber zu vernehmen, daß ich auf der
Chaiselongue geschlafen habe.
Vert. Dr. Mamroth: Ich weiß nicht, was diese
Feststellung mit dem Prozeß zu tun hat. - Vors.: Zur Feststellung der
Glaubwürdigkeit des Zeugen.
Heinrich
Grupen,
des Angeklagten zweiter Bruder, ist nach dem
Verschwinden der Frau Grupen mit seinem Bruder nicht mehr zusammengekommen, er
kann daher keine Angaben über Frau Grupens Verschwinden machen. Er gibt zu, im
März 1920 dem Angeklagten einen energischen Brief geschrieben zu haben, in dem
er ihn an seine der Mutter und den Geschwistern gegenüber übernommenen
Verpflichtungen erinnert, nachdem er das väterliche Haus verkauft hatte. Peter
solle die Mutter nicht um die saueren Groschen bringen. Der Zeuge bekundet,
sein Bruder habe ihm und den Geschwistern je 5000 Mark Abfindung aus dem
Verkauf des väterlichen Hauses versprochen, außerdem wollte er der Mutter freie
Wohnung gewähren und 60 Mk. monatlich zahlen. - Der Zeuge wird, ebenso wie sein
Bruder Wilhelm, nicht vereidigt.
Grundstücksgeschäfte.
Der nächste Zeuge, Heinrich M a a ß
aus Mehlbeck, ist mit dem Angeklagten im Frühjahr 1920 durch einen Makler
in Beziehungen gekommen. Grupen hat vom Bruder des Zeugen ein Grundstück in
Ottenbüttel gekauft. Der Kaufpreis von 78 900 Mark wurde durch Uebernahme von
Hypotheken in Höhe von 37 000 Markt gelegt, für den Rest, soweit er nicht
hypothekarisch eingetragen wurde, lieferte Grupen Vieh. Durch Vermittelung
Grupens kaufte der Bruder des Zeugen auch eine Brandstelle in Itzehoe, auch
wurde ein Grundstückstausch getätigt. Der Zeuge meint, daß Grupen bei den
Grundstücksgeschäften nicht viel verdient habe. Bei einer
Hypothekenvermittelung in Altona, an der sich auch Wilhelm Grupen beteiligte,
habe Grupen etwa 6000 Mark verdient. Auf ein Haus in Altona hat der Zeuge vom
Angeklagten eine Hypothek von 5000 Mark bekommen.
Vors.: Haben Sie mit dem Angeklagten nicht
einmal über den A n k a u f v o n
K l e p p e l s d o r f
gesprochen. - Zeuge: Ja, ich habe mit Frau Eckert darüber gesprochen,
die sagte, das Gut gehe wirtschaftlich zurück. Bei einer späteren Unterredung
mit Grupen habe dieser gesagt, es wäre das beste, wenn Kleppelsdorf verkauft
würde. Ich war bereit, mit Kleppelsdorf anzusehen, wollte aber nur als
Vermittler auftreten.
Angekl.: Ich habe verschiedene Male über
diesen Punkt mit dem Zeugen gesprochen und gesagt, daß der Vormund den Verkauf
von Kleppelsdorf beabsichtigte; von einem Ankauf ist nicht die Rede gewesen. -
Staatsanw.: Wie kommt der Angeklagte dazu, den Verkauf von Kleppelsdorf, der
nie in Frage kam, zum Gegenstand von Besprechungen mit dem Zeugen zu machen? -
Angekl.: Ich … …, daß der Vormund verschiedentlich mit dem Verkauf von
Kleppelsdorf gedroht hat. - Staatsanwalt:
J a , g e d r o h t !
Als nächste Zeugen sollen zwei von der
Staatsanwaltschaft geladene Einwohner von Mehrbeck vernommen werden. - Vert.
Dr. Ablaß widerspricht der sofortigen Vernehmung dieser Zeugen unter Berufung
auf § 245, Absatz 2 der Strafprozeßordnung, welcher lautet:
„Ist ein zu vernehmender Zeuge oder
Sachverständiger dem Gegner des Antragstellers so spät namhaft gemacht, oder
eine zu beweisende Tatsache so spät vorgebracht worden, daß es dem Gegner an
der zur Einziehung von Erkundigungen erforderlichen Zeit gefehlt hat, so kann
derselbe bis zum Schlusse der Beweisaufnahme
d i e A u s s e t z u n g d e r
H a u p t v e r h a n d l u n g
zum Zwecke der Erkundigung beantragen.“
Vors. (zu den Verteidigern): Bis wann wird
die Vertagung beantragt? - Vert. Dr. Mamroth: Unsere Erkundigungen über die
Zeugen können vierzehn Tage dauern. - Vors.: Die Erkundigungen können ja
telegraphisch eingeholt werden. Der Vernehmung der Zeugen kann die Verteidigung
übrigens nicht widersprechen, sie kann aber die Aussetzung der Hauptverhandlung
beantragen. - Staatsanw.: Ich bitte, den Verteidigern Gelegenheit zu
Erkundigungen bis zum Plädoyer zu geben und die Zeugen am Schlusse der
Beweisaufnahme zu hören. - Vert. Dr. Ablaß: Wie lange unsere Erkundigungen
dauern sollen, kann uns der Staatsanwalt nicht vorschreiben. - Staatsanwalt:
Das Gericht hat über den Antrag der Verteidigung nach f r e i e m
E r m e s s e n zu entscheiden.
Auf die beiden Zeugen v e r z i c h t
e i c h u n t e r
k e i n e n U m s t ä n d e n .
Nach etwa einviertelstündiger Beratung des
Gerichtshofes verkündet der Vorsitzende folgenden B e s c h l u ß :
Der A
n t r a g a u f A u s s e t z u n g d e r
H a u p t v e r h a n d l u n g
w i r d a b g e l e h n t , weil es nach Lage der Sache irgendwelcher
Erkundigungen nicht bedarf. Gegen die beiden Zeugen liegen keine Tatsachen vor,
die Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit begründen könnten. Außerdem ist der Zeuge
Maaß zugegen, der sich sofort auf die Bekundungen der Zeugen erklären kann.
Die Verteidiger verzichten auf das Angebot
des Staatsanwalts, die von ihm vorgeschlagenen Zeugen nicht sofort zu
vernehmen. Es wird daher Lehrer Johannes
W i t t m a k aus Mehlbeck als
Zeuge aufgerufen. Er gibt Auskunft über ein mit dem Zeugen Maaß geführtes
Wirtshausgespräch, bei dem Maaß gesagt hat, er werde bald mal in einem größeren
Unternehmen nach der Lausitz fahren. Von dem Kauf eines Gutes, das einem
Mädchen gehört, habe Maaß nichts gesagt.
Kaufmann Jakob W i c h :
Als mir der Kleppelsdorfer Mord bekannt wurde, fragte ich Maaß, ob
Kleppelsdorf das Gut sei, das er kaufen wollte. Maaß hat dies bejaht.
Alsdann werden die zur Beurteilung vor
Grupens
Charakter
geladenen Zeugen vernommen.
Gemüsehändler H a a s e -
Altona kennt den Angeklagten von der Schulzeit her. Er behauptet, Grupen
habe ihn bei der Vermittlung des von ihm, dem Zeugen, gekauften Grundstücks um
20 000 Mark betrogen. Der Kaufpreis sei auf 126 000 Mark festgesetzt gewesen,
nachher stellte es sich aber heraus, daß Grupen auf das Haus eine Hypothek von
20 000 hatte eintragen lassen.
Vert. Dr. Ablaß: Der Kaufpreis betrug in
Wirklichkeit 146 000 Mark. 126 000 Mark wurden im notariellen Kaufpreisvertrag
nur genannt, um Stempelkosten zu sparen. - Zeuge: Soviel ich weiß, ist davon
nicht die Rede gewesen. - Staatsanwalt: Sie glaubten, das Haus für 126 000 Mk.
gekauft zu haben, mußten aber 146 000 Mk. zahlen. - Zeuge: Ja.
Gerichtssekretär Albert L a m p e -
Altona: Nach dem Kaufvertrag ist das Grundstück für 126 000 Mk. verkauft
worden. Grupen hat sich eine Hypothek über 20 000 Mk. eintragen lassen, von der
Haase nichts wußte. Wenn Haase gewußt hätte, daß das Grundstück 146 000 Mk.
kostete, hätte er es nicht gekauft. Ich habe den Eindruck, daß Grupen den Haase
um 20 000 Mk. betrogen hat.
Klempnermeister Johannes H o m a n n - Ottenbüttel hat um Hause der Frau Eckert und
der Frau Schade, später auch für Grupen gearbeitet. Ueber dessen
Vermögensverhältnisse kann er nur angeben, daß Grupen seine Forderungen, bei
denen es sich um kleinere Summen im Gesamtbetrage von 1000 bis 1200 Mk. handelte,
stets prompt bezahlt hat. Grupen reiste sehr viel, woraus Zeuge schloß, daß er
viele Geschäfte mache.
Verteidiger Dr. Mamroth: Erinnern Sie sich,
daß der Angeklagte kurz vor dem Verschwinden der Frau Grupen eine
Badeeinrichtung für sie bestellte, mit dem Bemerken, er wolle seiner Frau eine
Freude machen? - Zeuge: Ja, er wollte die Badeeinrichtung haben, hat sie aber,
nachdem die Frau verschwunden war, abbestellt.
Vors.: Ist der Ausbau des Hauses in
Ottenbüttel vor dem Umzug der Familie Grupen nach Ottenbüttel erfolgt oder
nachher? - Zeuge: Vorher.
Die weiteren Zeugen sagen teils ungünstig für
Grupen aus, indem wieder seine „Geschäftstüchtigkeit“ erwiesen wird, teils
günstig, indem sie seine Strebsamkeit und seinen Fleiß im Beruf und in der Baugewerkschule
anerkennen.
Dann tritt die Mittagspause ein.
Sonnabend, den 17. Dezember 1921, „Der Bote
aus dem Riesengebirge“
Der Mord von
Kleppelsdorf.
Gutachten
der Sachverständigen.
Hirschberg, 16. Dezember.
Die Hoffnung, noch in dieser Woche zum Schluß
zu kommen, ist zu Schanden geworden. Man hatte geglaubt, am Donnerstag noch die
Sachverständigen hören zu können, dann den Freitag zur Vorbereitung für die
Plaidoyers freilassen, den Sonnabend dem Staatsanwalt und den Verteidigern
einzuräumen und in der Nacht zur Urteilsfällung kommen zu können. Die
Vernehmung der letzten Zeugen zog sich jedoch länger hin, als erwartet worden
war, und so wird es wohl Freitag Abend werden, ehe sämtliche Gutachten
erstattet worden sind. Der Sonnabend soll dann sitzungsfrei bleiben. Donnerstag
in später Abendstunde entspann sich darüber eine längere Aussprache. Justizrat
Mamroth und Geheimrat Moll, die nur mit einer zehntägigen Verhandlung gerechnet
und andere Verpflichtungen haben, drängten auf Fortführung der Verhandlung, der
Staatsanwalt aber beanspruchte für die Sichtung des gewaltigen Materials einen
vollen Tag. Das Gericht erkannte diesen Wunsch als berechtigt an, und so wird
es wohl Montag Abend werden, ehe die Geschworenen sich zurückziehen können.
Die Donnerstag und Freitag zunächst
vernommenen Schreibsachverständigen, der bekannte Gerichtschemiker Dr. Jeserich
und Professor Schneidemühl lassen keinen Zweifel darüber, daß nach ihrer
festesten Ueberzeugung sowohl der Großmutti-Brief Ursels, in dem sich die Ursula
als Täterin hinzustellen scheint, als auch die Abschiedsbriefe der Frau Schade
echt sind, das heißt von der Hand Ursels und der verschwundenen Frau
geschrieben sind.
Die Donnerstag-Nachmittagssitzung eröffnete
der Vors. mit der Mittelung, daß soeben ein Telegramm der Polizeiverwaltung in
Itzehoe eingegangen sei, wonach ein in Itzehoe wohnender Kolporteur gesehen
haben will, wie Grupen seine Frau zwei Tage vor ihrem Verschwinden geschlagen
und gewürgt habe. Das Gericht hat beschlossen, den Zeugen Sonnabend zu laden.
Dann wird in der Vernehmung der
Leumundszeugen
fortgefahren.
Kunstgewerbeschullehrer S p r e n g e r - Hamburg hat von Grupen einen guten Eindruck
gewonnen, ebenso von Frau Grupen, die ihm zu einem Besuch in Itzehoe eingeladen
hatte.
Strafanstaltsinspektor T s c h e n t k e - Hirschberg: Der Angeklagte hat sich nach
seiner Einlieferung in das Untersuchungsgefängnis ruhig und zuversichtlich
benommen. Bei Gesprächen über die Tat, der er beschuldigt wird, hat Grupen
stets seine Unschuld beteuert. Verbotener Mittel, sich mit der Außenwelt in
Verbindung zu setzen, hat er nicht angewendet. Alle Gefängnisbeamten sind mir
seinem Verhalten zufrieden gewesen. - Verteidiger Dr. Ablaß: Haben Sie die
Ueberzeugung, daß Sie es bei dem Angeklagten mit einem Menschen zu tun haben,
dem die Tat zuzutrauen ist? - Zeuge: Mich hierüber zu äußern, fühle ich mich
nicht berufen. - Ein Geschworener: Haben Sie gehört, ob der Angeklagte mit
seinem Bruder in der Sprechzeit Plattdeutsch gesprochen hat? - Zeuge: Ja, er
hat Plattdeutsch gepsrochen, aber in einer Ausdrucksweise, die wir unbedingt
verstehen konnten.
Strafanstalts-Oberwachtmeister F u r c h e - Hirschberg macht über das Verhalten Grupens
in der Untersuchungshaft die gleichen Aussagen wie der Vorzeuge. Grupen habe
sich den Beamten gegenüber zuvorkommend und bescheiden gezeigt. Zeuge habe mit
Grupen in seiner Zelle über seine Jugend und Heimat gesprochen. Das sei Grupen
manchmal so nahe gegangen, daß er weinte. - Vorsitzender: Der Angeklagte hat
geweint, tun das andere Gefangene nicht auch? - Zeuge: Ja. Wenn ich Grupen
sagte, er solle, falls er sich schuldig fühle, so vernünftig sein und seine
Schuld zugeben, beteuerte er jedes Mal seine Unschuld. - Ueber die Besuche der
Brüder Grupens im Gefängnis befragt, erklärte der Zeuge, daß er aus
Menschlichkeit die Brüder über Nacht in seiner Wohnung aufgenommen habe, weil
sie schlecht Unterkommen finden konnten. - Vorsitzender (erstaunt): Den Bruder
eines unter schweren Verdacht stehenden Untersuchungsgefangenen haben Sie als
Justizbeamter über Nacht bei sich behalten? Das ist doch recht eigenartig!
Kennen Sie die Stütze Mohr? - Zeuge: Ich kenne sie nur von ihrem Aufenthalt als
Zeugin im Gerichtsgebäude. - Ein Geschworener: Hat irgendein Mitglied der
Familie Mohr in dem Hause, in dem Sie wohnen, Unterkunft gefunden? - Zeuge:
Nein.
Steuerpraktikant L a n g e -
Itzehoe hat den Angeklagten bei der Erledigung von Steuerangelegenheiten
kennen gelernt; es waren Steuererklärungen der Frau Eckert und der Frau Schade
zu berichtigen. Er hat ihm nach dem Verschwinden seiner Frau den Rat gegeben,
die bekannte Geldkassette durch einen Schlag gegen den Boden zu öffnen. Die
Mitteilung Grupens, daß seine Frau nach Amerika gegangen sei, hat der Zeuge
wegen der strengen Paßkontrolle nicht geglaubt.
Staatsanwalt: Ueber Grupens Vermögensstand
bitte ich, den Zeugen später als Sachverständigen zu hören. Nach meinen
Feststellungen betrug das Vermögen, über das der Angeklagte als
Generalbevollmächtigter seiner Schwiegermutter und seiner Frau verfügte und
einschließlich seines eigenen Vermögens, am Tage nach seiner Verhaftung etwa
110 000 Mk. - Angeklagter: Ich werde nachweisen, daß ich über eine Viertelmillion
verfüge und nichts vom Vermögen meiner Frau und meiner Schwiegermutter
verschleudert habe.
Landgerichtsrat D u b i e l
wird nochmals über den vom Angeklagten aus dem Gefängnis an seine
Schwiegermutter zu Händen des Bankiers Guldacker in Itzehoe geschriebenen Brief
vernommen. Der Zeuge erinnert sich, daß Grupen in diesem Briefe mit Gefängnis
gedroht habe, wenn sie über Wäsche, die zu seinem Haushalt gehöre, verfüge. Er,
der Zeuge, hatte aber nicht den Eindruck, daß Grupen mit diesem Briefe seine
Schwiegermutter bestimmen wollte, zu seinen Gunsten auszusagen. - Angeklagter:
Ich habe vom Gefängnis aus meinen Verwandten gegenüber zum Ausdruck gebracht,
wenn sie mich nicht richtig anreden wollen, sollten sie das Briefschreiben
lieber unterlassen.
Frau
E c k e r t muß nun Angaben über
den
Entwicklungsgang
der kleinen Ursula
machen. Das Kind sei einige Wochen zu früh
geboren worden. Es sei von Jugend auf lieb und gut und für alles sehr besorgt
gewesen. Schon als Schülerin habe Ursula sehr auf Ordnung gehalten. In Itzehoe
und Ottenbüttel sei sie öfters traurig gewesen und habe bei Tisch zu weinen
angefangen.
Marie
Mohr
wird darauf eingehend über Zahl und Inhalt
der auf die Reise mitgenommenen Koffer vernommen. Ihre Aussagen sind sehr
leise, oft gar nicht zu verstehen, und unsicher. Danach waren es ein großer und
zwei kleine Koffer. Von den letzteren gehörte einer Herrn Grupen, einer Frau
Eckert. In dem einen waren Lebensmittel für die Reise, und dieser Koffer ist
auch geöffnet worden, die Zeugin hat hineingesehen, hat aber w e d e r
R e v o l v e r n o c h P a t r o n e n darin gesehen, was sie, wie sie zugibt,
hätte sehen müssen, wenn sie darin gewesen wären. (Anfänglich sagt die Zeugin,
auf die Frage des Vorsitzenden, sie w i
s s e n i c h t , ob sie die Waffe hätte sehen müssen, wenn
sie darin gewesen wäre.)
Verteidiger Dr. Ablaß: Ist es richtig, daß
Sie jetzt mit jemand anderem versprochen sind? - Marie Mohr: Ja. - Die Zeugin
will insbesondere nicht wissen, wer die Koffer gepackt hat. Auch auf die Frage,
wer die Koffer vom Bahnhof nach dem Schlosse getragen und wo sie hingeschafft
worden sind, gibt die Zeugin nur unsichere Auskunft.
Untersuchungsrichter D u b i e l
gibt auf Veranlassung des Staatsanwalts Auskunft über das Verhalten der
Zeugin bei ihrer Auskunft über das Verhalten der Zeugin bei ihrer Auskunft über
gewisse bedenkliche Situationen. Auf seine frage, ob sie denn gar kein
Schamgefühl habe, sagt sie: Nein! Später hat sie aber gesagt: Doch, ich habe
mich geschämt.
Marie
M o h r wird dann nochmals (im
Nacheid) vereidigt, nach wiederholter dringender Ermahnung des Vorsitzenden.
Margarete
H a t j e meldet sich zu einer
Ergänzung ihrer Aussage. Grupen hat ihr gesagt, daß Dorothea ihm mehrere
Heiratsanträge gemacht habe, er habe sie aber nicht gemocht. Ueber W i l h e l m G r u p e n
sagt die Zeugin, daß er früher, als er bei ihrem Vater Maurerpolier war,
ein tadelloser Arbeiter war, dann aber einen weniger guten Ruf hatte, weil er
immer mit dem Bruder Peter Geschäfte gemacht hatte und weil er viel Geld ausgab
und nächtliche Feste feierte.
Vorsitzender: Kann diese Zeugin nun entlassen
werden. - Staatsanwalt: Ich entlasse keinen Zeugen mehr.
Kommissarische
Zeugenvernehmungen.
Es werden nun Aussagen von Zeugen verlesen,
welche wegen Krankheit oder aus anderen Gründen nicht zur Verhandlung kommen
konnten.
Frau Studienrat B r o o k -
Itzehoe bekundete bei ihrer kommissarischen Vernehmung u. a.: Nach der
Mitteilung einer Lyzeallehrerin, bei der Ursula Schade in den Unterricht ging,
habe Ursula in der Religionsstunde einmal das Wort „Hypnose“ erwähnt. Ruth
Reske oder Irma Schade sollen, wie Frau Eckert erzählte, einmal gesehen haben,
wie Grupen über dem Bett Ursulas s t r
e i c h e l n d e B e w e g u n g e
n machte.
Professor
D r . H e i t m a n n - Hamburg hat vor dem Hamburger Amtsgericht
folgendes erklärt: Grupen war auf der Baugewerkschule ein fleißiger,
vorwärtsstrebender Schüler, der die Abgangsprüfung mit „gut“ bestanden hat.
Ueber seinen Lebenswandel ist mir nicht sbekannt. Was Grupen auf der
Baugewerkschule gelernt hat, reicht nicht auf, daß der Angeklagte sich „Architekt“
nennen kann.
Aus dem Vernehmungsprotokoll der Frau
Bauergutsbesitzer P o p p - Ottenbüttel geht hervor, daß die Zeugin sich
nicht erinnern kann auf eine Aeußerung ihres Vaters, Grupen solle sich von den
Kindern trennen, denn man könne nicht verlangen, daß er die Kinder einer
treulosen Frau erziehe. Sie könne sich auch nicht erinnern, daß Grupen darauf
ihrem Vater geantwortet habe, er habe die Kinder so lieb und könnte es nicht
über das Herz bringen, die Kinder unter der Handlungsweise der Frau leiden zu
lassen.
Frau Dorothea B e r g m a n n - Itzehoe erklärte dem vernehmenden Richter:
Das Verhältnis zwischen den Grupenschen Eheleuten war normal, zwischen Grupen
und den Kindern harmonisch. Grupen hat nach dem Verschwinden seiner Frau
erzählt, daß Ursula rührend für ihn sorge. Wenn er abends nicht zu Hause sei,
mache sie ihm etwas zu essen oder naschen zurecht und legen einen Zettel dazu:
„Für Dich, lieber Vati!“ Bei einem Besuch im September v. J. war Grupen in
heiterer Stimmung. Als ich ihn nach dem Befinden seiner Frau fragte, sagte er,
sie wäre verreist; davon, daß sie ihn verlassen habe und nach Amerika gegangen
ist, sagte er kein Wort. Auch bei einem einige Wochen später erfolgten Besuch
sprach er nicht von seiner Frau, sondern nur davon, daß er die Hatje in sein
Haus habe kommen lassen, die Tochter seines Lehrmeisters, zu dem er einmal
gesagt habe, daß er sein Schwiegervater werden müsse. Als ihm gesagt wurde, man
erzähle, daß seine Frau verschwunden sei, gab er dies zu, erklärte aber auf die
Frage, was er für Nachforschungen angestellt habe, er sei nicht geneigt, dafür
viel Geld auszugeben, denn die Frau habe ihm 70 000 Mk. mitgenommen. Ueberdies
habe ihm der Notar Reinicke gesagt, er solle die Sache ein Jahr ruhen lassen
und dann einen Aufruf in den Zeitungen veröffentlichen.
Geh. Rechnungsrat N e u g e b a u e r - Berlin und seine Ehefrau machten
Bekundungen, aus denen hervorgeht, daß Frau Eckert und Frau Schade das Vermögen
der Ruth Reske benachteiligt haben sollen.
Der Angeklagte erklärt, er habe zu den
Vernehmungsprotokollen keine Angaben zu machen.
Es folgen die
Gutachten
der Sachverständigen.
Bücherrevisor Walter S c h ä r f f - Brieg äußert sich über
Grupens
Vermögenslage
folgendermaßen: Grupen hatte keine
Buchführung, so daß ein klares Bild über die Vermögenslage nicht möglich ist.
Der Sachverständige teilt sein Gutachten in drei Zeitabschnitte ein: erstens:
was besaß Grupen bei seiner Verheiratung mit Frau Schade?, zweitens: was besaß
er bis zum Verschwinden der Frau Schade?, drittens: über welche Mittel verfügte
er in der Zeit zwischen dem Verschwinden und dem Vorfall in Kleppelsdorf?
Bis zu seiner Verheiratung mit Frau Schade
besaß der Angeklagte nichts. Das greifbare Kapital, das seine Frau mitbrachte,
war niedrig und die festliegenden Kapitalien der Frau konnten ihm in seinem
Geschäft nicht nützen. Grupen hatte 9000 Mark aus seiner Beschäftigung beim
Vater, eine einmalige Abfindung als Kriegsinvalide von 8000 Mk., außerdem
verschiedene kleine Einnahmen, also etwa 17 000 bis 20 000 Mk. Diese Summe
hatte er ausgegeben, denn zwei Zeugen haben einwandsfrei ausgesagt, daß er
zurzeit der Verheiratung nichts hatte; er mußte sogar im Mantel seines Vaters
um die Hand seiner Frau anhalten. Durch die Heirat fiel ihm kein größeres
Barvermögen in die Hände. Für das Reichsnotopfer wurden die beiden Vermögen des
Ehemannes und der Ehefrau am 31. Dezember 1919 (wenige Tage vorher hatte die
Heirat stattgefunden), mit 31 000 Mk. veranlagt. In diesen 31 000 Mark liegen
7300 Mark Barvermögen, eine Summe, die bald aufgebraucht war. Schon im März
1920 sah Grupen sich genötigt, durch die Verpfändung des Brillantenschmucks der
Fr. Eckert an Lange-Hamburg sich Geld zu verschaffen. Er erhielt 6000 Mk. Bald
versetzte er auch ein oder zwei Pelzjacketts, wofür er nur kleine Beträge
erhielt. Für das Silber bekam er 1700 Mark. Ostern 1920 erfolgte der Verkauf
des väterlichen Grundstücks in Haseldorf, wodurch er 17 000 Mk. erübrigt haben
soll. Das sind kleine Beträge, um Haushalts. und Geschäftsunkosten zu
bestreiten. Wir wissen, daß Grupen viel unterwegs gewesen ist und manchmal auch
von seiner Frau begleitet wurde, die Geschäftsunkosten müssen also groß gewesen
sein. Andererseits haben wir gehört, daß der Haushalt ein sparsamer war. Bei
den Grundstücksgeschäften handelte es sich nur um sehr wenige Transaktionen.
Bei dem Verkauf des Grundstücks in Itzehoe, den er vornahm, um in Ottenbüttel
das weniger wertvolle Gelände zu erhalten, ist der Gedanke nahe liegend, daß er
da nach weiterem Kapitel gestrebt hat. Aber bei genauer Betrachtung handelt es
sich nicht um einen Kauf, der ihm Barvermögen brachte, sondern um einen Tausch.
Badgeld erhielt er bei dieser Transaktion, obwohl es sich im Objekte im
Gesamtwert von 125 000 Mk. handelte, nicht.
Bis Ende Juli zehrte Grupen von insgesamt 32
000 Mk., die zuflossen dem Haushalt, dem Geschäftsbetriebe und dem Umbau des
Ottenbüttler Grundstücks,. der allein 25 000 Mk. erfordert haben soll. Dazu
kommt der Betrag, den er aus Wertpapieren erlöst haben soll und den er seiner
Frau zur Bestreitung des Haushalts zur Verfügung gestellt haben will. Daß der
Angeklagte gezwungen war, sich weitere Mittel zu verschaffen, beweist auch der
Verkauf der Saloneinrichtung aus Itzehoe, wobei er 9000 Mark löste. Außerdem
machte er verschiedene Geschäfte mit seinem Bruder und mit Maaß. Diese
Geschäfte liefen ja in ziemlich hohe Beträge, aber die Einkünfte verteilten
sich auf zwei bis drei Makler. Dabei dürfen wir auch nicht vergessen, daß die
Vermittlergeschäfte ihre Abwicklung nach der Tragödie von Kleppelsdorf fanden.
Aus dem Ottenbüttler Grundstück floß dem Angeklagten kurz vor seiner Abreise
nach Kleppelsdorf der Betrag von 60 000 Mk. zu. Das ist das erste Mal gewesen,
daß er einen solchen Betrag wirklich in Händen hatte. Es ist gesagt worden, daß
Frau Grupen und Frau Eckert ihm zwei Hypotheken im Werte von 72 000 Mark
abgetreten hätten, die er in der Kassette verwahrt haben will. Tatsächlich sind
ihm aber nicht 72 000 Mk. zugeflossen, denn eine Zahlung hat nicht
stattgefunden. Der Sachverständige schließt: Ich will die Frage, ob in der
Kassette 60 000 oder 72 000 Mk. oder gar nicht darin war, nicht selbst
entscheiden, das überlasse ich den Herren Geschworenen.
An das Gutachten knüpfte sich eine sehr l e b h a f t e A u s e i n a n d e r s e t z u n g zwischen den Verteidigern und dem
Sachverständigen, in die auch der Staatsanwalt wiederholt eingriff. Die
Verteidiger bemängelten, daß das Gutachten von greifbaren Mitteln rede, während
es sich über die Vermögenslage hätte äußern sollen. Der S t a a t s a n w a l t erklärte, daß er in seinem Plaidoyer die
Vermögenslage Grupens auf Grund von dessen eigenen Angaben behandeln werde.
Vert. D r . A b l a ß
protestierte gegen das Gutachten, das auf völlig verfehlter Grundlage
beruhe und als Beweismittel nicht gelten könne.
Die
Briefe.
D r .
J e s e r i c h - Berlin hatte
die Aufgaben, erstens: den B r i e
f a n
G r o ß m u t t i zu vergleichen
mit H a n d s c h r i f t e n d e r
U r s u l a S c h a d e , um festzustellen, ob dieser Brief von ihr
herrühre oder ob er von einem Anderen, besonders dem Angeklagten, geschrieben
sei; zweitens: festzustellen, ob das Wort „traurige“ in dem Briefe an Frau
Bartel von Ursula selbst nachträglich hinzugefügt worden sei.
Der
Großmutti-Brief
vom 9. Februar, in dem davon die Rede ist,
daß Ursel die Waffe an sich genommen habe und Großmutter sich nicht mehr über
Dörte ärgern solle, ist von den Sachverständigen mit einem unzweifelhaft von
Ursula stammenden Briefe verglichen worden,
D r . J e s e r i c h , der den Geschworenen bis in alle
Einzelheiten seine Vergleiche darlegt, kommt zu dem Schluß, d a ß
z w i s c h e n d i e s e m m i t
B l e i g e s c h r i e b e n e
n G r o ß m u t t i - B r i e f e u n d d e m
m i t T i n t e g e s c h r i e b e n e n e c h t e n
U r s u l a - B r i e f e A b w
e i c h u n g e n w e s e n t l i c h e
r A r t n i c h t
z u f i n d e n s i n d .
Im Großmutti-Brief sind, wie das bei flüchtiger Schrift sehr oft
vorkommt, die Uebergänge mehr abgerundet, als die mit Tinte geschriebenen
Briefe. Das sind die einzigen Momente, die als Unterschied gefunden worden
sind. Sonst herrscht U e b e r s t i m
m u n g b i s i n s
K l e i n s t e . Die Gesamtschrift
gibt zu einer Annahme, daß der Brief n
i c h t von Ursel geschrieben worden
ist, keine Veranlassung. Andererseits sei die Möglichkeit einer Fälschung
jedoch nicht ausgeschlossen, aber es sei kaum möglich, einen ganzen Brief in
allen Einzelheiten so treu nachzubilden. Es spräche nichts für die Vermutung,
daß der Brief nicht von Ursula geschrieben worden sei. Ein mathematischer
Beweis, daß er tatsächlich von Ursel geschrieben worden sei, könne natürlich
nicht geführt werden.
Vors.: Herr Sachverständiger, auf Grund Ihrer
Erklärungen in der Voruntersuchung muß ich Sie fragen, ob der Brief nicht
gewisse Aehnlichkeiten mit der Grupenschen Schrift aufweist.
D r .
J e s e r i c h :
Selbstverständlich, Aehnlichkeiten, wie sie zwischen a l l e n
Schritten bestehen, man kann ein x nicht wie ein y schreiben. Mit der
Grupenschen Schrift besteht eigentlich nur in der Abflachung des Uebergangs vom
ersten zum zweiten Element der Buchstaben und im kleinen r eine
Uebereinstimmung. Es spricht jedoch keinerlei Wahrscheinlichkeit dafür, daß
Grupen den betreffenden Brief geschrieben hat. Wenn der Brief nachgeschrieben
worden ist, so muß es ein Künstler im Malen gewesen sein, wie ich ihn in meiner
dreiundvierzigjährigen Praxis nicht kennen gelernt habe. Ob auf dem
Brief
an Frau Barthel,
(der ebenfalls vom 9. Februar datiert ist und
in dem Ursula sehr vergnügt über das Leben in Kleppelsdorf berichtet) bei der
Unterschrift „Ursel“ d a s W o r t
„ t r a u r i g e “ v o n a n d e r e r H a n d
hinzugefügt worden ist, läßt sich
n i c h t feststellen. Das Wort
„traurige“ weist in allen Einzelheiten die Eigenart der Schrift Ursulas auf,
doch kann ein aus so wenig Buchstaben bestehendes Wort nachgebildet worden sein
und deshalb kann aus der Uebereinstimmung der Schriftzüge irgend ein
Schluß n i c h t gezogen werden. P o s i t i v i s t
a b e r f e s t g e s t e l l
t w o r d e n , d a ß
d a s W o r t „ t r a u r i g e “ n a c h t r ä g l i c h h i n z u g e f ü g t w o r d e n
i s t und zwar mit gleichartiger
Tinte und nachdem die ursprüngliche Schrift bereits getrocknet war, also mindestens
3 bis 4 Minuten nach Abschluß des Briefes. Ob Ursel das Wort geschrieben hat,
kann ich nicht sagen. Es kann von ihr sein, kann aber auch nachgemacht worden
sein.
Freitag vormittag ½ 10 Uhr wird die
Verhandlung fortgesetzt.
*
Die
Verhandlung am Freitag.
Zu Beginn der heutigen Sitzung teilt der
Vorsitzende mit, daß der Beisitzer, Landgerichtsrat H e r z o g , an Grippe erkrankt und an seine Stelle der
Hilfsrichter, Assessor H u b r i c h
, getreten ist.
Dann setzt der Schriftsachverständige D r .
J e s e r i c h sein Gutachten
fort, und zwar über die Frage, ob die
Abschiedsbriefe
der Frau Grupen
echt sind. Die Untersuchung hat ergeben, daß
die Schrift der Abschiedsbriefe mit älteren Briefen der Frau Grupen v o l l k o m m e n ü b e r e i n s t i m m t . Der Sachverständige ist zu dem Schluß
gekommen, daß an eine Nachbildung der Abschiedsbriefe nicht zu denken ist.
Vors.: Ist es möglich oder wahrscheinlich,
daß der A n g e k l a g t e die Briefe nachgeahmt hat? - D r .
J e s e r i c h : Ich halte es
weder für möglich noch für wahrscheinlich. - Eine psychologische Beurteilung
der Briefe lehnt Dr. Jeserich ab.
Der
zweite Schreibsachverständige.
Darauf erhält Professor Dr. S c h n e i d e m ü h l - Berlin das Wort zur
Handschriftenbeurteilung: Der Fall, um den es sich handelt, stößt in weitesten
Kreisen auf Vorurteil und Mißtrauen. Dieses Vorurteil und Mißtrauen muß
zunächst zerstreut werden, sonst würde ich tauben Ohren predigen. Bei der
wissenschaftlichen Handschriftenbeurteilung handelt es sich um die Lehre, aus
der Handschrift auf den Charakter des Menschen zu schließen. Die G r a p h o l o g i e hat damit, wie vielfach angenommen wird,
nichts zu tun. Der G r o ß m u t t i -
B r i e f wies auf den ersten Blick
einige Aehnlichkeiten mit der Schrift des Angeklagten auf, aber sehr bald
änderte sich das vorläufige Urteil. Obwohl genügend Schriftproben des
Angeklagten vorlagen, habe ich Wert darauf gelegt, den Angeklagten beim
Abschreiben eines von ihm, dem Sachverständigen, entworfenen Schriftsatzes zu
sehen und zu beobachten. Bei dieser Gelegenheit wurde Grupen gefragt, ob er
sich mit okkultistischen Dingen befasse. Die Zögerung mit der Antwort erklärte
sich der Sachverständige mit Unkenntnis des Angeklagten auf diesem Gebiete.
Nach gegebener Definition des Begriffes „Okkultismus“ verneinte Grupen die
Frage. Ich habe Grupen weiter gefragt, ob er sich mit Hypnose oder Suggestion
beschäftigt, ob er solche Schriften gelesen oder solche Schaustellungen besucht
habe. Grupen bejahte: als Baugewerksschüler habe er sich hypnotische und
Suggestions-Vorstellungen angesehen. Vom Untersuchungsrichter ist mir die Frage
zur Beantwortung vorgelegt worden: Ist anzunehmen, daß der Angeklagte den Brief
an Großmutti geschrieben hat, oder ist anzunehmen, daß Ursula Schade ihn
geschrieben hat? Auf der ganzen Welt gibt es nicht zwei Menschen, die die g l e i c h e Schrift schreiben, höchstens eine ä h n l i c h e Schrift. Wie die Gehirne der Menschen
durchweg nicht gleichartig sind, so ist auch jede Handschrift verschieden. Bei
aller Aehnlichkeit zweier Handschriften werden sich die Buchstabenbilder nicht
so decken wie etwa die Typen aus dem Setzkasten. Der Sachverständige ist z u
d e m S c h l u ß g e k o m m e n , d a ß
U r s u l a d e n B r i e f
a n G r o ß m u t t i g e s c h r i e b e n h a t .
Auch unterliegt es für ihn keinem Zweifel, daß F r a u
G r u p e n i h r e A b s c h i e d s b r i e f e s e l b e r
g e s c h r i e b e n hat. Nun
die schwierigste Frage:
Liegt
eine Beeinflussung der Schrift vor?
Dieser Brief der Ursula ist ganz ruhig geschrieben;
die Schriftzüge sind dieselben bei den anderen Briefen der Ursula und weisen
dieselben Eigentümlichkeiten auf, eine gleichmäßige und ruhige Schrift. Die
Schrift eines niedergedrückten Menschen erscheint niedergedrückt, der seelische
Zustand drückt sich auch noch in der Schrift aus. Bei einem Kinde wie Ursula,
die sehr zart, weich und fremdem Einfluß leicht zugänglich war, hätte sich der
seelische Zustand erst recht in der Handschrift ausdrücken müssen. Es kann
daher diesem Kinde, als sie den Brief an Großmutti schrieb, d e r
f u r c h t b a r e I n h a l
t d i e s e s B r i e f e s n i c h t
z u m B e w u ß t s e i n g e k o m m e n s e i n .
Bei einem Kinde, das die Absicht hat jemand Anderes und sich selbst zu
erschießen, m ü ß t e sich diese damit verbundene seelische
Erschütterung auch in der Schrift a u s
d r ü c k e n .
Auch in dem Abschiedsbriefe der Frau des
Angeklagten findet sich keine Aenderung der Schriftzüge der Schreiberin,
während sich die furchtbare Seelenerschütterung, die die Schreiberin bei der
Absicht, Heimat, Mann und Kinder zu verlassen, gehabt haben muß, sich darin
hätte ausdrücken müssen. Es müssen also auf Frau Grupen seelische Einwirkungen
gewisser Art, die ihr ganzes Sinnen und Empfinden beeinflußten, stattgefunden
haben, - welcher Art, weiß ich nicht. In anderen Briefen der Frau findet sich,
daß sich die niedergedrückte Stimmung der Schreiberin in den Schriftzügen
ausdrückte. E s m u ß
a l s o e t w a s i m
I n n e r n d e r F r a u
G r u p e n d u r c h f r e m d e n E i n f l u ß a u s g e s c h a l t e t w o r d e n
s e i n .
Auf wiederholte Frage des Verteidigers D r .
M a m r o t h hält der
Sachverständige sein Gutachten aufrecht.
Staatsanwalt: Herr Sachverständiger, wenn wir
nun von einem späteren Sachverständigen hören sollten, daß tatsächlich ein
solcher Einfluß auf die Frau ausgeübt worden ist, würde das noch eine
Bestätigung Ihres Gutachtens sein? - Professor
S c h n e i d e m ü h l : Das würde allerdings meine Auffassung vollauf
erklären.
Auf Fragen eines Geschworenen erklärte
Professor Schneidemühl noch, daß sich auch in der einige Tage vor dem
Verschwinden der Frau geschriebenen Abtretungsurkunde k e i n e
M e r k m a l e d e r s e e l i s c h e n E r r e g u n g z e i g e n , so daß also auch damals die Schreiberin unter
jenem Einfluß stand.
Verteidiger Dr. M a m r o t h : Aber der Inhalt der Briefe, in denen der
Sachverständige besondere Merkmale einer seelischen Erschütterung erkennen
will, ist durchaus harmloser Art, so daß sich aus dem Inhalt die angeblich niedergedrückte
Stimmung der Schreiberin nicht ergibt. Die Tatsachen, aus denen der
Sachverständige auf die seelische Niedergedrücktheit der Schreiberin schließt,
schweben also völlig in der Luft.
Prof.
S c h n e i d e m ü h l
widerspricht dieser Auffassung. Wenn Jemand unter seelischer Verstimmung
leidet, dann prägt sich dies auch in den Briefen aus, die an sich einen
harmlosen Inhalt haben.
Verteidiger
D r . A b l a ß faßt das Gutachten des Sachverständigen
zusammen. Erstens: die sechs Abschiedsbriefe zeige keine Zeichen seelischer
Erregung, während die Merkmale da sein müßten, wenn diese Erregung nicht durch
fremden Einfluß ausgeschaltet gewesen ist. Zweitens: in den anderen Briefen
findet der Sachverständige die Merkmale der seelischen Verstimmungen, wenn er
auch keine Tatsachen anführen kann, auf denen die seelische Erregung beruhen
soll.
Die Auseinandersetzungen nehmen noch längere
Zeit in Anspruch. Dabei fragt noch Verteidiger
D r . M a m r o t h, ob es nicht richtig sei, daß sich gerade
Frauen auch beim Schreiben auf liniiertes Papier nicht an die Linien halten.
Professor
S c h n e i d e m ü h l : Das
Gegenteil ist richtig.
Verteidiger D r .
A b l a ß : Herr
Sachverständiger, ist es nicht möglich, daß, wenn Jemand sich nach langen
Kämpfen zu einem festen Entschluß durchgerungen hat, so daß eine eisige Ruhe
über ihn kommt, er dann auch ohne Merkmale einer seelischen Erregung schreibt?
Professor
S c h n e i d e m ü h l : Der
Fall ist wohl denkbar, aber Frau Grupen gehörte wohl nicht zu den Personen, bei
denen dies möglich war.
Weiter verbreitet sich Prof. S c h n e i d e m ü h l über
das
Schreiben in Hypnose.
Er erzählt über interessierte Versuche, die
von wissenschaftlicher Seite gemacht worden sind. Ein in Hypnose versetzter
dänischer Student habe, als man ihm vorredete, Napoleon zu sein, dessen
richtigen Namenszug geschrieben, dann die Schrift einer alten Frau und eines
Kindes, als er diese vorstellen sollte. Der Sachverständige zeigt selbst an der
Schreibtafel, wie er die Schriftzüge eines zwölfjährigen Kindes nachahmt, weil
er sich sehr intensiv in dessen Gedankengang versetzt hat.
Dann erstattet Büchsenmachermeister W a l t e r - Löwenberg sein Gutachten, indem er zunächst
über die Ergebnisse der
Schießversuche
berichtet. Er hat im Beisein des
Kreismedizinalrates Dr. Peters mit der bei der Ursula gefundenen Pistole auf
die verschiedensten Entfernungen, von 5 Zentimetern angefangen, auf Stoffe und
Holz geschossen. Die durchschossenen Stoffe wurden vorgezeigt. Die Waffe war
eine Walterpistole Modell 5, bei der die Hülsen der abgeschossenen Patronen nur
nach rechts, bei Schüssen auf größere Entfernungen nach rechts u n d
etwas nach hinten fallen können. Der Sachverständige zeigte dann auf der
Zeichnung, wo bei den, auf Wunsch des Angeklagten im Mordzimmer vorgenommenen
vielen Schießversuchen in jedem einzelnen Falle der Schütze stand, wie der die
Pistole hielt und wo dann die Hülse der abgeschossenen Patrone lag.
Wie ist
geschossen worden?
Der Sachverst. Walter hält es für
a u s g e s c h l o s s e n , d
a ß U r s u l a S c h a d e
s i c h s e l b s t e r s c h o s s e n h a t .
Nach
seiner Ueberzeugung h a t d e r
T ä t e r , etwa in der Mitte
des Zimmers stehend, a u f D o r o t h e a R o h r b e c k d e n
e r s t e n S c h u ß a b g e g e b e n , d e n
z w e i t e n a u f d i e
z u r R o l l s t u b e n t ü
r f l ü c h t e n d e U r s u l a
S c h a d e und den d r i t t e n (einen sogenannten Fangschuß) wieder auf die
noch atmende D o r o t h e a R o h r b e c k . Daß auf Ursula a u s
w e i t e r e r E n t f e r n u
n g geschossen worden ist, a l s
a u f D ö r t e , ist aus der Tatsache zu folgern, daß das in
die rechte Stirn eingedrungene Geschoß die
S c h ä d e l d e c k e n i c h
t d u r c h s c h l a g e n hat, sondern darunter stecken geblieben ist.
Der Kopfschuß auf Dörte ist a u s k u r z e r
E n t f e r n u n g abgefeuert
worden.
Bei Schluß der Redaktion dauerte die
Vernehmung des Sachverständigen noch fort.
Sonntag, den 18. Dezember 1921, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“
Beendigung
der Beweisaufnahme.
Die
Sachverständigen über die Selbstmord-Annahme.
Grupen
lehnt alle Erklärungen ab.
Hirschberg, 17. Dezember.
Die Verhandlung geht ihrem Ende entgegen. In
der Nacht zum Dienstag wird das Urteil erwartet. Am Freitag ist die Beweisaufnahme
im wesentlichen abgeschlossen worden. Am Montag sollen, - während der Sonnabend
für die Plaidoyers sitzungsfrei bleibt, - zunächst noch einige Vernehmungen
unter Ausschluß der Oeffentlichkeit erfolgen und alsdann der Staatsanwalt und
die Verteidiger zum Wort kommen.
Freitag war der Tag der Gutachter. Die
Schießsachverständigen, die Aerzte, die die Leichen der beiden unglücklichen
Opfer der Tragödie untersucht haben und schließlich die Psychologen erhielten
der Reihe nach das Wort, und sie alle kamen, jeder von seinem besonderen
eigenen Standpunkt aus, zu dem Ergebnis, daß ein Selbstmord der kleinen Ursula,
der aus dem Großmutti-Briefe gelesen werden könnte, ausgeschlossen ist oder
doch höchst unwahrscheinlich erscheint. Professor Moll aus Berlin, eine
Weltautorität auf dem Gebiete der Seelenforschung, hält irgendwelche
hypnotischen Einwirkungen für ausgeschlossen, betont aber um so stärker die
suggestiven Beeinflussungen des willenstarken Angeklagten auf seine ganze
Umgebung, und ergeht sich dabei in sehr feinen tiefgründigen Auslassungen über
das Wesen der Suggestion und der zwingenden Macht von Willensmenschen auf
schwache Personen. Der Angeklagte, der sich mit seinen stahlharten Nerven dem
Ansturm der nahezu vierzehntägigen Verhandlung voll gewachsen gezeigt hat,
verfolgte die Darlegungen mit gespannter Aufmerksamkeit, verweigert aber, seitdem
er mittags für einen Augenblick seine Ruhe verloren hatte, jetzt jegliche
Erklärung.
Im Einzelnen ist noch zu berichten:
Büchsenmachermeister W a l t e r - Löwenberg gibt weiter der Ansicht Ausdruck,
daß der Täter etwa i n d e r
M i t t e d e s Z i m m e r s gestanden haben müsse, sonst wären die Patronenhülsen
nicht auf die dem Wintereßzimmer zu gelegene Seite gefallen. Alle in dem
Mordzimmer vorgenommenen Schießversuche, auch die nach Anweisung des
Angeklagten durchgeführten, stützen diese Ansicht. Nach der Art der Waffe und
nach der Lage der Patronenhülsen ist der Sachverständige der festen
Ueberzeugung, daß Dörte und Ursula von dritter Hand erschossen worden sind. Der
Täter muß in der Nähe der Dörte gestanden haben.
Staatsanwalt: Wenn die Theorie des
Selbstmordes der Ursula richtig wäre, müßten dann nicht die Hülsen in dem Teile
des Zimmers gelegen haben, der an die Rollstube angrenzt?
Walter: Ja. Dort haben die Hülsen nicht
gelegen, und aus diesem Teile des Zimmers hätten sie nicht so leicht verschleppt
werden können, weil der Tatort vom Winteresszimmer aus betreten wurde.
Der Angeklagte, der vor der Tafel mit der
Skizze des Mordzimmers steht, nimmt das Lineal zur Hand und erörtert die
Möglichkeit, daß die Hülsen auch bei einem Selbstmord Ursulas an die Stellen
gefallen sein können, wo sie gefunden wurden. Die Schußrichtung müsse eine
andere gewesen sein, als der Sachverständige annehme. Der Vorsitzende
unterbricht den heftig redenden Angeklagten mit der Bemerkung, er handele sich
nicht um Schußrichtungen, sondern um den Standort des Täters. D e r
A n g e k l a g t e w i r f
t h i e r a u f m i t
h o c h r o t e m K o p f e r r e g t
d a s L i n e a l a u f
d e n T i s c h u n d
b e g i b t s i c h w ü t e n d
i n d i e A n k l a g e b a n k , d e r e n
T ü r e r k r a c h e n d h i n t e r
s i c h z u s c h l ä g t .
Vorsitzender (zum Sachverständigen): Wäre
nach Ihrer Annahme die dreizehnjährige Ursula überhaupt fähig gewesen, den
Revolver so zu handhaben, daß sie sich selbst erschießen konnte?
Walter: Nach meinen Erfahrungen kann ein
Mädchen durch bloßes Zusehen beim Erklären einer Waffe diese nicht gleich mit
Sicherheit handhaben. Zudem waren, seit die Ursula den Revolver das letzte Mal
gesehen, und dem Tage der Tat, sieben oder acht Tage verflossen. Weibliche
Personen haben gegen Schußwaffen so große Antipathie, daß sie sich dieselben
überhaupt nicht genau ansehen. Dann sind die drei Schüsse auch mit einer T r e f f s i c h e r h e i t abgegeben worden, die ein dreizehnjähriges
Kind nicht haben kann. Revolver erfordern eine ganz besondere Schießfertigkeit.
Bei den S c h i e ß v e r s u c h e
n mit der Mordwaffe haben im Schießen
geübte Personen auf ein Brett, das die Größe eines Kanzleibogens hatte, im
ganzen nur vier- bis fünfmal getroffen, obwohl mit sechs Meter Distanz über 30
Schüsse abgefeuert wurden.
Kreismedizinalrat D r .
P e t e r s : Es ist auch zu
beachten, daß die Waffe einen sehr starken Rückschlag hat.
Ein Geschworener: Will der Angeklagte darüber
Auskunft geben, ob er im Felde als Maschinengewehrschütze, Gefechtsordonnanz,
Bagagefahrer oder Bursche tätig gewesen ist?
Angeklagter (mit großer Heftigkeit): I c h
l e h n e j e d e E r k l ä r u n g i n
Z u k u n f t a b .
Der Geschworene: Meine Frage hat einen
besonderen Grund.
Vorsitzender: Es ist das Recht des
Angeklagten, auf Erklärungen zu verzichten.
Verteidiger
D r . A b l a ß (zum Sachverständigen): Halten Sie es für
möglich, daß ein Kind, wenn die Waffe geladen und gesichert warm den
Sicherungsflügel umlegen konnte? - W a
l t e r : Möglich wäre es schon, im vorliegenden
Falle aber nicht wahrscheinlich. - Vorsitzender: Wenn ein Kind weiß, daß die
Waffe geladen ist, dann wird es sich doch nicht noch ein Kästchen mit Patronen
mitnehmen. - Sachverständiger: Das glaube ich auch nicht.
In der Nachmittagssitzung wird zunächst
der
zweite Schießsachverständige,
Gewehrfabrikant H e n s e l - Breslau, vernommen. Er erklärt kurz, daß er
sich dem Gutachten Walters in allen Punkten
a n s c h l i e ß e . Auch er
ist insbesondere der Ansicht, daß nach der Beschaffenheit der Waffe und der
Lage der Patronen ein S e l b s t m o r
d d e r U r s u l a
S c h a d e a u s g e s c h l o
s s e n sei.
Der Angeklagte schweigt auf die Frage des
Vorsitzenden, ob er zu diesen Gutachten etwas zu bemerken habe.
Es folgen die
ärztlichen
Gutachten.
Kreis-Medizinalrat D r .
P e t e r s - Löwenberg legt
seinem Gutachten den von ihm festgestellten Leichenbefund zu Grunde. Vorher
ersucht er den Vorsitzenden, an den Angeklagten die Frage zu richten, ob er
wünsche, zu seinen Ausführungen Stellung zu nehmen und zu diesem Zweck aus der
Anklagebank zu treten. - Angeklagter: Ich habe bereits gesagt, daß ich keine
Erklärungen mehr abgebe.
Im Saale steht ein Modell mit dem roten
Flanellkleide und der weißen, blutbefleckten Schürze der Dorothea Rohrbeck.
Mittels eines Projektorapparates werden bei verdunkeltem Saal
Lichtbilder
von den Leichen
der erschossenen Mädchen vorgeführt.
D r .
P e t e r s : Alle die Schüsse
sind aus mehr als 15 Zentimeter Entfernung abgegeben worden, damit ist die M ö g l i c h k e i t e i n e s
S e l b s t m o r d e s der
Ursula von vornherein ausgeschlossen. An dem Kleide der D ö r t e
fand ich mehrere Schußlöcher, eines an der rechten Achselfalte, drei an
der Brust. Das erste ist eine Einschußöffnung, die drei anderen Ausschußöffnungen,
die sich dadurch erklären, daß das Kleid an der Brust Falten hatte. Am Halse
und an der Brust habe ich mehrere Verletzungen festgestellt. Bei der U r s u l a
fand ich eine Einschußöffnung an der rechten Augenbraue, außerdem ein im
Gehirn steckengebliebenes Geschoß. Bei Dörte ist ein Geschoß unter der
Stirnhaut gefunden worden. Ich habe schon damals dem Angeklagten gesagt, ob er
mit der Waffe, die er aufgehoben haben will, etwas gemacht habe. Er antwortete
mir: „Daß ich nicht wüßte.“ Nach dem Befund hat D ö r t e
z u e r s t d e n B r u s t s c h u ß erhalten, der durch den Hals in den hinteren
Nasenrachenraum eindrang. Die Kugel (der Sachverständige zeigt sie den
Geschworenen) lag in einem Blutgerinsel und war, weil sie nicht durch Knochen
gegangen ist, nicht deformiert. Die Folge der Verletzungen waren starke Blutungen
im Nacken. Wir fanden im Magen verschlucktes Blut und in der Lunge eingeatmetes
Blut. Die z w e i t e Verletzung war erfolgt durch den S c h u ß
i n d e n H i n t e r k o p f : die Kugel hatte wichtige Teile des Gehirns
verletzt. (Das etwas deformierte Geschoß wird den Geschworenen überreicht.)
Welche von den Verletzungen zuerst erfolgte, läßt sich mit ziemlicher
Sicherheit sagen. Wäre der Schuß in den Hinterkopf der erste gewesen, so wäre
sie sofort bewußtlos gewesen, so wäre sie zusammengesunken, und der
Brust-Halsschuß hätte eine andere Richtung genommen, als der Schußkanal
aufweist. Für die Annahme, daß der Brustschuß der erste Schuß war, spricht die
starke Blutatmung und das Blutschlucken, denn der Bewußtlose schluckt nicht
mehr. Die U r s u l a ist nach dem Schuß sofort handlungsunfähig gewesen;
sie ist sofort zusammengesunken und hat keine geordneten Bewegungen mit der
Hand mehr ausführen können. Bei der Ursel wurden am Hinterkopf Hautabschüfungen
und eine Schwellung gefunden, die beweisen, daß sie bald nach dem Schuß gegen
den Schrank gefallen ist. Es ist kein Zweifel, daß U r s u l a
a n d e r S t e l l e , w o
s i e a u f g e f u n d e n w u r d e ,
d e n t ö t l i c h e n S c h u ß
e r h a l t e n h a t . Bei beiden Leichen konnten k e i n e
Merkmale festgestellt werden, welche den Schluß zulassen, daß die
Schüsse aus einer g e r i n g e r e
n Entfernung als 5 Zentimeter abgegeben
wurden. Bei den Einschußöffnungen waren weder
F l a m m e n w i r k u n g e n
n o c h P u l v e r e i n s p r
e n g u n g e n zu sehen. Ursulas
Augebrauen und möglicherweise auch die Wimpern am rechten Auge hätten versengt
sein müssen, wenn der Schuß etwa aus fünf Zentimeter Entfernung abgefeuert
worden wäre. Bei D ö r t e bestand von vornherein kein Zweifel, daß
sie v o n f r e m d e r H a n d
e r s c h o s s e n worden ist;
sie hätte sich nur e i n e n Schuß beibringen können, und außerdem hat
die Waffe bei der Ursel gelegen. Selbstmörder haben das Bestreben, wenn sie
sich in die Brust schießen, die betreffende Stelle von der Kleidung frei zu
machen.
Gegen
einen Selbstmord der Ursel sprechen
die Begleitumstände, nämlich der F u n d o r t d e r
P a t r o n e n h ü l s e n .
Ursula hat, als auf sie gezielt wurde, den K o p f
e r s c h r e c k t r ü c k w ä
r t s geneigt, wie der Verlauf des
Schußkanals ergibt. Hätte sie s i c
h s e l b s t erschossen, müßte der V e r l a u f d e s
S c h u ß k a n a l s e i n a n d e r e r sein. Der Täter hat auf sie geschossen, als
er in d e r N ä h e
d e r z u s a m m e n g e s u n
k e n e n D ö r t e stand. - Der Sachverständige zeigte an einem
Menschelschädel die Ein- und Ausschußöffnungen.
Kreis-Medizinalrat D r .
S c h o l z - Hirschberg
pflichtet dem vorstehenden Gutachten bei. Auch nach seiner Ansicht handelt es
sich n i c h t u m
N a c h s c h ü s s e .
Geheimrat
D r . L e s s e r - Breslau
h ä l t d i e M i t w i r k u n g e i n e r
f r e m d e n H a n d f ü r
e r w i e s e n . Es ist
ausgeschlossen, daß Ursula den Revolver gesichert hat. - Vors.: Können Sie die
Frage beantworten, ob das dreizehnjährige Mädchen in der Lage gewesen wäre,
sich mit dem Revolver zu erschießen? - Geheimrat L e s s e r : Da drei Treffer und kein Fehlschuß festgestellt
worden sind, müßte es das Mädchen sehr gut verstanden haben, mit der Waffe, die
sehr schwierig zu handhaben ist, umzugehen.
Hypnose
und Suggestion.
Geheimrat Prof. Dr. M o l l -
Berlin: Ich habe die Aufgabe, mich über Hypnose und Willensbeeinflussung
zu äußern. Ueber Hypnose bestehen vielfach ganz konfuse Anschauungen. Bei Hypnose
werden Störungen willkürlicher Bewegungen bewirkt, aber ein schlafähnlicher
Zustand, eine Störung des Bewußtseins tritt nicht ein. Erst beim S o m n a m b u l i s m u s kommt es zu gröberen Störungen des
Bewußtseins. In diesem Falle ist es möglich, dem Medium einzureden, daß es eine
Kartoffel für einen Apfel isst und Bewegungen eines Tieres macht. Veränderungen
des Bewußtseins erfolgen nicht durch Hypnose, sondern durch r e i n e
S u g g e s t i o n . W a c h s
u g g e s t i o n , wie sie in
Gesellschaften vorgeführt wird, ist wieder etwas anderes. Da handelt es sich um
Vorgänge, für die ein bekanntes Kinderspiel: „Wir wollen sehen, wer zuerst
lacht“, ein typisches Beispiel ist. Auch wenn man zu einem jungen Mädchen sagt:
„Sie werden ganz rot“ und es errötet, so ist dies ein Vorgang, der mit Hypnose
nichts zu tun hat. Es gibt in der Geschichte eine ganze Reihe von
Persönlichkeiten, die auf ihre Umgebung einen großen suggestiven Einfluß
ausübten: z. B. Napoleon I. Eine Persönlichkeit dieser Art dürfte der
Angeklagte sein, der in der Tat auf seine Umgebung einen ganz außerordentlichen
suggestiven Einfluß ausübte. Die Frage, ob
H y p n o s e in diesem Prozeß eine
Rolle spielt, ist dahin zu beantworten, daß dies zwar nicht ganz ausgeschlossen
ist, daß aber eine größere Wahrscheinlichkeit hierfür n i c h t
v o r l i e g t . Verschiedene
Zeugen haben ausgesagt, es sei ihnen nichts bekannt, daß der Angeklagte sich
mit Hypnose beschäftigt habe. Grupen besaß aber einen a u f f a l l e n d g r o ß e n
E i n f l u ß auf seine
Umgebung, wofür bezeichnend ist, wie er seine Frau und Schwiegermutter beherrschte.
Für einen normalen Menschen ist es keine Kleinigkeit, Frau und Schwiegermutter
zu veranlassen, ihm Generalvollmacht zu erteilen und ihm ohne wahrnehmbare
Gegenleistung ihr ganzes Geld abzutreten. Frau Eckert sagte auch, eigentlich
sei ihre ganze Korrespondenz von ihm überwacht worden.
Aber auch auf anderem Gebiete hatte Grupen
großen Einfluß: auf s e x u e l l e
m Gebiete. Er hat e i n
M ä d c h e n n a c h d e m
a n d e r e n verführt, a u ß e r
s e i n e r F r a u hatte er einmal d r e i
G e l i e b t e z u g l e i c h e r Z e i t
i m H a u s e . Das ist immerhin ein ziemlich gewagtes und
seltenes Stück von Willensbeeinflußung. Allerdings muß man sich hier schon die
Frage vorlegen, wie weit das sexuelle Moment bei der Suggestion in Frage kommt,
und ob der Einfluß auf Ursula nicht bloß suggestiver, sondern erotischer Art
war. Befand sie sich durch die Sexualität in vollständiger Abhängigkeit, im
Zustande der
sexuellen
Hörigkeit,
welche ein starkes suggestives Moment
enthält, es aber durch die Sexualität hindurchführt? Beides begünstigt einander.
Bei dieser sexuellen Hörigkeit ist eine Person der anderen wie ein Höriger
ausgeliefert. Beispiele haben wir z. B. bei der Prostitution zu ihrem Zuhälter,
aber ich kenne auch Beispiele davon in der besten Gesellschaft. Wie weit haben
nun die Beziehungen zwischen Ursula und dem Angeklagten den Charakter der
sexuellen Hörigkeit gezeigt? Mein Verdacht nach dieser Richtung war sehr groß,
wegen der Verschiedenheit der Geschlechter und weil von mehreren Seiten gesagt
worden ist, daß Ursula völlig im Banne des Vaters stand und ihm s l a v i s c h ergeben war. Und so kann ich mir seinen
außerordentlichen Einfluß, den er nicht allein auf erwachsene Mädchen und die
Frau, sondern auch auf die kleine Ursula hatte, durchaus vorstellen: als ein
Gemisch von sexueller Hörigkeit und Suggestion. Grupen war aber auch in der
Lage, seinen Einfluß auf andere Weise zu zeigen: durch F u r c h t
infolge von D r o h u n g . Die kleine Reske sprach einmal davon, daß
sie Prügel erwartete, und sagte: „ W i
r d u r f t e n j a
n i c h t s s a g e n . “ Drohungen sind auch an anderer Stelle
vorgekommen, z. B. bei dem Mädchen, dem er den Revolver auf die Brust setzte.
Der Angeklagte war von seltener Willensstärke
und besaß die Mittel, seinen Willen auf andere wirken zu lassen; Suggestion,
sexuelle Einwirkung und Drohung, und wenn wir dies festhalten, ergibt sich
manches völlig leicht. Man hat die Frage aufgeworfen, ob der Brief Ursulas an
Großmutti unter hypnotischem Einfluß geschrieben sein kann. Irgend ein Beweis
hierfür liegt nicht vor. Geheimrat Moll verliest den Brief an Großmutti und
fährt fort: Das ist kein Abschiedsbrief, kein Brief, wie ihn ein Kind, wie wir
es hier durch die Aussagen kennen gelernt haben, aus freiem Antrieb schreibt.
Auf den Charakter und Inhalt des Briefes kommt es an. Nichts von der Absicht
eines Selbstmordes findet sich darin. Es liegt die Annahme mehr als nahe, daß
der Angeklagte den Brief diktiert hat oder ihn die Ursula hat abschreiben
lassen. D e r I n h a l t
d e s B r i e f e s i s t
e i n f a c h e i n e E n t s c h u l d i g u n g f ü r
d e n A n g e k l a g t e n f ü r
d e n F a l l , d a ß
d a s V e r b r e c h e n h e r a u s k o m m t . Geheimrat Moll nennt ein Beispiel aus seiner
und Prof. Jeserichs Praxis, wo sich der des Mordes Verdächtige durch eine
bestimmte Angabe zu entlasten versuchte, sich aber in Wirklichkeit belastete.
So soll auch d i e s e r B r i e f
n u r z e i g e n , d a ß
G r u p e n n i c h t d e r
T ä t e r ist. Ueber die
Einfügung „ t r a u r i g e “ braucht man kaum ein Wort zu verlieren. Es
ist eine Kleinigkeit, ein Mädchen dahin zu bringen, einen Brief zu schreiben,
dessen Inhalt sie gar nicht versteht, bei solchem großen Einfluß, wie ihn der
Angeklagte auf Ursula hatte.
Die Suggestion zeigte sich auch in den
Zeugenaussagen der Personen, die bekundeten, dauernd mit Grupen oben im Zimmer
zusammengewesen zu sein. Daß Grupen zu ihnen nachher gesagt hat: „Ihr wißt
doch, daß ich bei Euch oben war,“ und „Bleibt nur bei der Wahrheit“, d a s
i s t S u g g e s t i o n , die jeder kennt, der sich damit beschäftigt
hat. Sie wissen selbst genau, was gemeint ist, wenn man sagt: „Bleibt bei der
Wahrheit!“ wenn sie wissen, was Grupen als Wahrheit aufgefaßt wissen will.
Seit zwanzig Jahren ist ein
wissenschaftliches Gebiet neu ausgebaut worden, das der A u s s a g e n f o r s c h u n g , die festzustellen sucht, unter welchen
Bedingungen eine Aussage richtig ist, den Wahrheitswillen des Zeugen
vorausgesetzt. Diesen Wahrheitswillen nehmen wir hier zunächst an, denn es ist
nicht meine Aufgabe, ihn bei den Zeugen irgendwie zu beleuchten. Die
Wichtigkeit der Aussage hängt von dreierlei ab: 1. von der W a h r n e h m u n g , 2. von der
E r i n n e r u n g , und 3. von
der Fähigkeit der W i e d e r g a b e . Die Wahrnehmung ist viel wichtiger als die
Erinnerung, denn wir nehmen viele Dinge wahr, ohne uns dann an sie zu erinnern.
Beispiel dafür ist die Aussage der Frau Eckert, die erst sagte, Grupen sei die
ganze Zeit nicht heruntergegangen, und dann: wenn sie wisse, daß die Tat in so
kurzer Zeit erfolgen konnte, dann könne sie sagen, er sei hinuntergegangen. Sie
sagte uns nicht, was sie wahrgenommen hat, sondern was sie e r s c h l o s s e n hat. Gegen die Erinnerungsmöglichkeit
scheint mir die Wahrnehmungsfähigkeit die Hauptrolle zu spielen. Die meisten
Menschen, darunter auch viele Richter, überschätzen die Fähigkeit der
Wahrnehmung ganz bedeutend. Daß die Personen oben im Wohnzimmer wissen sollen,
ob der Angeklagte zeitweise hinausgegangen ist, stellt Ansprüche, die ein
normaler Mensch gar nicht erfüllen kann. Redner gibt hierfür Beweise durch
Beispiele, wo man auf das Hereinkommen und Hinauskommen von Personen einfach
nicht achtet. Dieses Nichtachten war, so führt er fort, damals etwas ganz
selbstverständliches für alle Beteiligten, weil es ihnen ganz gleichgültig war,
da sie nicht wußten, daß die Feststellung einmal wichtig werden konnte.
Was Grupen der M a r i e
M o h r sagte: „Bleib bei der
Wahrheit“ und: „Gut, daß ihr wißt, daß wir alle drei oben waren“ ist e i n e
S u g g e s t i o n w i e i m
B r i e f e , wie sie charakteristischer
gar nicht gegeben werden kann. Aber die Mohr gab noch eine ganze Reihe anderer
Beweise, die charakteristisch sind für die Unzuverlässigkeit ihrer Wahrnehmung.
Am 9. Dezember, als sie als Zeugin vernommen wurde, sagte sie, sie glaube
Grupen alles, was er sage. Sie, die sich genau daran zu erinnern glaubt, daß
Grupen keine Sekunde abwesend war, hat eine ganze Reihe von Tatsachen, die
erwiesen sind, nicht beachtet: daß Frl. Zahn zweimal durchs Zimmer ging, daß
sich Grupen mit Fräulein Zahn durch die Tür unterhielt, daß Dörte gerufen wurde.
Sie selbst sagt zwar, sie hätte mit Grupen dauernd Mühle gespielt, hat dann
aber zugegeben, daß es nicht dauernd war, daß sie auch gelesen hat und am
Fenster gesessen hat. Es sind eine ganze Reihe Dinge, an die sich Frl. Mohr
nicht erinnert, und sie kann es auch nicht genau, denn Grupen hat ja selbst
zugegeben, daß er bis zur Tür des Schrankzimmers gegangen ist. Das hat sie
nicht bemerkt, und das alles beweist die Unzuverlässigkeit der Wahrnehmung.
Das
Seelenleben der Ursel
haben wir kennen gelernt, so führt
Geheimrat M o l l fort. Unter der Asche, so neben den
Verhandlungen kann man es jetzt raunen hören, daß Ursula doch kein anständiges
Kind, daß sie geschlechtlich infiziert war, an einer Krankheit, die der Vater
nie hatte, daß sie geistig nicht in Ordnung war. Ich kenne diese Wege, - so
wird allmählich ein Kind zur Verrückten gemacht. Ich habe mich bemüht, so viel
wie möglich aus Ursulas Leben zu erfahren. Nichts aber habe ich erfahren über
erbliche Belastung, nichts über Nervenerkrankung, wenn sie auch drei Wochen zu
früh zur Welt kam, so ging es doch ganz normal zu, sie hatte beim Zahnen keine
Krämpfe, lernte normal laufen, normal sprechen, sie lernte nicht besonders gut,
kam aber regelmäßig mit. Für das Psychopathische bleibt nur das, daß sie
betrübt war, und aus der Tragödie, von der wir hören, als die Oeffentlichkeit
ausgeschlossen war, werden wir wohl den Schlüssel zu dieser Betrübtheit des
Kindes haben. Auch was sonst von ihr gesagt wird, sie sei Männern nachgelaufen,
sei nicht ganz intakt, ist durch nichts bestätigt worden. Geheimrat Moll ruft
als Stütze dieser Ansicht das Zeugnis von Frl. Kliefoth den Geschworenen ins
Gedächtnis zurück und fährt fort: eine psychische Erkrankung Ursulas lag nicht
vor, sie war weder geistesschwach noch hysterisch noch etwa melancholisch.
Wirkliche Melancholie hätte wohl einen Selbstmord erklären können, wenigstens
hätte das aber auch keinen Anhalt ergeben. Weder die geistigen Umstände, noch
daß sie ein schwaches Kind war, geben einen Anhalt dafür, daß das Kind hätte
diese schwere Bluttat begehen, und sich dann selbst hätte töten können. Man
bedenke, was es heißt, mit einem Revolver zu hantieren, wenn man nicht aus
einer Offiziers- oder Jägerfamilie ist.
S e l b s t m o r d d u r c
h E r s c h i e ß e n ist auch
b e i m w e i b l i c h e n G e s c h l e c h t e x t r e m
s e l t e n . Das beweist die Statistik, die hier höchstens 2 Prozent
nennt. Und ganz extrem selten sind die Fälle, wo ein junges Mädchen, ein gutes
Kind, zur Mörderin durch Erschießen wird, Vergiften ist da weit häufiger. Das
Sichern und Entsichern des Revolvers erfordert schon eine verhältnismäßige
Kraft. Natürlich konnte Ursula das lernen, wenn man es ihr methodisch
beibrachte, aber davon ist ja hier nicht die Rede.
Nichts
aus der Seele des Kindes weist auf diese Tat hin.
Wilhelm Grupens Aussagen sind schwer
belastend für die Ursula, aber die ihr hierbei vorgeworfenen Handlungen passen
zu ihr wie die Faust aufs Auge. Selbst wenn aus den Aussagen der kleinen Reske
etwas zu Lasten der Mutter zutage treten sollte, so hat das für die Beurteilung
der Ursula durch mich nicht die geringste Bedeutung.
Ein wichtiger Punkt sind noch die sechs
Abschiedsbriefe
der Frau Grupen.
Ich habe mich sehr gewundert, daß G r u p e n
k e i n e n A b s c h i e d s b
r i e f b e k o m m e n hat, denn es hätte doch nahe gelegen, daß
sie auch an den Mann geschrieben hätte.
D a s s i n d n i c h t
A b s c h i e d s b r i e f e ,
d i e e i n e F r a u
s c h r e i b t , d i e i h r e m
M a n n e d u r c h g e h t
, dazu nach Amerika, und n i c h t
die Absicht hat, noch einmal zurückzukommen. Gegen die Kinder ist zu
immer gut gewesen, und als sie diese für immer verließ, schreibt dann so eine
Frau, die so etwas vorhat? Man kommt nicht zum Ziele, wenn man einfach sagt:
aber sie hat sie doch geschrieben, also sind sie von ihr! Fast überall hier
wird angenommen, daß der B r i e f a u f
d e r T o i l e t t e dort absichtlich hingelegt worden sei. Ich
hatte die entgegengesetzte Empfindung, daß die Briefe auf der Toilette
entworfen worden sind. Leider konnten wir über die Handschrift, wer die Briefe
entworfen hat, nichts Näheres erfahren. Ich kann mir aber gut vorstellen, daß
ein Mann, der großen Einfluß auf seine Frau hat, sehr wohl in der Lage ist, sei
es durch Suggestion oder durch Täuschung, etwa einen schlechten Scherz, sie
dazu zu bringen, solche Briefe zu schreiben, besonders wenn er eine Person von
seltenem Einfluß auf seine Umgebung ist.
Ein G
e s c h w o r e n e r stellt noch die
Frage an Geheimrat Moll, ob der s t e c
h e n d e B l i c k , den der Angeklagte nach Aussage von Dr. Moll
habe, ein beachtlicher Faktor bei der Beeinflussung schwacher Charaktere oder
Kinder sei. - D r . M o l l :
Dieser Ansicht bin ich.
Wilhelm
Grupen.
Auf Veranlassung der Verteidigung
erklärt W i l h e l m G r u p e n
noch auf die Bekundung des Fräulein Hatje, daß man ihr gesagt habe,
Wilhelm Grupen habe in letzter Zeit größere Feste gefeiert: Es wurde nur der
Geburtstag meiner Frau und meiner Kinder gefeiert und zwar in einfachster
Weise, ohne jeden Alkohol. Auch habe er die Achtung seiner Mitmenschen
genossen, wofür ein Beweis sei, daß er wie früher die Gemeindearbeiten erhielt
und Kassierer im Kriegerverein war. Ebenfalls auf Veranlassung der Verteidigung
kommt dann nochmals der B r i e f D ö r t e s
a n F r ä u l e i n Z a h n
zur Erörterung, worin Dörte schreibt: Komme bald, sonst hänge ich mich.
Fräulein Zahn gibt hierzu noch einige Erklärungen.
Der S
t a a t s a n w a l t bittet dann,
Wilhelm Grupen nicht zu vereidigen, da nach seiner Ansicht dieser auch b e i
d e m V e r s c h w i n d e
n s e i n e r S c h w ä g e r i n d i e
H a n d i m S p i e l e
hat. Das Gericht beschließt, den Zeugen
n i c h t z u v e r e i d i g e n .
Auf Wunsch von Justizrat Dr. Ablaß erfolgt
dann die Verlesung eines Artikels aus dem
B o t e n vom 20. Februar d. J.,
und auf Wunsch des Staatsanwalts die Verlesung eines Artikels aus den B r e s l .
N . N a c h r . vom 27. November d. J., welche beide auf den
Mord Bezug haben.
Dann wird der Kolporteur K l ä t t e
aus Itzehoe vernommen, der aussagt, daß er gesehen habe, wie wenige Tage
vor dem Umzug nach Ottenbüttel der Angeklagte seine Frau, die zur Tür
herauswollte, zurückgestoßen und die Hand zum Schlage erhoben habe. Dann wurde
die Tür zugemacht, und er hörte aus dem Innern des Hauses einen Schrei.
Hierauf wurde die weitere Verhandlung a u f
M o n t a g ½ 10 Uhr vertagt, wo
zunächst noch einige Zeugen, anfangs unter Ausschluß der Oeffentlichkeit,
vernommen und dann gleich mit den P l a
i d o y e r s begonnen werden soll, die
ohne Pause, vielleicht aber auch mit teilweisem Ausschluß der Oeffentlichkeit,
durchgeführt werden sollen. Das U r t e
i l ist i n
d e r N a c h t z u m
D i e n s t a g zu erwarten.
Dienstag, den 20. Dezember 1921, „Der Bote
aus dem Riesengebirge“
Der
letzte Verhandlungstag.
Schluß
der Beweisaufnahme.
Beginn
der Plaidoyers.
Der
Staatsanwalt spricht.
Hirschberg, 19. Dezember
Der Beginn der Sitzung am Montag, dem Tage
der Plaidoyers, brachte noch den Rest der Beweisaufnahme. Dabei wurde die Art
der Krankheit Grupens und der Ursula festgestellt, und es wurden noch zwei
Briefe verlesen, die jeder in seiner Art bezeichnend sind. Frau Eckert wurde
vereidigt und die Schuldfragen festgestellt. Dann begann der Staatsanwalt seine
Rede, deren Dauer nach Stunden zu bemessen ist. Ueber den Beginn des letzten
Verhandlungstages ist zu berichten:
Die
Krankheiten Grupens und Ursulas.
Die Beweisaufnahme schließt ab mit der
Vernehmung des Privatdozenten Dr. Erich
K u s n i t z k y - Breslau über
das Ergebnis der Wassermannschen Blutuntersuchung bei dem Angeklagten und einer
seiner Bräute. Die Untersuchung ist in beiden Fällen vollständig negativ
ausgefallen; es wurden nirgends Krankheitsstoffe, die auf Syphilis deuten,
vorgefunden. Daraus kann man schließen, daß bei dem Angeklagten keine Syphilis
vorgelegen hat. Dagegen ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß der
Angeklagte und Ursula Schade mit einer anderen, und zwar gleichartigen
Geschlechtskrankheit behaftet waren.
Auf Antrag des Verteidigers Dr. Mamroth wird
nochmals Geheimer Medizinalrat D r
. L e s s e r - Breslau über dasselbe Thema gehört. Der
Sachverstädnige ist der Meinung, daß die Infektion der Ursula mit großer
Wahrscheinlichkeit d u r c h d e n
A n g e k l a g t e n erfolgt
ist.
D r .
C h a u s s y - Hirschberg hält
die Möglichkeit einer Fehldiagnose des Herrn Dr. Meier, auf die sich das Gutachten
des Herrn Dr. Kusnitzky stützt, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit für
ausgeschlossen.
Briefe.
Es folgt auf Antrag der Verteidigung die
Verlesung des B r i e f e s , den Frau
G e r t r u d S c h a d e auf das Heiratsinserat Grupens geschrieben
hat. In dem Briefe heißt es u. a., daß Frau Schade das Inserat als eine Schicksalswendung
betrachte.
Auf Antrag des Staatsanwalts wird der Brief
verlesen, den der A n g e k l a g t
e am Tage seiner Verhaftung an seinen
Bruder W i l h e l m geschrieben hat. Der Brief enthält u. a. den
Satz: „Nun ist es mir klar, warum Ursel heimlich an der Schublade war, als wir
ins Zimmer kamen.“
Das Gericht beschließt nunmehr, die F r a u
E c k e r t z u v e r e i d i g e n . Die Zeugin erklärt, daß sie alles, was sie
gesagt habe, mit gutem Gewissen beschwören könne.
Damit ist die Beweisaufnahme beendet. Der
Vorsitzende verliest hierauf
Die
Schuldfragen:
1. Ist der Angeklagte, Architekt Peter Grupen aus
Ottenbüttel schuldig, am 14. Februar 1921 in Kleppelsdorf bei Lähn vorsätzlich
einen Menschen, Dorothea Rohrbeck, getötet und die Tötung mit Ueberlegung
angeführt zu haben?
2. Ist der Angeklagte schuldig, durch eine
fernere selbständige Handlung am 14. Februar 1921 vorsätzlich einen Menschen,
Ursula Schade, getötet und die Tötung mit Ueberlegung ausgeführt zu haben?
3. Ist der Angeklagte schuldig, durch eine
fernere selbständige Handlung im Herbst 1920 in Ottenbüttel mit einer Person
unter 14 Jahren, der Ursula Schade, unzüchtige Handlungen vorgenommen oder
dieselbe zur Verübung oder Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet zu haben?
4. Ist der Angeklagte schuldig, durch eine
fernere selbständige Handlung als Pflegevater mit seinem Pflegekinde unzüchtige
Handlungen verübt zu haben?
Eine
fünfte Schuldfrage bezieht sich auf unerlaubten Verkehr des Angeklagten mit
Ursula.
Das Plaidoyer des
Staatsanwalts.
Oberstaatsanwalt D r .
R e i f e n r a t h nimmt
hierauf das Wort zu seinem Plaidoyer.
Wer die blutigen Kindergestalten der Dorothea
Rohrbeck und Ursula Schade gesehen und wer wenige Tage später Tage später bei
der Bestattung Dörte im weißen Kleide, das sie als höchstes begehrte, gesehen,
den wird bis ins Innerste bewegt haben der Gedanke vom Werden und Vergehen,
aber auch das Gefühl der Empörung und das Verlangen, die furchtbare Tat
aufzuklären und zu sühnen.
Vieles ist in den Prozeß hineingetragen
worden, um den Angeklagten richtig zu bewerten, um aus Nebenumständen zu
erkennen, ob er die Persönlichkeit ist, die diese Straftaten begangen hat und
der man die Straftaten zutrauen kann.
Grupen hatte den Verkauf seines Grundstücks
in Ottenbüttel in die Wege geleitet, er stand vor der Möglichkeit, seine
Wohnung zu haben. Daher drängte er am 5. Februar zur Reise nach Kleppelsdorf.
Seiner Schwiegermutter war diese Reise im Winter nicht sympathisch. Aber Grupen
ließ von seinem Plan nicht ab. Er meldete die Kinder ab und traf alle Anstalten
für eine längere Reise. Frau Eckert machte ausdrücklich darauf aufmerksam, daß
sie nicht ohne Einladung nach Kleppelsdorf gehen und nicht noch die Kinder
mitnehmen könnte. Der Angeklagte beschwichtigte sie und sagte, er habe die
Kleppelsdorfer auf den großen Besuch vorbereitet. Er hatte aber weiter nichts
getan, als in einem Telegramm seinen Besuch mit der Großmutter anzukündigen. In
Kleppelsdorf gab es großes Erstaunen darüber, daß statt des erwarteten Grupen
und seiner Schwiegermutter auch noch die Kinder und noch eine Stütze kamen. Da
man im Schloß Kleppelsdorf die Doppelrolle erkannt hatte, die Grupen in dem
Prozeß gegen den Vormund spielte, suchte man Klarheit zu schaffen, und fuhr
schon am nächsten Tage zum Rechtsanwalt Dr. Pfeiffer nach Hirschberg, um
Grupens Ansprüche zu regeln. Der Angeklagte hat damals selbst erklärt, in einer
Zwickmühle zu sein. Dörte Rohrbeck wird es unheimlich zu Mute. In ihrer Herzensangst
geht sie zur Oberschwester Kube, die sich darüber gewundert hat, daß Grupen mit
seinem saloppen Aussehen der Mann der Frau Schade ist. Ein großes Unheil kündet
sich dumpf im Innern des Menschen an: Dorothea sagt zur Oberschwester: „Du
liegst hier geborgen, mich aber graut´s, in mein Haus zu gehen.“ Fräulein Zahn
und Dörte wunderten sich, daß Grupen keine Vorbereitungen zur Abfahrt traf,
nachdem die geschäftlichen Angelegenheiten beim Rechtsanwalt Dr. Pfeiffer
erledigt waren. Grupen aber mußte bleiben, weil der Zweck seiner Reise noch
nicht erreicht war. Innere Erregung bemächtigte sich seiner, die er
unterdrücken und nach außen hin vertuschen mußte. Daher tanzt er, tanzt mit
allen, sogar mit der 74 Jahre alten Schwiegermutter. So kam der 14. Februar.
Der Staatsanwalt, von dem der Angeklagten
nicht einen Blick wendet, schildert die Vorgänge kurz vor der Entdeckung der
Bluttat. Grupen hatte das Bestreben, an jenem Vormittag, wo er mit Irma und der
Mohr im Beisein der Großmutter Mühle spielte, bei seiner Umgebung, namentlich
bei Frl. Zahn, den Glauben zu erwecken, daß er das Z i m m e r
n i c h t v e r l a s s e n hat. Er knüpft mit der im Nebenzimmer
rechnenden Erzieherin Zahn eine Unterhaltung über nichtssagende Dinge an,
bringt ihr Apfelsinen zum Schälen und geht im Zimmer auf und ab. Es kommt
der
Moment der Tat.
Irma wird vom Vater mit den Apfelschalen
fortgeschickt. Der Vater folgt ihr bis zum Schrankzimmer; ob er weitergegangen
ist, kann das Kind nicht sagen. Irma wird, als sie zurückkommt, von Frl. Zahn
gerufen, um nach Dörte und Ursula zu sehen. Da hält Grupen das Kind noch einige
Augenblicke zurück, zweifellos, weil er fürchtete, seine Opfer könnten ihr
Leben noch nicht ausgehaucht haben, könnten noch nicht verstummt sein. Dann
geht Irma hinunter, kehrt aber bald wieder zurück und meldet, Dörte und Ursula
gerufen, jedoch keine Antwort erhalten zu haben. Fräulein Zahn schreitet in
diesen Augenblicken durch das Zimmer des Angeklagten. Warum sah er sich bei
dieser Gelegenheit Frl. Zahn außerordentlich scharf an? Weil er ihr ins
Bewußtsein bringen wollte: I c h b i n
d a !
D a s
V e r b r e c h e n w i r d e n t d e c k t . Grupen ist einer der ersten im Mordzimmer.
Bald läuft er zurück und begegnet auf der Treppe Frl. Zahn. Mit ihr geht er
wieder an den Schauplatz des Verbrechens und da bittet ihn Frl. Zahn
vergeblich, ihr zu helfen, die Opfer aufs Bett zu legen. Wie bei allen
Blutverbrechen, kann auch hier d e
r T ä t e r d i e
O p f e r n i c h t a n f a s s e n . Erst nach dreimaliger Aufforderung tut er es
mit sichtlicher Ueberwindung. Vorher hat er
d i e P i s t o l e aufgehoben, die bezeichnenderweise zur
Linken der Ursula lag, während sie auf der rechten Seite hätte liegen müssen.
Als der erste Arzt kam, hat Grupen die Dreistigkeit, ihn zu fragen: „Kann man
der Ursula nicht etwas geben, daß sie noch etwas sagen kann?“
Der Staatsanwalt zählt alles auf, was Grupen
sonst noch schwer belastet. Wenn Grupen, als der Landjäger erschien, jammerte
und sich an die Kinder herandrängte, so mag es möglich sein, daß der Tod
Ursulas ihn in einen gewissen Grad von Trauer versetzte. Aber wie kann jemand,
der ein reines Gewissen hat, zu dem Landjäger bald nach der Entdeckung der Tat
sagen: „Ich werde wohl s c h o n bewacht?“ Warum sagte Grupen, als er abgeführt
wurde: „Wenn Ihr wißt, daß ich das Z i
m m e r n i c h t v e r l a s s e n habe, bin ich morgen wieder frei.“ Die dicken
Mauern des Mordzimmers sind dem Angeklagten zum größten Verhängnis geworden.
Wenn Menschen schweigen, werden Steine reden. Und die Steine in dem
quadratischen Zimmer sagen uns, daß die
P a t r o n e n h ü l s e n
nicht anders fallen konnten, daß
kein
Selbstmord, sondern Mord
vorliegt.
Der Großmutti-Brief ist kein Abschiedsbrief,
sondern ein eigener Anklagebrief für den Täter. Auch in den Abschiedsbriefen
seiner Frau hat er Wert darauf gelegt, sich zu entlasten.
Der Angeklagte war ein Mensch von
außerordentlich starkem Willen, der auf seine Umgebung einen sehr großen
Einfluß ausübte, einmal durch die Suggestion und dann durch die sexuelle Hörigkeit,
wie sie Professor Moll dargelegt hat. Die Ursula stand völlig in seinem Bann,
und so veranlaßte er sie zum Schreiben des Briefes an Großmutti. Das Kind
hatte, wie Professor Dr. Schneidemühl bekundete, kein Bewußtsein von dem Inhalt
des Briefes. Es hat sich nicht feststellen lassen, wer das Wort „traurige“ in
den Brief eingefügt hat; aber dieses Wort paßt zu dem sonstigen Inhalt des
Briefes wie die Faust auf das Auge. Der Angeklagte hat, das ist unzweifelhaft,
die Ursula zum Schreiben dieses Briefes veranlaßt, um Ursula als ein
gemütskrankes Kind hinzustellen, dem man die Tat wohl zutrauen könnte.
Der Angeklagte hat aber noch andere
Enttäuschungen in dieser Verhandlung erlebt: Die Aussagen der Zeugen, die mit
ihm im Augenblick der Tat zusammen waren.
F r a u E c k e r t hat jetzt die Möglichkeit zugegeben, daß der
Angeklagte das Zimmer verlassen hat, während sie früher sagte, sie könne
beschwören, daß der Angeklagte nicht einen Augenblick das Zimmer verlassen hat.
Aus dem Gutachten von Professor Moll ergibt sich, daß es sehr wohl möglich ist,
daß jemand sich zunächst auf Wahrnehmungen nicht erinnert, sie später aber in
das Gedächtnis zurückruft. Es ist kein Zweifel, daß die jetzigen A u s s a g e n d e r
F r a u E c k e r t und auch der I r m g a r d , die ja jetzt nicht mehr
unter dem Einfluß des Angeklagten stehen, richtig sind. Bei dem Zeugnis
der M o h r ist zu beachten, daß sie damals während
ihrer Wahrnehmungen vollständig unter dem Einfluß des Angeklagten stand. Sie
hat auch sonst schlecht beobachtet. Sie las in einem Märchenbuche, und man weiß
ja, wenn junge Mädchen sich mit Märchen beschäftigen, dann haben sie keinen
Sinn für die Außenwelt. Sie hat daher nicht gesehen und gehört, wir Fräulein
Zahn zweimal durch das Zimmer ging, um eine Schüssel zu holen, daß der
Angeklagte mit der Irma bis zur Türe des Schrankzimmers ging, sie hat nicht
beobachtet, daß dauernd Mühle gespielt und gerechnet wurde, daß der Angeklagte
zweimal zu Frl. Zahn ins Zimmer ging und mit ihr sprach. Die Zeugin kann daher
wohl der Meinung gewesen sein, daß das, was sie sagt, die Wahrheit ist, in
Wirklichkeit ist es aber nicht die Wahrheit.
Der Staatsanwalt betont, daß nach den
übereinstimmenden Gutachten der Sachverständigen ein Selbstmord der Ursula
vollständig ausgeschlossen ist. Die Tat hat sich nach Ansicht des Staatsanwalts
folgendermaßen abgespielt: Durch Ursula hat der Angeklagte die Dorothea, die
sonst stets ein Zusammensein mit ihm vermied, nach dem unteren Zimmer gelockt.
Dann ist der Angeklagte hinzugekommen, hat den ersten Schuß auf die Dörte, den
zweiten auf die Ursula und den dritten, den Fangschuß, auf Dörte abgegeben. Das
beweisen die Gutachten der Sachverständigen und die Lage der Patronen. D i e s e
T a t s a c h e n s i n d K e u l e n s c h l ä g e , die den Angeklagten zerschmetterten.
(Bei Schluß der Redaktion dauert das
Plaidoyer noch fort.)
Dienstag, den 20. Dezember 1921, „Der Bote
aus dem Riesengebirge“
Mittwoch, den 21. Dezember 1921, „Der Bote
aus dem Riesengebirge“
Die
Verteidigung im Mordprozeß.
Ueberzeugt
von der Unschuld Grupens.
Hirschberg, 20. Dezember
Der Prozeß ist in der Nacht zu Dienstag n i c h t
z u E n d e
g e g a n g e n , wie anfänglich
angenommen worden war, denn die Reden der beiden Verteidiger schöpften das
gesamte Material so …lich aus, daß die erste Rede etwa 5 ½ Stunden und die
zweite 4 Stunden in Anspruch nahm. So mußte in der Nacht um 2 Uhr die Verhandlung
noch einmal vertagt werden. Man wird sich der Ansicht nicht verschließen
können, daß hier für den Angeklagten geleistet worden ist, was irgend geleistet
werden konnte. Ob die Geschworenen sich in ausreichender Zahl den Ansichten der
Verteidigung anschließen werden, bleibt natürlich abzuwarten. Heute Dienstag,
hat zunächst der Staatsanwalt abermals in längeren Ausführungen gesprochen,
denen die beiden Verteidiger antworten werden. Auch dann findet möglicherweise
noch mal Rede und Gegenrede statt, und die Beratung der Geschworenen dürfte
ebenfalls erheblich Zeit in Anspruch nehmen, so daß das Urteil möglicherweise
erst am späten Nachmittag zu erwarten ist.
Ueber die Reden der Verteidiger berichten wir
folgendes:
Fortsetzung
der Rede des Staatsanwalts.
Der S
t a a t s a n w a l t geht in seiner
weiteren Rede kurz auf Grupens Persönlichkeit und Vermögensverhältnisse ein.
Bezeichnend dafür, wie Grupen hoch hinaus wollte, ist die Tatsache, daß er sich
den Titel „Architekt“ beilegte, der ihm nicht zusteht. In seinen
Liebesverhältnissen spielte der Revolver einmal eine charakteristische Rolle, -
ein Beweis, wie Grupen vor keinem Mittel zurückschreckte, andere unter seinen
Willen zu zwingen. Von Hause aus war Grupen fast mittellos. In Hamburg bezog er
Erwerbslosenunterstützung, er versetzte seinen Mantel und lieh sich einen von
dem Vater seiner damaligen Braut. Sein höchstes Bestreben war, reich zu
heiraten, um zu Geld zu kommen. Darum ließ er sich sofort nach der Verheiratung
mit Frau Schade von dieser und von seiner Schwiegermutter Generalvollmacht
geben; das Vermögen seiner Frau genügte ihm nicht, er wollte auch das der
Schwiegermutter haben. Wenige Monate, nachdem sich Grupen auf diese Weise in
den Besitz von Vermögen gesetzt hatte, verschwand seine Frau. In diesem Prozeß
kommt es nicht darauf an, das Verschwinden der Frau Grupen abschließend zu
behandeln, sondern es nur zur Charakterisierung des Angeklagten
heranzuziehen. F r a u G r u p e n
i s t s e h r w a h r s c h e i n l i c h d u r c h
d i e H a n d d e s
A n g e k l a g t e n z u m e w i g e n
S c h w e i g e n g e b r a c h
t w o r d e n . Wenn es in den sogenannten Abschiedsbriefen
der Frau Grupen heißt: „Du darfst nicht denken, daß Peter die Veranlassung war“
und „Nimm dir den Onkel Peter zum Beispiel, der sehr, sehr viel verloren hat“ -
so handelt es sich auch hier um von dem Angeklagten selbst diktierte
Entschuldigungen, die aber in Wirklichkeit Anschuldigungen gegen ihn sind. Mit
den Abschiedsbriefen der Frau hat der Angeklagte die erste Probe darauf
gemacht, wie derartige Briefe wirken, ob sie den beabsichtigten Erfolg haben,
den Verdacht vom Täter abzulenken. Nach der Verheiratung mit Frau Gertrud
Schade spielte sich Grupen als der große Mann auf. Trotzdem sah er sich
gezwungen, den Pelzkragen seiner Schwiegermutter und den Regenmantel seiner
Frau in Hamburg für 150 Mark zu versetzen. Grupen hat überhaupt immer nur über
das Allernotwendigste verfügt. Als ihn im Sommer 1920 Frl. Zahn mit Dörte in
Itzehoe besuchte, prahlte er mit seinen überreichen Mitteln, aus denen er für
Dörte Zuschüsse gewähren wolle. Nicht lange Zeit darnach versetzte er das
Silber, verkaufte er die Ringe seiner Frau. Bemerkenswert ist das Doppelspiel,
das der Angeklagte in dem Verhältnis zwischen Frl. Zahn und dem Vormund
gespielt hat. Dieses Doppelspiel beleuchtet grell die Unaufrichtigkeit und
Unwahrhaftigkeit des Angeklagten, der wegen der vor dem Notar Dr. Pfeiffer
abgegebenen falschen eidesstattlichen Versicherung noch zur Verantwortung gezogen
werden wird.
Unter
Ausschluß der Oeffentlichkeit
behandelt der Staatsanwalt den zweiten Teil
der Anklage, Grupens Sittlichkeitsverbrechen. Skrupellos hat der Angeklagte
Mädchenunschuld und Frauenehre beiseite geworfen. Aber er hätte sich bemühen
müssen, zu erfahren, woher die häßliche Krankheit Ursulas gekommen ist; er tat
es aber nicht, weil er wußte, daß er die Schuld an der Krankheit hatte. Die
Geschworenen werden den Angeklagten des Sittlichkeitsverbrechens, das ihm zur Last
gelegt wird, schuldig sprechen müssen.
Der Staatsanwalt erinnert am Schluß seiner
vierstündigen Rede an die Mordprozesse Ellsel, Süßmuth und …Bei diesen
Verbrechen ist Habgier die Triebfeder gewesen, und H a b g i e r , der Wille, frei schalten und walten zu
können, ist auch das Motiv der Tat des Angeklagten. Nachdem er sich nicht durch
Heirat in den Besitz des schönen Gutes Kleppelsdorf setzen konnte, nachdem es
ihm nicht gelungen war, wenigstens die Bewirtschaftung des Gutes zu erlangen,
schritt er zur Gewalt. Dorothea Rohrbeck mußte sterben und mit ihr die Zeugin
der Tat, die kleine Ursula. In der Verteidigung hat der Angeklagte mit seinen
Anwälten, den berühmtesten der Provinz, gewetteifert, jedem Angriff zu
begegnen. Aber Punkt für Punkt ist er durch Tatsachen überführt, durch
Tatsachen widerlegt worden. Und wenn er einmal etwas kleinlaut wurde und Fragen
nicht beantwortete, da hatte man das Gefühl: hier gibt es einen kläglichen
Rückzug. Unaufrichtig, wie er sich in seinem Vorleben gezeigt hat, ist er auch
in der Verhandlung gewesen. Er hat sich bemüht, alles zu verändern und zu
entstellen, was ihn belasten könnte. Er hat es sogar fertig gebracht, als sein
Verteidiger sagte: „Hier geht es um den Kopf des Angeklagten!“ zu lächeln. Zu
einem solchen Lächeln gehört eine unendliche Dreistigkeit, ganz gleichgültig,
ob man schuldig oder unschuldig ist. Chate…, der große Menschenkenner, sagt:
„Ich muß mirs niederschreiben, daß einer lächeln kann und wieder lächeln und
doch ein Schurke sein.“ N u r d e r
A n g e k l a g t e k o n n t
e e i n e n d e r a r t i g e n M o r d
b e g e h e n . Ich bitte den
Angeklagten im vollen Umfange der Anklage schuldig zu sprechen.
Bald nach kurzer Mittagspause nahm
Justizrat
Dr. Ablaß,
der erste Verteidiger Grupens, das Wort: Die
wahre Beredsamkeit besteht darin, nur das zu sagen, war zur Sache gehört. Hatte
der Staatsanwalt dieses Lächeln bemerkt, dann mußte er das damals zur Sprache
bringen, um dem Angeklagten Gelegenheit zu geben, sich dazu zu äußern. Es gibt
dich auch ein Lächeln des Zornes, des … und der Verachtung. Ich kann als
Verteidiger nicht dulden, daß hier etwas vorgebracht wird, das nicht Gegenstand
der Verhandlung war.
Der Staatsanwalt hat ferner gesagt, daß der
Angeklagte sich die beiden besten Verteidiger Schlesiens gewählt habe, er
wollte damit den Anschein erwecken, daß der Angeklagte eine besonders gerissene
Verteidigung nötig habe. Diese Bezeichnung des Staatsanwalts muß ich für meine
Person entschieden ablehnen. Ich habe die Verteidigung übernommen, nicht um der
Gerechtigkeit in den Arm zu fallen, sondern um mitzuwirken am Finden der
Wahrheit. Ich habe niemals eine Anklagte gefunden, die sich so wenig auf
Tatsachenmaterial stützte wie in diesem Falle. Aber wir haben hier weniger zu
kämpfen gegen die Tatsachen, als g e g
e n d i e ö f f e n t l i c h e M e i n u n g . Das ist das Furchtbarste und Entsetzlichste
in dieser ganzen Sache. Man spricht hier viel von Suggestion, aber das
Furchtbarste ist die M a s s e n s u g
g e s t i o n . Wenige Tage nach dem
Morde brachte das hier gelesenste Blatt einen Artikel, der Grupen direkt als
überführten Mörder bezeichnete. Sie, meine Herren Geschworenen, sollen erst das
Urteil sprechen, aber die öffentliche Meinung hat schon ein Vorurteil
gesprochen. Es ist hier, als ob die Verteidigung gegen ein dunkles Phantom
kämpfte, als ob wir Hiebe in die Luft führten.
Wie weit dieses Vorurteil geht, haben wir
gesehen bei der Vernehmung des Untersuchungsrichters D u b i e l , der sagte, daß er den Angeklagten für
schuldig erachte, und das er von allen Seiten von Leuten umgeben war, die ihn
für schuldig hielten. Da ist seine Art der Vernehmung begreiflich, daß er jedes
Wort erwog oder daß er sich die Erklärung für die Hauptverhandlung aufsparte.
Dann kritisierte der Verteidiger die
Aeußerung des Landgerichtsrats Pietsch, daß der Angeklagte sich wie ein wildes
Raubtier auf ihn habe stürzen wollen, und das Verhalten des Rechtsanwalts R e i n e c k e , der die Vertretung von Frau Eckert und die
Abwesenheitspflege für Frau Schade übernahm, als er noch das Mandat des
Angeklagten hatte.
Der Angeklagte kämpfte einen schwere
Kampf, w e i l m a n
i h m n i c h t g l a u b t . Als die Geschworenenbank gebildet wurde, haben
wir dahin gestrebt, daß Männer aus allen Schichten des Volkes und mit scharfer
Intelligenz bestimmt wurden, in der Hoffnung, daß sie sich eifrig an der Suche
nach der Wahrheit beteiligen würden. Aber man hatte oft in der Verhandlung die
Auffassung, als ob man vielfach auf eine
A b a r t des Scharfsinns,
den S p ü r s i n n , stoße, der sich nur nach einer Richtung hin
betätigt, - im vorliegenden Falle nur in der Richtung, die Schuld des
Angeklagten zu beweisen, und alle anderen Spuren, die ihn nicht belasten,
beiseite läßt.
Befreien wir uns von der Massensuggestion,
die zu dem größten Trauerspiel der Welt geführt hat, als das Volk in Jerusalem
schrie: K r e u z i g e i h n !
Wir haben im Weltkriege die Massensuggestion der Welt gegen uns gesehen,
die hervorgerufen wurde durch die M a c
h t d e r P r e s s e . V o n
d e r P r e s s e ging solche
S u g g e s t i o n d e r ö f f e n t l i c h e n M e i n u n g aus, die wir zu unserem Leidwesen an uns
erfahren haben. Jetzt soll aber hier die Stunde der nüchternen Vernunft
beginnen, jetzt soll die Schranke fallen, die sich anscheinend zwischen uns und
den Geschworenen ausgerichtet hat.
Justizrat Dr. Ablaß schildert zunächst
den K l e p p e l s d o r f e r P e r s o n e n k r e i s und kommt dabei auf F r l .
Z a h n zu sprechen. Ich kann
ihren Standpunkt in der Vormundschaftssache verstehen und zweifle nicht an
ihrer Wahrheitsliebe, denn ich werde mich später selbst auf ihre Aussagen
stützen müssen. Andererseits verstehe ich aber auch den Standpunkt des V o r m u n d e s , der seine Aufgabe als Vermögensverwalter
eines altpreußischen Offiziers zu lösen suchte und Einfachheit und Sparsamkeit
zum Ziele hatte. Seine Ansicht, daß sich jeder jetzt einschränken müsse, ist
mir besonders sympathisch. Der Vormundschaftsrichter, Amtsgerichtsrat T h o m a s , ist ein Richter von anerkannter
Pflichttreue, großem Willen und Unabhängigkeit sowie großem Takt, der sicher
nach bestem Wissen und Gewissen als der mit den Verhältnissen Vertraute sich
der Ansicht des Vormundes angeschlossen hat. Welche von den Parteien Recht
hatte, will ich nicht entscheiden, aber es ist Tatsache, daß zwischen Fräulein
Zahn und dem Vormund ein erbitterter Rechtsstreit bestand. Zwischen diesen
Parteien gab es keine Verständigung.
Auf der anderen Seite stand der P e r s o n e n k r e i s v o n
I t z e h o e u n d O t t e n b ü t t e l . Da ist zunächst die F r a u
d e s A n g e k l a g t e n
, die verwitwete Schade. Sie war nicht
die „edle Frau“, als die sie der Staatsanwalt hingestellt hat. Das Ehepaar
Neugebauer hat erklärt, daß Frau Ecker und Frau Schade versucht haben, die
kleine Ruth Reske, das Pflegekind der Frau Schade, um ihr Vermögen zu bringen,
während der Angeklagte auf jedes Erziehungsgeld verzichtet und versucht hat,
dem Kinde wenigstens einen Teil der geringen Habe zu retten. Sogar aus dem
Gefängnis hat er der Ruth noch 5000 Mk. angewiesen. Man sagt, der Ruf der Frau
Schade sei nicht gut gewesen. Ich will auf diese Gerüchte nichts geben, aber
dann, meine Herren Geschworenen, dürfen Sie auch nicht auf die Gerüchte geben,
die gegen den Angeklagten vorgebracht werden. Dann schildert der Verteidiger
den
Charakter
des Angeklagten
und schildert dessen Lebenslauf, aus dem
hervorgeht, daß er doch das sonst immer als löblich anerkannte Streben hatte,
durch eisernen Fleiß und fortgesetztes Lernen sich fortzubilden und aus den
einfachen Verhältnissen, aus denen er stammte, emporzukommen. Die Ehe mit
seiner Frau muß zunächst recht glücklich gewesen sein, später ist es dann zu
Differenzen gekommen, an denen aber der Angeklagte nicht allein Schuld trägt.
Zu den Kindern, die Frau Grupen mit in die Ehe brachte, ist der Angeklagte gut
gewesen. Macht das ein Schurke, als welchen der Staatsanwalt den Angeklagten
hinstellt, daß er jeden Abend mit den Kindern betet?
In
nichtöffentlicher Sitzung
gibt der Verteidiger das L i e b e s l e b e n d e s
A n g e k l a g t e n
rücksichtslos preis. Er schildert die verschiedenen Verhältnisse, die
der Angeklagte teilweise zu gleicher Zeit unterhielt, oder in einer Weise
löste, die sich nicht beschönigen läßt. Er leuchtet in das Eheleben des
Angeklagten hinein und führt Tatsachen an, die es ihm glaublich erscheinen
lassen, daß die Frau an der Zerrüttung des Ehelebens die Schuld trug. Aber man
könne nicht ohne weiteres die Schuld der Frau ablehnen und sie dem Angeklagten
zuschieben. Der Angeklagte habe sich gewiß bei seinen vielfachen Beziehungen
nicht einwandfrei benommen. Aber pervers sei er nicht. Im übrigen sei ein
schwerwiegender Anlaß vorhanden, an der Zuverlässigkeit des als
Sachverständiger vernommenen behandelnden Arztes zu zweifeln. Der
Sachverständige muß sich, nach Annahme der anderen Sachverständigen und des
Staatsanwalts in einem wichtigen Punkt geirrt haben. Hat er sich aber da
geirrt, so sind auch andere Irrtümer möglich. Dann ergeben sich Rätsel, und die
Geschworenen sind nicht dazu da, Rätsel zu raten. Er habe den Antrag auf mildernde
Umstände nicht gestellt, weil die Verteidigung den Angeklagten für unschuldig
halte.
Nach Wiederherstellung der Oeffentlichkeit
setzte Justizrat D r . A b l a ß
sein Plaidoyer bei Lampenlicht - die elektrische Beleuchtung versagte
plötzlich. - fort.
Der Staatsanwalt hat alles zusammengestellt,
was ihm zur Ueberführung des Angeklagten dienlich erschien, ohne dabei die
Zeitfolge innezuhalten. Ich habe mich in diesem Prozeß der Riesenaufgabe
unterzogen, alle Tatsachen zeitlich richtig zusammenzustellen. Und als ich das
getan hatte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und das, was von der
Staatsanwaltschaft als schwerstes Belastungsmoment angeführt wird, erscheint
als völlig untergeordneter Vorgang.
Grupens Bereitwilligkeit, dem Frl. Zahn
Zuschüsse für Dörte zu zahlen, ist nur eine gewisse Wichtigtuerei. Wenn Frau
Eckert ihrem Schwiegersohn Hypotheken abgetreten hat, ohne Gegenwert zu
erhalten, so ist dies auf dem Lande ein nicht seltener Vorgang in allen den
Fällen, wo alte Eltern von ihren Kindern mit Unterhalt und Wohnung bis zum
Lebensende versorgt werden. Die Idee, daß Frau Grupen ein willenloses Werkzeug
in der Hand des Angeklagten gewesen sei, ist eine Hypothese, die Geschworenen
dürfen aber auf Hypothesen ihr Urteil nicht stützen. Die Staatsanwaltschaft hat
es mit Recht unterlassen, gegen Grupen Anklage wegen des V e r s c h w i n d e n s s e i n e r
F r a u zu erheben, denn sie
sagft sich, wenn die Frau morgen auftaucht, bricht die Anklage in sich zusammen.
Die Staatsanwaltschaft erkennt an, daß sie in diesem Punkte einen Beweis nicht
führen kann, aber sie sagt sich, wenn wir Grupen die Schuld an dem Verschwinden
seiner Frau auch nicht beweisen können, so wird er doch stark verdächtig
erscheinen, und gelingt es uns, ihn stark verdächtig erscheinen zu lassen, so
muß dies psychologisch wirken. Das ist aber etwas, wogegen ich kämpfe. Die
Staatsanwaltschaft sagt, die Geschworenen brauchten sich mit Beweisen in der
Angelegenheit der Frau Grupen nicht zu befassen. Aber ich frage, wenn man zu
der Ueberzeugung kommt, daß der G r o ß m u t t i - B r i e f unter dem Einfluß des Angeklagten
geschrieben ist, so können die Geschworenen auch annehmen, daß Frau Grupen ihre
Abschiedsbriefe unter dem Einfluß ihres Mannes geschrieben hat. Der in der
Toilette gefundene zerknüllte E n t w u
r f d e s A b s c h i e d s b r i e f e s der Frau Grupen soll vom Angeklagten dorthin
gelegt worden sein. Der Entwurf wurde gefunden, noch ehe die Frau fort war. Zu
glauben, daß der Angeklagte das Papier wirklich dorthin gelegt hat, ist sinnlos;
denn zweifellos hätte er es erst nach der Abreise seiner Frau fortgeworfen,
weil durch das vorzeitige Auffinden des Zettels der Plan des Angeklagten
vereitelt worden wäre. Es ist lediglich ein Zufall, daß trotz des baldigen
Auffinden des Abschiedsbriefes die Auslandsreise der Frau Grupen nicht
verhindert worden ist.
Alle acht Abschiedsbriefe der Frau Grupen
sind streng individuell geschrieben, nicht einer gleicht dem anderen. Die
Staatsanwaltschaft beruft sich für die Richtigkeit der Behauptung, daß die
Briefe unter Grupens Einfluß zustande gekommen seien, aus das Gutachten der
Sachverständigen. Ich habe vor den Sachverständigen den größten Respekt, aber
die Wissenschaft, auf die sie ihre Gutachten stützen, ist wandelbar. Wie sieht
es mit dem Gutachten der Sachverständigen für Suggestion aus, wenn der
Angeklagte mit seiner Frau über das Verschwinden einig gewesen ist, wenn die
Frau in Erkenntnis ihrer Schuld, in dem Vorsatz, ein neues Leben zu beginnen,
mit dem Einverständnis des Mannes wirklich nach Amerika ausgewandert ist? Wo
bleiben die Gutachten, wenn das, was sich an jenem Sonntag nachmittag in
Itzehoe ereignete, der adäquate Entschluß eines freien Willens gewesen ist?
Gegen den Angeklagten muß auch Dörtes Karte aus Berlin herhalten, die Fräulein Zahn
bittet, bald nachzukommen, „sonst hänge ich mich“. Dörte ist damals in
vergnügtester Stimmung gewesen; sie hat mit ihrer Freundin in Berlin Dressel
und Kranzler besucht, sie hatte nicht die geringste Spur von verzweifelter
Stimmung an den Tag gelegt. Warum hat sich der Angeklagte überhaupt in die
Kleppelsdorfer Angelegenheit eingemischt? Ist es nicht möglich, daß er sich angesichts
der Zwistigkeiten mit dem Vormund, angesichts der schlechten Wirtschaft auf dem
Gute und der Geldknappheit der Erzieherin sagte, den mißlichen Verhältnissen
macht am besten der Verkauf des Gutes ein Ende. Der Angeklagte war stark in
Grundstücksgeschäften, und er hatte einen ungeheuer reichen Mann, den Maas,
hinter sich. Er konnte also den Verkauf bewerkstelligen, ohne selber das Gut zu
kaufen.
D r .
A b l a ß geht nun ausführlich
auf die
Ereignisse
des 14. Februar
ein. Den Großmutti-Brief, der auch eine
Grundlage der Anklage bildet, würde der Angeklagte nicht aus der Hand gegeben
haben, er würde ihn behalten haben, um ihn im gegebenen Augenblick in die
Tasche der Ursula zu praktizieren. Wir haben aber gehört, daß Ursula den Brief
wiederholt der Mohr gegeben und wiederholt zurückverlangt hat. Unwahr ist die
Behauptung, Ursula habe der Mohr den Brief gegeben mit den Worten: „Das ist
eine f r e u d i g e Ueberraschung für Großmutter!“ Es ist
erwiesen, daß Ursula nur gesagt hat: „Das ist eine U e b e r r a s c h u n g ! „ Das „freudige“ ist eine Einschaltung der
Anklage. Die Sachverständigen meinen, dieser Brief würde anders aussehen, wenn
Ursula ihn als Selbstmörderin geschrieben hätte. Ich aber bin der Ansicht; ein
Kind ist nicht fähig, wie ein Erwachsener seine Stimmung zu Papier zu bringen.
Der Verteidiger wendet sich mit ganz besonderer
Entschiedenheit gegen die Behauptung der Staatsanwaltschaft, daß Grupen zurzeit
der Tat d a s Z i m m e r
v e r l a s s e n habe. Die
Zeugnisse der kleinen Irma und der Frau Eckert erkennt der Verteidiger nicht
an. Ihm kommt dabei der Gedanke, daß bei Irma eine Erinnerungstäuschung
vorliegt infolge der suggestiven Experimente des Direktor Wrobel.
Aus den Einzelheiten beim Auffinden der
Leichen wird zu Ungunsten des Angeklagten angeführt, er habe sich erst nach
dreimaliger Aufforderung von Fräulein Zahn dazu verstanden, die tote Dörte aufs
Bett zu legen. Eine Augen- und Ohrenzeugin hat nur e i n e
Aufforderung gehört, ganz abgesehen davon, daß feststeht, daß der
Angeklagte sich um die mit dem Tode ringende Ursula, sein Kind, bemüht hat.
Bezüglich der P a t r o n e n h ü l s e n gehört ein starker Glaube dazu, den
Sachverständigen zu folgen in dem Urteil, daß die Hülsen nicht verschleppt
worden sind. Die Hülsen sind unmöglich an der Stelle gefunden worden, wo sie
hingefallen waren, denn die Hausbewohner und dann verschiedene andere Personen
haben das kleine Zimmer betreten, ohne an die Hülsen zu denken.
Der Verteidiger tritt hierauf den
Ausführungen des Staatsanwalts entgegen, daß der Täter aus Habsucht gehandelt
habe. Grupen hätte nie der Erbe von Kleppelsdorf werden können, was er
tatsächlich nicht geworden ist, obschon Dörte Rohrbeck nicht mehr lebt. Auch
als Erbe der Frau Eckert wäre er niemals in Betracht gekommen.
Niemand wird glauben, daß es möglich ist, das
Verbrechen in 59 Sekunden auszuführen. Gerade der Angeklagte hätte sich
zweifellos gesagt: in einem Hause, wo ich bekannt bin, in einem Hause, wo ich
jeden Augenblick jemand begegnen kann, wäre es hirnverbrannt, am hellen Tage
eine solche Tat zu vollführen.
D r .
A b l a ß schließt seine
fünfeinhalbstündigen Ausführungen wie folgt: Glauben Sie mir, meine Herren Geschworenen,
daß es mir nicht leicht fällt, eine S e
l b s t m o r d d e r k l e i n e n U r s u l a
n i c h t v o n d e r
H a n d z u w e i s e n . Für mich gibt es nur die Erklärung: das
unglückliche Kind hat im Augenblick tiefster seelischer Depression - nicht im
Irrsinn - den Entschluß gefaßt, aus dem Leben zu scheiden. Es war wohl nach den
Umständen eine anormale Tat, die aber aus den anormalen Verhältnissen erklärt
werden kann. Mir jedenfalls f e h l e
n d i e U n t e r l a g e n d a f ü r ,
d a ß d e r A n g e k l a g t e d i e
T a t g e t a n h a b e n
m u ß . Wenn ich Ihnen, meine
Herren Geschworenen, das Votum empfehle, die Schuldfrage wegen Mordes zu v e r n e i n e n , so seien Sie dessen sicher, daß ich es nicht
tue, um einen Triumph vor der Oeffentlichkeit zu erringen. Ich verachte die
Oeffentlichkeit - das wissen Sie aus meiner Wirksamkeit. Ich habe hier
ausgehalten wie ein Soldat auf treuer Wacht. Mag Ihr Urteil ausfallen, wie es
wolle: ich verlasse diesen Saal hocherhobenen Hauptes. Ich weiß, daß mein
Gewissen rein ist, daß ich nichts getan habe, dessen ich mich zu schämen
brauche. Darum sehe ich Ihrem Urteil mit der Ruhe des gefestigten Mannes
entgegen, der ruhig seinen Schlaf aufsuchen kann, denn er hat sich nichts
vorzuwerfen. Im Schoße der Gerechtigkeit liegt das Schwert, in der Hand hält
sie die Wage. Ich vertraue, daß die schwarzen Kugeln der Belastung im Sinne der
Anklage die eine Wagschale emporschnellen lassen werden, daß aber die Schale
mit den weißen Kugeln der Entlastung sich zugunsten des Angeklagten senken
wird. Wenn aber beide Schalen gleichstehen sollten, dann haben Sie kein Recht,
einen Schuldspruch zu fällen, noch weniger haben Sie das Recht, das Zünglein an
der Wage zu dirigieren. Befreien Sie sich von allem, was in den letzten zwei
Wochen von außen auf Sie eingestürmt ist. Lassen Sie nur Ihr Gewissen Ihren
Richter sein, dann habe ich die Ueberzeugung: Sie haben keinen Fehlspruch
getan, wenn Ihr Urteil lautet: d e
r A n g e k l a g t e i s t
n i c h t s c h u l d i g !
Justizrat
Dr. Mamroth
als zweiter Verteidiger bekundet seine
Uebereinstimmung mit der Auffassung seines Kollegen. Es ist die vox populi, die die Verurteilung des
Angeklagten fordert. Es ist menschlich begreiflich, daß man e i n e n
S c h u l d i g e n h a b e n m ö c h t e . Der Wunsch ist hier der Vater des Gedankens.
Und dieser Wunsch verleitet häufig zu dem Gedanken: derjenige, der als schuldig
bezeichnet wird, wird es auch sein. Diese vos
populi ist aber das Gefährlichste, was es gibt. Es ist ein Gespenst, das
zerfließt, wenn man es mit der Hand greifen will. Schon acht Tage nach der Tat
konnte man in öffentlichen Blättern lesen: Das Scheusal ist gefaßt, und die
öffentliche Meinung vertrat j e n e
r A m t s g e r i c h t s r a t , der uns hier erzählte, daß er von seiner
Frau gehört hätten, eine andere Frau hätte erzählt, daß ihr eine Frau gesagt
habe, der Angeklagte hätte seine Frau eingemauert. Ich erinnere Sie an die Stimmen,
die da erzählten, der Angeklagte habe seine Frau mit dem Schrank erschlagen
wollen, daß die Gegend von Lähn voller Gerüchte war, daß in das Zimmer der
Dörte ein Schrotschuß abgegeben war. Ich erinnere Sie an die vergiftete
Kognakflasche. Sie sehen daraus, welch törichte Meinungen auftauchen, die
selbst von sonst vernünftig denkenden Menschen ernst genommen werden. Auch ich
bitte Sie deshalb, meine Herren Geschworenen, alles auszuschalten, was Ihnen in
dieser Richtung nahegetreten ist und auch vor einem F r e i s p r u c h n i c h t
z u r ü c k z u s c h r e c k e n .
Sie haben hier nicht zu urteilen über Gerüchte, sondern nur darüber, was
die Verhandlung gebracht hat. Die Gefahr, einen irrtümlichen Spruch zu fällen,
erscheint mit hier doppelt und dreifach naheliegend. Erstens, weil Material
herbei gebracht worden ist, den Angeklagten unsympathisch zu machen, daß man
ihm eine solche Tat zutrauen könnte. Wenn ich sonstige Beweise hätte, dann mag
auch ein solches Indizium Geltung haben, aber nicht als Kern der ganzen
Anklage. Zweitens, weil der Fall des Verschwindens der Frau Grupen hier mit
einbezogen worden ist, und drittens, weil eine Reihe von S a c h v e r s t ä n d i g e n aufgetreten ist, die meiner Meinung nach,
nicht wie sie sollten, Gehilfen des Richters, sondern G e h i l f e n d e s
S t a a t s a n w a l t s
geworden sind. Besonders einer, der gewissermaßen als Nebenstaatsanwalt
die Verhandlung beeinflußt hat.
Beim
L i e b e s l e b e n d e s A n g e k l a g t e n kommt Dr. Mamroth zu dem Ergebnis, daß der
Angeklagte keinerlei unlautere Mittel gebraucht habe, sondern daß in jedem Fall
die Hingabe rasch und freiwillig war. Er ist auch kein habgieriger Mensch, kein
Mitgiftjäger gewesen. Er hat allerdings eine ganze Menge taktloser Bemerkungen
zu verantworten, die man auf keinen Fall gutheißen kann. Aber alles das sind
keine Momente, die uns veranlassen könnten, den Charakter des Angeklagten in
Grund und Boden zu verdammen. Er war auch kein schlechter Sohn und Bruder,
sondern er genoß überall Anhänglichkeit und Liebe. Er hat auch Geschäfte
gemacht, nicht immer wählerisch, aber doch solche, die landläufig sind. Auf der
anderen Seite haben wir den Angeklagten als einen überaus fleißigen, strebsamen
und genügsamen Menschen kennen gelernt, dem alle Leute aus seiner Umgebung das
günstigste Zeugnis ausstellten. Die F r
i v o l i t ä t d e r E h e s c h l i e ß u n g dürfte wohl auf seiten der mehr als zehn
Jahre älteren F r a u liegen. Auch sein tapferes und
mustergültiges Verhalten im Gefängnis und in der Verhandlung dürfte für ihn
sprechen und nicht ein Zeichen von Frechheit sein. Auch muß der Richter
Antipathieempfindungen ausschalten.
Der zweite Punkt, der ausgeschaltet werden
muß, ist die Affäre mit dem V e r s c h
w i n d e n d e r F r a u .
Die Möglichkeit, daß Frau Grupen doch nach Amerika gegangen ist, ist
doch vorhanden, denn zu verschiedenen Personen hat sie von einer Reise nach
Amerika gesprochen. Sie war eine starksinnliche, wenn nicht perverse Frau. Der
Staatsanwalt hält es für ausgeschlossen, daß die Frau nach einem anderen Lande
ausgewandert ist, sonst hätte sie zum mindesten jetzt etwas von sich hören lassen,
aber die Frau kann doch auch gestorben sein oder in einer Gegend leben, in der
sie gar nichts von diesen Vorgängen hören kann.
Der Verteidiger geht dann auf das Gutachten
des Professors S c h n e i d e m ü h
l über die A b s c h i e d s b r i e f e d e r
F r a u G r u p e n ein, dem er sich absolut nicht anschließen
kann. Schon mit 10 000 Mark hätte man damals nach Amerika kommen können, und
alle ihre Geschäfte bei dem Rechtsanwalt Reinecke und dem Bankier Goldacker
beweisen, daß sie sich eben Geld verschaffen wollte. Auch die
Paßschwierigkeiten dürften sie an der Ausreise nicht gehindert haben. Dem
Angeklagten würde es doch sicher sehr schwer geworden sein, die Frau auf der
Fahrt im offenen Wagen umzubringen oder sie an der Abreise zu hindern. Alles
das muß man als phantastisch ablehnen und es kann keine Grundlage zur
Verurteilung sein. Was sollte auch das Motiv sein? - höchstens die Chance, zu
einem Viertel der Erbe seiner Frau zu werden. Wenn kein hinreichender Verdacht
zur Erhebung der Anklage in diesem Punkte vorlag, durfte der Staatsanwalt die
Sache nicht heranziehen, sonst wirkt es als Stimmungsmache, die eine
Verlegenheitssache ist. Deshalb müßten die Geschworenen diese ganze Sache aus
ihrem Bewußtsein verschwinden lassen.
Nun die
G u t a c h t e n d e r S a c h v e r s t ä n d i g e n . Ich hatte das Gefühl, daß die Herren alle
nur nach einer Richtung sehen, daß sie alle belastenden Momente in den
Vordergrund, das andere aber in den Hintergrund stellen. Geheimrat Moll hat sein
Gutachten über die ihm gestellte Aufgabe erweitert, indem er auch die
Psychologie der Zeugenaussage heranzog und unter dieser Frage ein Referat und
eine Beweisführung über alle einschlägigen Fragen der ganzen Verhandlung abgab.
Er geht wohl zu weit, wenn er eine besonders starke Suggestion annimmt, wenn
die Frau ihrem Manne folgt, da dies auch aus Liebe oder Respekt geschehen kann.
Auch von einer sexuellen Hörigkeit dürfte kaum die Rede sein. Es bedarf wohl
auch keiner besonderen Suggestion, eine Reihe von Landmädchen zu verführen,
wenn man ein junger kräftiger Mann ist. Das Gutachten des Sachverständigen Dr.
Moll darf bei der Urteilsfällung nicht inbetracht gezogen werden.
Das letzte, was ausgeschaltet werden muß, ist
der Konflikt zwischen Frl. Z a h n und dem Vormund V i e l h a c k und die sogenannten A h n u n g e n d e r
D ö r t e . Ich wundere mich,
daß der Staatsanwalt nicht auch hierfür einen Sachverständigen geladen hat. Der
Angeklagte hat sich nicht in den Konflikt hineingedrängt, es hat ihm aber
geschmeichelt, solch feinen Leuten dienstbar sein zu können. Die 16jährige
Dörte ist ein exaltiertes Mädchen gewesen, deren Worte man nicht voll werten
darf.
Die Anklage wegen des
Sittlichkeitsverbrechens stützt sich auf das Gutachten der Sachverständigen,
die zwar immer von einer Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit, nicht aber von
einer Bestimmtheit reden. Die Anklage wegen des Mordes stützt sich auf das
Motiv der Tat, die Lage der Leichen, das Verlassen des Zimmers. Das Auffingen
der Waffe neben der Leiche spricht entschieden für die Unschuld des
Angeklagten, denn es wäre doch sonst, als wenn er seine Visitenkarte neben sein
Opfer gelegt hätte. Geheimrat Lesser hat geschlossen: die mechanische Art der
Verletzung schließt nicht aus, daß Ursel die Tat vollbracht hat, wenn nicht die
begleitenden Umstände dagegen sprächen. Die Sicherung der Pistole und die Lage
der Patronenhülsen versagen aber nach der Beweisaufnahme. Dies sucht der
Verteidiger eingehend nachzuweisen. Dem Angeklagten standen, wenn er sie verübt
hat, zur Ausführung der Tat 59 Sekunden zur Verfügung. Ist es möglich, daß ein
Mensch in dieser kurzen Zeit hinuntergelaufen, die drei Schüsse abgegeben und
wieder hinaufgeeilt und sich ruhig wieder zum Mühlespiel gesetzt haben soll?
Dann muß er doch auch noch die Patronen in die Unterbindetasche der Ursula
gesteckt haben. Wußte denn überhaupt der Angeklagte, daß die Kinder gerade in
diesem Zimmer waren, in dem sie sich nie aufhielten? Er hätte sie also erst
suchen müssen, da wäre es aber mit 59 Sekunden nicht abgetan gewesen. Das
Verhalten des Angeklagten im Sterbezimmer hält Dr. Mamroth ebenfalls für ein
eminent entlastendes Moment. Der Angeklagte hat sich dabei so benommen, wie es
ein normaler Mensch in solcher Lage tut. Auch seine angeblich belastenden
Aeußerungen sind gänzlich unverfänglich, wenn man annimmt, daß er unschuldig
ist.
Z e r f a l l e n s o
d i e I n d i z i e n b e w e i
s e i n s i c h ,
so liegen noch eine ganze Reihe von
U n w a h r s c h e i n l i c h k e i t e n vor. Hat sich denn der Angeklagte nicht eine
bessere, nicht von soviel Zufälligkeiten abhängige Gelegenheit zur Verübung des
Verbrechens aussuchen können? Konnte er nicht bei dem Gange von und nach dem
Mordzimmer gesehen werden, konnten nicht die beiden Küchenmädchen den Schuß
hören oder das eine Opfer nicht bald tödlich getroffen werden, so daß sie noch
schreien und das Haus alarmieren konnten? Da die Mittagszeit nahe war, mußte
doch auch der Mord spätestens in 15 Minuten herauskommen. Nach menschlichem
Ermessen kann es der Angeklagte nicht gewesen sein, w e r
w a r e s a b e r
d a n n ? Ich könnte mich auf
das Recht der Verteidigung zurückziehen und der Staatsanwaltschaft den Beweis
überlassen. Ich komme zu dem gleichen Schluß wie der Kollege, daß es sich hier
um eine K i n d e r t r a g ö d i
e handelt. Der U r s u l a
ist auch wohl die Tat zuzutrauen, denn es war ein a n o r m a l e s K i n d ,
das zu abnormen Dingen geeignet war und das das Verhältnis zwischen der
Großmutter und Dörte schwerer genommen hat, als es hätte genommen werden
müssen. Vielleicht hat Dörte an diesem Tage unfreundliche Bemerkungen über die
Großmutter fallen lassen. Ich denke mir, daß Ursula, nachdem sie auf einem
Umwege den versteckten Revolver zu sich genommen und Dörte in das abgelegene
Zimmer gelockt, ihr dort Vorhaltungen gemacht, ihr vielleicht auch gedroht hat.
Die Lage des ersten Schusses läßt die Vermutung nahe, daß Dörte abgewehrt habe,
der zweite Schuß kann vielleicht unwillkürlich abgegeben worden sein. In halb
besinnungsloser Verzweiflung hat dann Ursula Hand an sich selbst gelegt. Auch
bei dieser Annahme bleibt noch manches ungeklärt, aber i c h
k a n n m i c h e h e r
m i t d e n R ä t s e l n i m
S e e l e n l e b e n d e s K i n d e s
a b f i n d e n , a l s m i t
t a t s ä c h l i c h e n U n w
a h r s c h e i n l i c h k e i t e n ,
a u f d i e s i c h
d i e A n k l a g e s t ü t z t .
Mit großen Zweifeln kam ich hierher, fand
aber in meinem Kollegen einen Mann, der
u n b e d i n g t v o n d e r
S c h u l d l o s i g k e i t d
e s A n g e k l a g t e n ü b e r z e u g t w a r
und diese Ueberzeugung hat sich
a u c h b e i m i r
im Laufe der Verhandlung i m m e r
m e h r g e f e s t i g t . Mich kennen Sie wenig, aber die
Persönlichkeit meines Kollegen ist Ihnen allen bekannt. Werfen Sie auch
die U e b e r z e u g u n g z w e i e r
e h r l i c h e n A n w ä l t e in die Wagschale und wägen Sie sich nicht zu
leicht. Dann werden Sie zu einer V e r
n e i n u n g d e r S c h u l d f r a g e n kommen.
Hierauf wird nachts 2 Uhr die
Weiterverhandlung auf Dienstag vormittag 10 Uhr vertagt.
*
Die
Sitzung am Dienstag.
In der heutigen Schlussverhandlung erwiderte
Oberstaatsanwalt D r . R e i f e n r a t h auf die Plaidoyers der Verteidiger: Es geht
nicht an, daß man jeden Zeugen und Sachverständigen nach dem, was er in der
Hauptverhandlung bekundet hat, in irgendeine Parteirolle eingliedert. Das heißt
der Sache Gewalt antun. Die Verteidigung bringt es fertig, den Geheimrat Moll
als den Gehilfen der Staatsanwaltschaft hinzustellen; wir lehnen es ab, den Geheimrat
Lesser, auf den die Verteidigung sich beruft, als den Gehilfen der Verteidigung
zu bezeichnen. Für mich sind alle Zeugen gleich. Ich kann es verstehen, daß der
Verteidigung die Sachverständigen der Staatsanwaltschaft unangenehm sind, aber
das kann die Gutchten der Sachverständigen nicht aus der Welt räumen.
Ausschlaggebend ist nicht die Sachkenntnis, die die Verteidiger von
Schriftvergleichung und Suggestion haben, sondern das Urteil der berufenen
Vertreter der Wissenschaft. Wenn ich in meiner Anklagerede manches fortgelassen
habe, so wollte ich Ablenkung auf Nebensächlichkeiten vermeiden. Die
Verteidigung redet ständig von Massensuggestion und warnt die Geschworenen
davor. Hier kommt es nicht darauf an, was die große Masse denkt, sondern, was
die G e s c h w o r e n e n denken, und ich habe aus dem Verhalten der
Geschworenen den Eindruck gewonnen, daß sie natürlich und klar denken und sich
nicht beirren lassen durch Einflüsse von außen. Mir war es die größte
Beruhigung, daß meine Ueberzeugung in diesem Prozeß, den ich in allen Stadien
miterlebt habe, bestätigt worden ist durch die Gutachten der Sachverständigen,
denn ich traue mir nicht zu, über jede Sache selbst ein Urteil abzugeben.
Auf einzelne Punkte der Verteidigerreden
eingehend, verwahrt sich der Staatsanwalt dagegen, daß eine Persönlichkeit
(Frau Grupen), die sich nicht selbst verteidigen kann, hier von dem Angeklagten
in den Schmutz gezerrt wird. Wer hat den Angeklagten veranlaßt, das Doppelspiel
beim Vormund zu treiben? Der Angeklagte selbst. Er ging an Vielhack heran und
erzählte ihm die unglaublichsten Dinge aus dem Schloß Kleppelsdorf. Wenn er
helfen wollte, dann hätte er ruhig bei der Wahrheit bleiben können.
Der Brief an Großmutti und die Briefe der
Frau Grupen sind für mich von wesentlicher Bedeutung, weil sie eine Parallele
darstellen und die Abschiedsbriefe der Frau die Probe waren für das Manöver mit
dem Großmuttibrief. Ich hatte erwartet, daß der Angeklagte unter der Wucht der
Anklage, die aus diesen Briefen spricht, zusammenbrechen würde. Um die
Tatsache, daß der Großmuttibrief von dem Kinde nicht verstanden ist, kommen wir
nicht herum. Erwiesen ist, daß Ursula in fröhlicher Stimmung den Brief der Mohr
gebracht hat, es i s t erwiesen, daß das Kund gesagt hat: „Das ist
eine f r e u d i g e Ueberraschung für Großmutti.“ Ich bleibe
dabei: Der Großmuttibrief ist kein Abschiedsbrief - vermissen wir doch den
Abschiedsgruß an das geliebte Schwesterchen -, er ist ein Entschuldigungsbrief,
mit dem der Angeklagte sich schließlich selbst anklagt. Ein Kind, das sich über
die Apfelsinen, welche die Schwester aus der Stadt mitbrachte, kindlich freute,
kann unmöglich fünf Minuten später eine so grausige Tat vollführen.
Die Verteidigung behauptet, ich hätte als
Motiv der Tat zerrüttete Vermögensverhältnisse angeführt. Ich habe davon gesprochen,
daß dem Angeklagten nicht soviel zur Verfügung stand, als er für seine
Ansprüche, für das, was er darstellen wollte, brauchte. Er wollte reicher
werden, einen Millionenbesitz bekommen. Die Verteidiger wiesen darauf hin, daß
der Angeklagte nie Erbe von Kleppelsdorf hätte werden können. Wenn Kleppelsdorf
nicht an Frau Eckert gefallen ist, liegt das daran, daß sie bei der Erbteilung
den Besitz von Tempelhof vorgezogen hat. Jedenfalls hat der Angeklagte
geglaubt, daß nach dem Tode Dörtes Kleppelsdorf in den Besitz der Frau Eckert
übergehen würde, denn er sagte ha zu ihr am Abend der Tat: „Weißt Du auch, daß
Du jetzt Erbin von Kleppelsdorf bist?“
Darüber kann man doch nicht im Zweifel sein,
wenn Frau Eckert Kleppelsdorf übernommen hätte, daß dann der Angeklagte auf dem
Gute so geschaltet und gewaltet hätte, als wäre es sein Eigentum. Denn er hatte
ja die Generalvollmacht der Frau Eckert, die ihm blindlings vertraute, ihm
ihren Schmuck und ihr Silber arglos aushändigte. Und schließlich bietet die
Persönlichkeit des Angeklagten wie sie sich in der Hauptverhandlung zeigte,
keine Gewähr dafür, daß er nicht versucht haben würde, sich im Testament der
Frau Eckert Kleppelsdorf zu sichern - wenn er nicht noch zu anderen Mitteln
gegriffen hätte, die ich hier nicht andeuten möchte. Warum reden die
Verteidiger nicht von dem M o t i
v zu dem angeblichen S e l b s t m o r d d e r
U r s u l a ? Würden die
Verteidiger hier ein Motiv suchen, so würden sie Schiffbruch leiden.
Wehe dem Volke, dessen Richter und
Geschworene nicht den Mut der Verurteilung finden, wenn sie sich von der Schuld
überzeugt haben. Zu diesem Mut müssen wir uns durchringen, koste es, was es
wolle. Es mag sein, daß sich unter uns Gegner der Todesstrafe befinden, aber
wir haben heute nicht darüber zu urteilen, ob die Todesstrafe berechtigt ist
oder nicht. Wir haben pflichtgemäß nach unserem Gewissen zu erkennen und nur
die Frage zu beantworten: Liegt hier ein Mord, liegt hier ein
Sittlichkeitsverbrechen vor? Mein Bekenntnis lautet, daß ich nach
pflichtgemäßer Prüfung und ernsten inneren Kämpfen, die ich immer kämpfe, wenn
ich einen solchen wichtigen Strafantrag stelle, - zu der felsenfesten
Ueberzeugung gekommen bin: Hier ist nicht der geringste Zweifel, hier kann und
muß das Urteil erfolgen, das Sie sprechen werden, und ich kann nur an das
erinnern, was der Herr Vorsitzende am ersten Verhandlungstage sagte: Sie k ö n n e n
und w e r d e n das Recht finden!
Nach dem Staatsanwalt nimmt wieder
Justizrat D r . A b l a ß
das Wort zu einer nochmaligen kritischen Beleuchtung des
Anklagematerials. Er betonte u. a., es wäre eine merkwürdige Verteidigung, die
sich drängen ließe, den vorgezeichneten Richtlinien der Staatsanwaltschaft zu
folgen.
Während der Rede des Verteidigers Dr. Ablaß
erklärt Oberstaatsanwalt D r . R e i f e n r a t h , daß er die Verhandlung wegen
Ueberanstrengung verlassen müsse. An seine Stelle tritt Oberstaatsanwalt H e i n r i c h .
Vors. (zum Angeklagten): Was haben Sie noch
er erklären?
Angeklagter mit innerer Erregung: Ich
schließe mich den Ausführungen meiner beiden Herren Verteidiger an. Ich will
nur noch bemerken: Der Staatsanwalt glaubt, daß ich das Eiserne Kreuz als
Zugabe für meinen verlorenen Arm erhalten habe. Der Staatsanwalt hätte doch
während der zehnmonatlichen Untersuchung genügend Zeit gehabt, um meine
Militärpapiere einzusehen und festzustellen, an welchen Gefechten ich
teilgenommen habe. Ich bin als Kriegsfreiwilliger für eine gute Sache in den
Krieg gezogen, und nun wird von der Anklage behauptet, ich soll ein unschuldiges
Kind getötet haben, ein Kind, das ich lieb hatte! I c h b i n
i n d i e s e r H i n s i c h t v o l l
u n d g a n z u n s c h u l d i g . Ich vertraue den Herren Geschworenen und ihren
rechtlichen Anschauungen.
Kurz nach 1 Uhr beginnt der Vorsitzende mit
der R e c h t s b e l e h r u n g der Geschworenen.
Donnerstag, den 22. Dezember 1921, „Der Bote
aus dem Riesengebirge“
Peter
Grupen zum Tode verurteilt!
Der
Schlußakt des Prozesses.
Hirschberg, 21. Dezember
Am Dienstag nachmittag 3 ½ Uhr wurde der
Angeklagte Peter Grupen des Mordes an Dorothea Rohrbeck und Ursula Schade sowie
der übrigen im zur Last gelegten Verbrechen für schuldig befunden und daraufhin
zum Tode, zu fünf Jahren Zuchthaus und dauerndem Verlust der bürgerlichen
Ehrenrechte verurteilt.
*
Weder der Montag noch die Nacht zum Dienstag
brachten das Urteil. Des langen Wartens müde, verließ ein großer Teil des vor
den Pforten des Gerichtsgebäudes Sturm und Regen trotzenden Zuhörerpublikums zu
sehr später Stunde seinen Stand. Im Morgengrauen sahen wir nur wenige
Unentwegte wieder, die Vormittagstunden brachten einen leidlichen Andrang, aber
dann rückte das Gros Jener heran, die vom Nachbar erfahren hatten, daß es noch
nicht „alle“ war, daß Grupen noch des Spruches seiner Richter harrte. Mit
rücksichtlosem Ungestüm wurde die vorderste Linie überrannt, um Zeuge der
Verkündigung eines - Todesurteils zu sein.
In der zweiten Nachmittagsstunde neigte sich
das düstere forensische Schauspiel rasch zum Schlußakt. Mit der gegen die
letzten Ausführungen des Staatsanwalts gerichteten Gegenrede des Verteidigers
Dr. Ablaß endete der lange und heiße Redekampf um die schicksalsschwere Frage:
Schuldig oder nichtschuldig! Dann gab der Vorsitzende den Geschworenen die
vorgeschriebene Rechtsbelehrung mit auf den Weg in ihr Beratungszimmer. Der Angeklagte
wurde abgeführt.
Das Publikum richtete sich auf langes Warten
ein. Man kürzte sich die Zeit durch lebhafteste Unterhaltung. Der Ernst des Ortes,
des Augenblicks wurde vergessen. Zeugen und Sachverständige rüsteten sich zur
Abreise, die Justizbeamten schafften die Beweisstücke aus dem Saale; nur der
Totenschädel, an dem die tödlichen Schüsse demonstriert worden waren, blieb auf
dem Gerichtstisch zurück - wie ein in der Zeit der Fehme selbstverständliches
Menetekel.
Kurz nach 3 Uhr hallte der schrille Klang der
Glocke durch die Hallen: die Beratung und Abstimmung der Geschworenen über ihr
Votum war beendet. Die Volksrichter wünschten es der Oeffentlichkeit zu
verkünden.
Der Gerichtshof nimmt seinen Platz ein.
Feierliche Stille. Die Geschworenen treten ein, alles hält den Atem zurück - da
beginnt der Obmann, Oberstleutnant Dulitz aus Cunnersdorf: „Auf Ehre und
Gewissen verkünde ich als den Wahrspruch der Geschworenen: Ist der Angeklagte,
Architekt Peter Grupen aus Ottenbüttel, schuldig, am 14. Februar 1921 zu
Kleppelsdorf bei Lähn einen Menschen, Dorothea Rohrbeck, vorsätzlich getötet
und die Tötung mit Ueberlegung aufgeführt zu haben? - J a , mit mehr als sieben Stimmen.
Mit einem Schlage war durch dieses „Ja“ die
aufs höchste gestiegene Spannung gelöst. Eine leise Bewegung ging durch den
Saal, sonst aber unterblieb jede Kundgebung des Publikums. Der Bejahung der
anderen Schuldfragen, namentlich der wegen der Ermordung Ursulas, wurde weniger
Beachtung geschenkt.
Der Vorsitzende stellt das ordnungsgemäße
Zustandekommen des Wahrspruches fest, versieht ihn mit seiner Unterschrift und
übergibt ihn dem Protokollführer.
Vorsitzender: Der Angeklagte ist in den Saal
zu führen.
G r u p e n
erscheint in der üblichen Begleitung eines Polizeibeamten. Gemessenen
Schrittes begibt er sich zur Anklagebank. Sein volles, gesundes Gesicht bedeckt
ungewohnte Blässe. Schwer wird ihm diesmal die während der dreizehn
Verhandlungstage streng geübte Artigkeit, Richter und Geschworene mit einer
Verbeugung zu begrüßen. Man merkt ihm an, daß er eine riesengroße innere Unruhe
niederzuhalten sich bemüht.
Der W
a h r s p r u c h hallt nun nochmals
durch den Saal zu führen.
G r u p en
erscheint in der üblichen Begleitung eines Polizeibeamten. Gemessenen
Schrittes begibt er sich zur Anklagebank. Sein volles, gesundes Gesicht bedeckt
ungewohnte Blässe. Schwer wird ihm diesmal die während der dreizehn
Verhandlungstage streng geübte Artigkeit, Richter und Geschworene mit einer
Verbeugung zu begrüßen. Man merkt ihm an, daß er eine riesengroße innere Unruhe
niederzuhalten sich bemüht.
Der W
a h r s p r u c h hallt nun nochmals
durch den Saal: S c h u l d i g d e s
M o r d e s ? - J a ! - S
c h u l d i g d e s S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e
n s ? -
J a !
Ein leichtes Wimpernzucken beim Angeklagten,
und ein leichtes Zusammensinken seiner muskulösen Gestalt waren die Wirkung der
furchtbaren Tatsache, daß der Stab über ihn gebrochen ist.
Der Verteidiger erklärt, seine Anträge
stellen zu wollen.
Auf den fragenden Blick des Vorsitzenden
rafft der Angeklagte sich auf, bebend und stockend beginnt er: „ I c h
v e r z i c h t e v o n v o r n h e r e i n a u f
j e d e R e v i s i o n u n d
a u f e i n G n a d e n g e s u c h . “ (Der Verteidiger unterbricht ihn mit der
Bemerkung: „Darüber werden wir später reden“) Mit fester werdender Stimme,
seine während der ganzen Verhandlung an den Tag gelegte Ruhe wiedergewinnend,
fügt er hinzu: „ D e r W a h r s p r u c h d e r
G e s c h w o r e n e n i s
t e i n F e h l s p r u c h , für den ich sie aber nicht verantwortlich
mache. I c h k a n n
v e r s t e h e n , wie die
Geschworenen zu ihrer Auffassung gekommen sind. Vielleicht wird doch der Tag
kommen, wo das eine oder andere sich aufklären wird.“
Der Anklagevertreter, Oberstaatsanwalt D r .
H e i n r i c h , beantragt, für
jeden Mord auf T o d e s s t r a f e
, wegen der Sittlichkeitsverbrechen
auf f ü n f J a h r e
Z u c h t h a u s , außerdem auf
dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte zu erkennen.
Die vom Gerichtshof festgesetzte Strafe lautet
demgemäß. Die Einziehung der bei der Tat benutzten Waffe wird angeordnet. Die
Kosten des Verfahrens werden dem Angeklagten auferlegt.
Vorsitzender (nach Verkündung des Urteils):
Der Angeklagte ist abzuführen. Mit einem warmherzigen Dank an die Geschworenen
schließt der Vorsitzende die außerordentliche Tagung des Schwurgerichts.
Fast lautlos verläßt das Publikum den
schwülen Saal. Der Bote aus dem Riesengebirge verbreitete das Ergebnis des
Prozesses sofort durch Extrablatt, sowie durch den Fernsprecher und durch
Telegramme in der näheren und ferneren Umgebung.
*
Der Kleppelsdorfer Mordprozeß hat also mit
dem Todesurteil für Peter Grupen seinen Abschluß gefunden. Die G e s c h w o r e n e n haben ihn
d e s M o r d es i n
z w e i F ä l l e n f ü r
s c h u l d i g befunden, und
der G e r i c h t s h o f m u ß t e
Grupen z u m T o d e
verurteilen, da auf Mord keine andere als die Todesstrafe steht.
Wir glauben uns nicht zu täuschen, wenn wir
annehmen, daß ein Aufatmen der Genugtuung durch die ganze Bevölkerung unserer
Gegend und weit über diese hinaus gegangen ist, als sie das Urteil vernahm. Auf
dem Angeklagten ruhte von vornherein, seit er als Verdächtiger verhaftet war,
der Haß der öffentlichen Meinung. Wir gehören nun n i c h t
zu denen, die glauben, daß Volkes Stimme immer Gottes Stimme ist. Gibt
es doch Beispiele genug, wo sich diese Volksstimme ganz erheblich geirrt hat.
Aber hier lag die Sache von Anfang an so, daß diese Massensuggestion, wenn man
davon überhaupt sprechen will, einen sehr starken Anhaltspunkt hatte: - Peter
Grupen war der einzige Mensch, der für die Tat in Betracht kommen konnte! Und
diese Tat war so ungeheuerlich, zeugte von so brutaler Verleugnung jedes
sittlichen Gedankens, war so bestienhaft, daß der Aufschrei der Empörung, der
durch die Bevölkerung ging, verständlich war.
Es schien zwar, daß noch eine andere
Möglichkeit in Betracht kommen konnte, die einer K i n d e r t r a g ö d i e . Aber der Umstand, daß man im Verlaufe des Prozesses
mit immer größerer Deutlichkeit erkennen mußte, daß man von dieser Möglichkeit
immer weniger sprechen konnte, ja, daß sie mit sehr starker Wahrscheinlichkeit
vom Täter geschaffen war, um den Verdacht von sich abzulenken, sorgte dafür,
daß aus der Entlastung, welche es sein sollte, eine Belastung wurde. Und es
ergaben sich auch im Verlaufe der Verhandlungen noch eine ganze Anzahl von
anderen Gesichtspunkten, welche nachwiesen, daß viele Momente mit
unübertrefflichem Raffinement absichtlich geschaffen waren, um g e r a d e
f ü r P e t e r G r u p e n
d i e U n s c h u l d zu erweisen. „Wär´ der Gedank´ nicht so
verwünscht gescheit, - Man wär´ versucht, ihn herzlich dumm zu nennen.“ Peter
Grupen, das dürfte wohl die allgemeine Ueberzeugung nach dem ganzen Verlauf des
Prozesses sein, hatte alles darauf angelegt, den Verdacht von sich abzuwälzen.
Da man aber in allen diesen Versuchen der Abwälzung die Absicht merken mußte,
so mußte man auch endgültig verstimmt darüber werden. Wenn aus manchen
Tatsachen auf Peter Grupen ein freundlicheres Licht zu fallen schien, - er war
gut gegen die Kinder, hat mit ihnen gebetet, - so konnte das zu seinen Gunsten
nicht verfangen, weil man erkennen mußte, daß diese anscheinende Güte nur das
Mittel für den Stiefvater war, um sich den Kindern, wenigstens der Ursula, in
unsittlicher Weise zu nähern. Und wenn das auch nicht der Fall gewesen wäre, so
müßte man immer in Betracht ziehen, daß, wie allgemein bekannt ist, auch die
größten Verbrecher gelegentlich sanftere Züge in ihrem Charakter haben, gerade
wie z. B. der Mordbrenner Sternickel ein großer Liebhaber von Tauben war.
Aber es gab allerdings verschiedene andere
Züge im Charakter des Angeklagten, welche ihn bis zu einem gewissen Grade
sympathisch oder doch mindestens interessant machten. Das war seine
erstaunliche Fähigkeit, sich zu beherrschen, und seine ebenso erstaunliche
Willensstärke, Charakteranlagen, welche einen Menschen, welcher sich auf gutem
Wege befindet, zu den höchsten Zielen führen können, die aber, wenn sie bei
verbrecherischer Neigung vorhanden sind, zu umso furchtbareren Taten führen
müssen. Mit einem solchen Fall haben wir es hier zu tun.
Der Grund der Anklagebehörde war von
vornherein dadurch erschwert, daß hier ein Verbrechen vorlag, bei dem kein
eigentlicher Belastungszeuge in Frage kommen konnte. Die Opfer waren tot, und
so kam nur noch ein Beweis in Betracht, der sich aus einer ausreichenden Summe
von Indizien zusammensetzte. Der stärkste Beweisgrund, der gegen Peter Grupen
von Anfang an sprach, war der: wer hätte denn
s o n s t der Täter sein sollen?
Das ist natürlich kein juristischer Beweisgrund gegen einen Angeklagten. Wenn
man sich darauf hätte stützen wollen, so hätte man sich trotz aller
Wahrscheinlichkeit auf sehr schwankendem Boden befunden. Aber es kam hinzu, daß
der mutmaßliche Täter sich fortgesetzt mit immer stärkerem Verdacht belud.
Einmal erschien er so stark interessiert als ein Mensch, der offenbar starke
Neigung hatte, sich ein großes Vermögen auf alle mögliche Weise zu verschaffen.
Schon seine Heirat mit Gertrud Schade gehört in dieses Kapitel, und alle seine
Geschäfte, durch die er möglichst schnell reich werden wollte, gehörten hinein.
Er hat ja auch versucht, ohne das Verbrechen, durch die Heirat, zu seinem Ziele
zu kommen. Aber als das nicht ging. setzte sein Zielbewußtsein und seine
Willensstärke ein, und er suchte das Ziel durch das Verbrechen zu erreichen.
Ferner machte er sich während der kurzen Dauer der Verhandlung im höchsten Maße
dadurch verdächtig, daß er seine Intelligenz in jedem Augenblick in den Dienst
der Abwehr zu stellen wußte. Er machte nicht den Eindruck des unschuldig
Angeklagten, der selbst belanglose Vorgänge in harmloser Weise aufzuklären
weiß. Der unbefangene Zuhörer war oft in der Lage, auf Fragen, die dem Angeklagten
gestellt wurden, eine einfache Antwort zu geben, welche den Angeklagten ohne
weiteres entlastet hätten. Der Angeklagte selbst aber war statt dessen selbst
immer bestrebt, den Verdacht um jeden Preis von sich abzuwälzen. Gerade dadurch
machte er sich in starkem Maße verdächtig. Man hatte stets und ständig den
Eindruck, daß er log, - log, um sich zu entlasten, weil er sich auf seinem
Innern heraus belastet fühlte.
Man könnte vielleicht sagen, daß, wenn ein
Mensch in Gefahr ist, geköpft zu werden, er diesem Schicksal wohl auf jede
Weise zu entgehen suchen wird, auch wenn er sich unschuldig fühlt. Aber man
hätte das doch hin und wieder herausfühlen müssen. Statt dessen erschien Peter
Grupen immer wieder als ein raffinierter und darum schwer zu fassender,
hartnäckiger und zielbewußt Leugnender, dem lediglich die Kunst, sich
herauszureden, in beachtenswerter Höhe zur Verfügung stand. Nur reichte sie
offenbar nicht aus, und gerade dann gewahrte man, daß die Intelligenz des
Angeklagten nicht ausreichte, um sich aus jeder Lage helfen zu können. Ein
Unschuldiger vermag immer eine Antwort zu geben. Peter Grupen aber schwieg
allzuoft oder lehnte es ab, auf eine unangenehme Frage sich einzulassen. Es
wäre verwunderlich gewesen, wenn die Geschworenen daraus nicht ihre Folgerungen
gezogen hätten.
Vielleicht hätte aber alles dies noch nicht
zu Grupens Unheil ausschlagen können, wenn nicht die Tatsache des Verschwindens
der Frau Grupen zu seinen Ungunsten gesprochen hätte. Gewiß ist nach dieser Hinsicht
nicht erwiesen, und dieses Verschwinden der Frau ist auch garnicht Gegenstand
der Anklage, aber die ganze Art und Weise, wie das Verschwinden der Frau u n v e r d ä c h t i g gemacht werden soll, ähnelt so stark den
Motiven, mit denen der Mord an den beiden Kindern als n i c h t
zur Last Peter Grupens hinzustellen versucht wurde, daß ein ganz erhebliches
Maß von Argwohn nach dieser Hinsicht berechtigt erscheint. Es gibt einen
einzigen Gesichtspunkt, unter dem auf Peter Grupens Tat ein Schein milder
Beurteilung fallen könnte, nämlich der der Annahme von Kriegspsychose. Es ist
eine in weitem Umfange bekannte traurige Tatsache, daß sich eine ganze Anzahl
von Kriegern nach ihrer Rückkehr aus dem Weltkriege als jeden sittlichen Haltes
bar erweisen und eine, man möchte sagen: selbstverständliche Neigung zum
Verbrechen zeigen. Infolge dieses auf den Krieg zurückzuführenden
Seelenzustandes sind unzählige Verbrechen wie Diebstahl, Raubmord, Einbruch
usw. verübt worden, welche sicherlich nicht begangen worden wären, wenn nicht
die Kriegsanschauung sie ermöglicht hätte, daß dem Soldaten einfach alles
gestattet sei. Demgegenüber mag man eine gewisse theoretische Duldsamkeit
walten lassen, aber es darf nicht dazu führen, daß man sich dabei irgendwie von
sentimentalen Gesichtspunkten leiten läßt, denn auch die lediglich durch den
Krieg zu Verbrechern gewordenen Personen sind Schädlinge, welche als Gegner der
menschlichen Gesellschaft auf jede Weise bekämpft werden müssen. Man konnte, je
weiter der Prozeß fortschritt, umso öfter die Aeußerung hören: „Wenn sie ihn
nun freisprechen, was wird er dann erst alles für Unheil anrichten!“
Dieser Standpunkt ist gewiß begreiflich, er
hätte aber doch nicht für die Geschworenen maßgebend sein dürfen, wenn sie
nicht sonst der Ueberzeugung gewesen wären, daß P e t e r
G r u p e n w i r k l i c h d e r
M ö r d e r von Kleppelsdorf
sei. Während des Prozesses tauchte auf einmal ein Gerücht auf, Frau Grupen lebe
noch, und zwar als Priesterin der freien Liebe in einer Stadt in der
Westschweiz. Hätte sich das als wahr herausgestellt, so wäre es zweifellos eine
nicht unerhebliche Entlastung für Peter Grupen gewesen. Und auch, wenn sich in
Zukunft herausstellen sollte, daß Frau Grupen
n i c h t ermordet worden ist, würde
das nach dieser Richtung hin wirken müssen. Nachdem sich aber herausgestellt
hat, daß das Vorhandensein der Frau Grupen lediglich in der Phantasie spiritistischer
Medien spukte, breitete sich wieder das vorherige nächtliche Dunkel über das
Schicksal jener Frau, und vorläufig besteht noch keine neue Tatsache, welche
diese geheimnisvolle und furchtbare Dämmerung auszuhellen geeignet wäre.
In immer stärkerem Maße machte sich, wie
gesagt, die Ueberzeugung geltend, daß von einer Kindertragödie aus vielen und
gewichtigen Gründen hier nicht die Rede sein konnte. Diese Ueberzeugung kam
besonders am Schluß in den Gutachten der Sachverständigen zum Ausdruck. Die
Annahme, daß möglicherweise auch Ursula, wie es der Mörder wollte, als Täter in
Betracht kommen könne, hatte ja von Anfang an nirgends rechten Boden gefunden,
sondern man konnte sich nur dazu führen lassen, vom rein objektiven Standpunkt
aus diese reine Möglichkeit zuzugeben. Im übrigen aber sprach nichts dafür,
sondern alles dagegen.
Was sich am 14. Februar in Kleppelsdorf
abgespielt hat, ist das Ende einer furchtbaren Tragödie gewesen, welche in
ihrem ersten Entwicklungsstadium zweifellos sehr oft vorkommt, aber … genügend
… …, nämlich die T r a g ö d i e d e r
e l t e r n l o s e n K i n d e s
. Ja, warum hat man sich eigentlich um
Dorothea Rohrbeck nicht mehr gekümmert, als es tatsächlich der Fall war. Nach
ihrem eigenen Geständnis hatte sie nur
e i n e n Menschen, der es gut
mit ihr gemeint hat, das war die Erzieherin. Außer dieser kommt wohl nur noch
die Oberschwester in Betracht. Fast alle übrigen aber, zu denen sie sonst
Beziehungen hatte, standen ihr mehr oder minder kühl und teilnahmslos
gegenüber, oder konnten sich ihr nicht widmen, wie ein großer Teil der
Bevölkerung von Lähn, die sie bloß lieb hatte. Man hätte sich aber denken
können, daß diese oder jene Persönlichkeit ihr eine Stütze hätte sein können.
Besonders ergeben sich starke Bedenken, wenn man das Walter der Vormundschaft
und des Vormundschaftsgerichts in Betracht zieht. Denn wenn der
Vormundschaftsrichter ein warm empfindender Mensch gewesen, wenn er fähig
gewesen wäre, gerade nach dieser Richtung hin einen Gegensatz zum Vormund zu
bieten, so hätte vielleicht manches anders kommen können. Wenn beispielsweise
ein Mensch wie der Verhandlungsleiter im Prozeß Vormundschaftsrichter gewesen
wären, so hätten sich die Lebensverhältnisse der Dorothea Rohrbeck wohl anders
gestaltet.
Diese Betrachtung führt uns zu den sonstigen
Gesichtspunkten, die sich während der Dauer des Prozesses ergeben haben. Wir
glauben im Sinne des allgemeinen Eindrucks zu sprechen, wenn wir sagen, daß
sich in wenig Fällen eine derartige, nicht nur juristisch, sondern auch
menschlich anzuerkennende Handhabung des ganzen Prozesses finden dürfte. Das
ist sicherlich dem Verlauf zugute gekommen und hat das Vertrauen zur
Rechtspflege in der Bevölkerung verstärkt. Daß die Staatsanwaltschaft alles
herausholen würde, was zur Belastung und zur Verurteilung führen konnte, und
daß die Verteidigung pflichtgemäß alles auf bieten m u ß t e ,
um den Angeklagten zu entlasten, ist so selbstverständlich, daß man dazu
nichts Näheres zu sagen braucht. Besonders interessant erschienen die Gutachten
der psychologischen Sachverständigen. Wenn auch die Verteidigung wenig damit zufrieden
sein konnte, so lenkten sie den Blick darauf, wie ungemein wichtig die
Betrachtung psychologischer Gesichtspunkte in solchen Fällen sind. Und insofern
greift der Prozeß Grupen weit über das Durchschnitts-Interesse an einem
Verbrechen hinaus. Der Prozeß gibt uns neuen Aufschluß über Nachtseiten der
menschlichen Natur, welche von der Gesellschaft beachtet werden müssen, wenn
sie nicht dauernd Schaden erleiden will. Daß es hier gelungen ist, einen
Schädling der Gesellschaft unschädlich zu machen, wird mit allgemeiner
Befriedigung erfüllen, womit wir aber nicht denjenigen, sehr umfangreichen Teil
des Publikums meinen, welcher lediglich den Mörder sah und ihn um jeden Preis
verurteilt wissen wollte. Wer insbesondere die Geschichte des weiblichen Teiles
der Zuhörerschaft während des Prozesses oder beim Andrang in den Saal zu
beobachten verstand, wird sich einen besonderen Vers zu machen wissen. Ob mit
dem Urteil der ganze Fall Grupen erledigt ist, mag dahingestellt bleiben. Die
Verteidigung dürfte nichts unversucht lassen, um eine Revision herbeizuführen.
Die Möglichkeit einer Begnadigung zu lebenslänglichem Zuchthaus im Hinblick auf
den Indizienbeweis liegt sehr nahe, und völlig ausgeschlossen ist ja auch das
Auftauchen neuer Tatsachen nicht. Das Schönste wäre, wenn wir in alle Zukunft
von solchen Prozessen verschont bleiben würden.
Donnerstag, den 22. Dezember 1921, „Der Bote
aus dem Riesengebirge“
Einiges
über Hypnose.
Von Professor M. K a u f f m a n n , Universität Halle.
Durch die Presse gehen in letzter Zeit öfters
Mitteilungen von Verbrechen, die an Hypnotisierten begangen worden seien. Diese
armen Opfer wurden gewöhnlich durch den scharfen stechenden Blick einer Person
- mit Vorliebe in einem Eisenbahnabteil oder auf Bahnhöfen - eingeschläfert.
Dann sollen sich diese Personen tage-, ja wochenlang unter dem fremden Willen
des Hypnotiseurs befinden.
Vor einiger Zeit kam eine Mutter mit ihrem
fünfzehnjährigen Jungen zu mir, der behauptete, daß hier auf dem Bahnhof ein
Mann ihn scharf angesehen habe. Er sei dann wir im Traume nach Geldern
gefahren, dort für die französische Fremdenlegion angeworben, späterhin von
einem Deutschen „aufgeweckt“ und nach dem Anhaltischen Bahnhof zurückgebracht
worden, in Leipzig dann von der Polizei aufgegriffen und schließlich in völlig
abgerissenem Zustande von seiner Mutter nach Hause geholt worden. Ich sollte
nun den Jungen hypnotisieren und von ihm herausbekommen, ob die Sache wahr sei.
Als ich dazu Anstalten machte, zeigte der Junge alle Anzeichen von Unruhe, er
meinte, ob das nicht gefährlich sei? Darauf sagte ich ihm auf den Kopf zu, daß
seine ganze Erzählung eine von ihm selbst erfundene Räubergeschichte sei, was
er auch nach einigem Leugnen zugab. Aehnliches habe ich öfters erlebt.
Es ist bekannt, daß in früheren Zeiten häufig
junge Mädchen, die einen Fehltritt begangen hatten, behauptet haben, sie seien
von einem Geist überschattet oder durch Betäubungsmittel, die ihnen heimlich
ins Bier usw. geschüttet worden seien, in einen willenlosen Zustand versetzt
worden. Jetzt wird einem nicht zu selten die Angabe aufgetischt, daß die
Mädchen von einem fremden Menschen scharf angesehen und dann in einem
willenlosen Zustand mißbraucht worden seien.
So erschien vor einigen Monaten eine streng aussehende
Frau mit ihrer in gesegneten Umständen befindlichen Tochter und bat mich, ich
sollte feststellen, ob die Tochter von ihrem Verführer mit einem Blick
hypnotisiert worden sei, wie diese behauptet hatte.
Als ich die Tochter allein ins Gebet nahm, machte
mir diese die überraschende Mitteilung, daß sie bereits von mehreren Männern
hypnotisiert worden sei; sie wisse nicht, wer als Vater des zu erwartenden
Kindes in Betracht komme. Nun war guter Rat teuer! Hier die strenge Mutter,
dort die weinende Unschuld. Ich zog mich aus der Affäre, indem ich behauptete,
die Tochter habe mir anvertraut, daß sie leicht zu hypnotisieren sei.
Merkwürdigerweise genügte der Mutter diese Auskunft. Sie verließ mich mit einem
Seufzer der Erleichterung: „Ich wußte doch, daß meine Tochter anständig
geblieben ist.“
Der Hypnotiseur, welcher über große
Erfahrungen verfügt, kann solche abenteuerliche Erzählungen, wie daß jemand
durch einen fremden Blick willenlos gemacht worden sei, nicht bestätigen. Es
gelingt wohl, Personen, die man einige Male hypnotisiert hat, später
blitzschnell in tiefen hypnotischen Schlaf zu versetzen, aber die Angaben über
Massenhypnosen von Fakiren und ähnlichen Schwarzkünstlern sind unbedenklich in
das Reich der Fabel zu verweisen.
Wer in der hypnotischen Tätigkeit einige
Erfolge aufzuweisen hat, wird leicht mit einem Heiligenschein umgeben, es
bilden sich oft Mythen über ihn. So erfährt man durch Zufall von Heilung
Gelähmter, Auferweckung Scheintoter, die man nie gekannt hat. Der Glaube kann
eben Berge versetzen! Neuerdings pflegen viele unheilbare Kranke zu Herrn
Müller-Czerny in Homburg v. d. H. zu pilgern, der in seinem Prospekt zu heilen
verspricht.
Nun muß man bedenken, daß der chronisch
Kranke sich in einer ganz eigentümlichen Gemütsverfassung befindet; sein ganzer
Interessenkreis konzentriert sich auf seine Krankheit, die Außenwelt
interessiert ihn nicht so wie den Gesunden. Er wird Egoist und hegt vor allen
Dingen meist den Wahn, daß er geheilt werden kann und m u ß .
Wenn dann ein unzweifelhaft geistesgestörter Mann, wie dieser Müller, in
einer halben Stunde angeblich Hunderte durch einige Gebete heilt, so klingt das
wohl unwahrscheinlich, es ist aber doch zu verstehen weil bei solchen Kranken
die Auffassung der Krankheit beeinflußt werden kann. Habe ich es doch schon
selbst erlebt, daß an Rückenmarksschwingsucht Erkrankte, die ich auf ihren
ausdrücklichen Wunsch hypnotisieren mußte, nachher besser gehen konnten und
weniger Beschwerden hatten. Vielleicht wirkt hier eine gesteigerte geistige
Energie, eine Art Selbstnarkose, mit, welche die Orientierung des Kranken über
sein Leben trübt.
Aus dieser eigentümlichen geistigen Narkose
(auf deutsch Glaube), deren Wirkung leider nur vorübergehend ist, sind wohl
manche, auch durch Dankschreiben berichtete Erfolge, selbst der Unheilbaren, zu
erklären.
Daß in der Hypnose keine Verbrechen vorkommen
sollten, ist nicht richtig. Ich könnte über eine ganze Reihe von strafbaren,
durch Hypnose befohlenen Verbrechen, berichte, die mir bekannt geworden sind.
Auffallenderweise stellen ein ziemlich großes Kontingent hier die Frauen, in
Gemeinschaft mit ihrem Liebhaber verstehen sie es, ihren Mann hypnotisch
derartig unter ihren Einfluß zu bringen, daß dieser - gewöhnlich handelt es
sich im einen „Troddel“ - sich geduldig aufplündern läßt. Ein solches Opfer
seiner hinterlistigen Ehefrau habe ich in einer Sitzung aus deren gleichsam
dämonischer Gewalt befreit.
Die neuerdings Hellseher und hypnotisierte
Medien für die Aufdeckung von Verbrechen geleistete Mithilfe ist sehr skeptisch
zu beurteilen. In den Fällen, wo ich als Sachverständiger solche Versuche
beobachten konnte, haben die Medien vollkommen versagt. Es wird viel zu wenig
mit einer unbewußten Beeinflussung, also einer Art von Suggestion, bei diesen
Aufdeckungen von Verbrechen gerechnet.
Dann ist weiterhin nicht zu vergessen, daß
wir alle viele Dinge beobachten, die wir nicht in Erinnerung haben, weil die
Aufmerksamkeit durch andere Interessen gefesselt ist. Gelingt es, die
Aufmerksamkeit zu beseitigen, wie dies in der Hypnose geschieht, dann erinnert
sich der Betreffende oft an Beobachtungen, von denen er im wachen Zustand
nichts wußte. Ich habe solche Beispiele in Vorlesungen öfters vorgestellt. So
lassen sich manche oft frappante Beobachtungen von Medien einfach durch eine
Veränderung ihres Bewußtseinzustandes erklären.
Freitag, den 23. Dezember 1921, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“
Zum
Mordprozesse Peter Grupen
ersucht uns der Verteidiger des Angeklagten
um Ausnahme folgender E r k l ä r u n g
:
„In dem Artikel Ihrer Zeitung vom 22.
Dezember 1921 über den Schlußakt des Prozesses findet sich der Satz, „daß die
Verteidigung pflichtgemäß alles aufbieten
m u ß t e , um den Angeklagten
zu entlasten, ist so selbstverständlich, daß man dazu nichts Näheres zu sagen
braucht.“ Mit dieser Bemerkung, die Mißdeutungen hervorrufen wird und muß, wird
man meiner Tätigkeit nicht gerecht. Ich habe im Verfahren mit aller
Deutlichkeit zu erkennen gegeben, daß ich von der Schuldlosigkeit des
Angeklagten überzeugt war, und diese Ueberzeugung vertrete ich noch heute und
werde sie solange vertreten, bis mir bessere Beweise als die des nunmehr
abgeschlossenen Verfahrens erbracht werden. Diese Ueberzeugung eines ehrlichen
Mannes sollte auch die Oeffentlichkeit achten und ihm nicht unterstellen, daß
er seine Tätigkeit nur ausgeübt habe im Zwange einer übernommenen Pflicht. Ich
hätte die Verteidigung nicht zu übernehmen brauchen, wenn ich es nicht gewollt
hätte. Daß ich es getan habe, darüber rechte ich mit der Presse nicht, weil ich
mich vor ihr nicht zu verantworten brauche. Aber ich glaube durch die Art
meiner Verteidigung den Anspruch darauf erworben zu haben, daß man meine
Absichten und Ansichten als vom reinsten Wahrheitsdrange eingegeben achtet.
Darauf glaube ich durch meine öffentliche Tätigkeit einen Anspruch erworben zu
haben.
Justizrat Dr. Ablaß.“
Es versteht sich ganz von selbst, daß in dem
oben angeführten Satz nur von einem i d
e e l l e n Pflichtgefühl, von einem
Pflichtgefühl a u s Ueberzeugung die Rede ist. Wir glauben Herrn
Justizrat Dr. Ablaß doch genau genug zu kennen, als daß wir eine andere Meinung
von seiner Berufsauffassung hegen könnten.
*
Das
Urteil eines Berliner Anwalts.
Von Rechtsanwalt R ü b e l l - Berlin wird dem Lokalanzeiger zu dem
Hirschberger Urteil geschrieben: „Dürfte man auf Grund des vorliegenden
Sachverhalts jemand zum Tode verurteilen? Nie und nimmer möchte man meinen -
und wenn im übrigen noch so vieles gegen den Angeklagten sprach. Die Aussage
eines 12jährigen Kindes, das sogar noch zugeben mußte, „die Tante Lux“ habe ihr
gesagt, sie „solle das ja nicht vergessen“, kann und darf nie und in keinem
Falle zu einer derartigen Verurteilung ausreichen, selbst wenn man annimmt, daß
die Wirtschafterin Mohr aus gewissen Gründen den Angeklagten zu entlasten
suchte und daß eine 78jährige Großmutter die Möglichkeit, daß Grupen sich
entfernt habe, zugab. Dem wird jeder zustimmen, der nur die geringste Erfahrung
in der Bewertung von Zeugenaussagen über zurzeit der Beobachtung jedenfalls
völlig belanglose Wahrnehmungen besitzt und der von der Psychologie der Kinderaussagen
auch nur die geringste Kenntnis hat. Dazu kommt aber, daß es vom Standpunkt
eines raffinierten und verschlagenen Mannes, wie es Grupen sein soll, völlig
widersinnig wäre, sich auf eine Viertelstunde aus der Gesellschaft von vier
Personen zu entfernen, den Mord auszuführen, seine eigene Waffe am Tatort
niederzulegen und dann zurückzukommen, weil er doch unbedingt damit rechnen
mußte, daß sein Verschwinden bemerkt und nach Entdeckung der Tat sofort mit
dieser in Zusammenhang gebracht werden mußte. Wie also klärt sich das Rätsel
von Kleppelsdorf? Mir will nach den vorliegenden Preßberichten scheinen, als
sei man der Erforschung der körperlichen, geistigen und seelischen Veranlagung
der Mutter Ursulas, Frau Grupen, deren erster Mann Schade „auf der Jagd“
verunglückt, die selbst spurlos „nach Amerika verschwunden“ war, nicht genügend
nachgegangen. Vielleicht hätte sich ergeben, daß Ursula, die von Frl. Zahn als
„dürftiges, hochaufgeschossenes, außerordentlich melancholisches und
gedrücktes“ Kind geschildert wird, von ihrer Mutter schwer erblich belastet und
somit trotz ihres zarten Alters zu einer solchen Verzweiflungstat fähig gewesen
sei.
Was die Mahnung von Frau L u x
betrifft, so möchten wir dazu bemerken, daß das Kind Irma zu dieser,
ihrer jetzigen Pflegemutter, nach seiner Zeugenvernehmung Aeußerungen über
Dinge getan hat, die es in dieser Vernehmung nicht erwähnt hatte und die Frau
Lux für wichtig hielt, um Aufklärung für den Gerichtshof zu schaffen. Deshalb
hat sie dem Kinde gesagt, es müsse seine Aussage noch ergänzen. Frl. Z a h n
hat unserem Bericht über Ursula nur gesagt: „Dörte hatte beobachtet, daß
Ursula ein auffallend scheues und gedrücktes Wesen hatte. Dörte meinte, Ursel
müsse eine Sorge haben.“ Und ferner: „Ursel war zart und schwächlich,
langaufgeschossen und hager, so daß man Mitleid mit ihr haben mußte.“ Die
Geschworenen dürften ihr gedrücktes Wesen nicht auf die Erbschaft von ihrer
Mutter, sondern auf ihren Verkehr mit dem Angeklagten zurückgeführt haben. Auch
handelt es sich nicht um eine Viertelstunde, sondern um eine Minute, die zur
Ausführung der Tat erforderlich war.
Presseäußerungen.
Der Berliner
L o k a l a n z e i g e r
schreibt zu dem Prozeß: „Die Indizien bestanden im vorliegenden Falle im
wesentlichen in dem gefühlsmäßigen Ermessen, daß ein 13 Jahre altes Kind eine
so furchtbare Tragödie an sich und der Base nicht vollziehen konnte, daß gegen
den Angeschuldigten der V e r d a c h t der Beseitigung seiner Frau sprach und daß
die Lage der Patronenhülsen jede Schuld von Ursula zu nehmen schien. Die Hülsen
sind aber teilweise erst zwei Tage n a
c h der Tat aufgefunden worden, können
also verrutscht sein. Es ist ferner angenommen worden, daß Grupen auf das
Vermögen von Kleppelsdorf machtgierig lossteuerte. Er war aber gar nicht Erbe,
sondern zu einem Teile Frau Eckert (nach deren Ableben die kleine Irmgard) und
andererseits die Rohrbecks. Also nur auf Umwegen durch die Generalvollmacht,
durch diese aber auch nur schwer, oder Beseitigung der Frau Eckert und der
Irmgard konnte Grupen zu dem vermeintlichen Ziele gelangen. Anderes, wie sein
ausschweifendes Liebesleben, wobei nicht vergessen werden darf, daß es ihm die
Schönen von Ottenbüttel offenbar nicht sehr schwer gemacht haben, sie zu
erobern, lief nur nebenher. Also Indizien, und als ihr Fundament gefühlsmäßige
Erwägungen, daß ein a n d e r e r als der Täter nicht in Frage komme.“
Weiter lesen wir im B e r l i n e r T a g e b l a t t : „Das Prozeßrecht des Mittelalters ließ
Verurteilung nur auf Grund der Aussage
z w e i e r T a t z e u g e n zu. Die heutige Kriminalität schätzt den
Beweiswert zuverlässiger Indizien höher ein als den von Zeugen. Aber im
Volksbewußtsein wurzelt gerade bei Kapitalverbrechen noch tief jener alte
Zweifel, ob es denn recht sei, „nur“ auf Grund von Indizien einen Menschen zum
Tode zu verurteilen. Die Geschworenen haben die ihnen vorgelegten Fragen
trotzdem bejaht. Eine klare Alternative war gestellt: entweder hat die
dreizehnjährige schwächliche Ursula Schade, der das niemand zutraute, ihrer
Freundin Dorothea Rohrbeck den tödlichen Schuß beigebracht und sich dann selbst
getötet, oder Grupen, trotz des Verlustes seines linken Armes ein ausgezeichneter
Schütze, hat in der allerdings sehr knapp bemessenen Zeit den zweifachen Mord
verübt. Die Geschworenen entschieden sich, offenbar unter dem Eindruck der
übereinstimmenden Gutachten der Sachverständigen und all der übrigen von der
Anklage zusammengetragenen Schuldmomente, für die zweite Alternative. In der
Rechtsbelehrung des Vorsitzenden wurden sie darauf hingewiesen, daß ein Z w e i f e l an der Schuld des Angeklagten diesem zugute
kommen und zur Freisprechung führen müsse. Sie hatten keinen Zweifel. Soweit
der Prozeßbericht eine Beurteilung ermöglicht, haben die Geschworenen richtig
entschieden. Ueberrascht hat die Tatsache, daß Grupen, der bis zum Schluß seine
Verteidigung so zielsicher geführt hatte, unmittelbar nach dem Schuldspruch der
Geschworenen, aber vor der Verkündung des Urteils durch das Gericht auf R e c h t s m i t t e l und
G n a d e n e r w e i s
verzichtet hat. Beide Erklärungen sind
r e c h t l i c h o h n e B e d e u t u n g . Der Verzicht auf Revision kann nicht vor der
Urteilsverkündung ausgesprochen werden. Ebenso wird das preußische
Staatsministerium, in dessen Hand das B
e g n a d i g u n g s r e c h t liegt,
nach der Rechtskraft des Urteils von Amts wegen zu prüfen haben, ob eine Begnadigung
angezeigt erscheint. Erst wenn das Ministerium die Begnadigung ablehnt, darf
das Todesurteil vollstreckt werden.“
In der
V o s s i s c h e n Z e i t u n
g lesen wir: „Man hat von den Opfern
wie von den Ueberlebenden dieser Tragödie seelische Porträts entworfen, die um
so mühevollere Kunstübungen darstellen, als die verschiedensten Hände an jedem
einzelnen mitgearbeitet haben. Daß daran freilich durchweg Meisterhände
beteiligt gewesen seien, kann man nicht behaupten. Aber hätte selbst die
Linienführung des Staatsanwalts die große Sicherheit wie die der beiden weisen
und klugen, das Menschliche von innen her begreifenden Wisser und Kenner Ablaß
und Mamroth gehabt - die Bilder müßten verwirrt und verwirrend ausfallen, weil
die Kunstübung nicht rein und zwecklos war, sondern nach beiden Seiten höchst
entgegengesetzten Zielen zustrebte. Am schlechtesten kamen dabei der Angeklagte
und seine verschwundene Frau weg. Der Staatsanwalt malte dieses Doppelporträt
so, daß er einen Schurken neben eine Madonna setzte, und die Verteidiger
verwandelten die Madonna zu einem Frauenzimmer, den Schurken zu einem reinen
Toren. In einem waren freilich Staatsanwalt und Verteidiger auf der rechten
Spur oder auf den rechten Spuren. Peter Grupen ist nicht, wie die meisten
Menschen, eine Mischung von Gutem und Bösem, ein Einheitswesen, in dem die
widersprechendsten Eigenschaften gewissermaßen eine chemische Verbindung
eingegangen sind. Er hat nicht die Fehler oder Tugenden des
Durchschnittsmenschen. Bei ihm besteht vielmehr eine reinliche Scheidung. Er
ist primitiv bis zum 24. Lebensjahr, jedenfalls war er es. Es bestand nun die
Frage, welche von den beiden in ihm ruhenden Möglichkeiten er entwickelte. Er
entwickelte b e i d e . Deshalb sehen wir auf der Anklagebank nicht
den Mörder und den Unhold, sondern den braven, den tüchtigen, begabten und
hoffnungsvollen Absolventen der Baugewerkschule, dessen Betragen als
Angeklagter genau so untadelig ist, wie seine einstigen Lehrer es schilderten.
. . . . Es ist nicht ganz mit Unrecht von der Verteidigung gesagt worden; Soll
Kleppelsdorf wirklich sein Ziel gewesen sein? - Dörte ist tot - h a t
Grupen Kleppelsdorf? Sehr sicher war ihm die Beute der Tat nicht. Selbst
auf dem Umwege über die Großmutter wäre es ihm schwer geworden, in den Genuß seines
Raubes zu kommen. Wenn man behauptet, er hätte nachher gewiß die Großmutter und
die kleine Irma beiseite geschafft - man könnte mit demselben Recht sagen, er
hätte eine von beiden oder beide hintereinander geheiratet!“
Und in der
M o r g e n p o s t heißt es:
„Es liegt im Wesen eines Indizienprozesses, daß trotz zahlloser Beweismomente,
die für die Schuld des Angeklagten sprechen, immer auch noch die Möglichkeit
offen bleibt, daß eine andere Deutung der Geschehnisse, der Zusammenhänge und
Folgerungen auch zu einem anderen Ergebnis führen kann. Jedenfalls waren aber
in diesem Falle die an sich oft kleinen und in jedem Falle bedeutungslosen
Tatsachen zu einer solchen Kette von Beweisen angehäuft, daß die
Wahrscheinlichkeit der Schuld Peter Grupens sich in den Geschworenen zur
Gewißheit verdichten konnte. Um ein Todesurteil zu fällen, müssen Geschworene
aufs tiefste von der Schuld des Angeklagten durchdrungen sein. Nur ein leiser
Zweifel mußte sie vor einem solchen Urteil zurückschrecken lassen. Die Geschworenen
von Hirschberg haben diesen Zweifel offenbar nicht gehabt. . . . . Die schweren
Verdachtsmomente, die gegen Grupen in der Mordsache im Schlosse Kleppelsdorf
selbst vorlagen, hätten vielleicht nicht zu einem Schuldspruch führen müssen,
wenn nicht durch das Verschwinden der Frau und das Verbrechen an der kleinen
Ursula die Voraussetzungen für weitere Verbrechen geschaffen gewesen wären.
Denn mit der Ehe, die er eingegangen war, die aber ein so schnelles Ende
genommen hatte, hatte er sein Ziel, in den Kreis der reichen Familie als
gleichberechtigtes Mitglied aufgenommen zu werden, noch nicht erreicht. Dazu bedurfte
es neuer Schritte, die ihn nach Kleppelsdorf führten. Er hatte sich zweifellos
mit dem Gedanken getragen, die Millionenerbin Dörte Rohrbeck zu heiraten, sah
aber dieses Vorhaben bald an der erklärten Abneigung des jungen Mädchens und
vor allem auch ihrer einflußreichen Erzieherin scheitern. Wäre er nun von
Kleppelsdorf weggegangen, so wäre er bei der gegen ihn dort herrschenden
Stimmung wahrscheinlich niemals dahin zurückgekehrt, zumal wenn eines Tages das
Verbrechen, das er an seiner Stieftochter begangen hatte, zum Vorschein
gekommen wäre. Wenn er die Tat begangen hat, woran seine Richter nicht
zweifeln, so dürfte die Entfernung der kleinen Ursula wahrscheinlich das
Hauptmotiv gewesen sein, denn mit dieser Zeugin, wenn sie am Leben blieb, war
seine Zukunft immer bedroht. Sein Streben ging nach Reichtum und Ehre. Der Tod
Dörte Rohrbecks konnte ihm, der damals sich seines Einflusses auf die Großmutter
für sicher hielt, zum Reichtum verhelfen, der Tod Ursula Schades seine verlorene
Ehre retten. Mit diesen, wenn man sie so nennen kann, positiven Indizien,
trifft eine Reihe negativer Indizien zusammen, die es als höchst
unwahrscheinlich erscheinen lassen, daß die dreizehnjährige Ursula Schade, ein
gutgeartetes, kränkliches und schwaches Kind, das nie mit einer Waffe etwas zu
tun hatte, ihre Kusine, mit der sie in bestem Einvernehmen lebte, mit der
tödlichen Sicherheit eines ausgezeichneten Schützen getötet und dann mit
derselben Sicherheit ihrem eigenen Leben ein Ende gemacht haben soll. . . . .
Das Urteil wäre niemals gesprochen worden, wenn nicht die Handlungen und
Unterlassungen Grupens in den Geschworenen von vornherein die Ueberzeugung
gefestigt hätten, daß er einer solchen
T a t auch fähig sei.“
Wir teilen diese Aeußerungen der Berliner
Blätter lediglich deshalb mit, weil wir annehmen, daß unsere Leser sich dafür
interessieren werden, nicht etwa deshalb, weil wir all die vorgebrachten Meinungen
teilen.
Ein
falsches Gerücht.
Entgegen hartnäckig sich haltenden Gerüchten,
daß eine am 31. Januar d. J. in der Wedeler Au bei Blankenese aufgefundene
weibliche Leiche mit der der verschwundenen Frau Grupen identisch sei, hat
nunmehr, wie uns aus Hamburg gemeldet wird, eine gerichtliche Untersuchung der
Leiche die Unhaltbarkeit dieser Vermutung erwiesen.
Sonnabend, 24. Dezember 1921, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“
Frau
Grupen?
Gestern war uns von Hamburg berichtet worden,
daß festgestellt sei, daß die am 31. Januar bei Wedel gefundene Leiche nicht
mit der verschwundenen Frau Grupen identisch sei. Heute wird uns telegraphisch
gemeldet, daß die Norddeutschen Nachrichten in Blankenese berichten, die A u s g r a b u n g der betreffenden Leiche sei jetzt a n g e o r d n e t worden. Grupen soll in Wedel sehr bekannt
gewesen sein und sich kurz nach dem Verschwinden seiner Frau um die Hand einer
dortigen Landwirtstochter beworben haben. - Inwieweit die Meldung der Norddeutschen
Nachrichten richtig ist, ließ sich noch nicht feststellen.
Sonntag, 25. Dezember 1921, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
Das
Verschwinden der Frau Grupen
scheint jetzt sehr stark die zuständige
Staatsanwaltschaft in Altona zu beschäftigen, die offenbar auf Grund der Zeitungsberichte
über den Kleppelsdorfer Prozeß selbständig die
U n t e r s u c h u n g a u f g
e n o m m e n hat. Von der Hirschberger
Staatsanwaltschaft ist dieser Antrag nicht ausgegangen, noch hat die Altonaer
Staatsanwaltschaft bisher Akten von hier eingefordert.
Die uns heute aus I t z e h o e vorliegende Meldung besagt. Die
Staatsanwaltschaft Altona hat ein neues Ermittlungsverfahren in Sachen der
verschwundenen Frau Grupen eingeleitet. Bereits am Mittwoch ist der B e a m t e n s t a b d e s
B a h n h o f e s O t t e n b ü
t t e l von Polizeibeamten vernommen
worden. Die Beamten haben übereinstimmend bekundet, daß n i e m a n d von ihnen die A b r e i s e d e r
F r a u G r u p e n , die ihnen allen persönlich bekannt war, g e s e h e n hat. auch ist an dem fraglichen Nachmittag
kein Fahrbillett nach Schlesien oder Hamburg gelöst worden. Im ehemaligen
Grupenschen Besitztum fand eine e r n e
u t e B e s i c h t i g u n g a l l e r
R ä u m e u n d K e l l e r a n l a g e n statt.
Mittwoch, 28. Dezember 1921, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“
Revision
im Grupen-Prozeß.
Durch den Verteidiger Grupens, Justizrat
Dr. A b l a ß , ist gegen das Urteil des Schwurgerichts R e v i s i o n e i n g e l e g t worden. Das
R e i c h s g e r i c h t wird
sich demnach mit dem Prozeß beschäftigen müssen. Es hat aber nicht darüber zu
entscheiden, ob Grupen zu Recht oder Unrecht verurteilt worden ist, sondern nur
darüber, ob in der Hauptverhandlung Verstöße gegen die Strafprozessordnung
vorgekommen sind, wobei dem Reichsgericht als einzige Unterlage das Protokoll
der Verhandlungen dient. Das Reichsgericht kann die Revision verwerfen oder ihr
stattgeben. Bei einer Verwerfung wird das Urteil rechtskräftig. Zur
Vollstreckung bedarf es aber, da es sich um ein Todesurteil handelt, noch der
Willenserklärung der beim preußischen Justizministerium bestehenden B e g n a d i g u n g s k o m m i s s i o n
, daß sie von ihrem Begnadigungsrecht
keinen Gebrauch machen will. Reichspräsident Ebert hat, wie zur Widerlegung der
vielfach auftretenden Gerüchte mitgeteilt sei, mit der Begnadigung nicht das
geringste zu tun. Hebt das Reichsgericht aber das urteil auf, dann verweist es
die ganze Sache zur nochmaligen Verhandlung an das Hirschberger oder auch an
ein anderes Schwurgericht z u r ü c k
. die ganze Verhandlung müßte dann also
noch einmal wiederholt werden.
Mittwoch, 4. Januar 1922, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
Ueber
den Grupen-Prozeß
lassen sich auswärtige Blätter aus Leipzig
melden, daß über die von Grupen eingelegte
R e v i s i o n schon in
vierzehn Tagen von dem R e i c h s g e
r i c h t entschieden werden soll. Dies
ist jedoch ganz unzutreffend, weil zu dieser zeit vielleicht erst die B e g r ü n d u n g der Revision beim Reichsgericht eingegangen
sein wird. Dann muß erst die Gegenäußerung der
S t a a t s a n w a l t s c h a f t
eingeholt werden, so daß über die Revision erst etwa drei Monate nach
der Fällung des angefochtenen Urteils entschieden werden dürfte, wie es die
Regel ist.
In verschiedenen Zeitungen war auch zu lesen,
daß die Schwurgerichtsverhandlung gegen Grupen rund 200 000 Mk. Kosten
verursacht habe. Auch dies ist nicht zutreffend, denn die Kosten des Verfahrens
stehen noch nicht fest. Sie dürften aber erheblich höher sein als 200 000
Mk.
Freitag, 27. Januar 1922, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
(Peter
Grupen)
hat im Hirschberger Gerichtsgefängnis den
Versuch gemacht, sich zu erhängen. Ein Gefängnisbeamter, der gerade hinzukam,
konnte noch zur rechten Zeit den Selbstmord verhindern. Berliner Zeitungen
bringen wieder als etwas neues, daß gegen Grupen die Untersuchung wegen E r m o r d e r u n g s e i n e r
F r a u von der Staatsanwaltschaft Altona
eingeleitet worden sei. Diese Nachricht ist nicht neu, denn dies wurde, auch
von uns, schon bald nach dem Hirschberger Prozeß gemeldet.
Sonnabend, 28. Januar 1922, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
(Zum
Selbstmordversuch Grupens)
erfahren wir noch, daß der Vorfall sich
bereits vor etwa zwei Wochen zugetragen hat. Grupen war nach dem Todesurteil
sehr niedergeschlagen, spielte aber dann bald wieder den zuversichtlichen,
lebensfrohen Mann. Vor zwei Wochen fiel einmal den Gefängnis-Beamten eine
merkwürdige Stille in Grupens Zelle auf. Durch das Beobachtungsfenster sahen
sie, daß G r u p e n V o r b e r e i t u n g e n t r a f ,
s i c h z u e r h ä n g e n . Die Beamten wollten jetzt rasch die
Zellentür öffnen, diese leistete aber Widerstand, denn Grupen hatte sie durch
einen Kunstgriff verriegelt. Die Tür mußte gewaltsam eingedrückt werden.
Grupen, der bisher in Einzelhaft saß, wurde darauf in eine Gemeinschaftszelle
gebracht. Nach diesem Vorfall verweigerte er kurze Zeit die Annahme von Verpflegung.
Die Gefängnisbeamten, von denen einige ihm in der Schwurgerichtsverhandlung ein
gutes Zeugnis über sein Verhalten ausstellten, bereitet Grupen jetzt allerhand
Schwierigkeiten. Er hat besonders einen Beamten gewisser Pflichtwidrigkeiten
beschuldigt, ob mit Recht oder Unrecht, wird die eingeleitete Untersuchung
ergeben.
Freitag, den 24. Februar 1922, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“
Der
Grupen-Prozeß vor dem Reichsgericht.
Leipzig, 21. Februar.
Nach dem vor dem vierten Strafsenat des
Reichsgerichts heute erstatteten schriftlichen Bericht über die gegen das
Todesurteil des Hirschberger Schwurgerichts eingelegte Revision wird zunächst
der dem Sachverständigen Büchsenmacher Hensel vom Gericht erteilte Auftrag
beanstandet, S c h i e ß v e r s u c h
e i m
M o r d z i m m e r anstellen zu
lassen und sich darüber gutachterlich zu äußern. Aus dem Protokoll der
Hauptverhandlung wird mitgeteilt, in welcher Weise die Schießversuche
vorgenommen sind und wie sich der Sachverständige darüber geäußert hat. Es ist
dabei alles ordnungsgemäß zugegangen und irgend eine Gesetzesverletzung war
nicht ersichtlich. Insbesondere lag kein Grund zu der Annahme vor, daß die
Vorschriften über die Beweisaufnahme verletzt worden sind. Eine zweite Rüge
betraf die V e r n e h m u n g d e r
n e u n j ä h r i g e n I r m g
a r d S c h a d e . Die Zeugin hatte ihre Aussage in Abwesenheit
des Angeklagten gemacht. Als dieser wieder in den Saal geführt worden war,
beantragte der Verteidiger Justizrat Ablaß, die Zeugin zu veranlassen, ihre
Aussage dem Angeklagten ins Gesicht zu sagen. Diesen Antrag hat das Gericht
abgelehnt und über diese Ablehnung beschwerte sich der Angeklagte. Auch hier
lag ein Grund zur Beschwerde nicht vor, denn der Angeklagte ist durch den
Beschluß nicht in seiner Verteidigung beschränkt worden und ein Recht, zu
verlangen, daß ein Zeuge seine Aussage zweimal erstattet, steht dem Angeklagten
nicht zu. Die dritte Rüge bezog sich auf die
A u e ß e r u n g e i n e s G e s c h w o r e n e n . Dieser hatte während der Verhandlung
angeblich im Namen der übrigen Geschworenen inbezug auf die Aussage des Z e u g e n
T h o m a s über die Zeugin
Zahn, die Gesellschafterin der ermordeten Dorothea Rohrbeck, eine Aeußerung
getan, welche diese in einem ungünstigen Lichte erscheinen ließ. Der Zeuge
Thomas ist daraufhin nochmals vernommen worden und hat seine wahrscheinlich
mißverstandene Aussage derart präzisiert, daß er nichts Nachteiliges über den
Charakter und das Verhalten des Fräulein Zahn habe zum Ausdruck bringen wollen.
Aus dem Protokoll ergibt sich, daß er sich durchaus anerkennend über die Zeugin
ausgesprochen hat. In der Revision wurde die Ansicht vertreten, daß durch das
Auftreten des fraglichen Geschworenen der Angeklagte benachteiligt worden sei.
Wenn auch die Aeußerung jenes Geschworenen vielleicht hätte unterbleiben
können, so war es ihm doch gestattet, in die Verhandlung einzugreifen und
überdies ist damit, daß der Zeuge Thomas veranlaßt worden ist, sich nochmals zu
äußern, alles geschehen, was den Interessen des Angeklagten dienen konnte. Die
vierte Rüge bezog sich auf die als Zeugin während der Verhandlung vierzehn mal
vernommene und am Schlusse vereidigte Schwiegermutter des Angeklagten, die Witwe
Eckert. Diese ist bei 13 Vernehmungen darauf hingewiesen worden, daß sie ihre
Aussage verweigern könne und hat jedes Mal erklärt, daß sie aussagen wolle. Nur
bei der sechsten Vernehmung ist der Hinweis unterblieben. Darin erblickte nun
die Revision einen wesentlichen Mangel des Verfahrens. Da die Zeugin durchaus
über das ihr zustehende Recht im Klaren war, so muß angenommen werden, daß der
unterlassene Hinweis ohne jede Bedeutung gewesen ist, außerdem hätte es
vollkommen genügt, wenn der Vorsitzende die Zeugin bei der ersten Vernehmung
auf ihr Recht, die Aussage zu verweigern, hingewiesen hätte. Ein Verstoß gegen
das Verfahren, der zur Aufhebung des Urteils hätte führen müssen, lag also
nicht vor. Während der Verhandlung hatte der Staatsanwalt noch die V e r n e h m u n g z w e i e r
Z e u g e n beantragt. Der
Verteidiger hatte dann Aussetzung der Verhandlung beantragt, um erst über die
Zeugen Erkundigungen einziehen zu können. Darüber, daß dieser Antrag abgelehnt
worden ist, führte die Revision an fünfter Stelle Beschwerde. Da nun aber die
vielleicht bestehenden Zweifel über die Eignung der Zeugen durch die sofort
erfolgte Vernehmung am besten beseitigt werden konnten und beseitigt worden
sind, so lag für den Angeklagten kein Grund zur Beschwerde vor. Eine sechste
Beschwerde ging dahin, daß an einem Verhandlungstage nach Mitternacht der E r s t e
S t a a t s a n w a l t d e n S a a l
v e r l a s s e n habe und durch
den Assessor R. vertreten worden sei, obgleich nicht ersichtlich sei, daß
dieser Herr zur Vertretung des Staatsanwalts befugt sei. Eine vom Reichsgericht
eingeholte amtliche Erklärung des Oberstaatsanwalts löste diesen Zweifel der
Revision durch die Erklärung, daß der Assessor tatsächlich zur Vertretung
befugt war. Der Reichsanwalt, der nach dem Vortrage des schriftlichen Materials
das Wort erhielt, erklärte sämtliche Rügen für unbegründet und zwar aus den
Gründen, die oben bereits bei jeder einzelnen Beschwerde angegeben sind. Gemäß
dem Antrage des Reichsanwalts v e r w a
r f das Reichsgericht in später
Nachmittagsstunde die Revision des Angeklagten Grupen als unbegründet. Damit
sind die Würfel gefallen über einen Mann, der in außergewöhnlicher Weise das
Interesse nicht nur des Publikums, sondern auch der Juristen und Psychologen in
besonders lebhafter Weise erregt hat.
Hirschberg, 24. Februar 1922, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“
Sonnabend, den 25. Februar 1922, „Der Bote
aus dem Riesengebirge“
Hirschberg, 25. Februar 1922
Peter
Grupen entflohen!
Der Doppelmörder von Kleppelsdorf, Peter
Grupen, ist, nachdem am Dienstag das zweifache Todesurteil gegen ihn
rechtskräftig geworden, in der Nacht zum Freitag aus dem Gerichtsgefängnis an
der Bergstraße entsprungen und leider auch entkommen.
Die Ausführung der Flucht macht der
Erfindungsgabe, Verwegenheit und willensstarken Tatkraft des Verbrechers alle
Ehre. Grupen war, nachdem er vor einigen Wochen einen Selbstmordversuch
unternommen und in der letzten Zeit nochmals wiederholt Selbstmordgedanken
geäußert hatte, in dem der Bergstraße zugewandten Flügel des Gerichtsgefängnisses
in einer sogenannten Gemeinschaftszelle des zweiten Stockwerkes untergebracht
worden. Diese teilte er mit drei anderen Strafgefangenen namens Bohn,
Voigtländer und Bulleck, die alle drei nur noch geringe Strafen zu verbüßen
hatten. Als am Freitag morgen die Gefängnisbeamten zum Dienst erschienen,
standen Bohn und Voigtländer vor dem Gefängnistor und erklärten, daß sie
gemeinsam mit Grupen ausgebrochen seien, selbst aber, da sie nur noch kurze
Zeit zu verbüßen hatten, ab der Freiheit kein Interesse haben. Ein Blick auf
die Gefängnismauer überzeugte die Beamten sofort von der vollen Wahrheit dieser
Erklärungen: aus dem Fenster der Zelle Grupens ragte wagerecht in die Luft
hinein ein fast zwei Meter langes Brett, daran hing ein Strick herunter, und
von dem Vorbau des Gefängnisses in den Vorgarten hing ebenfalls ein Strick.
Nach der Erklärung Bohns und Vogtländers haben
die beiden, obwohl sie selbst, wie gesagt, an ihrer Befreiung nicht
interessiert sind, unter dem Willenszwang Grupens gehandelt. Sie erklärten, vor
Grupen Angst gehabt zu haben, daß er sich an ihnen vergreifen könne, - eine
Erklärung, die wenig glaubwürdig erscheint, weil die drei anderen Insassen der
Zelle dem einarmigen Grupen doch zweifellos überlegen waren. Bulleck, der
dritte Gefangene, war nicht geflohen, sondern lag früh, als die
Gefängnisbeamten erschienen, im Bett und neben ihm ein Zettel Grupen folgenden
Inhalts:
Geehrter Herr
Bulleck!
Nehmen Sie es uns nicht übel, aber wir mußten
Ihnen ein Schlafpulver geben, damit Sie unser Vorhaben nicht stören konnten.
Das angewandte Mittel ist absolut gefahrlos. Ich selbst habe probiert.
Hochachtungsvoll.
Peter Grupen.
Bulleck, dem das Schlafpulver in den
Abendkaffee geschüttet worden sein soll, erklärte, fest geschlafen und von der
ganzen Sache nichts gehört zu haben. Die Kleider Bullecks fehlten. Dem Grupen
wurden allabendlich die Kleider fortgenommen. Den drei anderen Insassen der
Zelle aber wurden die Kleider, übrigens Zivilanzüge, keine Sträflingskleider,
belassen. In dem Anzuge des durch das Schlafpulver betäubten Bulleck hat Grupen
dann die Flucht unternommen.
Nach weiterer Angabe Bohns und Vogtländers
haben sie in Gemeinschaft mit Grupen mit einem Brotmesser, das zu einer feinen
Metallsäge umgewandelt worden war, die Vergitterung des Fensters geöffnet. Dies
ist um so leichter, als die Traillenvorrichtung bereits defekt war. B e r e i t s v o r
J a h r e n h a t t e e i n
G e f a n g e n e r d i e s e
r Z e l l e d e n
Q u e r s t a b d e s G i t t e r w e r k e s d u r c h s ä g t u n d
w a r g l ü c k l i c h e n t k o m m e n . Dieser durchsägte Gitterstab war nicht, wie
man hätte vermuten sollen, damals durch einen neuen ersetzt, sondern durch zwei
Laschen, von denen die eine außen und die andere innen angebracht worden war,
wieder zusammengeflickt worden. Die Köpfe der Nieten, mit denen der Querstab
und die Laschen miteinander verbunden worden waren, haben Bohn, Voigtländer und
Grupen mit dem Brotmesser abzusägen verstanden. Damit hatte das ganze
Gitterwerk seinen Halt verloren. Mit einem aus einer Bettstelle losgelösten
ungefähr zwei Meter langen, starken Brette haben sie das Gitterwerk nach außen
durchgestoßen, dieses Brett dann durch das Fenster geschoben, im Innern
befestigt und am freien, in der Lust schwebenden Kopfende des Brettes ein aus
Bettlaken und Bettdecken zusammengedrehten Strick befestigt. Bohn und
Vogtländer sind dann als erste und Grupen, der Einarmige, als letzter an dem
Brett mittels „Hangelns“ herausgekommen und haben sich an dem Strick auf das etwa
drei Meter tiefer liegende Dach des Nebengebäudes des Gefängnisses, in dem
Büroräume und eine Beamtenwohnung liegen, heruntergelassen. Von hier aus hatten
sie es nicht schwer, auf das Dach des unmittelbar an den Vorgarten grenzenden
Vorgebäudes zu gelangen. An dem Schornstein dieses Hauses befestigten sie eine
doppelte Leine, die ziemlich kunstvoll zusammengesetzt war und in ihrem oberen
Teile aus zerschnittenen und zusammengedrehten Teilen von bunten Bettbezügen
und weißen Bettüchern und am unteren Teile aus dicken Schilfrohrstücken
bestanden. Grupen ließ sich an diesem strick zuerst herunter und eilte nach
Aussage von Bohn und Vogtländer sofort nach der Bergstraße und überkletterte
den niedrigen Eisenzaun. Als die beiden Helfer Grupens unten ankamen, war nach
ihrer Aussage der Mörder bereits spurlos verschwunden. Sie selbst gingen in die
Stadt, genossen noch ein paar Stunden die Freiheit, bis sie am Morgen in das
Gefängnis zurückkehrten.
Ueber die
Z e i t d e r F l u c h t
wissen die beiden Gefangenen keine genauen Angaben zu machen. Nach ihrer
Ansicht haben sie wohl gegen 12 Uhr angefangen zu arbeiten, sodaß die Flucht in
der Zeit von 2 bis 3 Uhr vollendet gewesen sein könnte.
Am Freitag früh sah man von dem Zellenfenster
die angebundenen Bettbretter und vom Dache des Nebengebäudes den
zusammengesetzten Strick herabhängen. Eine große Menschenmenge fand sich im
Laufe des Vormittags vor dem Gefängnis ein.
Natürlich wurden sofort nach Bekanntwerden
der Flucht die eingehendsten Ermittelungen angestellt, vor allem, wie die
Flucht möglich gewesen ist. Die Verfolgung Grupens wurde natürlich sofort
aufgenommen. Die angesetzten Polizeihunde konnten aber keine bestimmte Spur
aufnehmen, weil im Gefängnishofe nur Pflaster ist, und ja drei
durcheinandergehende Spuren zu verfolgen waren. Es kann aber schon gesagt
werden, daß die Polizei eine ganz bestimmte Spur verfolgt. Alle Behörden,
Polizeiverwaltungen und Landjäger sind benachrichtigt worden.
Mancherlei Einzelheiten dieser mit
zweifellosem Scharfsinn und Wagemut ausgeführten Flucht bedürfen noch der
Aufklärung. Wie war, muß man sich fragen, es möglich, einen Mann wie Grupen,
über dessen Kühnheit und Verwegenheit doch niemand im Zweifel sein konnte, in
einer Zelle unterzubringen, dessen Vergitterung nicht völlig sicher war? Wie
war Grupen, muß man sich weiter fragen, in den Besitz des Messers gelangt? Wo
hat Grupen das Schlafpulver her, mit dem er Bulleck eingeschläfert hat, und wie
ist Grupen in den Besitz des Schilfrohrstrickes gekommen? Es wurden zwar früher
in dem Gefängnis auf Rechnung einer Firma Schilfrohrstricke angefertigt, doch
ist diese Fabrikation schon seit einigen Wochen eingestellt worden und Grupen
ist niemals mit der Schilfarbeit beschäftigt worden. Wie kam Grupen in den
Besitz aller dieser Mittel, die ihm die Flucht ermöglicht haben? Man mußte bei
einem Manne, wie Grupen, jetzt, nachdem die Revision gegen das Todesurteil vom
Reichsgericht verworfen worden war, auch auf die äußersten Anstrengungen gefaßt
sein, sich der Vollstreckung des Urteils zu entziehen. Die Bevölkerung hat
unseres Erachtens einen Anspruch darauf, zu erfahren, wie es möglich war, daß
Grupen sich in den Besitz dieser Hilfsmittel, ohne die ihm die Flucht niemals
möglich gewesen wäre, zu setzen gewußt hat.
Grupen
auf der Flucht.
Peter Grupen ist 1,74 Meter groß, von
untersetzter kräftiger Gestalt, mit gestutztem mittelblonden Schnurrbart; er
hat ein volles, rundes Gesicht und gesunde Gesichtsfarbe, etwas aufgeworfene
Lippen, vollständige und gutgepflegte Zähne. Grupen hat eine hohe Stirm und
spricht die schleswig-holsteinische Mundart. Der linke Arm ist eine Handbreit
über dem Ellbogen amputiert. Bekleidet war Grupen bei der Flucht mit einem
dunkelgrünen Filzhut, einem feldgrauen Militärjackett ohne aufgesetzte Taschen,
schwarzer Weste, hell- und dunkelgrau gesprenkelten Hosen mit grünen Tupfen und
schwarzen Schnürschuhen.
Ein
Besuch bei Grupen.
Der Redakteur im Hause Scherl in Berlin, Herr
Emil S i m s o n , der seinerzeit der Schwurgerichtsverhandlung
beiwohnte und seit zwei Tagen aus privaten Gründen in Hirschberg weilte, hatte
Donnerstag mittag die Erlaubnis bekommen, Grupen zu sprechen. Die Unterredung
fand im Amtszimmer und in Gegenwart des Majors a. D. D e e t j e n statt, der seit kurzem die Leitung des
Gefängnisses hat. In dieser Aussprache zeigte sich Grupen r u h i g
und f e s t , wie immer. Er b e t e u e r t e s e i n e
U n s c h u l d und erklärte, im
Wege der W i e d e r a u f n a h m e
, nach Erledigung der Strafsache in
Altona, gegen das Todesurteil ankämpfen zu wollen. Mit der A u ß e n w e l t habe er jeden Verkehr, auch mit seiner
Familie, a b g e b r o c h e n . Auf eine bestimmte Frage des Berliner
Besuchers, ob er ein G n a d e n g e s
u c h einreichen wolle, erklärte
Grupen, daß er dies a b l e h n e
. Er habe auch seinen Verteidiger,
Justizrat D r . A b l a ß ,
ausdrücklich in diesem Sinne verständigt. Sollten alle Rechtsmittel
versagen, so möge das Urteil vollstreckt werden, die Verantwortung trügen ja
die zuständigen Stellen. Grupen, der sehr frisch aussah, lobte das Essen im
Gefängnis und erklärte, er habe gegen keine Beamten einen Groll; nach dem
Verlauf der Beweisaufnahme konnten die Geschworenen nicht anders urteilen.
Trotzdem sei er unschuldig. D i e T ä t e r i n s e i
U r s u l a . Wie er sich die
Tat denke, zeigte er beiden Herren an Hand einer sehr sicher hingeworfenen Zeichnung.
Weder Major Deetjen, noch der erwähnte Besucher merkten Grupen auch nur das
Geringste an, daß er sich mit irgendwelchen Fluchtabsichten trage.
Extrablatt Sonnabend, 25. Februar 1922
Dienstag, den 28. Februar 1922, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“
Grupens
Flucht und Rückkehr.
Der
Kampf mit dunklen Mächten.
Seit Mitte Januar führen Staatsanwaltschaft
und die neue Gefängnisleitung einen sehr schwierigen Kampf gegen gewisse
Mächte, die „draußen und drinnen“ tätig sind, die man aber vorläufig nicht
recht nennen und fassen kann. Diese Mächte haben sich zum Zieke gesetzt, Grupen
zu befreien. Die Vermutung ist berechtigt, daß „man“ diesmal den richtigen
Zeitpunkt, wo alles zur Erreichung dieses Zieles klappen sollte, für gekommen
hielt. Daß aber dem „man“ ein Strich durch die Rechnung gemacht wurde, dürfte
das erste Ergebnis des Kampfes dieser Behörden sein. Die Hilfe, die Grupen
erwartete, konnte nicht durchgreifen. Die von den Behörden sofort eingerichtete
Ueberwachung lähmte die Tätigkeit der Helfershelfer, sodaß Grupen Hirschberg
nicht verlassen konnte und sich mangels jeglicher Unterstützung genötigt sah,
sich wieder im Gefängnis zu stellen. Das Ringen der Behörden steht heute vor
einem teilweisen Abschluß, aber der Kampf im ganzen ist noch nicht
abgeschlossen. Noch manches Rätsel harrt seiner Lösung. Da sich Grupen wieder
selbst gestellt hat, brauchen die Sicherheitsmaßnahmen, die von Polizeiinspektion,
Kriminalpolizei und Grenzpolizei getroffen sind, kaum mehr in Tätigkeit zu
treten. Indessen muß an der Aufdeckung aller noch dunklen Punkte unermüdlich
weiter gearbeitet werden.
In dem Verhör, dem G r u p e n
am Sonnabend Mittag unterworfen wurde, hat dieser die Einzelheiten der
Flucht so bestätigt, wie wir sie bisher geschildert haben. Viele haben gemeint,
daß er sich mit einem Arme nicht habe am Tau herunterlassen können, doch
bekundet er selbst, daß diese Sache ganz gut gegangen sei, indem er das Tau
zwischen den Beinen festklemmte und mit der einen Hand nachhalf. Als die Drei
unten angekommen waren, will Grupen zu den beiden anderen Gefangenen wörtlich gesagt
haben: „So, nun laßt uns alle wieder hineingehen, dann sieht man wenigstens,
daß mir an der Freiheit dann nichts liegt, wenn ich meinen reinen Namen nicht
so wieder haben kann, wie ich ihn hierher gebracht habe.“ Grupen hat dann in
demselben Verhör weiter bekundet, er habe ganz genau gewußt, wohin er zu gehen
hatte, bestritt aber entschieden, sich in der Wohnung eines Gefängnisbeamten
auf der Wilhelmstraße aufgehalten zu haben. In einer Hirschberger Behausung sei
er allerdings gewesen, und hätte dort ohne Gefahr noch längere Zeit verweilen
können, jedoch will Grupen den Namen des Wohnungsinhabers nicht nennen. Er
bestreitet, daß er sich den ganzen Tag auf dem israelitischen Friedhof oder in
den Schießständen am Schützenhause aufgehalten habe; diese Gegend kenne er
garnicht.
Am Nachmittag desselben Tages sagte Grupen
aber ganz anders aus. Er behauptet nämlich neuerdings, daß er nach dem Ausbruch
aus seiner Zelle das G e f ä n g n i s
g r u n d s t ü c k g a r n i c h t
v e r l a s s e n , d a ß e r
s i c h v i e l m e h r i m
B l i t z a b l e i t e r s c h a c h t
i m H o l z h o f a u f g e h a l t e n h a b e .
Man kann natürlich nicht sagen, ob er nun hiermit die Wahrheit sagt,
aber möglich ist, daß seine neuere Aussage zutrifft, denn Grupen ist ohne
Schuhe oder Pantoffeln an den Füßen geflüchtet, und seine Strümpfe sahen bei seiner
Rückkehr nicht so aus, als hätte er einen längeren Weg auf zum Teil doch sehr
schmutzigen Pfaden hinter sich.
Zweifellos ist die Flucht aber von längerer
Hand vorbereitet worden, und diesen sehr sorgfältigen Bemühungen gegenüber kann
man sich der Vermutung nicht entziehen, daß das Ziel die wirkliche Befreiung
war, statt einer leeren Kundgebung, gegen welche allein schon die äußerlich
starke Erregung spricht, in der sich Grupen bei seiner Rückkehr befand. Das
Tischmesser, mit dem Grupen die Nieten des Gitterwerkes durchsägt hat, stammt
sehr wahrscheinlich aus der Gastwirtschaft, aus der er seine Selbstverpflegung
bezogen hat. Diese Wirtschaft lieferte anfangs das Essen ohne Messer und Gabel,
aber Grupen bestand darauf, ein Besteck zu erhalten, und hat es auch bekommen,
wobei er anscheinend eines Tages das Messer unauffällig zurückhielt. Die
Zurichtung des Messers als Säge war sehr kunstgerecht, so daß man sich wundern
kann, wie Grupen diese mühevolle Arbeit bei seinem einen Arme gelingen konnte.
Daß er sich die Schlafpulver unter Vorspiegelung von Schlaflosigkeit
erschlichen hat, haben wir bereits erwähnt. Auch das deutet auf einen
wohlüberlegten Plan hin.
Auch heute treffen die Nachrichten
auswärtiger Blätter, daß zwei Gefängnisbeamte als Helfershelfer Grupens aus dem
Dienst entlassen wurden seien, nicht zu. Anfang Januar ist allerdings der
Strafanstaltsinspektor Schenke beurlaubt und seit Anfang Februar vom Dienst
suspendiert worden. Am Sonnabend hat auch ein anderer Gefängnisbeamter
unfreiwillig Urlaub nehmen müssen. Ob und inwieweit beide Tatsachen mit Grupens
Flucht in Verbindung stehen, entzieht sich vor der Hand unserer Kenntnis.
Die „Damenwelt“ gewisser Kreise ist übrigens
für Grupen immer noch begeistert. Welche Genugtuung würde es dem Frauenjäger
bereiten, wenn er davon Kenntnis erlangen könnte! Aus verschiedenen Orten
Deutschlands, - vom Kurfürstendamm in Berlin zum Beispiel, - werden an Grupen
Briefe gerichtet, in denen zuweilen Liebesgaben wie Blumen und Schokolade
enthalten sind, die aber Peter Grupen nicht bekommt. - „Briefe, die ihn nicht
erreichten …!“
*
Grupens
Gattenmordprozeß.
Wegen des drohenden Verfahrens, das die
Staatsanwaltschaft in Altona gegen Grupen wegen des Mordes an seiner Frau
eingeleitet hat und das in Kürze zu einer Verhandlung vor den Altonaer
Geschworenen führen wird, hat sich Grupen vor kurzem an den Berliner Anwalt Dr.
Puppe gewandt und ihn gebeten, seine Verteidigung in dem Prozeß zu übernehmen.
Rechtsanwalt Dr. Puppe hat sich bereit erklärt, das Mandat zu übernehmen. Er
hat auch gleichzeitig damals Grupen mitgeteilt, daß er nach etwaiger Verwerfung
der Revision des Hirschberger Urteils einen Antrag auf Aufschiebung des
Strafvollzugs, also der Hirnichtung, stellen wird.
Nach unseren Erkundigungen ist aber die
Untersuchung wegen des Verschwindens der Frau noch nicht soweit fortgeschritten,
daß die Verhandlung vor dem Altonaer Schwurgericht schon in Aussicht stände.
Sonder-Blatt Hirschberg, den 2. März 1922,
„Der Bote aus dem Riesengebirge“
Sonnabend, den 4. März 1922, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“
Peter
Grupens Ende.
Grupen wurde Donnerstag nachm. in seiner
Zelle tot aufgefunden. Er hatte sich mittels seines Hosenträgers erhängt. Die
Leiche hing in schräger Stellung an dem Heizkörper der Zentralheizung, der sich
etwa in Brusthöhe befindet. Der herbeigerufene Gefängnisinspektor Dertjen
schnitt die Leiche ab. Der im Gefängnis untergebrachte Arzt Dr. Friedrich aus
Giersdorf stellte sofort Widerbelebungsversuche an, die durch den
Gefängnisarzt, Sanitätsrat Dr. Galle, fortgesetzt wurden, aber trotz anderhalbstündiger
angestrengtester Bemühungen erfolglos blieben. Die Leiche wurde eingesargt und
alsbald nach der Leichenhalle des Kommunalfriedhofs geschafft. Die Nachricht
von dem Selbstmord wurde durch den Boten unmittelbar nach der Tat sofort durch
Extrablatt verbreitet.
Grupen war nach dem Ausbruch wieder in einer
Einzelzelle untergebracht worden, um ihm die Möglichkeit zu nehmen, bei einem
etwaigen neuen Ausbruch Helfershelfer zu haben. Man hatte ihm zunächst auch
Fesseln angelegt, die ihm aber abgenommen wurden mit Rücksicht auf seine
Einarmigkeit und mit Rücksicht darauf, daß er versprochen hatte, keinerlei
Ausschreitungen zu begehen. Um ihn zu zerstreuen, wurde Grupen mit
Schreibarbeiten beschäftigt. Am Donnerstag Morgen hatte der Gefängnisinspektor
mit ihm einen Unterhaltung, bei der er durch nichts irgendwelche
Selbstmordgedanken verriet. Er ließ sich sämtliche Mahlzeiten gut munden und
legte auch sonst kein auffälliges Verhalten an den Tag. Seine Zelle wurde
mindestens alle halbe Stunden vom Korridor aus durch das in jeder Zellentür
befindliche Guckloch der üblichen Beobachtung unterzogen. Als der Beamte gegen
4 Uhr wieder an Grupens Zelle vorbeikam, sah er, daß die Scheibe des Gucklochs
mit Papier verklebt war. Daraufhin wurde natürlich die Zelle sofort geöffnet
und Grupen am Heizkörper hängend aufgefunden.
Daß Grupen zum Selbstmord Hosenträger benutzt
hat, gibt dem Publikum Anlaß zu Vorwürfen gegen die Gefängnisverwaltung. Es sei
aber darauf hingewiesen, daß man Gefangenen am Tage doch ihre Kleider belassen
muß, zu der doch unbedingt Hosenträger oder ein Gürtel gehören, und daß sich
Gefangene ebenso gut am Hemd oder an Streifen aus anderen Kleidungsstücken
erhängen können, wie es tatsächlich schon vorgekommen ist. Hat ein Gefangener
den festen Willen, aus dem Leben zu scheiden, so kann man ihn, auch wenn man
ihn splitternackt läßt, nicht verhindern, sich die Pulsadern durchzubeißen. An
scharfer Bewachung Grupens hat es jedenfalls nicht gefehlt, doch kann nicht bei
jedem Gefangenen dauernd ein Gefängnisbeamter stehen. Ob Grupen letztwillige Aufzeichnungen
oder Auslassungen über die ihm zur Last gelegten Mordtaten hinterlassen hat,
konnte noch nicht ermittelt werden.
In den letzten Tagen war Grupen fast
ununterbrochen wegen seines A u s b r u
c h s v e r s u c h e s vom Polizeiinspektor
Ripke und Kriminal-Oberwachtmeister Häußler vernommen worden. Die Vernehmungen
haben ergeben, daß Grupen nicht in die Freiheit gelangt, sondern sich lediglich
auf dem inneren Gefängnishof aufgehalten hat. Die Einzelheiten der Vernehmung
sind die folgenden:
Bereits am Donnerstag Abend gegen 6 Uhr
begannen Grupen und seine Helfershelfer mit dem Zusammenknoten der Leinen. Am
Tage vorher waren die Nieten am Gitter durchgesägt worden. Grupen sah sehr
scharf darauf, daß die Knoten auch recht genau geknüpft wurden, damit das Seil
dann auch hielte. Als früherer Baugewerksschüler hatte er auch statische
Berechnungen über die Tragfähigkeit der beiden Bettbretter angestellt, die beim
Aussteigen aus dem Fenster benutzt wurden. Die Vorbereitungen wurden wiederholt
unterbrochen, sobald das Knarren des Fußbodens das Herannahen des
kontrollierenden Beamten verriet.
Einmal blieb der Beamte sogar dreiviertel
Stunden in der Nähe von Grupens Zelle, sodaß während dieser Zeit nicht
gearbeitet werden konnte. Gegen 3 Uhr morgens waren die Vorarbeiten beendet,
und der Ausbruch konnte beginnen. Zunächst kletterte Bohn durch das Gitter und
ließ sich am Tau auf das Dach des Beamtenhauses herab. Dann folgte Grupen,
nachdem er die Gitterstäbe erweitert hatte, da die Oeffnung für seine
gedrungene Gestalt zu klein war. Einen der Stäbe hat er weitergebogen und mit
einem Taschentuch festgebunden. Als letzter folgte Vogtländer. Auf dem Dache
des Beamtenhauses angelangt, befestigte Grupen das Schilfseil am Schornstein,
an dem sich dann die Drei in den Vorgarten herabließen. Hier will dann Grupen
an seine beiden Mitflüchtlinge die bereits mitgeteilte Aufforderung zur
Rückkehr in das Gefängnis gerichtet haben. Bohn fragte Grupen, ob er ihm und dem
Vogtländer ein Unterkommen verschaffen könnte, worauf Grupen erwiderte: „Wo ich
hingehe, dahin kann keiner mitkommen.“ Die beiden halfen dann Grupen auf die
Gefängnismauer, die den inneren Hof einschließt, und auf der Grupen bis zum
Holzhof lief. Ueber den Holzschuppen herab kam Grupen in den Holzhof, also in
den i n n e r e n Gefängnishof, und v e r s t e c k t e s i c h
d o r t i n d e m
B l i t z a b l e i t e r s c h a c h t , in dem er sich d e n
g a n z e n T a g ü b e r a u f h i e l t . Am Abend meldete er sich dann am
Küchenfenster.
Bei den Vernehmungen hat Grupen, wenn auch
oft erst nach stundenlangem Ausfragen, Auskunft gegeben, woher er die
Hilfsmittel zur Flucht bekommen hat. So erklärte er zur Beschaffung des
Schiffstaues, daß es von einem Zellengenossen in einem Kübel in die Zelle
gebracht worden ist. Dagegen hat Grupen keine Aufklärung gegeben über die
Herkunft eines Sägeblattes, mit dem er die Gitterstäbe durchsägte, nachdem er
mit dem auch zu einer Säge hergerichteten Tischmesser die Nieten der
Gitterbefestigung gelöst hatte. Bei seiner letzten Vernehmung am Mittwoch abend
erklärte er aber dem Polizeiinspektor: „Wenn Sie nicht weiterkommen, verrate
ich Ihnen auch das noch.“ Grupen hat offenbar Mitleid empfunden mit den
Gefängnisbeamten, die durch seinen Ausbruch in eine schwierige Lage gekommen
sind. Es sprach sein Bedauern aus, den Behörden so viel Arbeit gemacht zu
haben.
Die Ermittelungen, inwieweit G e f ä n g n i s b e a m t e Grupen gegenüber ihre Dienstpflicht verletzt
und insbesondere ihm seine Flucht erleichtert haben, sind zu einem gewissen
Abschluß gelangt. Ueber die Ergebnisse dieser Untersuchung kann aber, da es
sich um noch schwebende Disziplinarverfahren handelt, natürlich keine Mitteilung
gemacht werden. Wie wir aber bereits mitteilten, ist ein Beamter bereits vom
Dienste suspendiert, ein zweiter ist unfreiwillig in Urlaub gegangen, und jetzt
wird wahrscheinlich auch noch gegen einen dritten Beamten das Disziplinarverfahren
eröffnet werden.
Solange nicht etwa hinterlassene
Aufzeichnungen von Grupen bekannt werden, ist man über den Beweggrund für
Grupens Flucht aus dem Leben nur auf Vermutungen angewiesen. Ob es nicht in
erster Linie die Furcht vor der drohenden lebenslänglichen Zuchthausstrafe war,
die ihn veranlaßte, Hand an sich selbst zu legen? Für ihn, den Genußmenschen,
mußte der Gedanke furchtbar sein, den Rest seines Lebens hinter Zuchthausmauern
zu verbringen. Deshalb hat er auch wiederholt erklärt, Furcht vor dem Tode habe
er nicht, und deshalb hat er auch die Stellung eines Gnadengesuches entschieden
abgelehnt. Vielleicht war auch das in Altona schwebende Verfahren wegen
Ermordung seiner Frau der Beweggrund zum Selbstmord. Hier war für Grupen
besonders belastend, daß die von ihm verkauften Ringe der verschwundenen Frau
deutliche Beweise dafür zeigten, daß sie mit Gewalt von den Fingern der
Trägerin entfernt worden waren. Jedenfalls geht mit Grupen noch manches
ungelöste Rätsel ins Grab. Die Leiche ist bereits von der Staatsanwaltschaft
zur Beerdigung freigegeben worden. Ob seine Verwandten die Bestattung
übernehmen werden. ist den zuständigen Behörden zurzeit noch unbekannt.
Sonntag, den 5. März 1922, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
Grupens
Selbstmord.
Die in Kiel lebende M u t t e r
Peter Grupens ist von dem Tode ihres Sohnes benachrichtigt worden. Von
den Angehörigen Grupens hat sich bisher noch niemand zur Uebernahme der Beerdigung
geäußert, die deshalb von den hiesigen Behörden bewerkstelligt werden muß.
Rechtsanwalt
D r . P u p p e , der Grtupen in dem Altonaer Prozeß
verteidigen sollte, macht dem B. T. zu Grupens Tod die folgenden Mitteilungen:
„Die Nachricht, daß Grupen seinem Leben ein
Ende gemacht hat, muß umso überraschender wirken, als die Wärter, die Grupen zu
beaufsichtigen hatten, weder in den vergangenen Tagen noch in den letzten
Stunden vor der Tat irgendeine Spur von Erregung in dem Wesen Grupens entdeckt
hatten. Die Vermutung liegt sehr nahe, daß Grupen infolge eines g a n z
p l ö t z l i c h e n s e e l i
s c h e n Z u s a m m e n b r u c h
s Hand an sich gelegt hat. Er war ein
Mann, der wußte, wohin er hinaus wollte und worum es sich für ihn handelte.
Grupen war auch mit ganz ungewöhnlich hohen geistigen Gaben ausgestattet: er
war aber vor allen Dingen ein Mann, der zielbewußt zu handeln pflegte. Dies
geht auch schon aus den r e g e l m ä ß
i g e n Z ü g e n s e i n e r
H a n d s c h r i f t hervor.
Noch nach seiner Flucht hatte Grupen noch einmal an mich geschrieben, und ein Vergleich
dieser letzten Schrift mit früheren Schreiben an mich weisen keinerlei
Veränderungen in den Schriftzügen auf. Er hatte mich in seinem l e t z t e n B r i e f
gebeten, ihn wegen wichtiger Besprechungen zu dem bevorstehenden Prozeß
in Altona im Gefängnis in Hirschberg zu besuchen, und in der kommenden Woche
wollte ich dieser Aufforderung Folge leisten. Nun nach dem plötzlichen
Selbstmord Grupens wird ja der ganze Prozeß in Altona nicht stattfinden.
Interessant ist wohl auch die Tatsache, daß in der kommenden Woche eine S p i r i t i s t e n s i t z u n g wegen der angeblich nicht
aufzufindenden F r a u G r u p e n
stattfinden wird, zu der ich bereits eine Einladung erhalten habe.“
Hoffentlich teilt Rechtsanwalt Dr. Puppe, der
den spiritistischen Weg, der Sache auf den Grund zu kommen, für gangbar zu
halten scheint, der Oeffentlichkeit mit, was sich bei dieser Sitzung alles
ereignet hat. Denn wenn sich der Blödsinn dieses Kapitels bemächtigt, so muß
das auch in der Oeffentlichkeit besprochen werden. In Hirschberg ist der
Blödsinn schon in vollem Gange. Ueberall kann man hören, Grupen sei gar nicht
tot, er mache nur den Behörden etwas vor und werde schon bei gelegener Zeit aus
dem Sarge oder aus dem Grabe oder sonstwie ausrücken. Ein Beweis, wie stark das
Zutrauen zu den Fähigkeiten des Verbrechers und wie gering das Zutrauen zu den
Behörden ist. Zunächst wird Grupen wohl in der Phantasie gewisser Kreise am Leben
bleiben, jedenfalls aber auf dem Tallsackmarkt auferstehen und dann auf diese
oder andere Weise weiter „schrechen“. Und die „Damen“ werden sich mit seinem
Astralleib in Verbindung zu setzen suchen.
Sonntag, den 5. März 1922, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
Landru
und Grupen.
Man pflegt gewöhnlich die Charaktereigenschaften
und Eigentümlichkeiten einzelner Nationen in ihren großen Vertretern, in
Persönlichkeiten, zu symbolisieren. Der nationlae Held ist gleichzeitig auch
das nationale Ideal. Aber auch in der Untat, im Verbrechen liegt etwas unbewußt
Imponierendes, etwas Kennzeichnendes, das zu seltsamen Vergleichen Anlaß gibt.
Ist es Zufall oder merkwürdige Fügung, daß zu gleicher Zeit in Frankreich ein
Landru und in Deutschland ein Peter Grupen auftrat? Man hat schon öfters die
Gleichzeitigkeit gewisser Erscheinungen beobachten können und zweifellos stehen
auch diese beiden Mörder, denen man beiden nichts absolut Sicheres nachweisen
konnte, in einem inneren, aber nicht erklärbaren Zusammenhang. Beide haben das
Geheimnis, das sich um ihr Leben und um ihre Tat rankt, mit ins Grab genommen
und die Nachwelt wird ebenso wenig wie die Gegenwart ein endgültiges Urteil
sprechen können.
Nur das Ende der Beiden war verschieden, und,
so möchte man sagen, für jeden einzelnen kennzeichnend. Landru, bis zu seinem
Tode der unverwüstliche, französische Charmeur, der alles gewissermaßen auf die
leichte Achsel nahm, Eindruck erwecken wollte und bis zum letzten Augenblick
nicht die Hoffnung verlor, ja sozusagen mit einem halben Scherzwort in die
Ewigkeit flüchtete - Grupen, ein Mann von unbeugsamem Willen, von Ueberlegung
und Selbstbeherrschung, Unerschrockenheit und gebändigten Nerven, gewissermaßen
verstockt, von einer rauhen Lebensenergie beherrscht, die ihn einen
Fluchtversuch unternehmen und wieder in das Gefängnis zurückkehren ließ, als er
einsah, daß die Flucht ihn nicht retten konnte. Nun hat er selbst - in einem
Anfalle von Verzweiflung, so heißt es - Hand an sich gelegt, ohne das Ende des
noch in Altona schwebenden Verfahrens abzuwarten, eines Verfahrens, das dem Verurteilten,
wenn er unschuldig war, immerhin einige Ausblicke eröffnete. Vielleicht wird
die Untersuchung, nicht die nunmehr abgeschlossene in Altona, sondern die in
Hirschberg noch mancherlei ergeben. Psychologisch erscheint es zunächst
zweifelhaft, daß ein Mann wie Grupen, der sich noch um halb vier Uhr absolut
unverdächtig, ruhig und gelassen benahm, eine halbe Stunde später „in einem
Anfalle von Verzweiflung“ sich das Leben nahm. Oder sollte sich vielleicht gar
in diesem plötzlichen Aufgeben aller Pläne eine deutsche Charaktereigenschaft
widerspiegeln - ein jähes Zusammenbrechen, ein Versagen aller bisher,
wenigstens zur Schau getragenen Willenskräfte?
Eines ist aber wieder für beide Mörder und
für gewisse Frauen beider Länder, Frankreichs wie Deutschlands, charakteristisch.
Beide haben Frauen gemordet. Und für beide Männer zeigte sich im Laufe der
Prozesse von seiten der „Damen“ ein Interesse - ein Interesse, das ins pervers
Krankhafte geht. Man weiß, daß Landru nach seiner Verurteilung allerlei fürstliche
Geschenke, Blumen, Bonbons und Liebesbriefe in Hülle und Fülle ins Gefängnis
bekam. Und es ist nicht weniger beachtenswert, daß noch in den letzten Tagen an
Grupen viele Zuschriften von Damen kamen, darunter besonders solche vom
Kurfürstendamm in Berlin. Man hat viele Blumen und andere Geschenke, Pralinés
und Bäckereien versandt, die aber an Grupen nicht ausgeliefert wurden. Es ist
dies eine der Rätselhaftigkeiten, daß viele Frauen immer wieder wie mit
magischer Gewalt von der Gemeinheit angezogen werden, daß sie sich an seltsamen
Vorstellungen zu berauschen scheinen. Denn anders könnte man sich diese
offenkundige „Huldigung“ für diese beiden verwegenen Verbrecher, die die
Frauen, jeder auf seine Weise, nur als Schlachtopfer betrachteten, nicht
erklären. In diesem unbewußten Drang zum Gemeinen, zum Schaurigen und
Blutrünstigen ist bei den Damen vom Berliner Kurfürstendamm und denen der
Pariser Boulevards kein Unterschied zu merken. Sie versinnbildlichen beide
etwas, das nicht allein beiden Völkern gemeinsam ist, sondern in der Zeit
liegt, aber in dem am Boden liegenden Deutschland besonders kraß in Erscheinung
tritt, - sie versinnbildlichen etwas, das in der schrankenlosen Entfesselung
aller Begierden liegt, in der wüsten Entwürdigung der eigenen Menschlichkeit …
Sonntag, den 5. März 1922, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
Lähn, 3. März (Verschiedenes)
Die kirchlichen Körperschaften der
evangelischen Gemeinde haben beschlossen, für die im Kriege abgegebenen drei
Bronzeglocken Klangstahlglocken aus Apolda als Ersatz zu beschaffen. Die
Gesamtkosten werden etwa 35 000 Mark betragen. Die Beschaffung wird der
Gemeinde dadurch sehr erleichtert, daß Rittergutsbesitzer Pingel in
Kleppelsdorf zum Andenken an seine Nichte, Dörte
Rohrbeck, eine Glocke für Lähn stiftet, und daß die Glocke für Mauer Major
Grimm daselbst zum Andenken an seine beiden im Kriege gefallenen Söhne schenkt.
Der noch übrige Betrag soll hauptsächlich durch freiwillige Gaben gedeckt
werden.
Dienstag, den 7. März 1922, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
Immer
wieder Grupen.
Nicht etwa, daß er wieder lebendig geworden
wäre. Nein, nein, er ist ganz tot. Aber für den Berliner Rechtsanwalt, der ihn
gern in Altona verteidigt hätte, ist das sicherlich nicht angenehm, denn er
bombardiert das B. T. mit Veröffentlichungen, die anscheinend Ersatz bieten
sollen für das fortgefallene Altonaer Verfahren. Er hat neuerdings dem
bekannten Graphologen Langenbruch einen Originalbrief Grupens zur Beurteilung
übergeben, und Langenbruch bezeichnet dessen Schrift als ein Kunstprodukt, als
eine zeichnerische Schrift, aus der sich graphologische Folgerungen nur in ganz
geringem Maße ziehen ließen. Er nimmt nur Selbstbeherrschtheit,
Selbstbewußtheit, Selbstgefälligkeit und Eitelkeit an, also Eigenschaften, die
wir an Grupen wirklich schon aus dem Prozeß zur Genüge kennen gelernt haben.
Für diejenigen „Damen“, die gern mit der Handschrift Grupens auf dem Herzen
schlafen gehen möchten, sei noch mitgeteilt, daß die Schlusszeilen des
Grupenschen Briefes im B. T. …similiert abgedruckt sind. Um aber selbst in
dieser traurigen Angelegenheit dem Humor doch noch etwas Feld zu gestatten, sei
den spiritistischen Hoffnungen des Rechtsanwalts Dr. Puppe noch einmal das Wort
gegeben. Er schreibt dem B. T.:
„Für denjenigen, der spiritistischen
Experimenten nicht fern steht, ist es eine durchaus ernste Sache, wenn erste
spiritistische Kreise Berlins versuchen wollen, mit Hilfe einer Séance diesem
Rätsel näherzukommen. Die g e p l a n t
e S i t z u n g wird
u n t e r a l l e n U m s t ä n d e n stattfinden. Der Tod Grupens hat auf sie
keinen Einfluß, denn die Sitzung hätte sowieso in Abwesenheit Grupens
stattfinden müssen. Inwiefern das E r g
e b n i s d i e s e r S i t z u n g , wenn sie von einem gewissen Erfolge begleitet
werden sollte, in einem P r o z e ß v e
r f a h r e n a l s B e w e i s m i t t e l verwendet werden könnte, ist eine der
interessantesten und zugleich schwierigsten Fragen, denn im allgemeinen sind
die Richter derartigen Dingen abgeneigt. Vielleicht aber hätten die Geschworenen
doch auf eine entsprechende Anregung der Verteidigung gewünscht, daß das
Ergebnis ihnen vorgetragen werde; das hätte natürlich nur in der Form geschehen
können, daß man Personen, die an der Sitzung teilgenommen haben, insbesondere
das M e d i u m , a l s
Z e u g e v e r n o m m e n hätte. Es wäre dies der erste Fall in der
deutschen Strafpraxis gewesen, in dem ein derartiger Beweis überhaupt nur
angeboten worden wäre.“
Wir freuen uns darüber, daß „die Richter im
allgemeinen derartigen Dingen abgeneigt sind.“ Auch was die Geschworenen
betrifft, so glauben wir nicht, daß diese gewünscht hätten, das Medium als
Zeuge zu vernehmen. Daß Dr. Puppe der erste in der deutschen Strafpraxis ist,
der einen derartigen Beweis „überhaupt nur angeboten“ hätte, das möge e r
sich unseretwegen ruhig zum Ruhme anrechnen.
Dienstag, den 7. März 1922, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
U e b e r
G r u p e n können wir jetzt die
Akten schließen. Nicht aber über den Unfug, der durch unser Rechtssystem mit
dem Aufwand an Zeit und Geld der Steuerzahler getrieben wird. Man summiere
einmal, was im Falle Grupen an Ausgaben mittelbar und unmittelbar entstanden
ist. Eine Million Papiermark wird nicht ausreichen. Meinethalben mag man noch
zugeben, daß gegen Grupen verhandelt werden mußte, um dessen Verbrechen aufzudecken.
Es war oder schien gelungen. das Todesurteil war rechtskräftig, dennoch zögerte
man mit der Vollstreckung, nicht aus Menschlichkeit, sondern lediglich, um
denselben Mörder noch einmal des Mordes zu überführen und ihn zum zweiten Male
zum Tode verurteilen zu können. Das Verfahren mit allen Instanzen würde wieder
ein Jahr gedauert haben. Hätte er noch ein paar Morde begangen oder sich ihrer
auch nur verdächtig gemacht, so hätte er die schönste Versorgung für sein Alter
gehabt. Bei einigem Geschick wären die Prozesse bis an sein natürliches Ende
fortgesponnen worden, und wenn dann der Henker schließlich der Gerechtigkeit
freien Lauf hätte geben wollen, lag der Delinquent längst im Grabe, friedlich
an Zuchthausschwindsucht entschlafen. Aber er war klug genug, sich selbst
dieser Lebensverlängerung zu entziehen und die Mittel, die man hierfür hätte aufbringen
müssen, dem deutschen Volke zu ersparen. Grupen ist nur einer gewesen, der so
liebenswürdig handelte. Schicksalsgenossen dieses Mannes sitzen zu Tausenden in
deutschen Gefängnissen und nähren sich von unserem sauer verdienten Gelde,
nehmen uns die Nahrungsmittel fort, helfen unser Dasein zu verteuern, werden
aber weiter mitgeschleppt, wenn sie krank sind, gepäppelt: sie haben ein Dach
über dem Kopf und Wärme im Winter, während anständige, ehrliche Bürger ohne
Wohnung verkommen, dank der Kohlenpreise erfrieren und wenn sie nicht in einer
Krankenkasse sind, an ihrem Leiden zugrunde gehen dürfen, wenn sie nicht vorher
verhungerten, ohne daß da viel Aufsehen gemacht wird. Ich kann hier in diesem
Zusammenhang nicht sagen, wie es gemacht werden sollte. Einmal weiß ich es
selbst nicht genau - denn auch ich bin noch zu sehr in den alten
Rechtsanschauungen befangen - dann würde jeder Versuch eines Vorschlages zur
Besserung gleich Bände füllen. Aber nötig ist, daß immer wieder gezeigt wird,
wie etwas bei uns falsch ist, wie es gerade in unserer Rechtspflege die
schlimmsten Fehler gibt und wie da eine Aenderung eintreten muß. Mit diesem
Gedanken müssen sich die Jungen anfreunden. Wer einen Stiefel, dessen Oberleder
zerrissen ist, neu besohlen läßt, ist ein Narr. In unserer Rechtspflege „gehen
wir in der Narrheit so weit, daß wir ein Messer ohne Klinge, dem das Heft
fehlt,“ noch zum Schleifen geben, und wenn wir das nicht in gleichem Zustande
zurückerhalten, unbedenklich für die geleistete Scheinarbeit bezahlen.
J. v. B.
Mittwoch, 8. März 1922, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
(Peter Grupens Begräbnis)
Am Dienstag früh ist Peter Grupen auf dem
hiesigen Kommunalfriedhof begraben worden. Vorher wurde noch durch zwei Zeugen
festgestellt, daß die Leiche tatsächlich diejenige Peter Grupens war. Die
Stunde der Beisetzung war streng geheim gehalten worden, sodaß keine
Neugierigen, die sonst sicher in Scharen herbeigeströmt wären, anwesend waren.
Bereits am Montag hatten sich viele Neugierige auf dem Friedhof eingefunden,
die aber nicht auf ihre Rechnung kamen, denn die Beerdigung Grupens fand nicht
statt. Da die Verwandten sich nicht bereit erklärt hatten, die Beerdigung zu
übernehmen, erfolgte diese durch die städtische Armenverwaltung. Von den
Verwandten war auch niemand erschienen, sodaß also zur Beerdigung nur die dabei
dienstlich beschäftigten Personen anwesend waren. Still und klanglos wurde der
Sarg in das Grab gesenkt.
Samstag, den 11. März 1922, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
Selbstmord
eines Helfershelfers Grupens.
Der Gefängnisinspektor a. D. S c h e n t k e hat sich am Donnerstag Abend in seiner
Wohnung in der Wilhelmstraße e r s c h
o s s e n .
Es kann kaum noch einem Zweifel unterliegen,
daß Schentke an der F l u c h t G r u p e n s wesentlich beteiligt gewesen ist, indem er ihm
Hilfsmittel verschiedener Art und Erleichterungen seiner Haft hat zukommen
lassen. Grupen hat ja auch zu seinen Haftgenossen verschiedentlich geäußert,
daß er einen Rückhalt an einer Wohnung in der Wilhelmstraße habe. Aber auch
schon vor dem Prozeß hat Schentke offenbar seine Hand im Spiele gehabt bei
Vorgängen, durch die der Angeklagte Grupen Verbindung mit der Außenwelt
erlangte. Wie weit der Einfluß Grupens auf Schentke gegangen ist, unterliegt
gegenwärtig näherer Feststellung. Außer Schentke sind aber auch noch andere
Gefängnisbeamte an diesen Durchsteckerei beteiligt gewesen, und gegen sie
schwebt, nachdem sie vom Amte suspendiert sind, gegenwärtig ein Verfahren.
Bereits im Januar ist Schentke aus seinem Amte entlassen worden, weil er mit
einer Strafgefangenen ein zärtliches Verhältnis angeknüpft hatte. Bekanntlich
hatte er sie dann als Dienstmädchen zu sich genommen, wurde aber, als er einmal
mit seiner Frau verreist war, gröblich von dem Mädchen bestohlen. An Schentkes
Stelle ist ein neuer Gefängnisinspektor gesetzt worden mit der Aufgabe, die
ganzen schädlichen Zustände im Gefängnis aufzudecken und zu normalen Zuständen
zurückzuführen, doch konnte ihm dies in der verhältnismäßig kurzen Zeit, die
ihm bisher zur Verfügung stand, noch nicht vollständig gelingen.
Samstag, den 11. März 1922, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
( E i n e
S p u r v o n F r a u
G r u p e n ? ) Wie Berliner
Blätter melden, soll sich ein Mann aus Schlesien mit Bekundungen über das
Verschwinden der Frau Grupen gemeldet haben. Der Mann bekundet, er sei im
September 1920 in Nordenham bei einer Schiffsrederei beschäftigt gewesen. Am
29. September habe er als diensttuender Wächter dort auf dem Peer gestanden. An
jenem Tage sei ihm eine Frau aufgefallen, die mit einem Amerikadampfer von
Nordenham nach Südamerika abgereist sei. Nunmehr habe er den ausführlichen
Botenbericht über die Verhandlung gelesen und dabei gefunden, daß die
Beschreibung, die Frau Eckert von ihrer verschwundenen Tochter vor Gericht
gegeben habe, durchaus auf jene Frau passe. Der Mann hat sich nun zum Zwecke
der weiteren Aufklärung nach Hamburg und Nordenham begeben, um festzustellen,
welchen Hafen der Dampfer in Südamerika zuerst angelaufen ist und um sich ein
Bild der Frau Grupen zu verschaffen.
Freitag, 17. März 1922, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
(Grupen und immer wieder Grupen)
Seitdem Herr Rechtsanwalt Dr. Puppe in Berlin
die Verteidigung in dem mit dem Selbstmorde Grupens nunmehr erledigten Altonaer
Prozeß übernommen hat, weiß die Berliner Presse fast täglich Neues zu melden,
nicht über Grupen, sondern über Herrn Puppe. Einmal hat Herr Dr. Puppe den
Besuch eines neuen Zeugen erhalten, dann betreibt er das
Wiederaufnahmeverfahren, dann will er einen Hellseher nach der Spur der Frau
Grupen befragen, dann wieder läßt er durch Spiritisten das Geisterreich
durchforsten - kurzum, alle paar tage wird den Berlinern zum Bewußtsein
gebracht, welchen außergewöhnlich tüchtigen und geschmackvollen Rechtsanwalt
sie in Herrn Dr. Puppe besitzen.
Sonntag, 26. März 1922, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
Die
„Hellseherin“ auf Grupens Spuren.
In Berlin ist, wie schon kurz gemeldet, der
Versuch gemacht worden, mit Hilfe einer Hellseherin Spuren der verschwundenen
Frau Grupen ausfindig zu machen.
Draußen im Westen der Reichshauptstadt - so schildert
der Lokalanzeiger die Sitzung - fanden in einer Privatwohnung die Experimente
statt. Ein kleiner geladener Kreis hatt sich zusammengefunden. Als alle
versammelt waren, erschien das Medium, eine kräftige junge Frau, mit seinem
Magnetiseur. Nachdem das Licht mit roten Schleiern abgedämpft ist, beginnt die
Séance. Der Magnetiseur hält zunächst einen kurzen, einleitenden Vortrag über
die Art der zu erwartenden Mitteilungen, dann beginnt er seine Striche über dem
Medium. Die Dame fällt in magnetischen Schlaf und beginnt schon nach kurzer
Zeit zu sprechen.
Sie erhebt sich aus dem Sessel, sie wandert
im Zimmer umher. Sie erzählt von den Wegen, die sie durchwandert, sie
schildert: „Jetzt kommen Wiesen, jetzt vieles Wasser. Sie sieht Bäume und
Häuser. Sie öffnet die Tür des einen und tritt in einen langen dunklen Gang,
„einen Tunnel“, sie sieht einen Mann, der eine Frau an sich zieht, dann bricht
das Gesicht ab. Aber andere tauchen auf. Wir hören von einer Grube, in der sich
etwas befinden soll, das Medium kann nicht erkennen was, aber ihr Gesicht
drückt unverkennbares Entsetzen aus. Sie kniet nieder, um genauer hineinsehen
zu können. Aber auch dieses Gesicht zerrinnt. Andere werden geschildert. Es
erscheint ein Brunnen, in dem irgend etwas verborgen sein soll, ein Schiff will
abfahren, eine Frau steht an Bord, er werden Zimmer und Situationen
geschildert, aber irgend etwas Präzises, Genaues erfahren wir nicht.
„Wir bekommen hier nur lose Szenen
geschildert, die scheinbar keinen Zusammenhang haben,“ erklärt der Magnetiseur
nach Schluß der Sitzung. „Sache der prüfenden Forschung ist es nun, diese
Szenen zusammenzureihen und zu deuten.“ Eigentümlich ist, wie Herr Rechtsanwalt
Dr. Puppe erklärte, der H i n w e i s a u f
d e n B r u n n e n , denn in den Hirschberger Akten, die ihm am
Vormittag zugegangen waren, befindet sich der Brief eines Rutengängers, der
erklärt, daß er seinerzeit im Felde Versuche gemacht, ob die Wünschelrute auch
auf Leichen in der Erde reagiere und der damit Erfolge gehabt haben will.
Angeblich hat der Mann auf dem Grupenschen Gehöft in Holstein diese Versuche
wiederholt, und die Rute habe bei einem
a l t e n , v e r s c h ü t t e
t e n B r u n n e n Zeichen gegeben. Grupen soll bei der
Mitteilung dieser Versuche gesagt haben, man möge doch in dem Brunnen
nachsehen, a b e r a m
a n d e r e n T a g e h a t
e r s i c h e r h ä n g t .
Die Versuche mit der Somnambule sollen
fortgesetzt werden. Auch dabei wird natürlich nichts anderes herauskommen als
bei der ersten Sitzung: dunkle, vieldeutige Worte, mit denen nichts anzufangen
ist.
Dienstag, 2. Mai 1922, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
Hirschberg,
2. Mai 1922
Peter
Grupens Flucht aus dem Gefängnis
fand eine interessante Schilderung in einer
Verhandlung vor der H i r s c h b e r g
e r S t r a f k a m m e r gegen die des m e u t e r i s c h e n A u s b r u c h s angeklagten
Z e l l e n g e n o s s e n d e
s K l e p p e l s d o r f e r D o p p e l m ö r d e r s , des landwirtschaftlichen Arbeiters
Adolf V o i g t l ä n d e r aus Ebersbach in Sa. und des Schlossers
Georg B o h n aus Domb bei Kattowitz.
V o i g t l ä n d e r , ebenso wie Bohn, ein Bursche von etwa 20
Jahren, behauptete, daß Grupen die Flucht kurz nach seiner Verurteilung zum
Tode gefaßt habe. Grupen habe damals die im ersten Stockwerk liegende Zelle Nr.
30 mit einem Strafgefangenen Seifert geteilt. Seifert habe dem Grupen
versprechen müssen, ihm nach seiner Entlassung
e i n e S ä g e i n
d a s G e f ä n g n i s zu senden. Grupen sei tatsächlich in den
Besitz dieser Säge gelangt und habe alsbald damit begonnen, nachts einen
Gitterstab am Fenster zu durchsägen. Ehe Grupen diese Arbeit beendet hatte, sei
er in die Zelle 58 im zweiten Stockwerk gebracht worden und den habe dort ihn
(den Voigtländer) sowie den Bohn und den Strafgefangenen Bullik als
Zellengenossen gehabt. In der Zelle Nr. 58 habe sich herausgestellt, daß
die S ä g e durch die Arbeit am Fenstergitter der Zelle
30 völlig u n b r a u c h b a r geworden war. Grupen habe daher ein T i s c h m e s s e r , in dessen Besitz er sich gelegentlich seiner
Selbstverköstigung gesetzt hatte, g e z
ä h n t und, nachdem er die drei
Mitgefangenen in seinen Fluchtplan eingeweiht hatte, sich bald wieder an die
Arbeit am Fenstergitter gemacht. Als eines Abends der die Nacht als
Wachthabender bestellte diensthabende Gefängnis-Beamte M u n g o
sich bei ihnen Bücher zum Lesen geholt hatte, sagte G r u p e n : „Das können wir fein ausnützen.“ Es wurde
festgestellt, daß ein Eisenstab, anscheinend von einem Fluchtversuch eines
anderen Gefangenen her, beschädigt war und dann durch eine eiserne Klammer neue
Festigkeit erhalten hatte. Mit dem gewähnten Messer löste Grupen die Nieten der
Klammer, worauf es ein Leichtes war, den schadhaften Stab zur Seite zu biegen.
Nun wurde in der Nacht zum 24. Februar
der A u s b r u c h b e w e r k s t e l l i g t . Voigtländer und Bohn hatten nur noch wenige
Wochen abzusitzen, waren aber trotzdem mit der Flucht einverstanden. Grupen
hatte dem Voigtländer G e l d v e r s p r o c h e n und eine
g u t e S t e l l u n g auf seiner heimatlichen Besitzung. B u l l i k
machte nicht mit, gab jedoch dem Grupen seine Z i v i l h o s e , während Voigtländer ihm sein J a c k e t t zur Verfügung stellte, weil dem Grupen die
Zivilkleider abgenommen worden waren. Wenige Tage vorher hatte Grupen den
Voigtländer auch veranlaßt, ein B a s t
s e i l , das er im Gefängnisgebäude in
einem Spinde ausbaldowert hatte, in einem Kübel heimlich in die Zelle zu
bringen und im Bett zu verstecken. Bohn knotete auf Grupens Geheiß zwei
Bettücher und einen alten Vorhang zusammen; er hatte darin, was Grupen wußte,
als Seemann besondere Sachkenntnis. Mit der Ausführung der Flucht machte Grupen
den Anfang, indem er mit Bohns und Voigtländers Hilfe die Blende vor dem
Fenster emporschob und z w e i B e t t b r e t t e r sowie das Bettuchseil am Gitter befestigte.
Zuerst zwängte sich V o i g t l ä n d e
r durch die durch den verbogenen Stab
geschaffene Oeffnung über die Bettbretter hinweg und ließ sich am Seil auf das
unter ihm liegende Dach des Beamtenhauses hinab. An einem Schornstein dieses
Daches befestigte er das ihm nachgeworfene Bastseil und gelangte an diesem zur
Erde. G r u p e n f o l g t e . Seine gedungene gestalt konnte sich aber nur
mit großer Mühe durch das Gitter zwängen. Bullik schob ihn dabei so kräftig,
daß G r u p e n l a u t
s t ö h n t e und der unten
harrende Voigtländer befürchtete, die diensttuenden Beamten würden dadurch auf
den Ausbruch aufmerksam werden. S c h l
i e ß l i c h g e l a n g e s
a u c h G r u p e n , a n
d e n S e i l e n t r o t z
s e i n e r E i n a r m i g k e
i t d a s D a c h u n d
d e n ä u ß e r e n H o f
g l a t t z u e r r e i c h e n .
Nachdem auch
B o h n nachgekommen war, fragte
Gupen den Voigtländer, ob er ihm das H
a u s W i l h e l m s t r a ß e 1 5 ,
in dem der vom Dienst suspendierte und später durch Selbstmord aus dem
Leben geschiedene Strafanstalts-Inspektor
S c h e n t k e wohnte, zeigen
könne. Da Voigtländer dies verneinen mußte, erklärte Grupen, er könne keinen
mitnehmen, lief nach der Straße und l i
e ß d i e b e i d e n
F l u c h t g e n o s s e n e n
t t ä u s c h t s t e h e n . Voigtländer und Bohn irrten dann in der
Stadt umher, meldeten sich aber bei Anbruch des Morgens wieder im Gefängnis.
Vor Gericht erklärten sie, derart u n t
e r G r u p e n s E i n f l u ß gestanden zu haben, daß sie sich über die
Folgen ihrer Handlungsweise garnicht klar gewesen seien.
Das U
r t e i l lautete auf die gesetzlich
zulässige Mindeststraße von je s e c h
s M o n a t e n G e f ä n g n i s . Der erbetene Strafaufschub wurde nicht
bewilligt, mit Rücksicht auf die Vorstrafen der Angeklagten und daraus, saß sie
sich trotz Grupens Einfluß darüber hätten klar sein müssen, daß sie einem
verurteilten Mörder zur Flucht verhalfen. - Eine volle Aufklärung der Flucht
ist auch durch diese Verhandlung nicht erfolgt.
Donnerstag, 25. Mai 1922, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
Löwenberg, 24. Mai (Zum Falle Grupen)
äußerte sich im Kriegerverein
Kreismedizinalrat Dr. Peters in einem Vortrage über gerichtsärztliche
Erfahrungen. Nachdem er an dem Reibnitzer Mord und dem Kindesmord in
Gebhardsdorf nachgewiesen hatte, von welch großer Bedeutung es ist,
nachzuweisen, ob eine Verletzung an einer Leiche bei Lebzeiten der Person, oder
nach deren Tode erfolgt ist, behandelte er ausführlich den Kleppelsdorfer Mord
und zog den Schluß, daß nach dem Befund der Leiche und den Begleitumständen ein
Selbstmord der Ursula Schade ausgeschlossen sei und als Täter nur Grupen in
Betracht komme. Er zerstörte das in weiten Kreisen immer noch geglaubte
Märchen, daß Grupen nicht tot sei; die gerichtsärztliche Untersuchung habe
seinen Tod zweifelsfrei festgestellt.
Dienstag,
15. Februar 1921, „Schlesische Zeitung“
Lähn,
14. Februar.
Heute
mittag zwischen 12 und 1 Uhr ist die Besitzerin des Rittergutes Kleppelsdorf,
Dorothea Rohrbeck, angeblich von einer zwölfjährigen Anverwandten durch drei
Schüsse getötet worden. Die angebliche Täterin hat sich dann selbst erschossen.
Donnerstag,
17. Februar 1921, „Schlesische Zeitung“
Anzeige:
Es
hat dem Allmächtigen gefallen, heute mittag 12 1/3 Uhr mein über alles
geliebtes Pflegekind, unsere geliebte Enkelin, Nichte und Cousine
Dorothea
Rohrbeck
plötzlich,
unerwartet in sein himmlisches Reich abzurufen. Sie ging heim im Alter von 16
Jahren, 2 Monaten und 24 Tagen.
Kleppelsdorf
bei Lähn, Kr. Löwenberg (Schles.), den 14. Februar 1921.
In
tiefstem Herzeleid, namens aller Verwandten
Berty
Zahn.
Sonnabend,
19. Februar 1921, „Schlesische Zeitung“
Anzeige:
Am
14. Februar verstarb unser liebes Mündel
Dorothea Rohrbeck,
Besitzerin
des Rittergutes Kleppelsdorf, durch Mörderhand.
In
tiefer Trauer über das Hinscheiden dieses blühenden Kindes
Vielhaack,
Vormund,
Bauer,
Gegenvormund.
Sonnabend,
19. Februar 1921, „Schlesische Zeitung“
Anzeige:
Die
Beisetzung der sehr früh heimgerufenen
Dorothea Rohrbeck
findet
am 21. d. Mts., nachmittags 3 ¼ Uhr von Schloß Kleppelsdorf aus nach Friedhof
Lähn statt.
Sonnabend,
19. Februar 1921, „Schlesische Zeitung“
(Zum Kleppelsdorfer Doppelmord.)
Im Doppelmord auf Kleppelsdorf bei Lähn fand
am Donnerstag nachmittag die Sezierung der Leichen der beiden jungen Mädchen
durch zwei Kreisärzte im Beisein einer Gerichtskommission statt. Sie ergab, daß
die Rohrbeck durch einen Schuß von der Seite durch den Hals in den Kopf getötet
worden ist. Ein zweiter Schuß saß in der Hüfte. Bei der kleinen Schade war der
Schuß über dem rechten Auge in den Kopf gedrungen. Die Leiche der Rohrbeck ist
freigegeben, die der Schade noch nicht. Eine Überraschung ergab die Sezierung
noch, und war die, daß sich herausstellte, daß die bekanntlich erst zwölf Jahre
alte Ursula Schade schon einmal einer
Quecksilberkur unterworfen gewesen ist. Wie stark die Erregung unter der
Bevölkerung über die Tat ist, zeigt die Tatsache, daß, als am Donnerstag abend
ein Wagen mit den Ärzten nach dem Bahnhofe fuhr, er von einer erregten
Menschenmenge angehalten wurde, da man glaubte, daß sich in dem Wagen die
Großmutter der beiden jungen Mädchen befände, gegen die sich auch eine starke
Mißstimmung richtet. Über die Tat selbst ist bis jetzt bekannt, daß die
Schüsse, durch die die beiden Mädchen getötet wurden, aus dem Revolver des
verhafteten Onkels der Rohrbeck, dem 26 Jahre alten Peter Grupen aus
Oldenbüttel bei Itzehoe abgegeben worden sind. Die Behauptung, die zwölf Jahre
alte Ursula Schade habe unter hypnotischem Zwange des Peter Grupen erst die
Rohrbeck und dann sich selbst erschossen, scheint sich nicht zu bestätigen. Man
nimmt vielmehr jetzt an, daß das junge Mädchen wohl den Brief an ihre
Großmutter unter hypnotischem Zwange geschrieben hat, daß aber die Tat von
Grupen selbst ausgeführt worden ist. Grupen hat auch die Dienstboten, die sich
in der Nähe des Mordzimmers befanden, kurz vorher weggeschickt, so daß niemand
die drei Schüsse hören konnte. Grupen soll auch auf Frau Eckhardt, die
Großmutter der Kinder, die mit ihren Enkeln in Oldenbüttel wohnte, einen
…vollen Einfluß ausgeübt haben. Ob die Flasche Kognak, die Grupen der Rohrbeck
geschenkt hat, vergiftet ist, steht noch nicht fest, da die Untersuchung des
Inhalts der Flasche noch nicht beendet ist. Fest steht auch, daß Grupen der
Dora Rohrbeck wiederholt Heiratsanträge gemacht hat, die von ihr aber immer
abgewiesen wurden. Eine Haussuchung in seiner Wohnung in Oldenbüttel hat weiter
belastendes Material gegen ihn zutage befördert. Schwer belastet wird auch der
Vormund der beiden jungen Mädchen, der verschwunden ist. Dagegen ist das
Gerücht, daß der Gegenvormund, Gutsdirektor Bauer, irgendwie in die
Angelegenheit verwickelt sein soll, unrichtig. Bauer ist an der ganzen Sache
unbeteiligt. Ein Geheimnis schwebt auch über dem Schicksal der zweiten Frau des
Grupen, der Witwe des Berliner Apothekersohnes Schade. Es besteht die dringende
Vermutung, daß die Frau sich gar nicht, wie zuerst berichtet, in Amerika
befindet, sondern in irgend einem Sanatorium; nach ihr, wie nach dem Aufenthalt
des Vormundes der Rohrbeck, werden die Nachforschungen fortgesetzt.
Montag,
21. Februar 1921, „Schlesische Zeitung“
(Zum
Doppelmord in Kleppelsdorf.)
Am Sonnabend nachmittag fand die Beerdigung
der von der Staatsanwaltschaft freigegebenen Leiche der kleinen Schade statt.
An derselben nahmen u. a. die Großmutter der Ermordeten, Frau Apotheker Schade
(Berlin), der Bruder des verstorbenen Gutsbesitzers Rohrbeck und der Vormund
der ermordeten Rohrbeck, der Hauptmann Vielhack (Charlottenburg) teil. Entgegen
einer früheren Nachricht Berliner Blätter muß festgestellt werden, daß Vielhack
mit der Tat in gar keiner Beziehung steht. Die Untersuchung gegen Grupen wird
fortgesetzt. Es wird angenommen, daß er sich an der ermordeten zwölfjährigen
Schade auch in sittlicher Weise vergangen und das Kind angesteckt hat. Der
Behörde wäre es von größtem Werte, etwas über den Verbleib der Frau Grupen,
verwitweten Schade, zu erfahren. Die Angabe Grupens, seine Frau habe ihn und
ihre aus erster Ehe stammenden Kinder verlassen und sei nach Amerika gegangen,
erscheint sehr zweifelhaft.
Mittwoch, 23. Februar 1921, „Schlesische
Zeitung“
(der Artikel ist aufgrund des Einbandes an
der linken Seite nicht vollständig zu lesen)
(Zum Doppelmord in Kleppelsdorf.)
Am Montag nachmittag ist die ermordete 16
Jahre alte Gutsherrin Dorothea Rohrbeck zur letzten Ruhe gebettet worden. Im
Schlosse fand eine kurze Trauerfeier statt. In einem endlosen Trauerzuge, an
dem wohl … Menschen teilnahmen, wurde die Leiche nach dem Friedhofe ge…, wo die
Beisetzung neben der am Sonnabend beerdigten Cousine Ursula Schade erfolgte. In
der Familie Rohrbeck hat sich ein weiterer trauriger Fall ereignet. Während ein
Schwager des verstorbenen Vaters der Rohrbeck an der Beerdigung teilnahm, hat
sich sein Sohn auf dem väterlichen Gute in Hannover erschossen. Dieser war ein
29 Jahre alter junger Mann, der sich infolge einer Ver… im Kriege ein schweres
Leiden zugezogen hatte, und litt zudem an Schwermut.
Freitag, 25. Februar 1921, „Schlesische
Zeitung“
Anzeige:
Für die überaus herzliche Teilnahme und
zahlreichen herrlichen Kranzspenden beim Heimgang unserer lieben, guten Dörte
sagen wir allen Beteiligten unseren tiefstgefühlten Dank, ganz besonders dem
Herrn Superintendent Buschbeck für seine trostreichen Worte. Leider ist es uns
nicht möglich, jedem Einzelnen danken zu können, und bitten wir daher, diesen
Weg der Veröffentlichung entschuldigen zu wollen.
Kleppelsdorf, den 23. Februar 1921.
Im Namen der Verwandten:
Alfred Rohrbeck.
Freitag, 25. Februar 1921, „Schlesische
Zeitung“
Zum
Kleppelsdorfer Mord - Grabschändung.
Ein unerhörtes Verbrechen ist in der Nacht
zum Freitag in der Ruhestätte der ermordeten Schloßherrin von Kleppelsdorf
Dorothea Rohrbeck auf dem Lähner Friedhofe verübt worden. Wie der „Schlesischen
Gebirgszeitung“ in Hirschberg berichtet wird, hat eine bisher unermittelte
Person das Grab am Kopfende aufgeschaufelt, den Sargdeckel zertrümmert und den
Sarg durchwühlt. Das Kissen, auf dem der Kopf der Toten ruhte, sowie Reste
eines silbernen Kreuzes vom Sargdeckel lagen auf dem zerstörten Grabhügel. Der
Täter hatte es anscheinend auf eine Beraubung der Leiche abgesehen. Was geraubt
wurde, konnte bisher nicht festgestellt werden. Das Verbrechen, das neue
Aufregung in Lähn und Umgebung hervorgerufen hat, wurde Freitag früh entdeckt.
Der Friedhof wurde sofort gesperrt und ein Polizeihund herangeführt, der die
Spur des Verbrechers auffinden soll. Der Täter hat anscheinend die Leichenhalle
erbrochen und daraus Hacke und Schaufel entnommen, mit denen das Verbrechen
ausgeführt wurde.
Sonnabend, 3. Dezember 1921, „Schlesische
Zeitung“
Der
Schauplatz des Kleppelsdorfer Doppelmordes.
Man wird in Schlesien außerhalb des
Hochgebirges kaum eine anmutigere Berglandschaft finden, als diejenige zwischen
Hirschberg und Lähn. Nachdem der Bober den großen Talkessel des Riesengebirges
verlassen hat, durchbricht er in enger romantischer Felsenschlucht die
Ausläufer des Isergebirges bis Boberröhrsdorf und dann noch einmal bis Mauer,
wo sein vielfach gewunder Lauf in der großen Talsperre aufgefangen wird. Dann
hat er den schwersten Kampf überstanden; breite Wiesenflächen dehnen sich an
seinen Ufern, die von schöngeformten, waldbedeckten Bergen begrenzt werden, und
erst bei Lähn stellt sich ihm im Norden seine steile Wand entgegen, die ihn
zwingt, weit nach Westen umzubiegen. In diesem Bogen, dessen Sehne die Anhöhe
mit Dominium, Schloß und Burg Lehnhaus bildet, liegt das Städtchen Lähn. Es hat
etwa 1200 Einwohner. Die Berge, die es rings umgeben, sind aus Schiefer, Basalten,
Kalk und Sandstein aufgebaut. Dort, wo der Bogen des Bobers am weitesten nach Osten
ausgreift, münden in ihn zwei Bäche, die das breite Tal bilden halten. Der
südliche kommt von der Kolonie Gießhübel her, der nördliche von dem
ansehnlichen Dorfe Wiesenthal. Dort, wo sie sich einander und dem Bober nähern,
liegt, zwischen all diesen drei Wasserläufen eingeschlossen, noch auf ziemlich
ebenem Gelände das kleine Dorf K l e p
p e l s d o r f , mit der Stadt Lähn
durch eine Brücke verbunden, auf die hier drei Landstraßen, eine von Hirschberg
bezw. Mauer, eine von Langenau und eine von Wiesenthal bezw. Schönau einmünden.
Wenn man also in Lähn auf dem im Westen unterhalb Lehnhaus gelegenen Bahnhof
ankommt, durchwandert man das freundliche Städtchen, wirft einen Blick auf die
vom Friedhof umgebene, steinerne, im gotischen Stil erbaute, mit Glasmalereien
geschmückte katholische Kirche, geht am Pädagogium vorüber, überquert den
weiträumigen Markt mit dem Rathaus in seiner Mitte, freut sich der Weinreben,
die die Südwände vieler Häuser umspinnen, und betritt, über die massive Brücke
hinweg, sofort Kleppelsdorfer Gebiet. An einem mit schönen, hohen Laubbäumen
und seltenen Nadelhölzern bestandenem Park vorbei gelangt man schon nach zwei
Minuten in den Gutshof. Zur Linken, hinter einem Obstgarten, dehnen sich die
landwirtschaftlichen massiven Gebäude, zur Rechten erhebt sich das „Schloß“,
ein ziemlich einfaches, breit hingelagertes Gebäude mit Erdgeschoß, oberem
Stockwerk und hohem Schieferdach, der Schauplatz des Verbrechens, das jetzt
seine Sühne finden soll. Es mag vor etwa 30 oder 40 Jahren erbaut sein. Auf den
Seiten und hinten wird es vom Park umgeben. Dr.
Baer
*
Der Doppelmord kommt in der am 5. Dezember
vor der Hirschberger Strafkammer beginnenden Schwurgerichtsperiode zur
Verhandlung, über seine Vorgeschichte sei noch folgendes erwähnt:
Vor mehr als 30 Jahren ging das Rittergut
Kleppelsdorf, das mit dem Vorwerk Gießhübel und einem später dazu gekauften
Bauerngut in Kuttenberg etwa 1600 Morgen umfaßt, in den Besitz des 1914
verstorbenen Wilhelm Rohrbeck aus Tempelhof über. Rohrbeck besaß noch einen
Bruder namens Alfred und eine Schwester namens Jenny, welche beide noch am
Leben sind. Alfred ist verheiratet mit einer Dame vom Theater, Jenny an den Gutsbesitzer
Pingel, der im Herbst d. J. die Besitzung Kleppelsdorf übernahm. Die getötete
Dorothea Rohrbeck war das einzige Kind, welches aus der Ehe von Wilhelm
Rohrbeck und seiner Frau geb. Krappe hervorging. Sie wurde am 21. November 1904
geboren. Ihre Mutter starb wenige Monate nach der Geburt. Frau Rohrbeck hatte
eine Stiefmutter, Frau Bankdirektor Eckhardt. Die zweite Tochter der Frau
Direktor Eckhardt Gertrud heiratete einen Apotheker Schade aus Perleberg, aus
deren Ehe die beiden Mädchen Irma und Ursula hervorgingen. Schade selbst verunglückte
angeblich auf eigenartige Weise bei einer Jagd. Bald nach dem Tode verlobte
sich Frau Schade mit einem Tierarzt Raske aus Holstein. Dieser starb aber noch
vor der Hochzeit und Frau Schade lernte jetzt in Hamburg den Architekten Peter
Grupen kennen, der dort eine Villa besaß. Auch hier kam das Verlöbnis schnell
zustande, und nach der Eheschließung siedelte das Paar nach Itzehoe über. Um
die Weihnachtszeit 1920 begab sich Frau Grupen mit ihren Kindern nach
Kleppelsdorf zu ihren Verwandten, der jetzt ermordeten Dorothea Rohrbeck. Hier
ist sie auch eingetroffen, bevor ihr Ehemann nachfolgte, aber verschwunden (Anmerkung: die Angaben der anderen Zeitungen
lauten anders!). Grupen behauptet nun, seine Frau sei bereits aus Itzehoe
verschwunden; dort ist zwar ein Brief von ihr gefunden worden, der besagt, daß
sie die Schmach Deutschlands nicht länger ertragen könne und nach Amerika
auswanderte. Man nimmt aber an, daß sie sich gar nicht in Amerika befindet.
Peter
G r u p e n soll im Sommer 1920
in Kleppelsdorf gewesen sein und dort der Dorothea Rohrbeck Heiratsanträge
gemacht haben, obwohl sie ihm stets ihre Antipathie zu erkennen gab.
Trotzdessen folgten einige Zeit darauf die Hausdame und Dorothea einer
Einladung Grupens und besuchten ihn in Oldenbüttel bei Itzehoe. Grupen hat
verschiedene Berufe ausgeübt, bezeichnete sich teils als Grundstücksspekulant,
teils als Architekt, teils als Kunstschütze. Grupen, dem es in letzter Zeit
sehr schlecht ergangen war, hoffte durch eine spätere Heirat mit der jungen,
reichen Dorothea Rohrbeck seine finanziellen Verhältnisse zu verbessern. Aus
Briefen, die man bei ihm vorgefunden hat, ergab sich, daß er sie mit
Heiratsanträgen verfolgt hat, aber stets abgewiesen wurde. Kurz vor dem Morde
fuhren Grupen, Dorothea Rohrbeck und Frl. Zahn, die Hausdame, nach Hirschberg.
Dort machte er den Vorschlag, zu Fuß nach Kleppelsdorf zurückzukehren. Es wurde
aber abgelehnt, wahrscheinlich aus Furcht, daß den Damen etwas passieren
könnte.
Etwa acht Tage vor dem Morde waren Grupen und
seine Stieftöchter, die 12jährige Ursula und die 9jährige Irma Schade nach
Kleppelsdorf gekommen. In ihrer Begleitung befand sich auch die Großmutter Frau
Eckhardt und die Stütze der beiden Mädchen, die zugleich die Geliebte des Peter
Grupen war. Am Tage des Mordes war Dorothea Rohrbeck, wie öfters, gegen 11 Uhr
vormittags zur Post gegangen, um dort Briefe abzuholen. In ihrer Begleitung
befand sich die Ursula Schade (Anmerkung:
andere Zeitungen schreiben, es sei Irma Schade gewesen). Nach ihrer Rückkehr teilte Dorothea der
Hausdame mit, daß ein Paket auf der Post lagere. Frl. Zahn beauftragte sie, das
Dienstmädchen Louise Mende zu veranlassen, das Paket abzuholen. Hierauf begaben
sich Dorothea Rohrbeck und Ursula Schade in das zweite Zimmer im Parterre der
rechten Seite des Schlosses neben dem Eßzimmer, während sich die Großmutter,
Grupen und Irma Schade im ersten Zimmer des ersten Stockes aufhielten und Frl.
Zahn im zweiten anstoßenden Zimmer schrieb. Als das Dienstmädchen mit dem Paket
zurück war, machte sie den Eßtisch vollends zurecht. Dann meldete sie sich bei
Frl. Zahn und diese sagte ihr, sie solle Dorothea und Ursula suchen. Mende
klopfte an die Tür neben dem Eßzimmer; da niemand antwortete, öffnete sie und
sah die beiden M ä d c h e n a m
B o d e n l i e g e n . Auf Benachrichtigung erschien alsbald
Sanitätsrat Dr. Scholz und eine Gerichtskommission aus Lähn. Dorothea war tot,
während bei Ursula Schade noch Lebenszeichen vorhanden waren. Erst einige
Stunden später erlag auch sie ihrer Verletzung, ohne das Bewußtsein
wiedererlangt zu haben. Aus verschiedenen Umständen schloß man, daß ein Mord
und Selbstmord der kleinen Schade unwahrscheinlich sei. Gegen Peter Grupen
verdichteten sich die Verdachtsmomente derartig, daß er noch in derselben Nacht
verhaftet wurde. Schwer belastet wird Grupen durch den Umstand, daß es sein
Revolver war, mit dem die Tat begangen wurde.
Dienstag, 6. Dezember 1921, „Schlesische
Zeitung“ Abendblatt
(hierbei
handelt es sich um eine Verfilmung, bei der der rechte Rand nicht ganz
erkennbar ist!)
Der
Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.
Hirschberg,
5. Dezember
Mit einem bitterkalten Wintertag begannen
heute die Verhandlungen gegen Peter G r
u - p e n , den Angeklagten im Kleppelsdorfer
Mordprozeß. Die Kälte hat den Andrang des Publikums stark eingedämmt. Langsam
füllte sich der Schwurgerichtssaal. Auf einem Tische vor der Anklagebank lagen
der Revolver, der am Tatort gefunden worden war, Revolverge…, die Leibwäsche
der Dorothea Rohrbeck und der Ursula Schade und einige andere Beweisstücke. Am
Richtertisch nahmen Platz der Vorsitzende, Oberlandesgerichtsrat K r i n k e
aus Breslau, Landgerichtsrat W i
e t e r , Landgerichtsrat H e r z o g , Assessor
H u b … (als Ersatzrichter),
Oberstaatsanwalt Dr. R e i f e n r a t
h.
Pünktlich um 10 Uhr eröffnete der V o r s i t z e n d e die Verhandlung mit der Begrüßung der
Geschworenen. Die Tagung, sagte er in seiner Ansprache, werde an die Arbeitskraft
und Pflichttreue, Aufmerksamkeit und geistige Tätigkeit der Geschworenen
erhebliche Anforderungen stellen. Die Geschworenen hätten das Amt eines
Richters auszuüben und seien wie der Richter an das Gesetz gebunden. Der
Vorsitzende ordnete sodann an, daß der Angeklagte P e t e r
G r u p e n in den Saal zu
führen ist. In Begleitung eines Gefängnisbeamten erscheint der Angeklagte.
Ruhig, ohne daß ihm irgendwelche innere Erregung anzumerken wäre, antwortete er
auf die Frage des Vorsitzenden, ob er der Architekt Peter Grupen aus
Ottenbüttel sei, mit „Jawohl“. Als seine Verteidiger melden sich die Justizräte
Dr. A b l a ß (Hirschberg) und Dr. M a m r o t h (Breslau). Nach Bildung der Geschworenenbank
beginnt der A u f r u f d e r
Z e u g e n u n d S a c h v e r s t ä n d i g e n , die den Schwurgerichtssaal bis auf den
letzten Platz füllen, so daß eine … Dame in Ohnmacht fällt. Unter den Zeugen
befinden sich auch die Erzieherin Frl.
Z a h n , Irma S c h a d e
(die jüngere Schwester der ermordeten Ursula), Frau Bankdirektor
Agnes E c k e r t , Frau Apothekenbesitzer Margarete S c h a d e , Apothekenbesitzer S c h a d e , Alfred
R o h r b e c k, Wilhelm und
Heinrich G r u p e n , Frl.
M o h r und Frl. M e n d e .
Die mit dem Angeklagten und mit dem ermordeten Mädchen verwandten Zeugen
erklären, von ihrem Recht auf Zeugnisverweigerung keinen Gebrauch machen zu
wollen.
Die Verteidigung stellt den Antrag, den von
der Anklagebe… als Sachverständigen für Suggestion geladenen Gaswerksdirektor
Wrobel-Hirschberg abzulehnen, weil Herrn Wrobels Vernehmung im Vorverfahren
gegen das Gesetz zustandegekommen sei und weil er auf dem Gebiet der Suggestion
ein Amateur sei. Wrobel erklärt, sich seit zwanzig Jahren theoretisch und
praktisch mit Hypnose und Suggestion beschäftigt zu haben. Oberstaatsanwalt Dr.
Reifenrath widersprach dem Ablehnungsantrage. Das Gericht beschloß zunächst,
den Kreisarzt Dr. Scholz (Hirschberg) und den Geh. Medizinalrat Dr. Moll
(Charlottenburg) über die Eignung Wrobels als Sachverständigen zu vernehmen.
Beide verneinen die Eignung. Das Gericht gibt nach …ger Beratung dem
Ablehnungsantrage statt. Oberstaatsanwalt Dr. Reifenrath behält sich vor,
Wrobel, der nunmehr den Saal verläßt, als Zeugen vernehmen zu lassen.
Der Vorsitzende beginnt mit der
Vernehmung
des Angeklagten.
Mit leiser, aber sicherer Stimme und spitzen
Akzent schildert Grupen seinen Lebenslauf. Am 20. September 1894 in Haseldorf
bei Pinneberg geboren, habe er dort die dreiklassige Volksschule besucht. Nach
vollendeter Schulzeit sei er zunächst in einem landwirtschaftlichen Betriebe
tätig gewesen und dann zu einem Maurermeister in die Lehre gegangen. Während
seiner Ausbildungszeit habe er sich an Vergnügungen nicht beteiligt. Er habe
die besten Zeugnisse aufzuweisen. 1914 sei er als Kriegsfreiwilliger bei den
Königsulanen in Hannover eingetreten. Im Felde sei er an Typhus erkrankt und
bei Verdun habe er den linken Unterarm verloren. Nach seiner Entlassung aus dem
Lazarett habe er die staatliche Baugewerksschule in Hamburg besucht und im
Sommer …isch gearbeitet. Auch im Maschinenbaufach habe er sich Kenntnisse
angeeignet; einige Monate sei er auf der Vulkanwerft beschäftigt gewesen. Dort
habe er freiwillig seine Entlassung bekommen, um sich dann als Bauführer in
Hamburg zu betätigen.
Vors.: Es wird behauptet, daß Sie mehrmals
verlobt gewesen seien.
Angeklagt.: Das ist richtig.
Vors.: Die erste Verlobung ist aufgehoben
worden, von wem?
Angekl.: Von meiner Seite, weil mich die Äußerung
meiner Braut: „Was soll ich mit einem Kriegskrüppel?“ verletzt hatte.
Vors.: Auch Ihre zweite Verlobung ist
auseinander gegangen und Sie sollen dem Mädchen gedroht, ihm sogar einmal einen
Drohbrief geschrieben haben?
Angekl.: Ich habe niemals gedroht.
Vors.: Sie sollen das Mädchen, nachdem es
sich mit einem anderen verlobt hatte, mit
E r s c h i e ß e n b e d r o h
t haben?
Angekl.: Das ist frei erfunden.
Oberstaatsanwalt Reifenrath: Als das Mädchen
geheiratet hatte, ist der Angeklagte nicht dann zu dem Ehemann gegangen und hat
ihm in die Hand versprochen, die Frau in Ruhe zu lassen?
Angekl.: Davon ist mir nichts bekannt.
Vors.: Warum ist nun die zweite Verlobung
aufgelöst worden? In der Voruntersuchung haben Sie gesagt, das junge Mädchen sei
viel gereist und nicht wirtschaftlich gewesen.
Angekl.: Nein, ich habe selbst Schuld daran.
Vors.: Sind Sie damals nicht schon mit Frau
Gertrud Schade in Beziehungen getreten?
Angekl.: Ich lernte Frau Schade im August
1919 kennen. Veranlassung dafür hat eine Zeitungsannonce gegeben, die ich aus
Scherz hatte veröffentlichen lassen.
Vors. zu den Geschworenen: Frau Gertrud
Schade war die Tochter der Frau Bankdirektor Eckert aus zweiter Ehe, Frau
Rohrbeck die Tochter aus erster Ehe. Frau Rohrbecks Tochter ist die verstorbene
Dorothea Rohrbeck, diese also eine Enkelin der Frau Eckert und eine Nichte der
Frau Schade. Frau Schade soll ihren Ehemann, der Apothekenbesitzer in Perleberg
war, durch einen Jagdunfall verloren haben, stand aber nicht allein, hatte
vielmehr ihre beiden Kinder Ursula und Irma, sowie die Pflegetochter Ruth bei
sich.
Angekl.: Frau Schade lebte in Itzehoe.
Während des Krieges hatte sie ein Verhältnis mit einem Staatsveterinär.
Vors.: Frau Schade war 13 Jahre älter.
Angekl.: Ich hatte die Überzeugung, daß es
eine wirklich gute Frau sei; später bin ich anderer Ansicht geworden.
Vors.: Sie sind also zur Heirat geschritten
aus Liebe, nicht aus Berechnung in Hinblick auf das Vermögen der Frau Schade
oder um Ihr gesellschaftliches Ansehen zu heben?
Angekl. verneint das letztere.
Der Vorsitzende stellt fest, daß Grupen schon
als Bräutigam Generalvollmacht sowohl von Frau Schade, wie auch von Frau Eckert
erhalten habe. Auf Grund dieser Generalvollmacht hat er sich 17 000 Mark aus
einer Hypothek abtreten lassen; das Geld aber, das den Kindern der Frau Schade
gehörte, an sich genommen.
Angekl.: Ich habe auf der Quittung
ausdrücklich bemerkt, daß ich diese Summe den Kindern zur Verfügung stellen will.
Hierauf trat die Mittagspause ein.
Nach Wiederaufnahme der Verhandlungen,
richtet der Vorsitzende an den Angeklagten die Frage, wie sich sein Eheleben
gestaltet habe.
Angeklagter: Wir haben anfangs glücklich
miteinander gelebt. Das Verhältnis trübte sich, als meine Frau mit Forderungen
auf ehelichem Gebiete kam, die ich nicht erfüllen konnte.
Vorsitzender: Sie haben in der
Voruntersuchung gesagt, daß noch ein anderer Grund mitgewirkt hätte, das Verhältnis
nicht zum Besten zu gestalten.
Angeklagter: Meine Frau hatte mir gestanden,
ein Verhältnis mit einem Fabrikbesitzer gehabt zu haben. Ich habe ihr dieses
Verhältnis nicht besonders übel genommen. (Da der Angeklagte schwer
verständlich wird, soll er auf Anordnung des Vorsitzenden in der Mitte des Saales
Platz nehmen.)
Vorsitzender: Was waren das für Forderungen,
die Ihre Frau an Sie stellte?
Angeklagter: Meine Frau hatte stets Bier,
Wein und Liköre im Hause gehabt. Einmal hatte sie zuviel getrunken, da sagte
sie zu mir, was der Fabrikbesitzer konnte, mußt Du auch tun können. Weiter hat
sie auch Angaben gemacht über das J a g
d u n g l ü c k i h r e s M a n n e s , das gar kein Jagdunglück gewesen sei.
Vorsitzender: Es wird behauptet, daß auf der
Jagd auch jener Fabrikbesitzer zugegen gewesen sei. Darauf beziehen sich wohl
die Andeutungen, daß es sich n i c h
t u m
e i n e n U n - g l ü c k s f a l l , sondern um einen a b s i c h t l i c h e n Mord handelte.
Angeklagter: Meine Frau hat, wie ich schon
sagte, die Andeutungen im Rauschzustande gemacht.
Vorsitzender: Sie sind später mit Ihrer Frau
von Itzehoe nach Oldenbüttel gezogen. Während Sie im Umzuge begriffen waren,
traf der
erste
Besuch von Fräulein Dorothea Rohrbeck
und Fräulein Zahn ein.
Angeklagter: Wir hatten nach Kleppelsdorf
unsere Verheiratung mitgeteilt, die Mitteilung ist aber kühl aufgenommen
worden. Ich wollte daher anfangs den Besuch ablehnen.
Vorsitzender: Der Besuch galt ja nicht Ihnen,
sondern der Großmutter der Dorothea Rohrbeck, der Frau Eckert.
Angeklagter: Fräulein Zahn sagte: sie mache
eine Reise zu sämtlichen Verwandten, weil es deren Pflicht sei, ihr im Prozeß
gegen den Vormund Vielhack beizustehen.
Der Vorsitzende bemerkt hierzu aufklärend:
Der Vater der Dorothea Rohrbeck hatte im Testament eine gewisse Summe zum
Unterhalt seiner Tochter ausgesetzt, aber mit dieser Summe konnte Fräulein Zahn
wegen der Teuerungsverhältnisse, die inzwischen eingetreten waren, nicht
auskommen.
Angeklagter: Fräulein Zahn hat mir gesagt,
daß sie sich einschränken und Schulden machen müsse. Ich habe ihr erwidert, sie
möchte sich an die Herren Pinge und Alfred Rohrbeck wenden, dann werde ich ihr
ebenfalls aushelfen.
Der Angeklagte antwortet auf die Frage,
welchen Eindruck Fräulein Dorothea Rohrbeck und Fräulein Zahn auf ihn bei dem
ersten Besuch gemacht hätten: Dörtes Eindruck (der Vorsitzender: Sagen Sie
ruhig Fräulein Dorothea Rohrbeck!) war gut, gegen Fräulein Zahn hatte ich
nichts einzuwenden.
Vorsitzender: Wie lange haben sich die Damen
in Itzehoe aufgehalten?
Angeklagter: Vier bis fünf Tage. Wir haben
dann einen Ausflug nach Oldenbüttel gemacht.
Vorsitzender: Fräulein Zahn behauptet, Sie
hätten ihr auf dem Wege nach Oldenbüttel gesagt, Sie wollten sich von Ihrer
Frau scheiden lassen und wollten sie heiraten.
Angeklagter: Es ist möglich, daß ich über das
Verhältnis zu meiner Frau gesprochen habe, bestreite aber, Fräulein Zahn einen
Heiratsantrag gemacht zu haben.
Grupen erzählt nun, daß er den Damen einen
Gegenbesuch mit seiner Frau in Kleppelsdorf in Aussicht gestellt habe. Er sei
aber allein dorthin gefahren, weil es sich um Geldangelegenheiten handelte. Am
17. September sei er nach seiner Rückkehr mit seiner Frau und der
Schwiegermutter zum Notar nach Itzehoe gefahren. Dort habe seine Frau
Hypotheken auf seinen Namen abgetreten. Am 18. September seien sie wieder beim
Notar gewesen, wo die Gütertrennung erklärt wurde. Am 19. September, einem
Sonntage, trat die Frau die Reise nach Kleppelsdorf an. Grupen habe sie zum
Bahnhof Itzehoe gebracht, aber nicht bis zum Bahnsteig begleitet, weil er bei
den Pferden hätte bleiben müssen. Er selbst sei erstaunt gewesen, als er die
telegraphische Nachricht erhielt, daß seine Frau in Kleppelsdorf nicht
eingetroffen sei. Einige Tage später hätten die Hausangestellten auf dem Abort
einen zerrissenen Zettel gefunden, der das Konzept eines von Frau Grupen an
ihre Mutter gerichteten Abschiedsbriefes darstellte. In dem Brief heißt es,
Frau Grupen reise nach Amerika, um sich der Bühne zu widmen. Der Vorsitzende
stellt fest, daß alle Nachforschungen nach dem Verbleiben der Frau des
Angeklagten vergeblich gewesen seien. Wenn sie noch lebe, müßte sie durch die
Zeitungen Kenntnis erhalten haben von dem furchtbaren Tode ihrer Tochter
Ursula.
Damit endet der erste Verhandlungstag.
Mittwoch, 7. Dezember 1921, „Schlesische
Zeitung“ Abendblatt
Der
Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.
Hirschberg, 6. Dezember
Zu Beginn der heutigen Sitzung wird die
kommissarische Vernehmung einer in Ottenbüttel wohnenden Entlastungszeugin
beschlossen. Auf Anregung des Sachverständigen, Geheimrat L e s s e r , wird beschlossen, bei der morgen in
Kleppelsdorf stattfindenden Verhandlung
S c h i e ß v e r s u c h e an
einem lebenden Tier vorzunehmen, um festzustellen, ob eine Geschwulst bei
Schußwunden nur dann entsteht, wenn der Schuß aus nächster Nähe abgegeben
worden ist. Grupen wird hierauf aufgefordert, nochmals eine Erklärung abzugeben
über seine nach der Entdeckung des Doppelmordes angeblich getane Äußerung zu
Frau Eckert: „Weißt Du auch, daß Du jetzt Erbin von Kleppelsdorf bist?“
Angekl.: Ich habe diese Äußerung nicht getan. Wir saßen abends gegen 8 Uhr im
unteren Eßzimmer. - Vors. (unterbrechend): Sie sollen die Äußerung bereits
nachmittags 3 Uhr getan haben. - Angekl.: Das ist ausgeschlossen. Als wir
abends zusammensaßen, hat Frau Eckert davon gesprochen, daß Herr Alfred
Rohrbeck jetzt nicht mehr so große Sorge zu haben brauche, da er Erbe geworden
sei. - Vors.: Es wird behauptet, daß Sie kurz nach 3 Uhr, als Amtsgerichtsrat
Thomas aus Lähn am Tatort eingetroffen war, gesagt haben: „Die ganze Schuld an
dem Verhängnis liegt daran, daß ich die Pistole nicht eingeschlossen habe.“ -
Angekl.: Ja, und Frau Eckert beruhigte mich, indem sie sagte, ich könne doch
nichts dafür, daß die Ursula die Pistole an sich genommen habe.
Dem Angekl. wird dann vorgehalten, daß er,
als der Landjäger Klopsch im Flur des Schlosses Telefonierte, hinzugetreten
sei, und als ihn der Landjäger aufgefordert habe, wieder in sein Zimmer
zurückzukehren, geantwortet habe, „ich werde wohl bewacht?“ In der Nacht zum
15. wurde dem Angeklagten seine Verhaftung mitgeteilt. Der Landjäger Klopsch
verbot dem Angeklagten, sich mit Frau Eckert und dem Fräulein Mohr zu
unterhalten. - Vors.: Haben Sie bei Ihrer Abführung nicht gesagt: „Wenn Ihr
aussagt, daß Ihr wißt, daß ich oben im Zimmer war.“ - Angekl.: ich habe nur
gesagt, daß sich meine Unschuld sicherlich in einigen Tagen herausstellen wird.
- Vors.: Sie sollen beim Abschied gesagt haben: Bleibt bei Euerer Aussage! - Angekl.: Das ist möglich. - Vors.:
Landjäger Klopsch soll Ihnen verboten haben, von der Sache mit Ihren
Angehörigen zu sprechen. Dieses Verbot sollen Sie aber nicht beachtet, Sie
sollen trotzdem weiter gesprochen haben, und zwar in Plattdeutsch. - Angekl.:
Es ist möglich, daß ich mit Fräulein Mohr plattdeutsch gesprochen habe: sie
solle sich vollkommen an die Wahrheit halten und auch sagen, daß wir uns näher
gestanden haben.
Vors.: Sie sollen vor Ihrem Transport nach
Hirschberg den Amtsgerichtsrat Thomas gefragt haben, ob Frau Eckert, Frl. Mohr
und die kleine Irma bei ihrer Angabe bleiben, daß Sie die ganze Zeit nicht von
Ihrem Tische weggegangen seien? - Angekl.: Eine solche Frage hätte ich nur
stellen können, wenn mir bekannt geworden wäre, daß eine neue Vernehmung der drei
stattgefunden hat, ich habe aber davon nichts gehört. - Vors.: Nun will ich
Ihnen die bestimmte Frage vorlegen: Haben Sie jemals Fräulein Dorothea
Rohrbeck e i n e n H e i -
r a t s a n t r a g gemacht? -
Angekl. (mit Entschiedenheit): Nein. - Vors.: Es werden aber Zeugen auftreten,
die bekunden werden, daß Frl. Rohrbeck Ihnen mitgeteilt und auch geschrieben
habe, daß Sie ihr einen Heiratsantrag gemacht haben.
Sachverständiger Geh.-Rat Dr. L e s s e r
wünscht Aufklärung über das Temperament der Ursula Schade und ihr
Verhältnis zu dem Angeklagten. Der Angeklagte erklärt, Ursula sei häufigem
Stimmungswechsel unterworfen gewesen. Er habe schon 1919 von ihr den Eindruck
gewonnen, daß sie zu Schwermut neige. Zeitweise sei sie auch lustig gewesen.
Verteidiger Dr. Ablaß: Hat der Angeklagte sich jemals mit H y p n o s e beschäftigt? - Angekl.: Nein, niemals!
Die Verhandlung wendet sich nunmehr dem
zweiten Teil der Anklage, dem von Grupen an seiner Stieftochter verübten S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e
n zu. Die Ö f f e n t l i c h k e i t wird während dieses Teiles der Verhandlung a u s g e s c h l o s s e n .
Donnerstag, 8. Dezember 1921, „Schlesische
Zeitung“ Morgenblatt
Der
Doppelmord in Kleppelsdorf.
Hirschberg, 6. Dezember
Nach Wiederherstellung der Öffentlichkeit
wird
der
Angeklagte über seine Vermögensverhältnisse
befragt. Er gibt dazu an, daß er sehr sparsam
gelebt und sich dadurch eine kleine Summe erworben habe. Er sei ins Feld
gegangen und habe dadurch diese Ersparnisse nicht angreifen müssen. Auch habe
er kleinere Geschäfte gemacht und im gleichen Jahre von seinem Vater ein
Grundstück in Oldenbüttel zum Geschenk erhalten. Er habe es jedoch nur unter
der Bedingung übernommen, daß er seinen Eltern eine Rente von 1000 Mark zahle.
Als Rentenentschädigung für seine Kriegsverletzung habe er 9000 Mark erhalten.
Als er heiratete, betrug sein gesamtes Vermögen etwa 20 000 Mark. Über die V e r m ö g e n s v e r - h ä l t n i s s e s e i n e r
F r a u befragt, gibt der
Angeklagte u. a. an: Ich wußte, daß meine Frau die Apotheke in Perleberg, die
ein Nachlaß ihres Mannes war, besaß. Die Kinder waren zur Zeit meiner
Bekanntschaft mit meiner Frau schon abgefunden worden. Meine Frau hat im Jahre
…… ein Grundstück in Itzehoe im Wert von 38 000 Mark gekauft, davon waren 20
000 Mark Hypotheken und 18 000 Mark Barzahlung. Das war das gesamte Vermögen
meiner Frau, als sie heiratete. Mir war auch bekannt, daß in einem Vertrage
meine Schwiegermutter ihr gesamtes Vermögen meiner Frau vermacht hat, da sie
nicht wollte, daß Dorothea Rohrbeck etwas von ihr erbte. Der Vorsitzende ist
der Ansicht, daß dies nur ein Scheinvertrag gewesen sei, den die beiden Frauen
dem Steueramte gegenüber abschlossen. Der Angeklagte gibt dazu an, daß Frau
Eckert auch ihre Wertpapiere auf den Namen und das Konto der Tochter bei der
Deutschen Bank in Hamburg überschrieben habe, und daß seine Frau seit dieser
Zeit für die Mutter gesorgt habe. Er gibt an, daß das Vermögen seiner Frau infolge
dieses Vertrages 109 000 Mark betrug. Der Angeklagte erzählt dann weiter, daß
er im August das Grundstück seines Vaters verkauft habe, da er keine Vorteile
habe ziehen können. Später wurde auch das Grundstück seiner Frau in Perleberg
verkauft. und zwar ist dort eine Hypothek von 37 000 Mark für seine Frau
eingetragen und noch eine von 12 000 Mark und 4000 Mark für seine
Schwiegermutter. Den Grundstückskauf in Itzehoe habe seine Frau sehr bereut,
und nachdem er es mit seinem Bruder ausgebaut habe, für 125 000 Mark verkauft.
Bei der weiteren Vernehmung des Angeklagten
über seine Vermögensverhältnisse, Steuererklärungen usw. bemerkte der
Vorsitzende, daß er sich aus der Verhandlung darüber nicht informieren könne,
daß der Angeklagte aber auch seine Aussagen hierüber verweigern könne.
Justizrat Dr. Ablaß erklärte: Ich werde das sogar dem Angeklagten raten. Der
Angeklagte bemerkte unter anderem, daß er seine Rechtsbeistände aus eigenen
Mitteln bezahle und damit beweisen wolle, daß er sich nicht in Not befinde.
Es wird nun in
die
Beweisaufnahme
eingetreten. Als erste Zeugin wird F r l .
Be r t h a Z a
h n vernommen. Sie sagt aus: noch zu
Lebzeiten des Vaters der Ermordeten bin ich nach Kleppelsdorf gekommen.
Dorothea war damals 1 ½ Jahre alt. Ich übernahm die Stelle der Frau Eckert,
doch war unser Verhältnis von vornherein nicht sehr günstig, da Frau Eckert
annahm, daß ich mich mit Herrn Rohrbeck verheiraten könnte, während sie eine
Ehe des Herrn Rohrbeck mit Fr. Schade, der späteren Frau Grupen, wünschte. In
der Hauptsache übernahm ich die Wirtschaft und die Erziehung der Dorothea. Nach
dem Testament war D o r o t h e a A l l e i n e r b i n . Das gesamte Erbe bestand aus dem Schlosse
Kleppelsdorf, einem Besitztum in Tempelhof bei Berlin und einem B a r v e r m ö g e n v o n
m e h r e r e n M i l l i o n e
n . Nach dem Testament war mit die
Haushaltsführung und die Erziehung der Dorothea Rohrbeck übertragen worden.
Frau Eckert war erbittert, daß ich im Testamente nicht bedacht worden war (Anmerkung: sollte es nicht heißen: daß SIE
im Testamente nicht bedacht worden war?). In späteren Jahren entstanden
zwischen mir und dem Vormund der Dorothea Rohrbeck Differenzen, da die
Wirtschaftsausgaben dem Vormunde zu hoch waren. Anfangs waren 1000 Mark
monatlich als Wirtschaftsgeld ausgemacht, das später zunächst in 120 Mark
wöchentlich, dann 100 Mark wöchentlich festgesetzt wurde. (Bewegung.) Mit
diesem Gelde war es mir unmöglich, die Wirtschaft zu führen. Der Vormund warf
mir Verschwendung vor, ohne mir auf meine Frage Antwort zu geben, womit er
meine angebliche Verschwendung begründe. Aus Anlaß dieser Differenzen hat mir
der Vormund gekündigt. Ich hatte dagegen den Vormund verklagt, da mir nach dem
Testamente nicht gekündigt werden durfte. Das Landgericht in Hirschberg hat
auch meiner Klage stattgegeben und die Kündigung wieder aufgehoben. Auch hat
mir der Vormund mein Gehalt vorenthalten, das ich durch gerichtliche Maßnahmen
vom Vormund ausgezahlt erhielt. Kurz vor Weihnachten hat der Angeklagte nach
Kleppelsdorf geschrieben, daß er die verwitwete Frau Schade geheiratet habe.
Einer daraufhin ergehenden Einladung nach Kleppelsdorf wurde nicht Folge
geleistet. Späterhin besuchte die Zeugin, Dorothea Rohrbeck und Frau Eckert auf
eine Einladung des Angeklagten hin diesen und seine Frau in Hamburg, wo sie
sehr nette Aufnahme fanden. Man sprach auch von den wirtschaftlichen Nöten und
der Angeklagte bot ihnen dann seine Unterstützung aus eigenen Mitteln an. Bei
diesem Besuche teilte der Angeklagte der Zeugin mit, daß seine Frau
krebsleidend sei. Wenn er dies vorher gewußt hätte, würde er sie nicht
geheiratet haben. Bei einer anderen Gelegenheit hat der Angeklagte zu der
Zeugin gesagt, daß er bedaure, die Zeugin nicht schon früher kennen gelernt zu
haben.
Es werden dann die
Abschiedsbriefe
der Frau des Angeklagten
zur Vorlesung gebracht, darunter auch einer
an Frl. Dorothea Rohrbeck folgendes Inhalts: „Liebe Dörte! Ich sende Dir
hiermit vor meiner Abreise nach Amerika noch einen Abschiedsbrief und wünsche
Dir, daß sich Dein Leben in Zukunft recht glücklich gestalten möge. Es wäre
wohl am besten, Du fändest einen guten Mann. Nimm Dir den guten Onkel Peter zum
Berater, der, nachdem er sehr viel verloren hat, auch jetzt wieder viel
verlieren wird und alle Lebensstürme überwinden möchte. Herzliche Grüße von
Deiner Tante.“ (Mit Peter ist der Angeklagte Peter Grupen gemeint. D.
Schriftl.)
Ein Geschworener fragte den Vorsitzenden:
„Ist festgestellt, daß Frau Grupen auch Schreiberin dieses Briefes ist?“ Vorsitzender:
Das ist nicht festgestellt. Wir haben diese Briefe niemals einem
Sachverständigen vorgelegt, da die Verwandten der Meinung waren, daß es die
Schrift der Frau Grupen sei. Justizrat Dr. Mamroth stellt den Antrag, die
Briefe einem Sachverständigen vorzulegen. Der Vorsitzende erklärt, daß er
sämtliche Abschiedsbriefe dem zurzeit noch nicht anwesenden Sachverständigen
Prof. Jeserich vorlegen werde.
Morgen findet eine B e s i c h t i g u n g d e s
G u t e s K l e p p e l s d o r
f statt, und dann wird in Kleppelsdorf
weiter verhandelt werden.
Donnerstag, 8. Dezember 1921, „Schlesische
Zeitung“ Abendblatt
Der
Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.
Hirschberg, 7. Dezember
In der gestrigen nichtöffentlichen Sitzung
hat der Angeklagte das ihm zur Last gelegte Sittlichkeitsverbrechen an der
Ursula Schade bestritten. Heute fand
Lokaltermin
auf Schloß Kleppelsdorf
statt. In mehreren Automobilomnibussen
begaben sich die Teilnehmer nach Lähn. Im ersten Wagen befanden sich der
Angeklagte und mehrere Polizeibeamte. Vor dem Schlosse in Kleppelsdorf hatte
sich eine Anzahl Zuschauer eingefunden, die Grupen mit Verwünschungen
empfingen. Bei dem Eintreten in das S c
h l o ß v e r ä n d e r t e s i c h
d i e G e s i c h t s f a r b
e d e s
A n g e k l a g t e n in ganz
merklicher Weise. Die Verhandlung begann im Billardzimmer im oberen Stockwerk.
Der Gerichtshof begab sich aber bald nach den Zimmern im Parterre, zunächst
nach dem sog. Wintereßzimmer, von dem eine Tür nach der Veranda geht. Die Tür
soll nach Angabe der Zeugin Zahn stets verschlossen gewesen sein. Die Fenster
des Zimmers sind vergittert. Anschließend an dieses Zimmer liegt das M o r d z i m m e r , das in dem Zustand belassen worden war, in
dem es sich am Mordtage befand. Der Angeklagte ersucht bei Eintritt in dasselbe
den Vorsitzenden, ihn vor Beleidigungen zu schützen, da eine Dame von den
Zuhörern ihn eben einen Mörder genannt habe. Der Vorsitzende rügt das.
Der S
a c h v e r s t ä n d i g e D r . P e t e r s
gibt Aufschluß über die Schüsse. Dorothea Rohrbeck hatte einen Schuß in
die Brust erhalten, der ihr in den Hals gedrungen war. Ein zweiter Schuß ging
vom Genick aus. Der auf Ursula Schade abgefeuerte Schuß war ein Steckschuß. Der
Schußkanal befindet sich über der rechten Augenbraue. Die D i e n s t m ä d c h e n M e n d e
u n d H i r s c h geben an, in welcher Lage sie die Leichen gefunden
haben. Dorothea Rohrbeck habe mit dem Kopf in einer Blutlache, quer über dem
durch das Zimmer gehenden Läufer gelegen, Ursula Schade am Kleiderschrank.
Links von ihr am Knie lag der Revolver. Die Mende hat als erste das Mordzimmer
betreten. Sie hat die am Boden liegende Rohrbeck am Arm gefaßt und beim Namen
gerufen. Die bald herbeigekommene Erzieherin Frl. Zahn behauptet, Dörthe habe
noch geatmet. K r e i s m e d i z i n a
l r a t D r . P e t e r s
weist darauf hin, daß bei Dorothea Rohrbeck der T o d
d u r c h E r s t i c k e n eingetreten ist.
Frl.
Z a h n bekundet auch, daß die
vom Mordzimmer zur anstoßenden Rollstube führende Tür verschlossen gehalten
worden sei. Sie schildert das Auffinden des
R e v o l v e r s folgendermaßen:
Grupen nahm den neben der Ursula liegenden Revolver an sich, legte ihn auf den
am Ofen stehenden Rohrplattenkoffer. Inzwischen sei bemerkt worden, daß sich
unter dem Kleide der Ursula Schade ein Päckchen mit Patronen und der Brief an
„Großmutti“ befand. Der Brief ist damals bald verlesen worden, worauf Grupen
ausrief: „Da ist es doch meine Waffe und ich bin Schuld an dem Verhängnis.“ -
Postverwalter G r i m m i g (Lähn) bekundet, er habe die Waffe nicht auf
dem Rohrplattenkoffer, sondern auf dem vor dem Liegesofa stehenden Tische gefunden.
Als alter Jäger habe er die Waffe sofort sichern wollen, dabei aber, da ihm die
Konstruktion nicht bekannt war, die Waffe nicht gesichert, sondern
entsichert. Die W a f f e
h a t a l s o i n
g e s i c h e r t e m Z u s t a
n d a u f d e m
T i s c h e g e l e g e n . Bei der Untersuchung des Revolvers in seiner
Wohnung habe Grimmig festgestellt, daß sich noch zwei Patronen in dem Magazin
befanden. Auf die Frage des Staatsanwalts, ob die Tür der Veranda, die in das
an das Mordzimmer angrenzende Eßzimmer führt, immer geschlossen gewesen sei,
erklärt Frl. Zahn, daß dies gewöhnlich der Fall war und daß die Fenster der
Veranda nur von innen zu öffnen sind, während die Fenster im Erdgeschoß des
Schlosses vergittert seien.
In die im Mordzimmer geführten Verhandlungen
griff Grupen lebhaft ein, sah sich die eingetrockneten Blutlachen genau an und
beantragte u. a., die Entfernung zwischen der Lage der Leichen und den
aufgefundenen Patronenhülsen zu messen. Das Gericht begab sich alsdann nach der
Küche und stellte fest, daß es unmöglich ist, dort Schüsse, die im Mordzimmer
gefallen seien, zu hören. Dann wurden die Räume im Obergeschoß besichtigt und
festgestellt, wo und an welchen Stellen sich zur Zeit der Bluttat Grupen, Frl.
Zahn, Frau Eckert, Frl. Mohr und die kleine Irma Schade aufgehalten haben. Nach
der Besichtigung wurden die Verhandlungen im Saale des Schlosses fortgesetzt.
Vorher fanden noch S c h i e ß v e r s
u c h e i m M o r d z i m m e r statt, die von einem Schießsachverständigen
im Beisein des Angeklagten und zweier Zeugen vorgenommen wurden. Grupen hatte
sich energisch dagegen ausgesprochen, daß die Schießversuche in seiner
Abwesenheit vorgenommen wurden.
Es folgte dann eine kleine Mittagspause.
Freitag, 9. Dezember 1921 „Schlesische
Zeitung“ Abendblatt
Der
Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.
Hirschberg, 8. Dezember
Der Lokaltermin auf Schloß Kleppelsdorf am
Mittwoch zog sich bis in die späten Abendstunden hin und brachte noch manche
interessante Momente. - Zeugin M e n d
e wird eingehend über ihre
Wahrnehmungen gefragt, die sie vom Eintreffen Grupens vom 8. Februar an bis zum
Mordtage hatte. Die Zeugin bekundet, daß der Empfang kühl und daß Grupen seit
seiner Anwesenheit fast immer im Zimmer war und gelesen oder Mühle gespielt
habe. Von einer Verstimmung der Ursula gegen Dorothea Rohrbeck hat die Zeugin
nichts bemerkt, auch nichts von einem Revolver oder Patronen. - Vors.: War der
Angeklagte nach dem Auffinden der Leiche sehr aufgeregt? - Zeugin: Ja. Er sagte
gleich zur Großmutter:
„Da
werde ich wohl die Schuld kriegen.“
Vert. Dr. Ablaß: Diese Äußerung ist neu. Ich
bitte, die Zeugin zu fragen, warum sie früher davon nie etwas gesagt hat. -
Zeugin: Ich wurde ja früher nie darum gefragt. Auf eingehende Ermahnung, sich
die Sache richtig zu überlegen, gibt die Zeugin dann an, nicht mehr genau zu
wissen, ob diese Worte vor oder nach Verlesung des Briefes an die Großmutter
gefallen seien. Der Zeugin ist aufgefallen, daß, als sie Grupen nach der Tat
gegen 3 Uhr zu der Vernehmung durch den Amtsrichter rufen sollte, die Tür zum
Eßzimmer, wo sich G r u p e n und
F r a u E c k e r t befanden, verschlossen war und auch auf
Klopfen nicht gleich geöffnet wurde. Sie will
h i n t e r d e r T ü r
P a p i e r g e r ä u s c h e
gehört haben. Die Zeugin H i r s
c h bekundet im wesentlichen dasselbe
wie am Vormittage. Sie hat gehört, daß Grupen sagte: das ist doch der Revolver,
den ich gekauft habe. Hierbei kam es bei einer kurzen Bemerkung des
Verteidigers Dr. Ablaß: „Sehr richtig.“ zu einem Zusammenstoß zwischen dem
Staatsanwalt und den Verteidigern. Der Staatsanwalt wollte einen
Gerichtsbeschluß herbeigeführt haben, daß solche Bemerkungen unzulässig seien.
Die Verteidiger stellten einen gleichen Antrag, da der Oberstaatsanwalt mit einem
Geschworenen während der Verhandlung gesprochen habe. Der Vorsitzende bat,
davon abzusehen, da doch alle lediglich das Bestreben haben, die Wahrheit zu
finden. Schließlich wurden denn auch von beiden Seiten die Anträge
zurückgezogen.
Zeuge Sanitätsrat Dr. S c h o l z
machte Angaben über seine Wahrnehmungen bei seinem Erscheinen im
Schlosse. Der Zeuge bestätigt, daß Grupen ihn gebeten, doch Ursel etwas zu geben,
damit sie sagen könne, wer es gewesen sei. - Vors.: Ist Ihnen das aufgefallen?
- Zeuge: Ja. - Wie Dr. Scholz weiter bekundet, hat er, der Zeuge, sofort
gesagt: Hier liegt Mord vor, kann hier niemand Aufschluß geben? Er hat dann
Frl. Zahn gefragt, was sie darüber denke. Diese sagte ihm: Ach Gott, es gibt so
böse Menschen im Hause. Von diesem Augenblick an, so sagt der Zeuge, hatte ich
den Angeklagten in Verdacht. Zeuge Postverwalter G r i m m i g : Ich bin mit der vorgefaßten Meinung am
Mordtage hierher gekommen, daß der Angeklagte Grupen der Mörder ist. Wäre ich
nicht mit der vorgefaßten Meinung hierher gekommen, dann hätte ich Grupen nicht
für den Täter gehalten, denn er war ruhig. Dagegen konnte ich mir das Verhalten
der Frau Eckert nicht erklären, die beim Anblick der beiden niedergeschossenen
Enkel so ruhig war. - Vors.: War Ihnen bekannt, daß der Angeklagte dem Fräulein
Zahn und dem Frl. Rohrbeck unsympathisch war? - Der Zeuge bejaht dies, ebenso
die andere Frage, ob davon gesprochen worden sei, daß Grupen der Dörte nach dem
Leben getrachtet hat, und daß sich die Damen vor ihm fürchteten.
Amtsgerichtsrat T h o m a s
gibt als Zeuge an, daß ihn der Angeklagte vor seinem Transport nach
Hirschberg gefragt hat, ob die Untersuchung etwas Neues ergeben habe. Der Zeuge
hat erwidert: Eigentlich nichts. Die weitere Frage des Angeklagten, ob Frl.
Mohr und seine Schwiegermutter bei ihren Aussagen geblieben sind, hat der Zeuge
bejaht. Darauf sagte der Angeklagte: „Dann ist es gut, dann bin ich beruhigt.“
Zeuge Kriminalbeamter L a c h n i
??? (Hirschberg) hat keine Spuren
gefunden, die darauf hindeuten konnten, daß jemand von außen in das Mordzimmer
gekommen sei. Dem Zeugen Justizobersekretär
K l a p p e r (Lähn) fiel auch
das merkwürdige Benehmen der Großmutter auf. Zeuge Oberlandjäger K l o p s c h hat bald, nachdem er ins Schloß gerufen
worden war, den Eindruck gehabt, daß hier ein
M o r d vorliege. Es fiel ihm
das gleichgültige Benehmen Grupens und der Frau Eckert auf. Auf eine Frage, wer
wird den schönen Besitz nun erben, sagte Frau Eckert: „Die Hälfte Rohrbeck, die
Hälfte ich.“ Zeuge Klopsch bestätigt, daß Grupen, als er weggebracht werden
sollte, zu Fräulein Mohr und seiner Schwiegermutter gesagt hat:
„Ihr
bleibt bei Euerer Aussage.“
Trotz seines Verbotes an Grupen, so bekundet
der Zeuge weiter, das Sprechen zu unterlassen, hat Grupen der Mohr dann noch
etwas in plattdeutscher Sprache gesagt, was ich aber nicht verstand.
Zeugin
Z a h n sagt aus: Ich konnte
nicht begreifen, daß ich erst dreimal habe Grupen bitten müssen, er möge mir
helfen, Dörte aufs Bett zu legen. Ich hatte das Gefühl, daß der Täter wohl sein
Opfer nicht anfassen wollte. - Sanitätsrat Dr.
S c h o l z gibt dann noch an,
wenn an der Wunde bei Ursula Schade Pulverschleim gewesen wäre, hätte er ihn
sehen müssen.
Damit war die Verhandlung in Kleppelsdorf
beendet. Bei der Abfahrt des Angeklagten aus dem Gutshofe kurz nach 8 Uhr
Abends nahm eine große Menschenmenge, die sich dort angesammelt hatte, eine
drohende Haltung gegen Grupen ein.
*
Am Donnerstag wurden die Verhandlungen in
Hirschberg fortgesetzt. Mit der Begutachtung der E c h t h e i t d e r
A b s c h i e d s b r i e f e d
e r v e r s c h w u n d e n e n F r a u
G r u p e n sind Geheimrat Moll
und Prof. Schneidemühl beauftragt worden. Sodann wird die Erzieherin Frl. Z a h n
über
die
Stunde der Tragödie
vernommen. - Fräulein Zahn: Montag in der 12.
Stunde saß ich mit Dörte im Kinderzimmer. Grupen kam zweimal aus dem
Nebenzimmer zu uns, sah sich um und ging zurück. - J.-R. Dr. Ablaß
(unterbrechend): Sie hatten sich mit dem Angeklagten über religiöse Fragen
unterhalten. Der Angeklagte soll dabei erklärt haben, er glaube nicht an einen
persönlichen Gott; er glaube an ein höheres Wesen in dem Sinne, daß er es die
Liebe nenne. - Frl. Zahn: Ja, das hat der Angeklagte gesagt. - Vert. Dr.
Mamroth: Ist es richtig, daß der Angeklagte abends Nachtgebete mit den Kindern
verrichtet hat? - Frl. Zahn: Das ist in Itzehoe geschehen; ob auch in
Kleppelsdorf, das weiß ich nicht. Frl. Zahn (fortfahrend): Gegen 12 Uhr sandte
ich das Dienstmädchen mit der Einschreibquittung, die mir Dörte von der Post
gebracht hatte, weg, um das Paket zu holen. Um diese Zeit kam Ursula an die Tür
meines Zimmers, machte die Tür auf und sagte: „Dörte, komm doch mal!“, worauf
Dörte ging. Ursula sprach etwas hastig, aber freundlich. Ich hatte ein ganz
merkwürdiges Empfinden dabei; denn erstens haben sich die Kinder nie unten
aufgehalten, und zweitens hörte ich im Nebenzimmer, wo Grupen, Irma, die
Großmutter und die Mohr saßen, die Tür auf- und zumachen. Schritte hörte ich
von meinem Zimmer aus nicht, da überall Teppiche liegen. Nach einer Minute ging
ich ins Nebenzimmer und veranlaßte Irma, nach Dörte zu sehen. Grupen sagte:
„Irma wird gleich gehen.“ Irma ging. Sie kam auch gleich wieder und sagte: „Ich
kann Dörte nicht finden.“ Ich hatte das Gefühl, daß Irma nicht weit gegangen
war. Kurze Zeit darauf mußte ich eine Gemüseschüssel besorgen und zu diesem
Zweck durch das Zimmer gehen, wo Grupen, Irma und die Mohr in Anwesenheit der
Großmutter Mühle spielten. Ob Ursula bei den Spielenden saß, weiß ich nicht.
Als Dörte noch mit mir im Zimmer saß, hat Grupen versucht, durch die offene Tür
eine Unterhaltung mit uns anzuknüpfen. Ich war darüber ärgerlich. Es waren ganz
unnötige Sachen, von denen er sprach. Als ich durch das Zimmer nach der Gemüseschüssel
ging, hat mich der Angeklagte sehr genau angesehen. Als ich der Mende
aufgetragen hatte, die Kinder zum Essen zu rufen, kam diese bald eiligst
zurück, riß die Tür aufsagte: „ D i
e K i n d e r l i e g e n
i m F r e m d e n z i m m e r !
“ Frl. Zahn gibt nun die bekannte
Schilderung von dem Auffinden der Mädchen. Als sie Grupen und seine
Schwiegermutter veranlaßt hatte, das Zimmer zu verlassen, habe ihr Grupen beim
Hinausgehen die Hand entgegengestreckt, die sie aber nicht angenommen hat. Die
Zeugin bestätigt, daß Grupen den Revolver mitten auf den Tisch gelegt habe.
Das Verhältnis zwischen
Frau
Eckert und Grupen
sei besonders herzlich. Ich habe ein solch
inniges Verhältnis zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn nie kennen
gelernt. - Sachverständiger Geheimrat Dr. Lesser: Bestanden Differenzen
zwischen Großmutter und Frl. Rohrbeck? - Frl. Zahn: Bei dem Besuch in Itzehoe
war das Verhältnis zwischen beiden sehr herzlich. Im November 1919 war der
Geburtstagsbrief von Großmutter an Dörte auffallend kühl und das Verhältnis
wurde ungünstiger.
Auf Befragen des Geheimrats Dr. Lesser sagt
Frl. Zahn dann ü b e r d i e
U r s u l a : Das Mädchen war
nach meiner Ansicht nicht von übermäßiger Intelligenz. Als sie im November mitkam,
war sie gegen früher merkwürdig verändert. Während sie früher fröhlich war,
erschien sie jetzt sehr gedrückt und scheu. Das Verhältnis zwischen Dörte und
Ursel war sehr gut. Ich kann mir nicht erklären, wie Ursel in dem
Abschiedsbriefe an die Großmutter schreiben konnte, sie solle sich nicht mehr
über Dörte ärgern. J.-R. Dr. Ablaß: Wie war Ursel körperlich entwickelt? - Frl.
Zahn: Sie war zart und schwächlich. Auf Befragen des Staatsanwaltes sagt die
Zeugin noch, daß Ursel, aber auch die kleine Irma, anscheinend mit
schwärmerischer Liebe an ihrem Stiefvater, an dem Angeklagten, hingen.
Schreibsachverständiger Prof. Schneidemühl
verlangt von der Zeugin Auskunft über den Eindruck, den sie von den Briefen der
verschwundenen Frau Grupen hatte. Die Verteidiger beantragen, diese Frage erst
dann zuzulassen, wenn auch Prof. Dr. Jeserich anwesend sei. Der Gerichtshof
beschließt, die weiteren Zeugen zuzulassen. Aus den Antworten der Zeugin geht
hervor, daß sie eine wesentliche A b w
e i c h u n g in den Zügen S c h r i f t z ü g e n d e r
B r i e f e d e r F r a u
G r u p e n der früheren und
letzten Briefe bemerkt haben will. Die Schriftzüge in den letzten Briefen waren
gegen früher zu regelmäßig und immer kehrten dieselben Redewendungen wieder. Es
schien der Zeugin, als ob Frau Grupen auch geistig eine andere geworden, nicht
mehr so selbständig als früher war. Auch in ihrem Äußeren war sie nicht mehr so
gepflegt als früher. Zwischen ihr (Zahn) und Frau Grupen habe kein gespanntes
Verhältnis bestanden.
Damit ist die Vernehmung der Zeugin beendet.
Es tritt eine Mittagspause bis 3 Uhr ein.
Sonnabend, 10. Dezember 1921 „Schlesische
Zeitung“ Morgenblatt
Der
Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.
Aus Hirschberg wird gemeldet: Im
Kleppelsdorfer Mord-Prozeß ist es am Freitag bei der Vernehmung des Vormundschaftsrichters
der getöteten Dorothea Rohrbekck zwischen dem
Z e u g e n u n d d e r
E r z i e h e r i n F r l . Z a h n
z u e i n e r e r r e g t e n S z e n e gekommen, die durch das Eingreifen eines
Geschworenen ein ungewöhnliches prozessuales Nachspiel hatte. Der
Vormundschaftsrichter hatte ausgesagt, daß er bei Eintreffen auf dem Schlosse
nach der Mordtat der Erzieherin keine Erregung anmerken konnte. Sie habe sogar
gelacht, als er die Befürchtung ausgesprochen habe, daß Dorothea Rohrbeck sich
die etwa kurz vor ihrem Tode ergangene Verfügung des Vormundschaftsgerichtes,
alte Bäume fällen zu lassen, zu Herzen genommen habe. Gegen die Aussage des
Zeugen über ihr Verhalten protestierte Fräulein Zahn und verließ den Gerichtssaal.
Ein Geschworener gab im Namen der Geschworenen die Erklärung ab, daß auch sie
in der Aussage des Zeugen eine üble Kritik an die Zeugin Zahn erblicken. Erst
auf nochmaliges Befragen durch den Vorsitzenden erklärte der Zeuge, daß eine
solche Kritik nicht in seiner Absicht gelegen habe. Der Vorfall wurde zu
Protokoll genommen.
Sonnabend, 10. Dezember 1921 „Schlesische
Zeitung“ Abendblatt
Der
Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.
Hirschberg, 9. Dezember
In der Donnerstagssitzung wurde noch
der Vormundschaftsrichter
Amtsgerichtsrat T h o m a s
(Lähn) vernommen. Es entwickelte sich eine von sehr verschiedener
Weltauffassung zeugende Wechselrede zwischen dem Vorsitzenden und dem Zeugen, deren
Inhalt im Wesentlichen die Ernährungs- und Kleidungsverhältnisse der
Millionenerbin Dorothea Rohrbeck ist. Der Zeuge war in Übereinstimmung mit dem
Vormund Vielhack der Ansicht, daß in Kleppelsdorf unter Frl. Zahn zu große
Ausgaben gemacht würden. Zum Erstaunen des Vorsitzenden bekennt der Zeuge, daß
er tatsächlich der Meinung war, daß sich aus den Sachen des verstorbenen
Rohrbeck hätten Kleidungsstücke für Dorothea machen lassen. Wie der Zeuge
weiter bekundet, kamen die neuen Steuern und rund 621.000 Mark Reichsnotopfer,
so daß sich das Kapital verringerte. Der Vormund bekam jährlich 2000 Mark und
Ersatz der Reisekosten, sowie 15 Mark Tagegelder bei Reisen. - Vors.: Und wie
oft kam da der Vormund nach Kleppelsdorf? - Zeuge: Jährlich höchstens zweimal.
Später stellte der Vormund den Antrag, seine Entschädigung auf 4000 Mark zu
erhöhen, was aber zu hoch erschien, so daß ich die Festsetzung auf nur 3000
Mark durchsetzte. - Vors.: Ist es denn nicht bedenklich, daß der Gegenvormund
Bauer, der doch die Rechte des Mündels gegen den Vormund vertreten soll als
Gutsverwalter gewissermaßen der Untergebene des Vormundes war? - Zeuge: Diese
Bedenken habe ich auch gehabt; da aber keine Beschwerden kamen, habe ich mich
damit abgefunden. - Vors.: Von dem Mündel und der Erzieherin lagen jedenfalls
viele Beschwerden vor.
Der Zeuge macht dann nähere Angaben über die
Gelder , die Frl. Zahn für den Haushalt und die Erziehung erhielt. Im Jahre
1915-16 wurden an Frl. Zahn 26.000 Mark gezahlt, wofür sie Gärtner, Köchin und
die beiden Dienstmädchen bezahlen mußte. Frl. Zahn selbst erhielt monatlich 200
Mark. 1916-17 waren es rund 24.000 Mark, dann wieder 24.000 Mark, dann 21.000,
dann 29.900 Mark. Im ersten und im letzten Falle sind die Naturalien
eingerechnet, in den anderen Fällen nicht. - Vors.: Es ist dann merkwürdig: je
größer die Teuerung wurde, desto niedriger wurde die dem Mündel zugebilligten
Unterhaltungsgelder. Und mit 100 Mark wöchentlich sollten die beiden Damen auskommen?
- Zeuge: Sie erhielten ja auch noch Naturalien. Herr Rohrbeck hatte 10.000 Mark
für die Erziehung seiner Tochter ausgesetzt. - Vors.: Damit hatte er doch
sicherlich nur die Ausgaben für die Erziehung gemeint, aber nicht die Kosten
für den gesamten Unterhalt. - Zeuge: Der Vormund und ich waren jedenfalls der
Meinung, daß damit der ganze Unterhalt gemeint sei. - Vors.: Der Vormund hat
dann Frl. Zahn wiederholt gekündigt, obwohl in dem Testament stand, daß sie die
Erziehung des Fräuleins zu deren Mündigkeit leiten sollte. Glaubten der Vormund
und Sie, daß sie hierzu ein Recht hatten? - Zeuge: Das war jedenfalls die
Ansicht des Vormundes und meine auch. - Vors.: Ihre Ansicht, aber die oberen
Gerichte waren jedenfalls anderer Ansicht. Weshalb wollte der Vormund Frl. Zahn
entlassen? - Zeuge: Er war der Ansicht, daß ihm Frl. Zahn das Mündel entfremde.
- Vors.: Aber der Vormund hatte doch gar keine persönlichen Beziehungen zu
Fräulein Rohrbeck? Nach den bei den Akten befindlichen Attesten des Dr. Kreisel
in Breslau war Dorothea Rohrbeck leidend und sollte gute Verpflegung und
Aufenthalt auf dem Lande haben. Trotzdem wollte der Vormund, daß sie in ein
Pensionat nach der Stadt gehen sollte, was ihr gewiß gesundheitlich nicht
zuträglich gewesen wäre. - Zeuge: Ich hatte auch dagegen Bedenken, deshalb war
ich gegen diesen Plan.
Im weiteren Verlauf der Vernehmung spricht
der Zeuge die Vermutung aus, Frl. Rohrbeck könnte Selbstmord begangen haben,
weil einige alte Kastanienbäume im Park gefällt werden sollten.
Es ereignet sich dann der im Morgenblatt
bereits erwähnte Zwischenfall, worauf die Verhandlung auf Freitag verlegt wird.
*
In der Freitagstunde wird die S t ü t z e
F r l . M o h r vernommen. Mit Rücksicht auf ihr Verhältnis
zu dem Angeklagten wird sie dringend ermahnt, die reine Wahrheit zu sagen. Sie
bekundet: Im Dezember 1920, also nach dem Verschwinden der Frau Grupen, bin ich
in Grupens Haus als Stütze gegangen, und zwar auf Wunsch meiner Mutter, während
mein Vater dagegen gewesen ist. Die Ursel ist ein liebenswürdiges Kind gewesen.
In der Hand des Kindes habe ich n i
e e i n e S c h u ß w a f f e gesehen, auch nie ein ähnliches Spielzeug.
Auf der Reise nach Kleppelsdorf habe ich keinerlei Wahrnehmungen gemacht, daß
Ursel e i n e n R e v o l v e r o d e r
e i n P a t r o n e n k ä s t c
h e n u n t e r
d e n K l e i d e r n trage. Auch beim Spielen und Schaukeln der
Kinder im Park habe ich nie wahrgenommen, daß Ursula einen harten Gegenstand
bei sich trage. Wenige Tage nach der Ankunft in Kleppelsdorf schrieb Ursel an
eine Frau Bartel einen Brief. Da er nicht richtig war, habe ihn Ursel zerrissen
und noch zweimal geschrieben und sich dann gefreut, als er ihr gelungen war. Am
9. oder 10. Februar hat mir Ursel einen
B r i e f a n G r o ß m u t t e r gegeben und gesagt, daß wird eine g r o ß e
Ü b e r r a s c h u n g für
Großmutti sein. Ursula forderte aber den Brief zurück und die Großmutter solle
ihn erst übermorgen erhalten. Am nächsten Tage wollte Ursula, daß ich den Brief
noch nicht abgebe, weshalb ich ihr wieder zurückgab. - Staatsanw.: Was hatten
Sie für einen Eindruck, als die Ursel sagte: das soll eine Überraschung für
Großmutti sein? - Zeugin: Ursula war s
e h r v e r g n ü g t dabei. - Vors.: Hat damals der Angeklagte
von dem Briefe etwas gehört? - Zeugin: Nein. - Die Zeugin bestreitet, die
Rollstube jemals be…eitet, die Rollstube jemals verschlossen zu haben. - Vors.
(mit erhobener Stimme): I s t d e r
A n g e k l a g t e d e r k l e i n e n I r m a ,
als sie den Apfel nach dem Abort trug,
n a c h g e g a n g e n ? -
Zeugin: N e i n . - Vors.: Ist Grupen
aber nicht aufgestanden und hat er der Irma nicht die Tür zum Schrankzimmer
aufgemacht? - Zeugin: Nein. - Vors.: Der Angeklagte hat es gestern selbst
gesagt. Ist Grupen im Zimmer hin und her gegangen? - Zeugin: Nein. Wir haben
Mühle gespielt. - Verteidiger Dr. Mamroth: Sie haben schon in der
Voruntersuchung erklärt, Sie seien bereit, jederzeit zu beschwören, daß Grupen
das Zimmer nicht verlassen habe. Ein Beisitzer macht die Zeugin darauf aufmerksam,
daß sie in ihrem heutigen Verhör verschiedene Fragen nicht mit derselben
Genauigkeit beantwortet hat, wie die, ob Grupen das Zimmer verlassen habe. -
Die Zeugin erwidert, sie habe andere Sachen vergessen, weil sie unwichtig
seien. - Vors.: Hat der Angeklagte später nicht gesagt: es ist gut, daß wir
alle gesagt haben, daß ich in meinem Zimmer war? - Zeugin: Ich kann mich darauf
nicht erinnern. - Verteidiger Dr. Ablaß weist darauf hin, daß die Zeugin schon
in früheren Vernehmungen erklärt habe: „Ich weiß, daß Grupen nicht
hinausgegangen ist, weil wir Mühle gespielt haben.“ Sachverständiger Dr. Moll
(zur Zeugin): Haben Sie die Unterhaltung gehört, die der Angeklagte mit Frl.
Zahn im Nebenzimmer geführt hat? Der Angeklagte soll Frl. Zahn dabei gefragt
haben, was Küsschen auf plattdeutsch heißt. Die Zeugin kann sich nicht hierauf
erinnern.
Frl. Mohr bekundet weiter, daß sie sich gegen
Abend im … Amtszimmer mit Frau Eckert, der kleinen Irma und Grupen
eingeschlossen habe. - Vors.: Warum ist zugeschlossen worden? - Zeugin: das
weiß ich nicht. - Vors.: Hat der Angeklagte nicht gesagt: Es ist doch gut, daß
wir zusammen waren, da wird meine Unschuld bald an den Tag kommen. - Zeugin:
Kann sein, daß er es gesagt hat. - Auf wiederholtes Befragen erklärt die Zeugin:
Ich weiß es nicht. - Vors.: Was hat Grupen zu Ihnen gesagt, als er abgeführt
wurde? - Zeugin: Ich sollte die Wahrheit sagen, dann wird sich seine Unschuld
bald herausstellen. - Vors.: Hat er nicht gesagt, daß er, wenn Sie bekunden,
daß er oben war, bald wieder frei sein werde? - Zeugin: Das weiß ich nicht.
Auf Befragen des Schießsachverständigen gibt
die Zeugin an, daß der Angeklagte in Ottenbüttel S c h i e ß ü b u n g e n mit einem
R e v o l v e r angestellt hat.
- Vors.: Also überlegen Sie es sich genau. Ein anderer Zeuge bekundet diese
Äußerung. - Zeugin: Ich weiß es nicht. - Vors.: Was sagte Grupen zu Ihnen, als
er am nächsten Tage nach einer nochmaligen Vernehmung im Schloß nach Hirschberg
abgeführt wurde? - Zeugin: Das weiß ich nicht. - Auf wiederholtes Befragen
erklärte die Zeugin, daß der Angeklagte gesagt habe, ich solle die Wahrheit
sagen, daß wir oben im Zimmer zusammen waren. - Vors.: Als der Landjägermeister
Klopsch dem Angeklagten das weitere Sprechen verbot, hat der Angeklagte nicht p l a t t d e u t s c h gesprochen. Und was? - Zeugin: Ich weiß es
nicht. - Auf wiederholtes Befragen des Vorsitzenden sagt die Zeugin
schließlich: Der Angeklagte wird seine Ermahnung, die Wahrheit zu sprechen,
wiederholt haben. - Vors.: Da brauchte doch der Angeklagte nicht plattdeutsch
zu sprechen. Hat er wirklich das gesagt? - Zeugin: Das kann sein.
Die Zeugin muß dann die Worte: Sag die
Wahrheit, dann komme ich bald heraus! in plattdeutsch sprechen. Sie spricht
dies aber so aus, daß alle Anwesenden die Worte verstehen, während der
Landjägermeister Klopsch die Worte des Angeklagten damals nicht verstanden hat.
- Der Angeklagte spricht die Worte plattdeutsch aus, die er damals gesprochen
haben will: „Seg de Wohrheet un gif an tau, dat wi tausamen verköhrt hebben.“
Diese Worte kann, besonders bei dem Tonfall des Dialektes niemand im
Gerichtssaal verstehen. - Sachverständiger Dr. Peters: Ich verstehe auch
plattdeutsch. Diese Worte lauten: Sag die Wahrheit, und gib nur zu, daß wir
zusammen verkehrt haben. - Zeugin: Ja, das hat er gesagt. - Vors.: Es ist doch
werkwürdig, vorhin habe ich Sie so eingehend gefragt, was der Angeklagte gesagt
hat, und Sie haben immer und immer wieder versichert, daß Sie es nicht mehr
wüßten, und jetzt wissen Sie es auf einmal.
Der Angeklagte beantragt selbst kurz vor 1
Uhr den A u s s c h l u ß d e r
Ö f f e n t l i c h k e i t ,
der auch erfolgt.
Montag, 12. Dezember 1921 „Schlesische Zeitung“ Abendblatt
Der
Doppelmord in Kleppelsdorf.
Hirschberg, 10. Dezember
In der Freitag-Nachmittagsitzung gab
weiterhin Rechtsanwalt Dr. P f e i f f
e r Auskunft über den Prozeß, den Frl.
Zahn gegen den Vormund Vielhack führte und gewann. In diesem Prozeß war Zeuge
als Gegenzeuge gegen die Damen Zahn und Dorothea Rohrbeck ins Feld geführt
worden. Die Damen wollten, nachdem sie Grupen als falsch erkannt, nichts mehr
mit ihm zu tun haben. Grupen schrieb nun, die Damen sollten nach Hamburg
kommen, er werde ihnen das Reisegeld schicken, und dann werde er alles
klarstellen. Der Zeuge hatte den Eindruck, als wenn Grupen in der ganzen Sache
nicht ehrlich gehandelt hätte. Die Damen wollten nicht reisen, wollten auch
Grupen nicht empfangen, sondern wollten, daß dieser nach Hirschberg zu Dr.
Pfeiffer komme, und das geschah auch am 9. Februar, wo Grupen dann die e i d e s s t a t t l i c h e V e r s i c h e r u n g abgab, daß er zu Vielhack keine Äußerung
getan habe, die diesen berechtigte, ihn als Gegenzeugen gegen Frl. Zahn zu
nennen.
Hauptmann
T s c h u n k e vom Reichswehrministerium
in Berlin hat bei seiner Schwester gehört, wie die anwesende Dorothea Rohrbeck
ihre
Furcht
vor dem Angeklagten
äußerte, und zwar nach der Fahrt von
Kleppelsdorf nach Berlin. Dorothea erzählte auch, daß Grupen der Großmutter
eine Flasche mit Kognak gegeben habe, die verdächtig war. Der Verteidiger Dr.
Mamroth bittet um die Feststellung, daß es sich um ein ganz harmloses Getränk
handelte. Vors.: Nach der Untersuchung handelt es sich um ein Getränk, das
etwas Bittermandelöl enthält, aber zur Vergiftung keineswegs geeignet ist.
Staatsanwalt: Die Angeklagebehörde ist nie der Ansicht gewesen, daß es sich
hier um einen Selbstmordversuch handelt, sie erwähnt die Sache nur, um zu
zeigen, welche Furcht die Damen in Kleppelsdorf vor dem Angeklagten hatten, daß
sie ihm einen Giftmordversuch zutrauten. Rittergutsbesitzer P i n g e l , der jetzige Besitzer von Kleppelsdorf, ein
Anverwandter der ermordeten Schloßherrin, bekundet, daß ihm der Angeklagte
erzählt habe, er werde sich von seiner Frau scheiden lassen, um Fräulein Zahn
zu heiraten. Fräulein Rohrbeck habe ihm erzählt, daß ihr Grupen sehr unsympathisch
sei. Bald nach der Tat hat der Zeuge den Garten und Park des Schlosses von
Kleppelsdorf untersucht, aber keine Spuren gefunden, die darauf hindeuten, daß
von außen jemand in das Schloß eingedrungen sei. Gemeindevorsteher D ö r i n g - Kuttenberg kann nur aussagen, daß Dorothea
vor dem Besuch Grupens große Angst gehabt hat. Bei Frau R o h d e -
Erdmannsdorf hat sich Frau Eckert beklagt, daß ihr Dorothea durch Frl.
Zahn entfremdet werde. Werkführer B r ü
c k n e r - Lähn kann bekunden, daß
Dorothea die Großmutter nicht leiden konnte.
Die Lyzeallehrerin Fräulein K i e f e r t aus Itzehoe, in deren Klasse die U r s u l a
S c h a d e von Michaelis 1920
bis Februar 1921 gegangen ist, sagt aus: In einer Stunde, aber nicht bei ihr,
ist von der Hypnose gesprochen worden. Dabei sagte Ursula Schade: i h r e
M u t t e r k e n n e e i n e n
M a n n , w e n n d e r
j e m a n d f e s t
a n s e h e , s o m ü ß t e
d i e s e r m a c h e n , w a s
d e r M a n n w o l l e . Wenn er aber die Augen wegwende,
dann sei es vorbei. Ursula war ein körperlich zartes Wesen, sehr gut, aber auch
sehr empfindlich. Sie war immer fröhlich und beteiligte sich auch an den
Spielen der anderen Kinder. Ich halte es für
unmöglich,
daß dieses Kind jemand niedergeschossen hat
oder daß sie die Handhabung eines Revolvers
auch nur kannte.
In der Sonnabend-Sitzung wurde
Frau
Eckert als Zeugin
vernommen. Frau Eckert erklärt, Ihr
Verhältnis zu dem verstorbenen Herrn Rohrbeck sei ein gutes gewesen, aber die
Liebe der Dörte habe sie nicht gewonnen. Die Dörte habe mehr zu den Verwandten
des Fräulein Zahn gehalten, als zu ihren eigenen Verwandten. Zwischen Frau
Gertrud Schade, der Tochter der Zeugin aus zweiter Ehe, und Herrn Rohrbeck habe
ein gutes Verhältnis bestanden. Als Frau Schade Witwe geworden war, habe Herr
Rohrbeck sich mit ihr verlobt und eine Reise mir ihr nach Berlin unternommen, bald
darauf aber das Verlobungsverhältnis gelöst. Die Bekanntschaft mit Grupen ist,
wie mir meine Tochter erklärte, durch eine Heiratsanzeige zustande gekommen. -
Vors.: Was halten Sie von Grupen? - Zeugin: Er hatte einen sehr netten Eindruck
gemacht und wir haben es ihm hoch angerechnet, daß er meine Tochter mit ihren
drei Kindern heiraten wollte. Die Hochzeit fand im September 1919 in Itzehoe
statt. Ich wohnte in demselben Hause. Grupen war furchtbar wenig zu Hause; er
befand sich viel auf Reisen. Das Verhältnis zwischen ihm und meiner Tochter war
in der ersten Zeit gut. Später verschlechterte es sich, es gab allerlei
Differenzen. Einmal rief mich sogar meine Tochter in der Nacht zu Hilfe; ich
weiß aber nicht mehr, was vorgefallen war. Grupen wollte immer allein reisen.
Zu den Kindern war er stets gut. - Vors.: War Ihre Tochter Gertrud
krebsleidend? - Zeugin: Nein. - Vors.: Der Angeklagte behauptet, er hätte Ihre
Tochter nicht geheiratet, wenn er etwas von dem Leiden gewußt hätte. - Zeugin:
Ich habe von dem Leiden keine Ahnung. - Vors.: Was ereignete sich in den Tagen
des 17., 18. und 19. September. Wir kommen jetzt zu dem
Verschwinden
Ihrer Tochter.
Frau Eckert: Am 17. sollte ich eine Hypothek
von 37.000 Mk. an Grupen übertragen. - Vors.: Warum denn? - Zeugin: Das ist es
eben, warum war ich denn so dumm? - Vors.: Sie hatten dem Angeklagten doch auch
schon Generalvollmacht gegeben, ebenso wie Ihre Tochter. - Zeugin: Ja. Weil ich
mit den Steuerpflichten usw. nicht Bescheid wußte. - Vors.: Was ereignete sich
nun am 19. September? - Zeugin: Meine Tochter schrieb an diesem Tage und sagte
am Nachmittag, sie fährt nach Kleppelsdorf. - Vors.: Hat Ihre Tochter einmal
davon gesprochen, daß sie eine größere Reise unternehmen wollte? - Zeugin: Ja,
sie sagte öfter, Deutschland gefällt mir nicht mehr, ich gehe nach Amerika,
dann hole ich Euch nach. Die Zeugin hat das für Scherz gehalten. Die Reise nach
Kleppelsdorf war ihr ganz unklar. Frau Grupen verabschiedete sich sehr
flüchtig, so, als wenn sie nur wenige Tage weg wollte. Als der Angeklagte am
Abend zurückkam, hat sie Grupen nicht mehr gesprochen, erst am nächsten Tage.
Im Schlafzimmer stand ein Koffer mit Wäsche, der bahnlagernd nach Hamburg
geschickt werden sollte. Zwei Tage darauf fuhr Grupen nach Kleppelsdorf, um,
wie er angab, Dörte zu holen. Der Zeugin hat der Angeklagte nichts davon
gesagt, daß seine Frau Abschiedsbriefe geschrieben, in denen sie sagt, daß sie
nach Amerika geht.
Vors.: Angeklagter, konnten Sie denn Ihre
Schwiegermutter nicht besser trösten, als Frl. Rohrbeck? - Angekl.: Ich wollte
erst Nachforschungen einstellen, ehe ich der Frau Eckert etwas von dem
Verschwinden ihrer Tochter sagte, während dieser Zeit sollte Dörte die
Großmutter trösten.
Frau Eckert bekundet weiter: Grupen sagte
mir, ein in seinem Auftrage tätiger Detektiv in Hamburg habe erforscht, daß
Frau Grupen mit einem reichen Manne durchgegangen sei und es ihr gut ginge.
Außerdem erzählte er mir soviel Schlechtigkeiten von meiner Tochter, daß ich
selbst nicht mehr nachforschen wollte. Einmal schrieb sie an Schade, wo ihre
Tochter wohl sein könnte. Die Absendung dieses Briefes verbot ihr der
Angeklagte mit der Äußerung: „Wenn Du diesen Brief abschickst, sind wir beide
fertig!“ Angekl. (auf die Frage eines Geschworenen): „Ich habe keinen Detektiv
beauftragt, sondern das der Frau Eckert nur erzählt, weil ich die
Schwiegermutter beruhigen wollte.“ Über
die
Vorgänge am Mordtage
bekundet Frau Eckert: Am 14. Februar saß ich
häkelnd in dem sogenannten Winterwohnzimmer. Grupen spielte mit der Mohr Mühle.
Ursula saß auf dem Sopha und las. Dann ging Ursula aus dem Zimmer. Hernach
spielte Frl. Mohr mit der Irma, während Grupen im Zimmer auf und ab ging und
auch mit dem im Nebenzimmer befindlichen Fräulein Zahn sprach. Irma stand dann
auf, um einen Apfelrest fortzuwerfen, und auch Grupen war aufgestanden. Dann
habe ich e i n i g e Z e i t
d e n A n g e k l a g t e n n i c h t
i m Z i m m e r g e s e h e n , vielleicht bin ich auch etwas eingeschlafen.
Die Zeit, in der ich den Angeklagten nicht beobachtet habe, war nach meiner
Ansicht genügend, die Tat unten zu verüben. Der U r s u l a
traue ich sie auf k e i n e n F a l l
zu, das war bei dem körperlich sehr schwachen Mädchen überhaupt
unmöglich.
Auf Antrag des Verteidigers Dr. Ablaß wird
ein von der Zeugin an Wilhelm Grupen gerichteter Brief vom 15. Februar
verlesen, in dem es u. a. heißt: „Ein furchtbares Unglück kam über uns. Ursel
hat aus Peters Schreibtisch den Revolver mitgenommen und gestern nachmittag die
Dörte und sich selbst erschossen. Ist das nicht entsetzlich? Damit nicht genug,
hat man Peter verhaftet, da man der Ursel das nicht zutraut. In der Zeit des
Unglücks waren wir mit Irma oben im Wohnzimmer, was wir beide beschwören
können. Also muß sich ja seine Unschuld herausstellen.“
Die Zeugin verneint die Frage des Dr. Ablaß,
ob sie sich in den kritischen Momenten in einem h y p n o t i s i e r t e n Zustande befunden hätte und fügte hinzu, sie
sei überhaupt nicht zu hypnotisieren.
Dienstag, 13. Dezember „Schlesische Zeitung“
Abendblatt
Der
Doppelmord in Kleppelsdorf.
Hirschberg, 12. Dezember
Die Montagssitzung eröffnet der Vorsitzende
mit einigen geschäftlichen Mitteilungen, worauf die Zeugenvernehmung wieder
aufgenommen wird.
Frau Oberst
S e m e r a k gibt Auskunft über
eine Unterredung, die sie im Januar d. J. mit Dorothea Rohrbeck gehabt hatte.
Fräulein Rohrbeck hat ihr erzählt, daß sie den Inhalt einer Kognakflasche
untersuchen lassen wollte. Als die Zeugin nach dem Grunde fragte, antwortete
Dörte: „Ich fürchte, daß Grupen mir nach dem Leben trachtet.“ Nach der Ursache
zu dieser Befürchtung befragt, erzählte Dörte die Alsterpartie. Grupen habe
damals durchaus keinen Spaß gemacht, als er sein Ruder fortwarf.
Rittergutsbesitzer L u x :
Es fiel mir auf, daß Frau Eckert, als wir nach dem Morde im Winterzimmer
saßen, wo am 14. Februar Mühle gespielt wurde, am Ofen saß, einnickte und
wieder aufwachte. Ich kam auf die Idee, festzustellen, ob es der Frau Eckert
auffalle, wenn jemand die Tür öffne und das Zimmer verlasse. Ich ging durch das
Billardzimmer hinab bis zum Fremdenzimmer. Nach etwa 50 Sekunden kam ich zurück
und hatte nicht den Eindruck, daß Frau Eckert meine Abwesenheit bemerkt hatte.
Frau Hotelbesitzer M e i s t e r e r n s t aus Altona: Im September 1920 wünschte Frau
Grupen bei ihr ein Zimmer. Da das Hotel aber besetzt war, ging Frau Grupen weg
und ließ eine Pelzjacke zurück; die Pelzjacke ist nach einigen Wochen von
Grupen abgeholt worden. Grupen selbst bestellte auch im September, nachdem
seine Frau dagewesen war, ein Zimmer mit zwei Betten. Beim Oberkellner meldete
er sich als „Architekt Peter Grupen mit Nichte“ an. Zeugin beauftragte den
Oberkellner, dem Grupen, wenn er komme, zu sagen, daß die Nichte ein besonderes
Zimmer haben müsse, weil es sich um ein noch nicht 16jähriges Mädchen handelte.
Sowohl die Irma wie Frau Eckert haben im
Zustande suggestiver Beeinflussung n i
c h t b e m e r k t , d a ß
d e r d e n V e r s u c h e n b e i w o h n e n d e O b e r s t a a t s a n w a l t d a s
Z i m m e r v e r l i e ß . Die Stütze Mohr ist zwar, wie die übrigen Beteiligten,
mit den Experimenten des Zeugen wohl einverstanden gewesen, hat aber den … chen
Widerstand entgegengesetzt; sie war nicht dazu bereit, die Brillantnadel auf
der Krawatte des Zeugen fest anzusehen, sie sah vielmehr immer vorbei. Es mußte
daher bei ihr von den Beeinflussungsversuchen Abstand genommen werden. Zum
Schluß schildert der Zeuge ein an Dorothea Rohrbeck bei einer gesellschaftlichen
Veranstaltung vorgenommenes Experiment auf dem Gebiete der Wachsuggestion.
Gutsverwalter S c h ö p k e aus Buckow bei Berlin hatte mit Grupen eine
Unterredung, als er mit Dörte der Großmutter Eckert einen Besuch abstattete.
Grupen rühmte sich, ein guter Schütze zu sein, der wiederholt Schießpreise
bekommen habe. Als ihn der Zeuge darauf hinwies, daß er nur einen Arm habe,
bemerkte Grupen:
„Desto besser kann
ich schießen.“
Dörte habe sich auf den Besuch der Großmutter
gefreut, es sei ihr aber unangenehm gewesen, daß Grupen mitgekommen war. Ich
weiß auch, daß Frl. Zahn gesagt hat: „Es ist furchtbar, daß der Mann (Grupen)
in unserem Hause ist!“
Eine Schülerin, die auf Veranlassung der
Staatsanwaltschaft mehrere Tage Ursulas Unterbindetasche mit dem Revolver und
den Patronen getragen hat, sagt aus, daß sie dabei beim Gehen und bei
häuslichen Verrichtungen sehr behindert worden sei.
Gaswerksdirektor W r o b e l
hat im Auftrage des Staatsanwalts festzustellen versucht, ob die Stütze
Mohr, Frau Eckert und die kleine Irma leicht oder schwer zu beeinflussen sind,
ob sie unter dem Einfluß des Angeklagten stehen und wie ihre Aussagen bezüglich
des Verlassens des Zimmers durch Grupen zu bewerten sind. Die Versuche wurden
im Winterwohnzimmer an dem besagten Tische, an dem Mühle gespielt worden war,
vorgenommen.
Nach einer kurzen Pause wird
Landgerichtsrat P i e t s c h vernommen, der eine kurze Zeit die
Vernehmungen vorgenommen hat. Der Zeuge bekundet, daß Grupen gesagt habe, er
hätte bei dem Finden der Leichen die Schusswaffe aufgehoben, gesichert und auf
den Tisch gelegt. - Der Angeklagte bemerkt hierzu, daß er sich zunächst infolge
der Aufregung nicht mehr genau auf das Auffinden der Waffe erinnern konnte.
Erst später, nach gründlicher …ung und wiederholtes Befragen habe er erklärt,
wenn er den Revolver aufgehoben habe, dann habe er auch möglicherweise den
Sicherungsflügel umgelegt. Eine bestimmte Erklärung hierüber habe er aber nicht
abgegeben und auch nicht abgeben können. An den Zeugen richtet der Vorsitzende
die Frage, ob er bei der Vernehmung des Angeklagten den Eindruck hatte, daß
dieser die Absicht hegte, den Gang der Untersuchung zu erschweren, oder ob er
bestrebt war, die Sache aufzuklären. Der Zeuge erklärt hierzu, daß der
Angeklagte damals auf die Frage, wo seine Frau sei, keine Antwort gegeben und
den Zeugen vielmehr dabei sehr scharf angesehen und erklärt habe: Ich kann
darüber nur in der Hauptverhandlung Auskunft geben. Ich fürchte, mit meiner
Aussage meiner Frau und anderen Personen Ungelegenheiten zu bereiten. Ich hatte
den Eindruck, daß der Angeklagte etwas verheimlichen wollte. Es schien, als ob
sich
der
Angeklagte auf mich stürzen
wollte. Ferner hat der Angeklagte bestritten,
mit den beiden Dienstmädchen intim verkehrt zu haben. - Der Angeklagte
bestreitet, die Absicht gehabt zu haben, sich auf den Zeugen zu stürzen.
Der nächste Zeuge ist der Geheimrat D u b i e l , der die Untersuchung in der Hauptsache
geführt hatte. Auch er ist auf Grund des vorliegenden Materials zu der
Überzeugung von der Schuld des Angeklagten sowohl hinsichtlich des M o r d e s
als auch des S i t t l i c h k e
i t s v e r b r e c h e n s gekommen.
Der Angeklagte war bei seinen Vernehmungen sehr gesprächig, aber sehr
vorsichtig und er hütete sich, sich festzulegen. Der Zeuge bekundet dann, daß
er nach der Tat eine Zusammenkunft der Stütze Mohr und dem Bruder des
Angeklagten, Wilhelm Grupen, verhindern wollte, beide hätten sich aber trotzdem
getroffen. Ob und was sie dabei für ihre Aussagen vereinbart habe, kann der
Zeuge nicht … eben. Weiter sagte der Zeuge Dubiel aus: Auf Veranlassung des
Angeklagten habe ich die Stütze Mohr darüber vernommen, was sie von Ursulas
Brief an Großmutti wisse. Mir war es aufgefallen, daß die Mohr bei ihrer ersten
Vernehmung nichts gesagt hatte von dem Briefe, der bei Ursula, als sie im Sterben
lag, gefunden worden ist. Auf meine Frage, was sie von dem Briefe wisse,
antwortete die Mohr ganz gleichgültig: „Ach so, der Brief.“
Verteidiger Dr. Mamroth: Meinen Sie, daß die
Mohr, die geneigt sein soll, für den Angeklagten Günstiges zu sagen, den Brief
absichtlich verschwiegen hat? - Zeuge: Das weiß ich nicht, ich wunderte mich
aber darüber, daß die Mohr einen so wichtigen Umstand nicht von selbst erwähnt
hat. - Angeklagter (erregt): Obwohl mir der Staatsanwalt gesagt hat, er sei
fest davon überzeugt, daß ich den Brief an Großmutti geschrieben habe, habe ich
den Untersuchungsrichter auf den Brief aufmerksam gemacht und ihn ersucht, die
Mohr darüber zu vernehmen. Der Herr Staatsanwalt bringt den Brief mit meiner
Schuldfrage in Verbindung. Meine Schuldfrage steht nicht fest und (der
Angeklagte schlägt heftig mit der Faust auf den Tisch)
ich
behaupte: ich bin unschuldig.
Staatsanwalt: Ich bitte festzustellen, daß
ein Widerspruch besteht zwischen den Erklärungen, die der Angeklagte am
Sonnabend bezüglich der Briefe an Frau Barthel tat, und seinen Aussagen über
diesen Punkt bei der Vernehmung durch den Untersuchungsrichter. Am Sonnabend
sagte der Angeklagte, er habe die Ursula nicht veranlaßt, an Frau Barthel zu
schreiben. In der Voruntersuchung behauptete er das Gegenteil. - Der
Vorsitzende stellt aus den Untersuchungsakten fest, daß der Angeklagte
tatsächlich erklärt hat, er habe Ursula beauftragt, den Brief an Frau Barthel
zu schreiben.
Der Angeklagte bemerkt hierauf, er gebe zu,
die Ursula zu dem Briefe an Frau Barthel
v e r a n l a ß t , aber n i c h t
b e a u f t r a g t zu haben.
Ein Geschworener: Ist festgestellt, daß die
Haustüren dauernd verschlossen waren, besonders am Mordtage? - Frl. Zahn: Wir
hielten beide Haustüren unter Verschluß. Die Tür in das sogenannte Eßzimmer war
offen, die Verandatür war verschlossen. - Angeklagter: War die Tür nach dem
kleinen (Hof?) verschlossen? - Frl. Hirsch: Die Eingangstür vom kleinen (Hof?)
zum Küchenflur war stets verschlossen, ebenso die Tür vom Küchenflur zur
Rollstube.
Aus Antrag des Staatsanwalts wird nunmehr
die Ö f f e n t l i c h k e i t a u s g e s c h l o s s e n. Im Einverständnis mit den Prozessbeteiligten
bleiben die Pressevertreter im Gerichtssaal.
Die Beweisaufnahme wendet sich hierauf dem
angeblichen S i t t l i c h k e i t s v
e r b r e c h e n an Grupens
Stieftochter Ursula zu. Hierüber wird zunächst Frau E c k e r t
vernommen. Die Ursula klagte eines Tages über Schmerzen, der Angeklagte
erzählte ihr davon und fuhr mit dem Kinde zu einem Arzt. Grupen gab ihr als
Ursache des Leidens eine harmlose Angelegenheit an. Ein Gehilfe des Angeklagten
behandelte dann das Kind unter Grupens Leitung. Frau Eckert hat das damals als
lobenswert empfunden, zumal niemand anders da war.
Es erscheint dann ein damals 16 Jahre
altes D i e n s t m ä d c h e n des Angeklagten. Ihr hat Grupen die Ehe
versprochen, schon wie seine Frau noch bei ihm war. Die Zeugin hatte den Angeklagten
gern und trat in engere Beziehung zu ihm. Von einem Vergehen Grupens an seiner
Stieftochter oder einer anormalen Handlung der Mutter der Ursula gegenüber weiß
die Zeugin nichts.
Mittwoch, 14. Dezember „Schlesische Zeitung“
Abendblatt
Der Doppelmord
in Kleppelsdorf.
Hirschberg, 13. Dezember
In der nichtöffentlichen Sitzung wurden am
Montag abend noch einige Mädchen vernommen, die sich durch Eheversprechungen
des Angeklagten verleiten ließen, mit ihm in nähere Beziehungen zu treten. Eins
dieser Mädchen war in ähnlicher Art wie der Angeklagte und die kleine Ursula
erkrankt.
Am Dienstag wurde zunächst in
nichtöffentlicher Sitzung weiter verhandelt. Eine intime Freundin der
verschwundenen Frau Grupen bekundet, daß der Angeklagte einmal zu seiner Frau
gesagt habe: Durch Scheidung gehen wir nicht auseinander,
nur die
Waffe kann uns trennen!
Der Angeklagte habe damit einen Selbstmord
durch Erschießen gemeint; die Zeugin sei aber fest überzeugt, daß er Komödie
spielte. Das Verhältnis zwischen den Eheleuten sei überhaupt nicht gut gewesen,
wie es nach außen schien, und wie es hätte sein sollen. Hinter verschlossenen
Thüren wird auch dann Wilhelm Grupen, der Bruder des Angeklagten, vernommen,
der einen anormalen Vorgang zwischen der
F r a u des Angeklagten und
der U r s u l a beobachtet haben will.
Die m
e d i z i n i s c h e n S a c h v e r s
t ä n d i g e n sprachen sich in dem
Gutachten sehr zurückhaltend über die Wahrscheinlichkeit des dem Angeklagten
zur Last gelegten Sittlichkeitsverbrechens aus. Die Möglichkeit eines intimen
Verkehrs mit dem Angeklagten wurde zugegeben.
Im weiteren Verlauf der Sitzung gab der
Vorsitzende Aufklärung über den Ursprung der seit Sonnabend in der Stadt um
laufenden Gerüchte, daß die verschwundene Frau Grupen sich in der Westschweiz
aufhalte. Nach der Mitteilung des Vorsitzenden befand sich unter den vielen
Zuschriften, die bei ihm täglich eingehen, auch ein Schreiben der Breslauer
Staatsanwaltschaft, wonach sich bei ihr ein Herr E i c h l e r gemeldet habe, der Auskunft über den
Aufenthalt der vermißten Frau Grupen geben könne. Frau Grupen soll sich in
Turni (Westschweiz) aufhalten. Auf Veranlassung der Hirschberger
Staatsanwaltschaft ist Eichler in Breslau polizeilich vernommen worden, wobei sich
herausstellte, daß das Gerücht über den Aufenthalt der Frau Grupen
das
Ergebnis einer spiritistischen Sitzung
sei.
Der Gerichtshof hat unter diesen Umständen davon abgesehen, Herrn Eichler als
Zeugen nach Hirschberg zu laden.
Nachmittags wird, nach Wiederherstellung der
Öffentlichkeit, in der Zeugenvernehmung fortgefahren.
Apothekenbesitzer Otto S c h a d e
(Berlin) sagt aus: Ostern 1920 stellte mir meine Schwiegermutter Gertrud
den Angeklagten als ihren Ehemann vor. Grupen machte einen günstigen Eindruck
auf mich und nannte mich „Vater“. Auch erklärte er mir, daß er eine bessere
Frau als Trude nicht hätte finden können. Wenige Tage nach dem 19. September
fragte der Angeklagte bei mir telegraphisch an, ob er mich im Wartesaal des
Potsdamer Bahnhofes sprechen könne. Ich war einverstanden. Als Grupen kam,
richtete er an mich die Frage: „Hast Du Nachricht von Trude?“ Auf meine
verneinende Antwort sagte er: „Denke Dir, sie ist fort nach Amerika!“ Ich
ersuchte ihn, weiter zu erzählen, sobald meine Frau gekommen sei. Da wehrte er
ab, und als meine Frau früher als erwartet kam, war er sehr bestürzt. Grupen
äußerte, er habe seiner Frau ein angenehmes Leben bereiten, ihr ein Reitpferd
kaufen wollen und für den Haushalt 50.000 Mark hergegeben. ..000 Mark habe er
auf der Bank, in kurzer Zeit würde er Millionär sein. Meine Schwiegertochter
hat zu mir niemals davon gesprochen, daß sie nach Amerika gehen wolle. Zur
Bühne hatte sie ein gewisses Talent, aber es praktisch zu betätigen, war nie
ihre Absicht gewesen.
Vorsitzender: Hat der Angeklagte
Nachforschungen nach seiner Frau angestellt? - Zeuge: Der Angeklagte sagte mir,
er hätte einen Detektiv mit Ermittlungen beauftragt, über den Erfolg hat er mir
nichts mitgeteilt. Die Abschiedsbriefe seiner Frau hat er mir gezeigt. Ich
erklärte ihm sofort, daß
Trude
unmöglich diese Briefe geschrieben
haben könne. Eine solche Gemütsroheit kann
ich Trude nicht zutrauen. Das Verhältnis meiner Schwiegertochter mit dem
Fabrikbesitzer Schulz ist uns bekannt geworden; wir haben ihr, als sie uns um
Verzeihung bat, um des Familienfriedens willen, verzeihen. Das Verhältnis mit
Schulz hatte sie erst nach dem Tode meines Sohnes.
Frau
M a r g a r e t e S c h a d e
, die Gattin des Vorzeugen, hat den
Angeklagten bei seinem ersten Besuch als sehr zurückhaltend kennen gelernt. Vor
der Zusammenkunft auf dem Potsdamer Bahnhof hatte Grupen telegraphisch bei uns
angefragt, ob seine Frau bei uns wäre. Die Abschiedsbriefe, die er uns zeigte,
kamen mir merkwürdig kühl vor. Wenn meine Schwiegertochter wirklich nach
Amerika gegangen sein sollte, so kann sie es nur in geistiger Umnachtung getan
haben, denn sie hing sehr an ihren Kindern. Über die Glaubwürdigkeit der
kleinen Irma kann die Zeugin ebenso wie ihr Ehemann aus eigener Erfahrung
nichts Nachteiliges sagen. Die Ruth R e
s k e habe ihr gegenüber darüber
gesagt, daß der Vater (Grupen) sie geschlagen habe, wenn sie mal was nicht nach
seinem Willen ausgeführt hatte. Die Reise, die Ruth mit dem Vater nach Berlin gemacht
habe, sei ihr (Ruth) schrecklich gewesen, weil der Vater sich mit viel Damen
eingelassen habe.
Rechtsanwalt und Notar R e i n e c k e - Itzehoe: Ich habe die notariellen Akten über
die Übertragung von Hypotheken der Frau Eckert und der Frau Grupen an den
Angeklagten aufgenommen, desgleichen über die Gütertrennung. Die Akte erfolgten
am 17. und 18. September. An dem Wesen der Frau Grupen ist mir nichts
aufgefallen. Als mir mein Bürovorsteher das Kuvert mit den Abschiedsbriefen der
Frau Grupen übergab, fiel mir auf, daß kein Abschiedsbrief an den Angeklagten
dabei war. Als ich Grupen von dem Inhalt der Briefe Kenntnis gegeben hatte,
machte er aus mich den Eindruck eines „geknickten Ehemannes“. Da ich es für
unmöglich hielt, daß Frau Grupen mit 72.000 Mark, die sie nach Angabe des
Angeklagten mitgenommen haben soll, bei dem schlechten Valutastande nach
Amerika kommen kann, gab ich dem Angeklagten den Rat, sofort Nachforschungen
anzustellen, damit die Frau nicht etwa im Sumpf untergehe. „Sie müssen“, sagte
ich zu Grupen, „alle Hebel in Bewegung setzen, um auf die Spur Ihrer Frau zu
kommen. Erkundigen Sie sich bei den Schiffsgesellschaften, fragen Sie auch bei
dem Fabrikbesitzer Schulz an, ob er etwas von dem Aufenthalt Ihrer Frau wisse.“
Nach vierzehn Tagen beauftragte mich Grupen mit der Einleitung der
Ehescheidungsklage. Als ich im Februar von dem Morde in Kleppelsdorf las, da
machte ich mir meine eigenen Gedanken und
legte
mein Mandat für Grupen nieder.
Ich habe dann als Abwesenheitspfleger der
verschwundenen Frau Grupen u. a. das von dem Angeklagten verpfändete Silber
ausgelöst. - Vorsitzender (zum Angeklagten): Haben Sie den Rat Ihres
Rechtsanwalts, sich bei Herrn Schulz über den Aufenthalt Ihrer Frau zu
erkundigen, befolgt? - Angeklagter: Jawohl, ich bin nach Berlin zu den
Verwandten meiner Frau gefahren. - Frau Schade: Grupen hat mich nur gefragt, ob
ich wüßte, ob Herr Schulz mit meinem verunglückten Sohne allein auf der Jagd
gewesen sei.
Vorsitzender: Angeklagter, sind Sie bei den
Dampfergesellschaften gewesen? - Angeklagter: Nein, weil ich erfahren hatte,
daß meine Frau sich nach Lübeck abgemeldet hatte. - Zeuge Rechtsanwalt
Reinecke: Ich habe trotzdem dem Angeklagten geraten, zu den
Schiffsgesellschaften zu gehen. - Vorsitzender: Angeklagter, warum haben Sie
das nicht getan, das war ja das Beste?
W o l l t e n S i e d e n n
v o n I h r e r F r a u
n i c h t s m e h r w i s s e n ? - Angeklagter: Nein. - Vorsitzender: Also
das war der Grund. Diese Erklärung steht aber im Widerspruch zu Ihren früheren
Angaben. - Angeklagter (heftig): Wenn diese Frage wiederholt an mich gerichtet
wird, so beantworte ich sie wiederholt: ich wollte von meiner Frau nichts mehr
wissen. Wer meine Frau in der letzten Zeit gekannt hat, wird das verstehen.
Donnerstag, 15. Dezember „Schlesische
Zeitung“ Abendblatt
Der
Doppelmord in Kleppelsdorf.
Hirschberg, 14. Dezember
Bei der weiteren Vernehmung des
Rechtsanwalts R e i n e c k e - Itzehoe stellt der Staatsanwalt noch
folgende Frage: Ist Ihnen bekannt, daß der Angeklagte vom Gefängnis aus noch
immer mit der Generalvollmacht über das Vermögen der Frau Eckert verfügt?
Angekl.: Dann muß man x = 0 geben, sonst stimmt´s nicht. Staatsanwalt: Das
Vermögen der Frau Eckert soll doch 109.000 Mark betragen haben. Wo ist das
Geld? Vors.: Weg! (Heiterkeit) Angekl.: Frau Eckert hat nichts gehabt. Die
109.000 Mark in Wertpapieren gehörten meiner Frau und nicht Frau Eckert. Über
dieses Geld hat meine Frau zum größten Teil verfügt oder es ausgegeben.
Der Vorsitzende teilt mit, daß ein bei ihm
soeben eingegangenes Schreiben ihn veranlasse, an Frl. Z a h n
einige Fragen zu richten. In dem Schreiben wird behauptet, daß einmal
durchs
Fenster auf Dorothea Rohrbeck geschossen
worden sei.
Frl. Zahn: Im Oktober 1919 - der Angeklagte
war damals in Kleppelsdorf - wurde abends im 9 ½ Uhr durch das offene Fenster
des Herrenzimmers geschossen. Es war ein Schrotschuß. Wir haben es uns damals
nicht erklären können und nahmen an, daß der Schuß mehr dem Herrn Bauer gelten
sollte. Vors.: Ist es richtig, daß Frl. Dörte durch den Schuß verletzt worden
ist? Zeugin: Dörte saß ja gar nicht in dem Zimmer, sie saß zwei Zimmer weiter
und spielte Klavier. Vors.: In dem Schreiben wird unterstellt, daß der Angeklagte
den Schuß abgegeben habe. Dörte soll dem Frl. Semerak erzählt haben, sie sei an
der Nase verletzt worden. Staatsanwalt: Der Fall ist schon in der
Voruntersuchung bekannt geworden.
Dienstmädchen G n i w a k o w s k i macht Bekundungen über das Auffinden des in
der Toilette gefundenen Abschiedsbriefes der Frau Grupen an Frau Eckert. Auf
dem zerknüllten Briefentwurf haben auch die Worte gestanden: „Liebe Dörte, sei
stets gut zu Deiner Großmutter.“ Die Zeugin hat auch bei dem Öffnen der
Geldkassette durch Grupen mitgeholfen. Als die Kassette aufsprang, sei Grupen
blaß gewesen, aber erst am nächsten Tage habe er davon gesprochen, daß in der
Kassette 60.000 Mark fehlten.
Dienstmädchen K l ä s c h e n : Bei der Abfahrt nach Itzehoe am 19.
September, dem tage, an dem Frau Grupen verschwunden ist, sind die Eheleute
fröhlich und vergnügt gewesen. Ich fuhr mit, um in Itzehoe ins Vereinshaus zu
gehen. Dort sollte ich um 8 Uhr sein, und ich hätte noch Zeit gehabt, mit zum
Bahnhof zu fahren. Frau Grupen hatte einen Zeltbahnmantel mit. Nachdem ich
Grupen den in der Toilette gefundenen Zettel gegeben habe, fuhr er mit dem aus
der Kassette genommenen Zettel zum Notar und bei seiner Rückkehr sagte er:
„Meine
Frau ist weg, ich bin frei!“
Vors.: Hatten die Eheleute manchmal Streit
gehabt? Zeugin: Ja, in der letzten Zeit. Einmal hat Grupen seine Frau
„Frauenzimmer“ geschimpft. Vors.: Hat Frau Eckert nicht zu Frau Grupen gesagt:
Mir ist so Angst, daß Du reisest! Zeugin: Ja, Frau Grupen sagte aber: Habe
keine Bange, ich komme bald wieder. Du weißt ja, daß ich nicht lange ohne
meinen Mann leben kann.
Zwischen den beiden Mädchen und dem
Staatsanwalt entspinnt sich eine längere Aussprache darüber, ob sie nicht, wie
sie früher bekundet haben, den Eindruck hatten, daß der Briefentwurf
absichtlich auf die Toilette gelegt worden ist, damit er dort gefunden werden
sollte, und ob die Mädchen nicht absichtlich zur Öffnung der Kassette hinzugezogen
worden sind, damit sie als Zeugen über den Inhalt der Kassette dienen könnten.
Die Mädchen vermögen über ihre Eindrücke keine klare Auskunft zu geben. Die
Kläschen bekundet, daß sie den Zettel am Sonntag, den 19. September, vor der
Abfahrt der Frau Grupen, gefunden hat, während sie früher erklärt hat, ihn erst
am nächsten Tage, also am Montag, gefunden zu haben.
Dr. B
ü n z aus Itzehoe: Zwischen Frau Grupen
und ihren Kindern hat ein herzliches Verhältnis geherrscht. Frau Schade ist
eine gebildete, liebenswürdige Frau gewesen, die ihren Hausstand sehr in
Ordnung gehalten hat und selbst schwere Arbeit nicht scheute. Ich halte es für
ganz ausgeschlossen, daß Frau Schade ihre Kinder länger als höchstens 14 Tage
hätte verlassen können.
Vors.: Halten Sie es für möglich, daß Frau
Schade das mit der Ursel gemacht hat, was hier behauptet worden ist. - Zeuge:
Das möchte ich stark bezweifeln. Sie war eine lebhafte, aber edle Frau.
Die nächste Zeugin, Frau Luzie H a f f n e r , macht Bekundungen über das Eheleben des
Angeklagten. Vorsitzender: Hat Frau Grupen Ihnen erzählt, daß sie mit ihrem
Manne eine nachträgliche Hochzeitsreise nach Amerika machen wolle, und zwar zu
einem reichen Onkel des Angeklagten?
Zeugin: Ja. - Frl. Zahn: Der Angeklagte hat
mir beim Besuch in Itzehoe erzählt, er habe in Amerika einen sehr reichen
Onkel, der ihn besonders im Erbe bevorzugt hätte. Der Angeklagte sollte
spätestens im Juni 1921 abreisen. Seine Frau wollte er mitnehmen, und er fragte
mich und Frl. Dörte, ob wir ihn begleiten wollten. Daß er mit seiner Frau nach
Amerika fahren wolle, hielt ich für Ernst, die Aufforderung an Dörte und mich,
ihn zu begleiten, für Spaß.
Zeugin
H a f f n e r : Grupen hat in
Ottenbüttel viel auf Vögel geschossen. Die Ottenbüttler behaupten, Grupen habe
seine
Frau in einen Keller eingemauert.
Zeuge
B o o s - Tempelhof, Bruder der
Frau Eckert, sagt aus, er habe geglaubt, daß zwischen den Grupenschen Eheleuten
ein gutes Einvernehmen herrsche. Frau Grupen habe ihren Mann sehr geliebt, der
Angeklagte war ruhiger. Der Bruder des Angeklagten habe in Ottenbüttel auf ihn,
den Zeugen, einen unheimlichen Eindruck gemacht, so daß der Zeuge annahm,
Wilhelm Grupen wisse von der Tat in Kleppelsdorf mehr als sein Bruder Peter.
Die Zeugin
G n i w a k o w s k i wird auf
ihren Wunsch nochmals vernommen, weil sie in ihrer gestrigen Aussage etwas
vergessen habe. Das Verhältnis mit der Kläschen hatte der Angeklagte schon vor
dem Verschwinden seiner Frau. Als Kläschen aber erfuhr, daß Grupen auch seinem
Kindermädchen Charlotte M ü l l e
r die Ehe versprochen habe, habe sie ihn
zur Rede gestellt. Darauf sei es zu einer Auseinandersetzung zwischen Grupen
und der Müller gekommen, wobei diese ihm um den Hals gefallen sei. Auch dies
ist passiert, als Frau Grupen noch nicht weg war.
Vors. (zum Angekl.): Nun, was sagen Sie zu
diesen Dingen? Von der Charlotte Müller haben wir bisher überhaupt noch nichts
gehört.
Angekl.: Von diesen Vorgängen habe ich nichts
bemerkt. (Heiterkeit bei den Zuhöhrern)
Der nächste Zeuge ist Herr v .
T o b o l t , Direktor der
landwirtschaftlichen Schule in Perleberg. Er gehörte mit zu einem
Freundeskreis, zu dem auch der Apothekenbesitzer Schade und dessen Frau, die
spätere Frau Grupen, gehörte. Als 1911 Herr Schade auf der Jagd tödlich
verunglückt war, nahm sich der Fabrikbesitzer
S c h u l t z, der auch mit zu
diesem Freundeskreis gehörte, der Frau Schade an. Er führte ihr die Bücher und
stand ihr bei, doch gewann er ihr Vertrauen offenbar mehr, als erlaubt war. Die
andern Herrschaften brachen infolgedessen den Verkehr mit Frau Schade und Herrn
Schultz ab, dem auch nahegelegt war, aus der Loge auszutreten. Bald darauf zog
Frau Schade nach Berlin und Herr Schultz mit seiner Frau nach Frankfurt a. M.
Ob Frau Schade mit Herrn Schultz eine Reise unternommen hat, weiß der Zeuge
nicht. Nach seiner Kenntnis ist das Verhältnis zwischen Schade und Herrn
Schultz erst nach dem Tode des Herrn Schade entstanden.
Frau Margarete D i s s e l
aus Rostock bei Kellinghusen war eine gute Freundin der Frau Grupen, die
sie als tüchtige Hausfrau und gute Mutter schilderte. Sie hatte die Empfindung,
daß die beiden Eheleute nicht zueinander paßten. Die Zeugin hält es für
unmöglich, daß Frau Grupen ihren Kindern etwas Unanständiges zugemutet hätte.
Frau Grupen soll eine edle Frau gewesen sein.
Frau
W o l g a r i - Hamburg, eine
frühere Verlobte des Angeklagten: Grupen hatte ein unruhiges Leben. Heute
wollte er dies, morgen das. Einmal wollte er ein Luftschaukelgeschäft
errichten. Zu diesem Zweck hatte er sich mit der Uhr in der Hand vor eine
Luftschaukel gestellt, um festzustellen, wieviel der Besitzer in zwei Minuten
einnehme. Auch einen Mittagstisch wollte er anfangen. Er kaufte alte Räder
durch Zeitungsinserate und verkaufte sie wieder. Von der Kleiderverwertungsstelle
bezog er Kleider und veräußerte sie ebenfalls. Er sagte, er wolle den Doktor machen
und eine Villa kaufen.
Vors.: Hatte er denn Mittel dazu? - Zeugin:
Er sagte, er bekäme Erwerbslosenunterstützung und habe bei den Eltern ein
Sparkassenbuch über 2.000 Mark. Auch ein Pferdegeschäft hat er einmal gemacht.
Einen Revolver hatte er stets in der Schublade verwahrt. Staatsanwalt: Wie kam denn der Angeklagte zu
den Kleidern aus der Kleiderverwertungsstelle, das muß doch ein unlauteres
Geschäft gewesen sein?
Zeugin: Unter falschen Angaben und mit
Schokolade hat er in der Kleiderverwertungsstelle von der Verkäuferin bekommen,
was man sonst nur gegen Bezugsschein erhält. Eines Tages überraschte er mich
durch die Mitteilung, daß er sich mit Frau Schade verlobt hätte. Da habe ich
ihm den Ring zurückgegeben, und da er ihn nicht annehmen wollte, den Ring in
die Tasche von seines Vaters Mantel gesteckt.
Vors.: Hatte er nicht einen eigenen Mantel? -
Zeugin: Nein, er kam im Mantel seines Vaters. Seinen eigenen Mantel hatte er im
Pfandhaus versetzt. - Vors.: Also, als Sie noch seine Verlobte waren, teilte
Ihnen Grupen mit, daß er sich mit Frau Schade verlobt habe? - Zeugin: Ja, er
sagte mir, das Verhältnis mit Frau Schade sei nicht ohne Folgen geblieben. Er
müsse die Damen heiraten. Und ich solle zurückstehen. Er wollte monatlich eine
Entschädigung für die Anschaffungen zahlen, die ich in Erwartung der Heirat
gemacht hatte, ich erhielt aber nur einmal 100 Mk. Nach einigen Monaten
telephonierte er mich an, und sagte, ich solle noch zu ihm halten, denn seine
Frau sei krank und
würde
nicht lange leben.
Vors. (zum Angeklagten): Bestätigt es sich,
daß Sie mit Frau Schade sich verlobten, während Sie mit der Zeugin noch verlobt
waren? - Angekl.: Darüber will ich keine Angaben machen. - Vors.: Wollen Sie
nicht der Wahrheit die Ehre geben und den Grund sagen, warum Sie sich mit Frau
Schade verlobten? - Angekl.: Im Interesse der Zeugin und im Interesse meiner
Frau gebe ich darüber keine Erklärung ab.
In der Nachmittagssitzung am Mittwoch wurde
die Beweisaufnahme mit der Vernehmung des Kriminal-Oberwachtmeisters J a r c h o w - Hamburg fortgesetzt. Der Zeuge hat sich an
den Nachforschungen nach Frau Grupen beteiligt und festgestellt, daß für Frau
Grupen P ä s s e o d e r
s o n s t i g e A u s w a n d e
r e r p a p i e r e n i r g e n d
s a u s g e f e r t i g t worden sind. Die Auswanderung nach
Nordamerika ist noch heute sehr schwierig, und auch Auswanderer nach Südamerika
unterliegen einer sehr strengen Kontrolle. Der Zeuge hält es für ausgeschlossen,
daß Frau Grupen auf normale Weise nach Amerika gekommen ist.
Den Verkauf der Ringe von Frau Grupen hat dem
Zeugen der Angeklagte anfangs verschwiegen, dann aber zugegeben, daß er sie
einem Goldarbeiter, von dem er 5.000 Mk. geliehen hatte, für 1.000 Mark
Restschuld verkauft habe. Z w e i R i n g e
w a r e n z e r b r o c h e n
, so daß der Verdacht bestand, die
Ringe wären g e w a l t s a m v o m
F i n g e r g e z o g e n worden. Nach dieser Richtung konnten
Feststellungen nicht getroffen werden.
Kriminal-Oberwachtmeister G i e s e -
Itzehoe: Frau Grupen hat sich laut Meldeamtsregister am 18. September
1920 nach Lübeck abgemeldet, es konnte aber nicht ermittelt werden, ob sie die
Abmeldung selbst vollzogen hat. In Lübeck ist Frau Grupen nicht angemeldet
worden. Die Möglichkeit, daß Frau Grupen mit einem gefälschten Paß nach Amerika
gelangt ist, kann nicht von der Hand gewiesen werden, liegt aber nicht vor.
Verteidiger Dr. Ablaß: Ist irgend etwas
hierüber festgestellt worden, ob sich der Angeklagte jemals mit Hypnose beschäftigt
hat? - Zeuge: Darüber wurde nichts ermittelt, es hat niemand etwas davon
bemerkt.
Frau
S u d e n - Hamburg, eine 76jährige
Frau: Grupen hat mit meinem Neffen in einem Hamburger Lazarett gelegen und hat
um die Hand meiner Nichte Bertha angehalten, der Vater war aber nicht damit
einverstanden. Nach vier Jahren, im November 1920, kam Grupen wieder zu uns.
Wir hatten in der Zwischenzeit, und auch aus der Zeitung, gehört, daß Grupen
mehrere Male verlobt war. Als er zu uns kam, sagte er zu mir: Meine Frau ist
tot, die beiden Kinder gingen wieder zurück zur Familie und er sei jetzt ein
freier Mann, hätte auch so viel verdient, daß er nicht mehr zu arbeiten
brauche. Grupen fragte nach meiner Nichte Bertha und verlangte wiederholt, das
Mädchen zu sprechen, was ich aber nicht zugab, er solle wiederkommen oder
schreiben.
Frau Wilhelmine K r u s e -
Haseldorf: Ich war mit Grupen verlobt und habe ihn mit Lebensmitteln
unterstützt. Da Grupen mit einem anderen Mädchen ein Verhältnis anknüpfte, hob
ich die Verlobung auf. Als ich mit meinem jetzigen Mann verlobt war, kam Grupen
nach Haseldorf geradelt und traf mich auf der Straße. Er fragte mich, ob ich
Verkehr habe. Ich sagte, daß ich mit Kruse, meinem jetzigen Mann, verkehre. Da
erwiderte er: „Den bekommst Du nicht. Du machst mich unglücklich, ohne Dich
kann ich nicht leben,“ und
setzte
mir einen Revolver auf die Brust.
Ich dachte, er wolle mich erschießen, fiel
ihm um den Hals und sagte aus Angst, daß ich wieder mit ihm verkehren wolle.
Grupen verlangte, daß wir alle Wochen zusammenkämen, er werde für mich sorgen.
Ich verkehrte aber nicht mit ihm, denn ich hatte Angst vor ihm und wollte auch
Kruse treu bleiben. Grupen hat auch gewollte, daß ich meine Aussteuer nach
seiner Wohnung schaffe, auch fragte er nach meinem Sparkassenbuch. Da ich nicht
mit ihm zusammenkam, schrieb er mir einen Brief, der meinen Mann veranlaßte,
der Sache ein Ende zu machen.
Der Staatsanwalt stellt fest, daß der
Angeklagte bisher das Vorkommnis mit dem Revolver bestritten hat, es jetzt aber
zugibt.
Dr. B
e i e r - Lähn: Am Tage nach dem Morde
hat mir Frau Eckert die Mitteilung von dem Verschwinden der Frau Grupen
gemacht. Sie haben erst geglaubt, ihre Tochter sei nach Kleppelsdorf gefahren,
dann habe ihr Grupen gesagt: nach Amerika, auf Grund eines Briefes, den sie
aber nicht gesehen habe. Ich sagte zur Frau Eckert: „Wie konnte Sie sich, als
Sie von dem Verschwinden Ihrer Tochter erfuhren, so ohne weiteres mit der
Nachricht Ihres Schwiegersohnes zufrieden geben? Sie hätten doch selbst
Nachforschungen anstellen sollen.“ Frau Eckert erklärte mir darauf, ihr
Schwiegersohn hätte durch einen Hamburger Detektiv festgestellt, daß seine Frau
auf ein Schiff gegangen und nach Amerika gefahren sei, und daß es ihr gut gehe.
Frau Eckert erzählte, ihr Schwiegersohn hätte ihr h ä ß l i c h e B r i e f e
u n d P h o t o g r a p h i e
n von seiner Frau gezeigt, worauf sie
ausgerufen habe: „Wenn das alles wahr ist, dann habe ich keine Tochter mehr!“
Sachverständiger Dr. M o l l :
Sind es die Bilder, von denen behauptet wird, sie wären d u r c h s
S c h l ü s s e l l o c h
aufgenommen worden? - Angeklagter: Es sind Bilder, die ich im kleinen
Schreibtisch meiner Frau vorgefunden habe.
Zeuge (fortfahrend): Grupen hat sich nach
Frau Eckerts Aussage s c h l e c h
t ü b e r D o r o t h e a R o h r b e c k geäußert und gesagt, es sei ein ganz verdorbenes
Mädchen, die Liebschaften mit Offizieren habe. Ich hatte das Gefühl, daß Grupen
Frau Eckert v o n i h r e r
T o c h t e r u n d d e r
E n k e l i n a b b r i n g e
n wollte. Die Offiziere, die mit
Kleppelsdorf verkehrten, haben Dorothea immer als Kind behandelt. Von Grupen
ist Dörte im Anfang sehr eingenommen gewesen, weil er in Hamburg sehr
liebenswürdig gewesen sei, dann aber ist er ihr s e h r
u n s y m p a t h i s c h
geworden, besonders nachdem sie gehört hatte, daß er sich dem Vormund
als Kronzeuge gestellt hatte.
Freitag, 16. Dezember „Schlesische Zeitung“
Abendblatt
Der
Doppelmord in Kleppelsdorf.
Hirschberg, 15. Dezember
In der weiteren Verhandlung wird Frau
Fr. B e i e r vernommen über das Verhalten von Frau Eckert.
Sie bekundet: Frau Eckert hat gesagt: „Wenn
ich wüßte, daß meine Tochter tot ist, würde ich G r u p e n
f a l l e n l a s s e n . „ Sie bedauerte Grupen sehr. Als mein Mann
sagte: „Aber die Dörte ist doch tot und die Ursel“, sagte Frau Eckert: „Ach,
die Dörte hat mich nie gemocht!“ Ich hatte den Eindruck, als meinte Frau
Eckert, sie könne, wenn sie erst wisse, daß ihre Tochter tot sei, dann k e i n
M i t l e i d m e h r m i t
G r u p e n haben. Mir ist
ferner aufgefallen, als ich ins Zimmer trat, hatte Frl. Mohr die I r m g a r d auf dem Schoß, und als ich diese fragte, ob
sie nicht doch wüßte, daß Grupen das Zimmer verlassen habe, sagte die Mohr:
„Grupen hat das Zimmer nicht verlassen, nicht wahr, Irma?“ Und immer wieder bei
meinen Fragen nahm die Mohr das Wort vor Irma, und einmal schüttelte sie sogar
das Kind, um es zu einer Antwort zu bringen.
Die 24 Jahre alte H a r t i e , die bei dem Angeklagten in Stellung war, hat
von ihm
eine
goldene Armbanduhr geschenkt erhalten,
die
sie noch besitzt. - Der Angeklagte gibt zu, daß es die U h r
s e i n e r F r a u sei.
Auf die Frage eines Geschworenen nach den
Uhren der Frau Grupen sagt der Angeklagte: Meine Frau hatte zwei goldene
Armbanduhren und eine Nickeluhr.
Frau Eckert, die wieder in den Saal gerufen
wird: Meine Tochter hatte meines Wissens
n u r e i n e goldene Armbanduhr, die sie auf Reisen wohl
immer trug. Ob auch beim Tage der Abreise kann ich nicht sagen.
Pfandleiher
L a n g e - Hamburg: Im März
1920 kam der Angeklagte, den ich vorher nicht kannte, das erste Mal zu mir. Er
brachte Schmucksachen mit Brillanten zur Beleihung. Ich taxierte die Sachen auf
6.000 Mark. Der Angeklagte war dann einverstanden und nahm Pfandschein und
Geld. Später versetzte er bei mir einen Regenmantel und einen Pelzkragen, am 6.
Dezember eine Menge Silber für 2.300 Mark.
Rechtsanwalt und Notar R e i n e c k e - Itzehoe äußert sich über das von Frau Grupen
hinterlassene Vermögen. Die Pfandscheine für die Brillanten und das Silber habe
er eingelöst, der Pelzkragen und der Regenmantel waren verfallen. Aus dem in
Ottenbüttel verkauften Mobiliar und der Wäsche der Frau Grupen wurden 20.000
Mark gelöst. Die Hypotheken gehörten nicht mehr der Frau Grupen, denn die hatte
sie an den Angeklagten abgetreten. Über das Vermögen der Frau Eckert kann Zeuge
näheres nicht angeben. - Staatsanwalt: Die von Frau Grupen gemieteten S t a h l f ä c h e r waren
l e e r ! - Vors. (zum
Angeklagten): Was haben Sie in die Ehe eingebracht? - Angekl.: Nur meine
persönlichen Sachen und die Sachen meines Vater.
Uhrmacher August H e i n e
(Hamburg): Ich habe den Angeklagten kennen gelernt, als er in Hamburg
die Baugewerkschule besuchte. Er war auf das angewiesen, was er von seinem
Vater bekam. Ich habe ihm damals öfters ausgeholfen, einmal mit … Mk., die er
zur ersten Zahlung auf eine Lebensversicherung brauchte. Dann habe ich ihm
2.000 Mk. und vier oder fünf Monate nach seiner Verheiratung 4.000 Mk.
geliehen. Darauf brachte er mir drei goldene Ringe und einen Platinring. Zwei
Ringe waren zerbrochen. Er sagte, ich solle die Ringe reparieren, er wolle sie
einer Dame schenken, weil seine Frau nach Amerika verschwunden sei. Nach
einiger Zeit kam er wieder und sagte, ich solle die Ringe behalten für die
1.000 Mk., die er mir von den 4.000 Mk. noch schuldete. Der Zeuge bejaht die
Frage des Staatsanwalts, ob
die
zerbrochenen Ringe nur durch große Gewalt entzwei gegangen sein können.
Wilhelm Grupen, der Bruder des Angeklagten,
wird als Zeuge aufgerufen; er berichtet zunächst über die Vermögensverhältnisse
seines Bruders. Als dieser vom Militär entlassen wurde, dann die
Baugewerkschule besuchte und auf der Vulkanwerft tätig war, hatte er kein
Vermögen. Als er die Schule verließ, bezog er Erwerbslosen-Unterstützung. Bei
dem Verkauf des väterlichen Grundstücks wird er 17.000 bis 20.000 Mk. verdient
haben. Schließlich hat der Zeuge auch mit dem Angeklagten und noch mehreren
Teilnehmern verschiedene Grundstücksgeschäfte gemacht, bei denen Gewinne erzielt
worden sind.
Es stellt sich heraus, daß der Angeklagte,
als er im Gefängnis saß, dem Bruder eine Hypothek von 78.000 Mk. überschreiben
ließ. Früher hatte der Zeuge behauptet, daß er tatsächlich Forderungen in
dieser Höhe an seinen Bruder hatte. Heute gibt er zu, daß er nach sorgfältiger
Überlegung doch zu der Erkenntnis gekommen sei, daß seine Forderung bei weitem
nicht so hoch war.
Wilhelm Grupen sagt weiter aus: Als ich vor
der Abreise meines Bruders nach Kleppelsdorf in Ottenbüttel war, übergab er mir
einen Revolver zu meiner Sicherheit, da das Gehöft einsam liegt. - Vors.: Wie
hat Ihnen der Angeklagte den Revolver übergeben? - Zeuge: Er hat mir die
Handhabung des Revolvers erklärt. - Vors.: War der Revolver geladen? - Zeuge:
Ich kann nicht sagen, daß er nicht geladen war. Ich kannte die Handhabung des
Revolvers nicht.
Vors.: Als alter Soldat kannten Sie sich mit
dem Revolver nicht aus,
und die
kleine Ursula sollte es verstehen?
Zeuge: Ich habe den Revolver dann nicht mehr
in der Hand gehabt.
Der Staatsanwalt beantragt nun, den Zeugen zu
beauftragen, den Revolver mit scharfen Patronen zu laden und zu sichern. -
Vors.: Daß hier im Saale mit scharfen Patronen geladen wird, gestatte ich
nicht. - Vert. Dr. Mamroth: Ich beantrage die Ablehnung, da damit nichts
bewiesen wird. - Vors.: An sich wäre die Sache schon wichtig, da doch die
kleine Ursula nur dabei gestanden hat und schon den Mechanismus begriffen haben
soll?
Staatsanw.: Da der Zeuge behauptet, daß er
heute noch nicht ohne Schwierigkeiten laden und sichern kann, beantrage ich,
daß er dies hier vormacht.
Der Gerichtshof zieht sich zur Beratung
zurück und verkündet dann den Beschluß, daß dem Antrag des Staatsanwalts
stattgegeben wird. Der Zeuge zeigt dann die Handhabung des …ens, Spannens, Sicherns
und Entsicherns, was ihm auch gelingt. Der Staatsanwalt beantragt, morgen
dieses Experiment mit Exerzierpatronen zu wiederholen, da das Sichern und
Spannen mit Patronen schwieriger sei als ohne Patronen. (Grupen zeigt dabei
eine lächelnde Miene.)
Vors.: Was geschah mit dem Revolver? - Zeuge:
Der Angeklagte legte ihn in das Schubfach des Schreibtisches zurück. - Vors.:
War Ursula dabei? - Zeuge: Ja, Ursula stand rechts von uns und guckte zu. -
Vors.: Hat sie die Manipulationen gesehen, die mit dem Revolver vorgenommen
wurden? - Zeuge: Ja. - Vors.: Wurde das Schubfach, in das der Revolver gelegt
wurde, verschlossen? - Zeuge: Das weiß ich nicht, ich glaube nicht. Vors. (zum
Angeklagten): Wie war es? - Angekl.: Wahrscheinlich nicht, denn ich habe das Schubfach
für meinen Bruder offen gelassen.
Vors.: Was geschah weiter? - Zeuge: Ich ging
hinaus und kam nochmals in das Zimmer. Da stand
Ursula
am Schreibtisch mit dem Revolver in der Hand.
Ich nahm ihr den Revolver weg und verwarnte sie.
- Vors.: Der Revolver war doch geladen? - Zeuge: Ich weiß nicht, ob er geladen
war. - Vors.: Und dann? - Zeuge: Habe ich den Revolver wieder in das Schubfach
gelegt. - Vors.: Haben Sie dann wenigstens das Fach verschlossen? - Zeuge:
Nein, es ging nicht zu verschließen. - Vors.: War das nicht eine sehr große
Unvorsichtigkeit, den Revolver wieder in das unverschlossene Fach zu legen, nachdem
Sie gesehen hatten, daß ihn das Kind in der Hand gehabt hat? - Zeuge: Ich habe
mir später auch Vorwürfe deshalb gemacht. Ich habe auch das Kind verwarnt.
Vors.: Der Angeklagte behauptet, Sie seien
zusammen in das Zimmer gekommen, und Ursula habe nur am Schreibtisch gestanden,
aber die Waffe nicht in der Hand gehabt. - Zeuge: Nein, ich war allein im
Zimmer mit der Ursula. - Vors. (zum Angeklagten): Wie war es? - Angekl.: Ich
bin auch heute noch der Ansicht, daß wir zusammen in das Zimmer gekommen sind
und Ursula die Waffe nicht in der Hand hatte. - Zeuge: Nein, Ursula hatte die
Waffe in der Hand. Es ist aber möglich, daß der Angeklagte hinter mir in das
Zimmer gekommen ist.
Verteidiger Dr. Mamroth: Wann haben Sie dann
bemerkt, daß der Revolver nicht mehr da war? - Zeuge: Abends, da ich zu Bett
ging. - Staatsanw.: Nachdem Sie am Nachmittag den Revolver in der Hand des
Kindes sahen und abends sein Fehlen feststellten, haben Sie dann nicht
wenigstens sofort nach Kleppelsdorf geschrieben, damit kein Unheil geschieht? -
Zeuge: Nein. Darüber habe ich mir auch Vorwürfe gemacht. Aber mein Bruder
wollte in ein paar Tagen zurückkommen. - Vors.: Inzwischen konnte in
Kleppelsdorf alles totgeschossen sein.
Heinrich Grupen, des Angeklagten zweiter
Bruder, ist nach dem Verschwinden der Frau Grupen mit seinem Bruder nicht mehr
zusammengekommen, er kann daher keine Angaben über Frau Grupens Verschwinden
machen. Der Zeuge wird, ebenso wie sein Bruder Wilhelm, nicht vereidigt.
Alsdann werden die zur Beurteilung von
Grupens
Charakter
geladenen Zeugen vernommen.
Gemüsehändler H a a s e -
Altona kennt den Angeklagten von der Schulzeit her. Er behauptet, Grupen
habe ihn bei der Vermittlung des von ihm, dem Zeugen, gekauften Grundstücks um
20.000 Mark betrogen. Der Kaufpreis sei auf 126.000 Mark festgesetzt gewesen,
nachher stellte es sich aber heraus, daß Grupen auf das Haus eine Hypothek von
20.000 Mark habe eintragen lassen.
Postbeamter Dietrich V o ß
(Ottenbüttel): Der Angeklagte hat sehr viel Telegramme bekommen und
aufgegeben, er schien also starke Geschäftsverbindungen zu haben. In unserer Ortswehr
sollte er als Ehrenmitglied aufgenommen werden, weil er Invalide ist. Beim
Preisschießen mit der Bolzenbüchse hat er sich erste und zweite Preise geholt,
er war stolz darauf, ein guter Schütze zu sein.
Die weiteren Zeugen sagen teils ungünstig für
Grupen aus, zudem wieder seine „Geschäftstüchtigkeit“ erwiesen wird, teils
günstig, indem sie seine Strebsamkeit und seinen Fleiß im Beruf und in der
Baugewerkschule anerkennen.
Die Nachmittagsitzung eröffnet der
Vorsitzende mit der Mitteilung, daß soeben ein Telegramm der Polizeiverwaltung
in Itzehoe eingegangen ist, wonach ein in Itzehoe wohnender Kolporteur gesehen
haben will, wie zwei Tage vor ihrem Verschwinden
Grupen
seine Frau geschlagen und gewürgt habe.
Das Gericht hat beschlossen, den Zeugen
Sonnabend zu laden. Dann wird in der Vernehmung der Leumundszeugen
fortgefahren.
Strafanstaltsinspektor T s c h e n t k e (Hirschberg): Der Angeklagte hat sich nach
seiner Einlieferung in das Untersuchungsgefängnis ruhig und zuversichtlich
benommen. Bei Gesprächen über die Tat, der er beschuldigt wird, hat Grupen
stets seine Unschuld beteuert. Verbotene Mittel, sich mit der Außenwelt in
Verbindung zu setzen, hat er nicht angewendet. alle Gefängnisbeamten sind mit
seinem Verhalten zufrieden gewesen.
Gefängnis-Oberwachtmeister F u r c h e - Hirschberg macht über das Verhalten Grupens
in der Untersuchungshaft die gleichen Aussagen wie der Vorzeuge. Über die
Besuche der Brüder Grupens im Gefängnis befragt, erklärt der Zeuge, daß er aus
Menschlichkeit den Bruder über Nacht in seiner Wohnung aufgenommen habe, weil
er schlecht Unterkommen finden konnte. - Vorsitzender (erstaunt): Den Bruder
eines unter schweren Verdacht stehenden Untersuchungsgefangenen haben Sie als
Justizbeamter über Nacht bei sich behalten? Das ist doch recht eigenartig!
Steuerpraktikant L a n g e -
Itzehoe hat den Angeklagten bei der Erledigung von Steuerangelegenheiten
kennen gelernt. Er hat ihm nach dem Verschwinden seiner Frau den Rat gegeben, die
bekannte Geldkassette durch einen Schlag gegen den Boden zu öffnen. Die
Mitteilung Grupens, daß seine Frau nach Amerika gegangen sei, hat der Zeuge
wegen der strengen Paßkontrolle nicht geglaubt.
Staatsanwalt: Über Grupens Vermögensstand
bitte ich, den Zeugen später als Sachverständigen zu hören. Nach meinen
Feststellungen betrug das Vermögen, über das der Angeklagte als Generalbevollmächtigter
seiner Schwiegermutter und seiner Frau verfügte und einschließlich seines
eigenen Vermögens, am Tage nach seiner Verhaftung etwa 110.000 Mark. -
Angeklagter: Ich werde nachweisen, daß ich
ü b e r e i n e V i e r t e l m i l l i o n verfügte und
nichts
vom Vermögen meiner Frau und meiner Schwiegermutter verschleudert
habe.
Frau
E c k e r t muß nun Angaben über
den Entwicklungsgang der kleinen Ursula machen. Das Kind sei einige Wochen zu
früh geboren worden. Es sei von Jugend auf lieb und gut und für alles sehr
besorgt gewesen. Schon als Schülerin habe Ursula sehr auf Ordnung gehalten. In
Itzehoe und Ottenbüttel sei sie öfters traurig gewesen und habe bei Tisch zu
weinen angefangen.
M a r i e
M o h r wird darauf eingehend
über Zahl und Inhalt der auf die Reise mitgenommenen Koffer vernommen. Ihre
Aussagen sind sehr unsicher. Danach waren es ein großer und zwei kleine Koffer.
In dem einen waren Lebensmittel für die Reise, und dieser Koffer ist auch
geöffnet worden, die Zeugin hat hineingesehen, hat aber weder Revolver noch
Patronen darin gesehen, was sie, wie sie zugibt, hätte sehen müssen, wenn sie
darin gewesen wären. (Anfänglich sagt die Zeugin, auf die Frage des
Vorsitzenden, sie wisse nicht, ob sie die Waffe hätte sehen müssen, wenn sie
darin gewesen wäre.)
Verteidiger Dr. Ablaß: Ist es richtig, daß
sie jetzt mit jemand anderem versprochen sind? - Marie Morh: Ja. - Die Zeugin
will insbesondere nicht wissen, wer die Koffer gepackt hat. Auch auf die Frage,
wer die Koffer vom Bahnhof nach dem Schlosse getragen und wo sie hingeschafft
worden sind, gibt die Zeugin nur unsichere Auskunft.
Sonnabend, 17. Dezember „Schlesische Zeitung“
Abendblatt
Der
Doppelmord in Kleppelsdorf.
Hirschberg, 16. Dezember
Es werden nun Aussagen von Zeugen verlesen,
welche wegen Krankheit oder aus anderen Gründen nicht zur Verhandlung kommen
konnten.
Frau Studienrat B r o
o k - Itzehoe bekundete bei ihrer
kommissarischen Vernehmung u. a.: Nach der Mitteilung einer Lyzeallehrerin, bei
der Ursula Schade in den Unterricht ging, habe Ursula in der Religionsstunde
einmal das Wort „Hypnose“ erwähnt. Ruth Reske oder Irma Schade sollen, wie Frau
Eckert erzählte, einmal gesehen haben, wie Grupen über dem Bett Ursulas streichelnde
Bewegungen machte.
Frau Dorothea B e r g m a n n - Itzehoe erklärte dem vernehmenden Richter: Das Verhältnis zwischen den Grupenschen Eheleuten war normal, zwischen Grupen und den Kindern harmonisch. Grupen hat nach dem Verschwinden seiner Frau erzählt,
daß Ursula rührend für ihn sorge. Bei einem
Besuch im September v. J. war Grupen in heiterer Stimmung. Als ich ihn nach dem
Befinden seiner Frau fragte, sagte er,
sie wäre verreist; davon, daß sie ihn verlassen habe und nach Amerika
gegangen ist, sagte er kein Wort. Als sie ihm sagte, man erzähle, daß seine
Frau verschwunden sei, gab er dies zu, erklärte aber auf die Frage, was er für
Nachforschungen angestellt habe, er sei nicht geneigt, dafür viel Geld
auszugeben, denn die Frau habe ihm 70.000 Mark mitgenommen. Überdies habe ihm
der Notar Reinecke gesagt, er solle die Sache ein Jahr ruhen lassen und dann
einen Aufruf in den Zeitungen veröffentlichen.
Es folgen die Gutachten der S a c h v e r s t ä n d i g e n . Bücherrevisor Walter S c h a r f f - Brieg äußert sich über
Grupens
Vermögenslage
folgendermaßen: Grupen hatte keine Buchführung,
so daß ein klares Bild über die Vermögenslage nicht möglich ist. Der
Sachverständige teilt sein Gutachten in drei Zeitabschnitte ein; erstens: was
besaß Grupen bei seiner Verheiratung mit Frau Schade? zweitens: was besaß er
bis zum Verschwinden der Frau Schade? drittens: über welche Mittel verfügte er
in der Zeit zwischen dem Verschwinden und dem Vorfall in Kleppelsdorf.
Bis zu seiner Verheiratung mit Frau Schade
besaß der Angeklagte nichts. Das greifbare Kapital, das seine Frau mitbrachte,
war niedrig, und die festliegenden Kapitalien der Frau konnten ihm in seinem
Geschäft nichts nützen. Grupen hatte 9.000 Mark aus seiner Beschäftigung beim
Vater, eine einmalige Abfindung als Kriegsinvalide von 8.000 Mark, außerdem
verschiedene kleine Einnahmen, also etwa 17.000 bis 20.000 Mark. Diese Summe
hatte er ausgegeben, denn zwei Zeugen haben einwandsfrei ausgesagt, daß er zur
Zeit der Verheiratung nichts hatte; er mußte sogar im Mantel seines Vaters um
die Hand seiner Frau anhalten. Durch die Heirat fiel ihm kein größeres
Barvermögen in die Hände. Schon im März 1920 sah Grupen sich genötigt, durch
die Verpfändung des Brillantenschmucks der Frau Eckert an Lange - Hamburg sich
Geld zu verschaffen. Ostern 1920 erfolgte der Verkauf des väterlichen Grundstücks
in Haseldorf, wodurch er 17.000 Mark erübrigt haben soll. Das sind kleine Beträge,
um Haushalts- und Geschäftsunkosten zu bestreiten. Wir wissen, daß Grupen viel
unterwegs gewesen ist und manchmal auch von seiner Frau begleitet wurde,
die G e s c h ä f t s u n k o s t e n müssen also
g r o ß gewesen sein.
Andererseits haben wir gehört, daß der Haushalt ein sparsamer war. Bei den
Grundstücksgeschäften handelte es sich nur um sehr wenige Transaktionen.
Bis Ende Juli zehrte Grupen also von etwa
insgesamt 32.000 Mark. Dazu kommt der Betrag, den er aus Wertpapieren erlöst
haben soll und den er seiner Frau zur Bestreitung des Haushalts zur Verfügung
gestellt haben will. Daß der Angeklagte gezwungen war, sich weitere Mittel zu
verschaffen, beweist der Verkauf der Saloneinrichtung aus Itzehoe, wobei er
9.000 Mark löste. Außerdem machte er verschiedene Geschäfte mit seinem Bruder
und mit Maaß. Diese Geschäfte liefen ja in ziemlich hohe Beträge, aber die
Einkünfte verteilten sich auf zwei bis drei Makler. Aus dem Ottenbüttler
Grundstück floß dem Angeklagten kurz vor seiner Abreise nach Kleppelsdorf der
Betrag von 60.000 Mark zu. Das ist das erste Mal gewesen, daß er einen solchen
Betrag wirklich in Händen hatte. Es ist gesagt worden, daß Frau Grupen und Frau
Eckert ihm zwei Hypotheken im Werte von 72.000 Mark abgetreten hätten, die er
in der Kassette verwahrt haben will. Tatsächlich sind ihm aber nicht 72.000
Mark zugeflossen, denn eine Zahlung hat nicht stattgefunden. Der
Sachverständige schließt: „Ich will die Frage,
ob in
der Kassette 60.000 oder 72.000 Mark oder gar nichts
darin war, nicht selbst entscheiden, das
überlasse ich den Herren Geschworenen.
An das Gutachten knüpfte sich eine sehr
lebhafte Auseinandersetzung zwischen den Verteidigern und den Sachverständigen,
in die auch der Staatsanwalt wiederholt eingriff.
Dr. J
e s e r i c h - Berlin hatte die
Aufgaben, erstens: den Brief an Großmutti zu vergleichen mit Handschriften der
Ursula Schade, um festzustellen, ob dieser Brief von ihr herrühre, oder von
einem anderen, womöglich dem Angeklagten, geschrieben sei; zweitens
festzustellen, ob das Wort „traurige“ in dem Briefe an Frau Bartel von Ursula
selbst nachträglich hinzugefügt worden sei. Der Großmutti Brief, in dem die Rede
ist, daß Ursel die Waffe an sich genommen habe und Großmutter sich nicht mehr
über Dörte ärgern solle, ist von den Sachverständigen mit einem unzweifelhaft
von Ursula stammenden Briefe verglichen worden. Dr. Jeserich, der den
Geschworenen bis in alle Einzelheiten seine Vergleiche darlegt, kommt zu dem
Schluß, daß zwischen diesem mit Blei geschriebenen Großmutti-Briefe und dem mit
Tinte geschriebenen echten Ursula-Briefe
Abweichungen
wesentlicher Art nicht zu finden
sind. Im Großmutti-Briefe sind, wie das bei
flüchtiger Schrift sehr oft vorkommt, die Übergänge mehr abgerundet als die mit
Tinte geschriebenen Briefe. Das sind die einzigen Momente, die als Unterschied
gefunden worden sind. Sonst herrscht Ü
b e r e i n s t i m m u n g b i s i n s
K l e i n s t e. Die
Gesamtschrift gibt zu einer Annahme, daß der Brief nicht von Ursel geschrieben
worden ist, k e i n e V e r a n l a s s u n g . Absolut sei die Möglichkeit einer Fälschung
jedoch nicht ausgeschlossen, aber es ist kaum möglich, einen ganzen Brief in
allen Einzelheiten so treu nachzubilden. Ein mathematischer Beweis, daß er
tatsächlich von Ursel geschrieben worden sei, könne natürlich nicht geführt
werden.
Vors.: Herr Sachverständiger, auf Grund Ihrer
Erklärungen in der Voruntersuchung, muß ich Sie fragen, ob der Brief nicht
gewisse Ähnlichkeiten mit der Grupenschen Schrift aufweist?
Dr. Jeserich: Selbstverständlich,
Ähnlichkeiten, wie sie zwischen a l l e
n Schriften bestehen, man kann ein x
nicht wie ein y schreiben. Mit der Grupenschen Schrift besteht eigentlich nur
in der Abflachung des Übergangs vom ersten zum zweiten Element der Buchstaben
und im kleinen r eine Übereinstimmung. Es spricht jedoch k e i n e r l e i W a h r - s c h e i n l i c h k e i
t dafür, daß Grupen den betreffenden
Brief geschrieben hat. Wenn der Brief nach geschrieben worden ist, so muß es
ein Künstler im Malen gewesen sein, wie ich ihn in meiner dreiundvierzigjährigen
Praxis nicht kennen gelernt habe. Ob auf dem Brief an Frau Barthel (der
ebenfalls vom 9. Februar datiert ist und in dem Ursula sehr vergnügt über das
Leben in Kleppelsdorf berichtet) bei der Unterschrift „Ursel“ das Wort
„traurige“ von anderer Hand hinzugefügt worden ist, läßt sich nicht
feststellen. Das Wort „traurige“ weist in allen Einzelheiten die Eigenart der
Schrift Ursulas auf, doch kann ein aus so wenig Buchstaben bestehendes Wort nachgebildet
worden sein und deshalb kann aus der Übereinstimmung der Schriftzüge irgend ein
Schluß nicht gezogen werden. Positiv ist aber festgestellt worden, daß das Wort
„traurige“ nachträglich hinzugefügt worden ist und zwar in gleichartiger Tinte
und nachdem die ursprüngliche Schrift bereits getrocknet war, also mindestens
drei bis vier Minuten nach Abschluß des Briefes. Es kann von ihr sein, kann
aber auch nachgemacht worden sein.
In der Freitag-Sitzung teilt der Vorsitzende
mit, daß der Beisitzer, Landgerichtsrat
H e r - z o g , an Grippe erkrankt und an seine Stelle der
Hilfsrichter, Assessor H u b r i c h
, getreten ist.
Dann setzte der Schriftsachverständige
Dr. J e s e r i c h sein Gutachten fort, und zwar über die
Frage, ob die Abschiedsbriefe der Frau Grupen echt sind. Die Untersuchung hat
ergeben, daß die Schrift der Abschiedsbriefe mit älteren Briefen der Frau
Grupen v o l l - k o m m e n ü b e r e i n s t i m m t . Der Sachverständige sei zu dem Schluß
gekommen, daß
an eine
Nachbildung der Abschiedsbriefe nicht zu denken
ist.
Vors.: Ist es möglich oder wahrscheinlich,
daß der Angeklagte die Briefe nachgeahmt hat? - Dr. Jeserich: Ich halte es
weder für möglich noch für wahrscheinlich.
Darauf erhält Professor Dr. S c h n e i d e m ü h l - Berlin das Wort zur H a n d s c h r i f - t e n b e u r t e i l
u n g : Der Fall, um den es sich
handelt, stößt in weitesten Kreisen auf Vorurteil und Mißtrauen. Dieses
Vorurteil und Mißtrauen muß zunächst zerstreut werden, sonst würde ich tauben
Ohren predigen. Bei der wissenschaftlichen Handschriftenbeurteilung handelt es
sich um die Lehre, aus der Handschrift auf den Charakter des Menschen zu
schließen. Die Graphologie hat damit, wie vielfach angenommen wird, nichts zu
tun. Der Großmutti-Brief wies auf den ersten Blick einige Ähnlichkeiten mit der
Schrift des Angeklagten auf, aber sehr bald änderte sich das vorläufige Urteil.
Obwohl genügend Schriftproben des Angeklagten vorlagen, habe ich Wert darauf
gelegt, den Angeklagten beim Abschreiben eines von ihm, dem Sachverständigen,
entworfenen Schriftsatzes zu sehen und zu beobachten. Bei dieser Gelegenheit
wurde Grupen gefragt, ob er sich mit okkultistischen Dingen befasse. Die
Zögerung mit der Antwort erklärte sich der Sachverständige mit Unkenntnis des
Angeklagten auf diesem Gebiete. Nach gegebener Definition des Begriffs
„Okkultismus“ verneinte Grupen die Frage. Ich habe Grupen weiter gefragt, ob er
sich mit Hypnose oder Suggestion beschäftigt, ob er solche Schriften gelesen
oder solche Schaustellungen besucht habe. Grupen bejahte: als Baugewerksschüler
habe er … hypnotische und Suggestions-Vorstellungen angesehen. Vom
Untersuchungsrichter ist mir die Frage zur Beantwortung vorgelegt worden: Ist
anzunehmen, daß der Angeklagte den Brief an Großmutti geschrieben hat, oder ist
anzunehmen, daß Ursula Schade ihn geschrieben hat? Auf der ganzen Welt gibt es
nicht zwei Menschen, die die gleiche Schrift schreiben, höchstens eine ähnliche
Schrift. Wie die Gehirne der Menschen durchweg nicht gleichartig sind, so ist
auch jede Handschrift verschieden. Bei aller Ähnlichkeit zweier Handschriften
werden sich die Buchstabenbilder nicht so decken wie etwa die Typen aus dem
Setzkasten. Der Sachverständige ist zu dem Schluß gekommen, daß U r s u l a
d e n B r i e f a n
G r o ß m u t t i g e s c h r i
e - b e n hat. Auch unterliegt es für ihn keinem Zweifel,
daß F r a u G r u p e n
i h r e A b - s c h i e d s b r i e f e s e l b e r
g e s c h r i e b e n hat. Nun
die schwierigste Frage:
Liegt
eine Beeinflussung der Schrift vor?
Dieser Brief der Ursula ist ganz ruhig
geschrieben; die Schrift… sind dieselben wie bei den anderen Briefen der Ursula
und weisen dieselben Eigentümlichkeiten auf, eine gleichmäßige und …ge Schrift.
Die Schrift eines niedergedrückten Menschen erscheint niedergedrückt, der
seelische Zustand drückt sich auch noch in der Schrift aus. Bei einem Kinde wie
Ursula, die sehr zart, weich und fremdem Einfluß leicht zugänglich war, hätte
sich der seelische Zustand erst recht in der Handschrift ausdrücken müssen. Es
kann aber diesem Kinde, als sie den Brief an Großmutti schrieb, d e r
f u r c h t b a r e I n h a l
t d i e s e s B r i e f e s n i c h t z u m
B e w u ß t s e i n gekommen
sein. Bei einem Kinde, das die Absicht hat, jemand anderen und sich selbst zu
erschießen, müßte sich diese damit verbundene seelische Erschütterung auch in
der Schrift a u s d r ü c k e n .
Auch in dem Abschiedsbriefe der Frau des
Angeklagten findet sich keine Änderung der Schriftzüge der Schreiberin, während
sich die furchtbare Seelenerschütterung, die die Schreiberin bei der Absicht,
Heimat, Mann und Kinder zu verlassen, gehabt haben muß, auch darin hätte
ausdrücken müssen. Es müssen also auf Frau Grupen seelische Einwirkungen
seelischer Art, die ihr ganzes Sinnen und Empfinden beeinflußten, stattgefunden
haben, - welcher Art, weiß ich nicht. In anderen Briefen der Frau findet sich,
daß sich eine niedergedrückte Stimmung der Schreiberin in den Schriftzügen
ausdrückte. Es muß also etwas im Innern der Frau Grupen
durch
fremden Einfluß ausgeschaltet
worden sein.
Auf Fragen eines Geschworenen erklärte
Professor Schneidemühl noch, daß sich auch in der einige Tage vor dem
Verschwinden der Frau geschriebenen Abtretungsurkunde k e i n e
M e r k m a l e e i n e r s e e l i s c h e n E r r e g u n g zeigen, so daß also auch damals die
Schreiberin unter jenem Einfluß stand.
Weiter verbreitet sich Professor Schneidemühl
über das S c h r e i b e n i n
H y p n o s e . Er erzählt über
Versuche, die von wissenschaftlicher Seite gemacht worden sind. Ein in Hypnose
ver… dänischer Student habe, als man ihm vorredete, Napoleon zu sein, dessen
richtigen Namenszug geschrieben, dann die Schrift einer alten Frau und eines
Kindes, als er diese vorstellen sollte. Der Sachverständige zeigt selbst an der
Schreibtafel, wie er die Schriftzüge eines zwölfjährigen Kindes nachahmt, weil
er sich sehr massiv in dessen Gedankengang versetzt hat.
Dann erklärt Büchsenmachermeister W a l t e r - Löwenberg sein Gutachten, indem er zunächst
über die Ergebnisse der S c h i e ß v e
r s u c h e berichtet. Der
Sachverständige Walter hält es für ausgeschlossen, daß Ursula Schade sich
selbst erschossen hat. Nach seiner Überzeugung hat der Täter, etwa in der Mitte
des Zimmers stehend, a u f D o r o - t h e a
R o h r b e c k d e n e r s t e n
S c h u ß a b g e g e b e n
, d e n z w e i t e n a u f
d i e z u r R o l l s t u b e n t ü r f l ü c h t e n d e U r s u l a
S c h a d e und den d r i t t e n (einen sogenannten Fangschuß) wieder a u
f d i e n o c h
a t m e n d e D o r o t h e
a R o h r b e c k . Daß auf Ursula a u s
w e i t e r e r E n t f e r n u
n g geschossen worden ist, a l s
a u f D ö r t e , ist aus der Tatsache zu folgern, daß das in
die … Stirn eingedrungene Geschoß die S
c h ä d e l d e c k e n i c h t d u r c h s c h l a - g e n hat, sondern darunter stecken geblieben ist.
Der Kopfschuß auf Dörte ist a u s k u r z e r E n t f e r n u n g abgefeuert worden.
Die Auseinandersetzung der Prozeßbeteiligten
über das Gutachten des Schießsachverständigen gestaltet sich zeitweise
dramatisch. Der Angeklagte, der vor der Tafel mitten im Saale steht, stellt,
das Lineal in der Hand, an den Sachverständigen eine Reihe Fragen. Dabei redet
er sich derart in die Erregung hinein, daß er, als der Vorsitzende ihn darauf
aufmerksam macht, daß es sich hier nicht um Theorien handelt, das Lineal auf
den Tisch wirft und wütend in die Anklagebank zurückkehrt. Auf eine Frage eines
Geschworenen antwortet er, d a ß e r
j e d e E r k l ä r u n g i n
Z u k u n f t a b l e h n e .
Gewehrfabrikant H e n s e l - Breslau schließt sich dem Gutachten Walters
in allen Punkten an.
Kreismedizinalrat Dr. P e t e r s - Löwenberg gibt sein Gutachten auf Grund des
Leichenbefundes ab. An dem Kleide der Dorothea Rohrbeck, das über ein Modell
gezogen ist und an L i c h t b i l d e
r n , die im verdunkelten Saale mittels
Projektionsapparates auf der Leinwand vorgeführt werden, zeigt er die Schußverletzungen.
Dr. Peters kommt zu dem Schluß, daß
beide
Mädchen von fremder Hand getötet
worden sind, und zwar zuerst Dorothea
Rohrbeck, dann Ursula Schade.
Kreismedizinalrat Fr. S c h o l t z - Hirschberg macht das Gutachten des Dr.
Peters zu seinem eigenen. Auch er hält es insbesondere für a u s g e s c h l o s s e n , daß Ursula
sich mit e i g e n e r H a n d
e r s c h o s se n hat.
Geheimrat Dr. L e s s e r - Breslau tritt dieser Auffassung bei.
Der Angeklagte schweigt sich auf die Frage,
ob er zu diesen Gutachten etwas zu bemerken habe, aus.
Geheimrat Dr. M o l l -
Berlin behauptet in seinem Gutachten, daß der Angeklagte auf seine
Umgebung einen ganz außerordentlichen suggestiven Einfluß ausgeübt habe. Es handelt
sich dabei aber nicht um Hypnose, sondern um
W a c h s u g g e s t i o n .
Ausgeschlossen ist es allerdings nicht, daß hier auch Hypnose eine Rolle
spielt. Jedenfalls sind nur ganz schwache Anzeichen hierfür vorhanden. Der
Einfluß des Angeklagten, der offenbar einen sehr willensstarken Charakter hat,
zeigt sich darin, daß er kurz nach der Hochzeit Frau und Schwiegermutter veranlaßt,
ihm ihr Vermögen zu überschreiben. Besonders zeigt sich die S u g g e s t i o n d e s
A n g e k l a g t e n a u f s e x u e l l e m G e b i e t , denn er hat jedes Mädchen, das in seine Nähe
kam, verführt. Ursula befand sich offenbar in einem Zustand der sexuellen
Hörigkeit von dem Angeklagten. Allerdings hat Grupen seinen Einfluß auch durch
Drohung und Einschüchterung ausgeübt.
Daß der Brief Ursulas an die Großmutti in
Hypnose geschrieben ist, ist nicht bewiesen. Aber in dem Briefe steht auch
nichts von einem Selbstmord. Wahrscheinlich ist, daß der Angeklagte diesen
Brief diktiert hat, was bei dem unter seinem Einfluß stehenden Kinde nicht
schwer war, und Zeugen, Frau Eckert, die Irmgard und die Mohr beeinflußt hat.
Die Mohr sagt selbst, daß sie alles glaubt, was der Angeklagte sagt. Ursel war
ein normales Mädchen, das nur unter dem Einfluß des Vaters stand, dem man … die
Tat nicht zutrauen kann. Es wäre auch ganz seltsam, daß ein Mädchen zur
Schußwaffe greift. Für ein anormales Verhältnis der verschwundenen Frau Grupen
und der Ursula ist kein Beweis vorhanden. Es sit möglich, daß der willensstarke
Angeklagte seine Frau zum Schreiben dieser Abschiedsbriefe durch … oder
Suggestion veranlaßt hat. Auch an dieses Gutachten schließen sich lange Auseinandersetzungen.
Montag, 19. Dezember „Schlesische Zeitung“
Abendblatt
Der
Doppelmord in Kleppelsdorf.
Hirschberg, 17. Dezember
Aus dem Schluß der Freitagsitzung war noch
von Interesse die a b e r m a l i g e V
e r n e h m u n g Wilhelm Grupens, des
Bruder des Angeklagten. Die Zeugin H a
t j e hatte bei ihrer Vernehmung
ausgesagt, daß Grupen in der letzten Zeit große Aufwendungen gemacht und
Festgelage veranstaltet habe. Wilhelm Grupen bleibt jetzt mit aller
Bestimmtheit dabei, daß von solchen Festen
k e i n e R e d e sein könne; es handelte sich vielmehr um
harmlose Geburtstagsfeiern.
Der Gerichtshof beschloß auf Antrag des
Staatsanwalts, den Zeugen wegen seiner Verwandtschaft zum Angeklagten, aber
auch weil er ihn i n V e r d a c h t habe, bei dem Verschwinden der Frau
Grupen s e i n e H a n d
i m S p i e l e gehabt zu haben, nicht zu vereidigen.
Es kommt dann nochmals der B r i e f
D ö r t h e s a n F r ä u l e i n Z a h n
zur Erörterung, worin Dörthe schreibt: „Komme bald, sonst hänge ich mich
auf.“ Frl. Zahn gibt hierzu noch einige Erklärungen.
Die Geschworenen stellten sodann die Frage an
Geheimrat Dr. M o l l , ob es richtig sei, daß der Angeklagte e i n e n
s t e c h e n d e n B l i c
k habe, der geeignet sei, auf schwache
Charaktere, namentlich Kinder, einen gewissen Einfluß auszuüben. Dr. Moll
bejaht das.
Hierauf wurde der Kolporteur K l ä t t e
aus Itzehoe vernommen, der aussagt, daß er gesehen hat, wie wenige Tage
vor dem Umzug nach Ottenbüttel der Angeklagte seine Frau, die zur Tür
herauswollte, zurückgestoßen und d i
e H a n d z u m
S c h l a g e e r h o b e n habe. Die Tür wurde zugemacht und er hörte
aus dem Innern des Hauses einen Streit.
In der achten Abendstunde wurde die V e r h a n d l u n g a u f
M o n t a g v e r t a g t . Der
S o n n a b e n d bleibt zur
Vorbereitung der Plaidoyers s i t z u n
g s f r e i . Am Montag vormittag ist
nur noch ein Arzt über die am Angeklagten vorgenommene B l u t p r o b e zu vernehmen. Hierauf wird der
Oberstaatsanwalt das Wort zur Schuldfrage nehmen. Oberlandesgerichtsrat K r i n k e
erklärte, daß er alles daran setzen werde, die Verhandlung am M o n t a g
z u E n d e zu führen. Freilich würde es
vorausssichtlich bis in die f r ü h e
n M o r g e n s t u n d e n hinein dauern. - Das Urteil ist demnach am
Dienstag früh zu erwarten.
Montag, 19. Dezember „Schlesische Zeitung“
Abendblatt
Der
Doppelmord in Kleppelsdorf.
Hirschberg, 17. Dezember
Aus dem Schluß der Freitagsitzung war noch
von Interesse die a b e r m a l i g e V
e r n e - h m u n g Wilhelm Grupens,
des Bruder des Angeklagten. Die Zeugin
H a t j e hatte bei ihrer
Vernehmung ausgesagt, daß Grupen in der letzten Zeit große Aufwendungen gemacht
und Festgelage veranstaltet habe. Wilhelm Grupen bleibt jetzt mit aller
Bestimmtheit dabei, daß von solchen Festen
k e i n e R e d e sein könne; es handelte sich vielmehr um
harmlose Geburtstagsfeiern.
Der Gerichtshof beschloß auf Antrag des
Staatsanwalts, den Zeugen wegen seiner Verwandtschaft zum Angeklagten, aber
auch weil er ihn i n V e r d a c h t habe, bei dem Verschwinden der Frau
Grupen s e i n e H a n d
i m S p i e l e gehabt zu haben, nicht zu vereidigen.
Es kommt dann nochmals der B r i e f
D ö r t h e s a n F r ä u l e i n Z a h n
zur Erörterung, worin Dörthe schreibt: „Komme bald, sonst hänge ich mich
auf.“ Frl. Zahn gibt hierzu noch einige Erklärungen.
Die Geschworenen stellten sodann die Frage an
Geheimrat Dr. M o l l , ob es richtig sei, daß der Angeklagte e i n e n
s t e c h e n d e n B l i c
k habe, der geeignet sei, auf schwache
Charaktere, namentlich Kinder, einen gewissen Einfluß auszuüben. Dr. Moll
bejaht das.
Hierauf wurde der Kolporteur K l ä t t e
aus Itzehoe vernommen, der aussagt, daß er gesehen hat, wie wenige Tage
vor dem Umzug nach Ottenbüttel der Angeklagte seine Frau, die zur Tür
herauswollte, zurückgestoßen und d i
e H a n d z u m
S c h l a g e e r h o - b e
n habe. Die Tür wurde zugemacht und er
hörte aus dem Innern des Hauses einen Streit.
In der achten Abendstunde wurde die V e r h a n d l u n g a u f
M o n t a g v e r t a g t . Der
S o n n a b e n d bleibt zur
Vorbereitung der Plaidoyers s i t z u n
g s f r e i . Am Montag vormittag ist
nur noch ein Arzt über die am Angeklagten vorgenommene B l u t -
p r o b e zu vernehmen. Hierauf
wird der Oberstaatsanwalt das Wort zur Schuldfrage nehmen. Oberlandesgerichtsrat K r i n k e
erklärte, daß er alles daran setzen werde, die Verhandlung am M o n t a g
z u E n d e zu führen. Freilich würde es
vorausssichtlich bis in die f r ü h e
n M o r g e n s t u n d e n hinein dauern. - Das Urteil ist demnach am
Dienstag früh zu erwarten.
Dienstag, 20. Dezember „Schlesische Zeitung“
Abendblatt
Der
Doppelmord in Kleppelsdorf.
Hirschberg, 19. Dezember ( E i g e n e r D r a h t b e r i c h t . )
Heute begann der voraussichtlich letzte Tag
im Kleppelsdorfer Mordprozeß. Zunächst wird noch einmal in nichtöffentlicher
Sitzung in die
Beweisaufnahme
eingetreten, und Privatdozent Dr. E r i c h
K u t z n i t z k i aus Breslau,
der telegraphisch geladen war, als Sachverständiger vernommen. Er bekundet, daß
die von ihm vorgenommene Blutuntersuchung bei dem Angeklagten und einer Zeugin
negativ verlaufen ist. Wenn demnach auch Syphilis nicht vorliegt, so ist das
Zeugnis des behandelnden Arztes Dr. M e
y e r in Hamburg richtig, also
wahrscheinlich, daß der Angeklagte, die Zeugin und U r s u l a
S c h a d e an einer anderen
Krankheit gelitten haben. Professor Dr.
L e s s e r - Breslau nimmt an,
daß die Ursula Schade von dem Angeklagten angesteckt worden ist. Dr. C h a u s s y hält eine ähnliche Diagnose des behandelnden
Arztes für wahrscheinlich. Nachdem das Gericht die V e r e i d i g u n g d e r
F r a u E c k e r t beschlossen hat, wird die Beweisaufnahme
endgültig beschlossen.
Es werden dann durch den Vorsitzenden die an
die Geschworenen zu stellenden
Schuldfragen
verlesen. Sie lauten:
1. Ist
der Angeklagte Peter Grupen schuldig, am 5. Februar (Anmerkung: richtig ist 14. Februar) in Kleppelsdorf die Dorothea
Rohrbeck getötet und die Tötung mit Vorsatz ausgeführt zu haben?
2. Ist der Angeklagte Peter Grupen schuldig, durch
eine …nere selbständige Handlung Ursula Schade getötet und die Tötung mit
Überlegung ausgeführt zu haben?
3. Ist der Angeklagte Peter Grupen schuldig,
durch eine …nere selbständige Handlung im Herbst 1920 mit einer Person unter 14
Jahren, der 13jährigen Ursula Schade eine unzüchtige Handlung oder sie zur
Verübung oder Duldung verleitet zu haben?
4. Ist der Angeklagte schuldig, durch ein und
dieselbe Handlung wie in Frage 3 im Herbst 1920 als Pflegevater an seinem
Pflegekind unzüchtige Handlungen verübt zu haben?
5. Ist der Angeklagte schuldig, durch ein und dieselbe
Handlung wie in Fragen 3 und 4 als Verschwägerter aufsteigender Linie mit einer
Verschwägerten absteigender Linie, mit Ursula Schade den Beischlaf vollzogen zu
haben?
Dann beginnt Oberstaatsanwalt Dr. Reiffenrad
sein Plädoyer. Er schildert die Einzelheiten der Mordtat und weist auf die
Angst hin, die die D o r o t h e a S c h a d e
(Hinweis: das muss Dorothea
Rohrbeck heißen) vor dem Angeklagten hin. Bei der Schilderung der Tat
betont der Staatsanwalt, daß die G u t
a c h t e n d e r S a c h v e r s t ä n d i g e n K e u l e n s c h l ä g e für den Angeklagten waren, die ihn
zermalmten. Lag k e i n M o r d
u n d S e l b s t m o r d d e r
U r s u l a S c h a d e vor, dann kann n u r
d e r A n g e k l a g t e d e r
T ä t e r sein. Die Patronen hat
der Angeklagte zweifellos selbst in die Tasche der Ursula gesteckt, um sich zu
entlasten. Der Angeklagte habe die Dorothea Rohrbeck erschossen, weil sein
Plan, sie zu heiraten, gescheitert sei.
U r s u l a mußte ihr Schicksal
teilen, weil sie d i e Z e u g i n
d e s V e r b r e c h e n s war, und weil der Angeklagte auf sie die
Schuld des Verbrechens schieben wollte. Auch wollte er sie beseitigen wegen des
an ihr begangenen Sittlichkeitsverbrechens. - In nichtöffentlicher Sitzung
hatte der Staatsanwalt ausgeführt, daß
d i e S c h u l d G r u p e n s a n
d e m S i t t l i c h k e i t s
v e r b r e c h e n e r w i e s e
n s e i .
Von den beiden Verteidigern nahm zunächst
Justizrat Dr. Ablaß das Wort. Er sprach sehr lebhaft und temperamentvoll und
bat die Geschworenen wiederholt, sich nicht von der öffentlichen Meinung, die
den Angeklagten schon für den Täter halte, beirren zu lassen. Es sei in der
Verhandlung so viel von Suggestion gesprochen worden. Dann solle man sich auch
vor der gefährlichsten, der M a s s e n
s u g g e s t i o n , hüten. In seiner
Schilderung des L e b e n s l a u f e
s d e s A n g e k l a g t e n betont der Redner, daß G r u p e n
ein sehr fleißiger Mensch gewesen sei und das gewiß sehr lobenswerte
Bestreben gehabt habe, durch ratslosen Fleiß und Studieren vorwärts zu kommen.
Als der Krieg ausbrach, eilte er freiwillig zu den Fahnen und im Dienste des
Vaterlandes wurde er Krüppel. Weiter betont der Verteidiger, d a ß
d i e v e r s c h w u n d e n
e F r a u d e s
A n g e k l a g t e n durchaus
nicht die edle Frau war, als die sie der Staatsanwalt dargestellt hat. Sie
genoß k e i n e n g u t e n
R u f und es ist von Zeugen
bekundet worden, daß sie ihre Pflegekinder um ihr geringes Vermögen bringen
wollte. Wiederholt wendet sich der Verteidiger noch an die Geschworenen, sich
nicht von einem Vorurteil gegen den Angeklagten leiten zu lassen, sondern ihr
Urteil unbeeinflußt zu bilden.
In n
i c h t ö f f e n t l i c h e r S i t z
u n g führte der Verteidiger aus, daß
die Schuld Grupens an dem ihm zur Last gelegten Sittlichkeitsverbrechen auch
nicht nachgewiesen sei. In später Abendstunde spricht noch Dr. A b l a ß ,
so daß das U r t e i l , wenn es überhaupt noch heute gefällt werden
kann, e r s t i n
d e n M o r g e n s t u n d e
n zu erwarten ist.
Der Andrang des Publikums zur heutigen
Verhandlung war sehr stark, der Saal überfüllt. Vor dem Gerichtsgebäude standen
noch Hunderte, die keinen Einlaß erhalten konnten.
Dienstag, 20. Dezember 1921, „Schlesische
Zeitung“ Abendblatt
Die
Bluttat in Kleppelsdorf.
Das
Plaidoyer des Staatsanwalts.
Hirschberg, 19. Dezember.
Aus dem Plaidoyer des Staatsanwalts, dessen
Inhalt im letzten Morgenblatt bereits kurz wiedergegeben war, seien nachstehend
noch die wichtigsten Teile hervorgehoben. Nachdem Oberstaatsanwalt Fr. R e i f e n r a t h die Vorgeschichte kurz geschildert hatte,
ging er auf die E r e i g n i s s
e a m
1 4 . F e b r u a r näher ein:
Grupen hatte das Bestreben, an jenem
Vormittag, wo er mit Irma und der Mohr im Beisein der Großmutter Mühle spielte,
bei seiner Umgebung, namentlich bei Frl. Zahn,
d e n G l a u b e n z u
e r w e c k e n , d a ß e r
d a s Z i m m e r n i c h t
v e r l a s s e n h a b e . Er knüpft mit der im Nebenzimmer rechnenden
Erzieherin Zahn eine Unterhaltung über nichtssagende Dinge an, bringt ihr
Apfelsinen zum Schälen und geht im Zimmer auf und ab. Es kommt der M o m e n t
d e r T a t . Irma wird vom Vater mit den Apfelschalen
fortgeschickt. Der Vater folgt ihr bis zum Schrankzimmer; ob er weitergegangen
ist, kann das Kind nicht sagen. Irma wird, als sie zurückkommt, von Frl. Zahn
gerufen, um nach Dörte und Ursula zu sehen. Da hält Grupen das Kind noch einige
Augenblicke zurück, zweifellos, weil er fürchtete, seine Opfer könnten ihr
Leben noch nicht ausgehaucht haben, könnten noch nicht verstummt sein. Dann
geht Irma hinunter, kehrt aber bald zurück und meldet, Dörte und Ursula gerufen,
jedoch keine Antwort erhalten zu haben. Fräulein Zahn schreitet in diesen
Augenblicken durch das Zimmer des Angeklagten. Warum sah er sich bei dieser
Gelegenheit Frl. Zahn außerordentlich scharf an? Weil er ihr ins Bewußtsein
bringen wollte: Ich bin da!
Das Verbrechen wird entdeckt. Grupen ist
einer der ersten im Mordzimmer. Bald läuft er zurück und begegnet auf der
Treppe Frl. Zahn. Mit ihr geht er wieder an den Schauplatz des Verbrechens, und
da bittet ihn Frl. Zahn vergeblich, ihr zu helfen, die Opfer aufs Bett zu
legen. Wie bei allen Blutverbrechen, kann auch hier der T ä t e r
d i e O p f e r n i c h t a n f a s s e n . Erst nach dreimaliger Aufforderung tut er es
mit sichtlicher Überwindung. Vorher hat er die Pistole aufgehoben, die
bezeichnenderweise zur Linken der Ursula lag, w ä h r e n d s i e
a u f d e r r e c h t e n S e i t e
h ä t t e l i e g e n m ü s s e n . Als der erste Arzt kam, hat Grupen die
Dreistigkeit, ihn zu fragen: „Kann man der Ursula nicht etwas geben, daß sie
noch etwas sagen kann?“
Der Staatsanwalt zählt alles auf, was Grupen
sonst noch schwer belastet. Wenn Grupen, als der Landjäger erschien, jammerte
und sich an die Kinder herandrängte, so mag es möglich sein, daß der Tod
Ursulas ihn in einen gewissen Grad von Trauer versetzte. Aber wie kann jemand,
der ein reines Gewissen hat, zu dem Landjäger bald nach der Entdeckung der Tat
sagen: „Ich werde wohl schon bewacht?“ Warum sagte Grupen, als er abgeführt wurde:
„Wenn Ihr wißt, daß ich das Zimmer nicht verlassen habe, bin ich morgen wieder
frei.“ Die dicken Mauers des Mordzimmer sind dem Angeklagten zum größten
Verhängnis geworden. Wenn Menschen schweigen, werden Steine reden. Und die
Steine in dem quadratischen Zimmer sagen uns, daß die P a t r o n e n h ü l s e n nicht anders fallen konnten, daß
kein
Selbstmord, sondern Mord
vorliegt.
Der Großmutti-Brief ist kein Abschiedsbrief, sondern
ein eigener Anklagebrief für den Täter. Auch in den Abschiedsbriefen seiner
Frau hat er Wert darauf gelegt, sich zu entlasten.
Frau Eckert hat jetzt die M ö g l i c h k e i t z u g e g e b e n , d a ß
d e r A n g e k l a g t e d
a s Z i m m e r
v e r l a s s e n h a t , während sie früher sagte, sie könne
beschwören, daß der Angeklagte nicht einen Augenblick das Zimmer verlassen hat.
Aus dem Gutachten von Professor Moll ergibt sich, daß es sehr wohl möglich ist,
daß jemand sich zunächst auf Wahrnehmungen nicht erinnert, sie später aber in
das Gedächtnis zurückruft. Es ist kein Zweifel, daß die jetzigen Aussagen der
Frau Eckert und auch der Irmgard, die ja jetzt nicht mehr unter dem Einfluß des
Angeklagten stehen, richtig sind. Bei dem Zeugnis der Mohr ist zu beachten, daß
sie damals während ihrer Wahrnehmungen vollständig unter dem Einfluß des
Angeklagten stand. Sie hat auch sonst schlecht beobachtet. Sie las in einem
Märchenbuche, und man weiß ja, wenn junge Mädchen sich mit Märchen
beschäftigen, dann haben sie keinen Sinn für die Außenwelt. Sie hat daher nicht
gesehen und gehört, wie Frl. Zahn zweimal durch das Zimmer ging, um eine
Schüssel zu holen, daß der Angeklagte mit der Irma bis zur Türe des
Schrankzimmers ging, sie hat nicht beobachtet, daß dauernd Mühle gespielt und
gerechnet wurde, daß der Angeklagte zweimal zu Frl. Zahn ins Zimmer ging und
mit ihr sprach. Die Zeugin kann daher wohl der Meinung gewesen sein, daß das,
was sie sagt, die Wahrheit ist, in Wirklichkeit ist es aber nicht die Wahrheit.
Der Staatsanwalt betont, daß nach den
übereinstimmenden Gutachten der Sachverständigen ein Selbstmord der Ursula
vollständig ausgeschlossen ist. Die Tat hat sich nach Ansicht des Staatsanwalts
folgendermaßen abgespielt: Durch Ursula hat der Angeklagte die Dorothea, die
sonst stets ein Zusammensein mit ihm vermied, nach dem unteren Stockwerk
gelockt. Dann ist der Angeklagte hinzugekommen, hat den ersten Schuß auf Dörte,
den zweiten auf die Ursula und den dritten, den „Fangschuß“, auf Dörte
abgegeben. Das beweisen die Gutachten der Sachverständigen und die Lage der
Patronen.
Dienstag, 20. Dezember 1921, „Schlesische
Zeitung“ Letzte Nachrichten des Abendblattes
Der
Kleppelsdorfer Mordprozeß.
Hirschberg, 20. Dezember.
Die Wiederaufnahme des Kleppelsdorfer
Mordprozesses begann heute morgen um 9 Uhr mit der F o r t s e t z u n g d e r
P l a i d o y e r s d e r V e r t e i d i g e r , die sich alle erdenkliche Mühe gaben, den
Angeklagten Grupen von dem schweren Verdacht des D o p p el m o r d e s an der 16jährigen D o r o t h e a R o h r b e c k und der 13jährigen U r s u l a
S c h a d e , seiner
Stieftochter, wie auch in letzterer begangenen
S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e n s zu reinigen. Infolge des riesenhaften
Materials aus dem Vorleben des Angeklagten dürften sich die Verteidigungsreden
bis in die Nachmittagsstunden hinziehen, so daß das U r t e i l
v o r 6 U h r
k a u m z u e r w a r t e n i s t .
Die bereits veröffentlichten f ü n f
S c h u l d f r a g e n gelten
nicht als definitiv; sie werden vielmehr am Schlusse der Playdoyers der
Verteidiger endgültig formuliert werden.
Mittwoch, 21. Dezember 1921, „Schlesische
Zeitung“ Morgenblatt, 1. Seite
Grupen
zum Tode verurteilt.
Hirschberg, 20. Dezember.
Im K
l e p p e l s d o r f e r M o r d p r o
z e ß sprachen die Geschworenen in der
vierten nachmittagstunde den Angeklagten Peter
G r u p e n d e s M o r d e s
i n z w e i F ä l l e n
und des S i t t l i c h k e i t
s v e r b r e c h e n s für s c h u l d i g . Das Urteil des Gerichtshofes lautete z w e i m a l z u m
T o d e und f ü n f
J a h r e n Z u c h t - h a u
s sowie dauerndem Ehrverlust. Der
Angeklagte erklärte in seinem Schlußwort, auf Revision und Gnadenmittel zu
verzichten.
Mittwoch, 21. Dezember 1921, „Schlesische
Zeitung“ Morgenblatt
Der
Schlußakt im Kleppelsdorfer Mordprozeß.
Hirschberg, 20. Dezember. (Eigener
Drahtbericht)
Am Dienstag vormittag sprach zunächst O b e r s t a a t s a n w a l t R e i f f e n r a t h , der sich gegen die Ausführungen der beiden
Verteidiger wendete und noch einmal alle Momente hervorhob, die für die Schuld
des Angeklagten sprechen. Nach dem Staatsanwalt nimmt wiederum J u s t i z r a t D r .
A b l a ß das Wort zu einer
nochmaligen kritischen Beleuchtung des Anklagematerials. Er betont unter
anderem, es wäre eine merkwürdige Verteidigung, die sich drängen ließe, den
vorgezeichneten Richtlinien der Staatsanwaltschaft zu folgen. Während der Rede
des Justizrats Dr. Ablaß erklärt Oberstaatsanwalt Dr. Reiffenrath, daß er die
Verhandlung wegen Überanstrengung verlassen müsse. An seine Stelle tritt
Oberstaatsanwalt Dr. H e i n r i c h .
Vorsitzender (zum Angeklagten): Was haben Sie
noch zu erklären? - Angeklagter (mit innerer Erregung): Ich schließe mich den
Ausführungen meiner beiden Herren Verteidiger an. Ich will nur noch bemerken:
Der Staatsanwalt glaubt, daß ich das Eiserne Kreuz als Zugabe für meinen
verlorenen Arm erhalten habe. Der Staatanwalt hätte jedoch während der
zehnmonatigen Untersuchung genügend Zeit gehabt, um meine Militärpapiere
einzusehen und festzustellen, an welchen Gefechten ich teilgenommen habe. Ich
bin als Kriegsfreiwilliger für eine gute Sache in den Krieg gezogen und nun
wird von der Anklage behauptet, ich soll ein unschuldiges Kind getötet haben,
ein Kind, das ich lieb hatte. I c h b i n v o l l
u n d g a n z u n s c h u l d i g . Ich vertraue den Herren Geschworenen und
ihrer rechtlichen Anschauung.
Kurz nach 1 Uhr beginnt der Vorsitzende mit
der Rechtsbelehrung der Geschworenen. Nach 1 1/2stündiger Beratung verkündet
der Obmann, Major D u l i t z : D e r
A n g e k l a g t e i s t s c h u l d i g d e s
M o r d e s i n z w e i
F ä l l e n u n d d e s
S i t t l i c h k e i t s v e r
b r e c h e n s . - Der Staatsanwalt
beantragt die Todesstrafe für jeden Mord und für das Sittlichkeitsverbrechen 5
Jahre Zuchthaus.
Vor der Urteilsverkündung erklärte der
Angeklagte, er v e r z i c h t e v o n
v o r n h e r e i n a u f R e v i s i o n u n d
G n a d e n g e s u c h . Der
Spruch der Geschworenen sei ein Fehlurteil, und es werde vielleicht d e r
T a g k o m m e n , w o
d a s e i n e o d e r
a n d e r e g e k l ä r t w e r d e .
Das Urteil des Gerichtshofes lautete dem Antrag des Staatsanwalts gemäß
auf
Todesstrafe
und 5 Jahre Zuchthaus
u n d
d a u e r n d e n V e r l u s
t d e r b ü r g e r l i c h e n E h r e n r e c h t e . - Der Angeklagte nahm das Urteil m i t
g r o ß e r G l e i c h m u
t auf.
Sonntag, 25. Dezember 1921, „Schlesische
Zeitung“
Revision
im Kleppelsdorfer Mordprozeß.
Justizrat Dr. A b l a ß ,
der Verteidiger des wegen des Kleppelsdorfer Mordes zweimal zum Tode
verurteilten Architekten P e t e r G r u p e n , hat heute, wie der „Tag“ meldet, beim
Reichsgericht Revision gegen das Schwurgerichtsurteil eingelegt. Die Begründung
der Revision wird sich auf das gesamte Verfahren erstrecken, also auch auf die
Verurteilung zu 5 Jahren Zuchthaus, die wegen Sittlichkeitsverbrechens an der
Stieftochter erfolgte.
Montag, 9. Januar 1922, „Schlesische Zeitung“
Neue
Untersuchung gegen Grupen.
Gegen den am 20. Dezember wegen des
Kleppelsdorfer Doppelmordes zum Tode verurteilten Architekten Peter G r u p e n
ist nunmehr auch von der Staatsanwaltschaft in Altona ein Untersuchungsverfahren
eingeleitet worden wegen des Verdachts, daß Grupen auch seine bekanntlich seit
geraumer Zeit spurlos verschwundene E h
e f r a u ermordet habe.
Dienstag, 10. Januar 1922, „Schlesische
Zeitung“
Revision
im Mordprozeß Grupen.
Die Verteidiger des wegen des Kleppelsdorfer
Doppelmordes zum Tode verurteilten Peter Grupen haben zu der bald nach dem
Prozesse gegen das Urteil angemeldeten Revision nunmehr die Begründung beim
Reichsgericht eingereicht, so daß jetzt das Revisionsverfahren schwebt. Bei dem
Umfange des zu prüfenden Materials dürfte, obwohl Haftsachen mit Beschleunigung
behandelt werden, die Entscheidung des Reichsgerichts nicht vor vier oder fünf
Wochen zu erwarten sein.
Freitag, 27. Januar 1922, „Schlesische
Zeitung“
(Selbstmordversuch Peter Grupens.)
Hirschberg, 26. Januar
Der in der Kleppelsdorfer Mordsache zweimal
zum Tode verurteilte Architekt Peter Grupen unternahm im hiesigen
Gerichtsgefängnis einen Selbstmordversuch. Er versuchte sich zu erhängen,
konnte aber durch das rechtzeitige Hinzukommen eines Gefängnisbeamten daran
gehindert werden.
Sonnabend, 28. Januar 1922, „Schlesische
Zeitung“
(Peter Grupens Selbstmordversuch.)
Hirschberg, 27. Januar
Über den Selbstmordversuch von Peter Grupen
wird noch gemeldet: Kurz nach seiner Verurteilung zum Tode war Grupen sehr niedergeschlagen.
Er erholte sich aber bald wieder und trug eine frohe zuversichtliche Miene zur
Schau. Vor einigen Tagen fiel es den Gefängnisbeamten auf, daß es in der Zelle
von Peter Grupen sehr ruhig war. Durch das Beobachtungsfenster sahen sie, daß Grupen
Maßnahmen traf, sich zu erhängen. Die Beamten wollten jetzt rasch die Zellentür
öffnen, doch leistete diese starken Widerstand. Grupen hatte auf irgend eine
Weise die Türe versperrt, obwohl inwendig kein Riegel an ihr ist. Die Tür wurde
gewaltsam erbrochen und man kam eben noch zurecht, um den Selbstmord zu
verhindern. Daraufhin wurde Grupen, der in Einzelhaft saß, in eine Gemeinschaftszelle
gebracht. In der ersten Zeit nach diesem Vorfalle ist Grupen auch, allerdings
nicht sehr lange Zeit, in den Hungerstreik eingetreten. Er verweigerte die Nahrungsmittelaufnahme,
besann sich aber schnell eines Besseren. Im übrigen hat sein Verhältnis zu den
Gefängnisbeamten, die in der Zeit der Schwurgerichtsverhandlung ein gutes
Zeugnis über ihn ablegten, eine starke Trübung erfahren. Er bereitet jetzt den
Beamten allerhand Schwierigkeiten.
Mittwoch, 22. Februar 1922, „Schlesische
Zeitung“ Abendblatt
Die
Revision Grupen verworfen.
Wie aus Leipzig gemeldet wird, hat der vierte
Strafsenat des R e i c h s g e r i c h
t e s die von dem Anwalt des
Architekten Grupen gegen das doppelte Todesurteil des Hirschberger Schwurgerichts
eingelegte R e v i s i o n v e r w o r f e n . Das dadurch rechtskräftige Todesurteil
bedarf noch der Bestätigung durch die preußische Regierung.
Freitag, 24. Februar 1922, „Schlesische
Zeitung“ Abendblatt
Peter
Grupen entflohen.
Hirschberg, 24. Februar.
Wie der „Bote aus dem Riesengebirge“ durch
Extrablatt bekannt gibt, ist der Kleppelsdorfer Doppelmörder Peter G r u p e n , dessen Verurteilung durch den Entscheid des
Reichsgerichts vorgestern rechtskräftig geworden war, in der vergangenen Nacht
aus dem Gerichtsgefängnis ausgebrochen und entflohen. Grupen ist sehr leicht zu
erkennen, da ihm der linke Arm fehlt.
Freitag, 24. Februar 1922, „Schlesische
Zeitung“ Letzte Nachrichten des Abendblatts
Grupens
Flucht.
Hirschberg, 24. Februar. (Eigener
Drahtbericht.)
Die Flucht des zum Tode verurteilten
Architekten G r u p e n aus dem hiesigen Gerichtsgefängnis gelang diesem
in der verflossenen Nacht zwischen 2 und 3 Uhr. Grupen war mit drei anderen
Strafgefangenen in einer Zelle im zweiten Stockwerk des Gefängnisses
untergebracht. Aus dieser Zelle ist schon einmal ein Ausbruch unternommen
worden. Das damals beschädigte Gitter war durch eine Flansche repariert worden.
Grupen hatte mit Hilfe eines zu einer Säge hergerichteten Eßmessers die Nieten
der Flansche entfernt und die Stäbe auseinandergebogen. Dann befestigte er ein
vom Bett losgerissenes Brett daran, verknüpfte mit diesem ein aus Betttüchern
und Laken hergestelltes Seil, und ließ sich daran auf das Dach des
Verwaltungsgebäudes herab. Die beiden anderen Gefangenen folgten ihm, der
dritte blieb schlafend zurück. An dem Schornstein des Verwaltungsgebäudes
befestigte Grupen sodann ein etwa 5 Meter langes, aus Strohmatten hergestelltes
Seil und gelangte daruch auf den äußeren Hof des Gefängnisses, und entfloh nach
der Wilhelmstraße zu. Seine beiden Genossen verloren ihn bald aus den Augen,
irrten die Nacht umher und fanden sich heute morgen um 6 Uhr wieder vor dem
Portal des Gerichtsgefängnisses ein. Der zurückgebliebene Strafgefangene fand
heute morgen einen Zettel von Grupen vor, aus dem hervorging, daß letzterer ihm
eine Schlaftablette in den Kaffe geschüttet habe.
Als die Verwerfung der Revision Grupens
bekannt geworden war, waren schärfste Beobachtungsmaßnahmen verordnet worden;
vor einigen Tagen wurde Grupens Zelle durchsucht. Ein diese Zelle mit
bewohnender Gefangener lag zu dieser Zeit krank im Bett, und es ist anscheinend
unterlassen worden, dieses Bett besonders zu kontrollieren, sodaß das
wahrscheinlich darin verborgene Mattenseil unentdeckt blieb. Ferner war
angeordnet worden, Grupens Zivilkleidung aus der Zelle zu entfernen, was jedoch
aus bestimmten Gründen bei den anderen drei Gefangenen unterblieb. Einen dieser
Anzüge hat sich Grupen angezogen.
Mit Genehmigung der Staatsanwaltschaft hatte
Grupen gestern nachmittag eine Unterredung mit einem Berliner Journalisten,
wobei er vollkommen ruhig blieb, wie schon während der Schwurgerichtsverhandlungen,
seine Unschuld beteuerte und erklärte, daß sie einmal bekannt würde, dies
allerdings nur auf dem Weg über Altona.
In Hirschberg herrscht eine Aufregung, wie es
seit Sternickels Zeiten noch nicht wieder der Fall gewesen ist.
Sonnabend, 25. Februar 1922, „Schlesische
Zeitung“ Morgenblatt
Zur
Flucht Peter Grupens.
Wie weiter aus Hirschberg gemeldet wird, ist
die Verfolgung des flüchtigen Grupen sofort mit einer großen Schar von
Kriminalbeamten aufgenommen worden. Man verständigte weiter schnellstens die
benachbarte Tschechoslowakei, da die Möglichkeit besteht, daß sich Grupen über
das Gebirge nach der Grenze gewendet hat.
Die Hirschberger Kriminalpolizei teilt zu dem
Ausbruch folgendes mit: Peter Grupen befand sich mit noch drei anderen
Gefangenen in einer am äußersten Ende des Gebäudes im zweiten Stockwerk
gelegenen Gemeinschaftszelle. Mit Hilfe von zweien dieser Gefangenen hat Grupen
in der letzten Nacht nach 12 Uhr einen Gitterstab an seinem Zellenfenster mittels
einer aus einem Messer selbst gefertigten Säge durchsägt und dann den Stab
beiseite geschoben. Durch die so geschaffene Öffnung gelangte Grupen mit seinen
beiden Komplizen mittels eines Bettbrettes, das sie an den noch festen
Gitterstäben befestigten, auf das Dach eines einstöckigen Nachbargebäudes, von
dem sie sich dann mittels aus Schilf und Bettüchern selbstgefertigter Taue
herabließen und so in einen Vorgarten zwischen Gerichtsgebäude und Gefängnis
gelangten. P e t e r G r u p e n , der sich zuerst herabgelassen hatte, e r g r i f f s o f o r t
d i e F l u c h t i n
d e r R i c h t u n g d e r
W a r m b r u n n e r S t r a ß
e , während seine beiden Mitgefangenen,
die ihm nicht nachzukommen vermochten, nach längerem Umherirren in der Stadt
sich morgens gegen 6 Uhr bei der Gefängnisverwaltung wieder einfanden. Grupen
war bekleidet mit dunkelgrünes Filzhut, feldgrauem Militärjakett, schwarzer
Weste, hell- und dunkelgesprenkelter Hose (sog. Pfeffer- und Salzmuster) und
schwarzen Schnürschuhen. Er muß unbedingt einen Helfershelfer haben. Die
Kriminalpolizei verfolgt in dieser Richtung schon eine bestimmte Spur.
*
Hirschberg, 24. Februar.
Die Telegraphenunion verbreitet die
Nachricht, daß sich Peter G r u p e
n am Abend wieder im Gefängnis eingestellt
habe.
Sonnabend, 25. Februar 1922, „Schlesische
Zeitung“ Abendblatt
Grupen
wieder im Gefängnis.
Es bestätigt sich, daß Peter Grupen sich
Freitag abend im Gefängnis wieder selbst gestellt hat. Einzelheiten fehlen
noch.
Sonnabend, 25. Februar 1922, „Schlesische
Zeitung“ Letzte Nachricht des Abendblatts
Zur
Flucht Peter Grupens.
Hirschberg, 25. Februar.
Der Doppelmörder Grupen, der sich, wie
berichtet, selbst wieder gestellt hat, verweigert jede Aussage über den Grund
seines Ausbruchs aus dem Gefängnis und über seinen Aufenthalt während des
Freitags. Die Nachforschungen über seinen Verbleib bis zum Freitag abend haben
bisher kein positives Ergebnis gehabt.
Sonntag, 26. Februar 1922, „Schlesische
Zeitung“
Das
Grupen-Abenteuer.
Hirschberg, 25. Februar.
Grupen, der zunächst nach seiner Gestellung
jede Auskunft verweigerte, erklärte später, ausgebrochen zu sein, um zu
beweisen, daß er aus eigener Kraft seine Freiheit zu erlangen vermöchte und
zurückgekehrt zu sein, um seine Unschuld darzutun. Die Erklärung findet keinen
Glauben. Man ist der Überzeugung, daß es ihm aus irgend einem Grunde unmöglich
geworden ist, sich in Sicherheit zu bringen. Bei seiner Rückkehr ins Gefängnis
will Grupen die Mauer mit Hilfe fremder Personen überklettert haben. Diese
Personen zu nennen, lehnt Grupen ab. Nachts haben umfangreiche Nachforschungen
nach Grupens Helfershelfern, darunter auch Haussuchungen, stattgefunden. Sie
haben jedoch keinerlei positives Ergebnis gehabt. Die in Berlin verbreiteten Gerüchte,
daß zwei Gefängnisbeamte in Untersuchungshaft genommen worden seien, entbehren
jeder Begründung.
Montag, 27. Februar 1922, „Schlesische
Zeitung“ Letzte Nachricht des Abendblatts
Neues
zu Peter Grupens Flucht.
Nachdem Grupen nach seiner Rückkehr am
Freitag abend Angaben über seinen Ausbruch verweigert hatte, schlug er bei den
Vernehmungen am Sonnabend eine andere Taktik ein. Er gab bei einem Verhör am
Mittag alle bekannt gewordenen Einzelheiten der Flucht zu. Die Annahme, daß er
sich als Einarmiger nicht habe an dem Tau herablassen können, bezeichnete er
als irrig; im Gegenteil: die Sache sei sehr gut gegangen. Er habe sich das Tau
fest zwischen die Beine geklemmt und sich mit dem einen Arm festgehalten. Als
die beiden anderen Gefangenen auf dem Gefängnishofe anlangten, will Grupen nach
seiner Erklärung wörtlich gesagt haben: „So, nun wollen wir alle drei wieder
hineingehen, dann sieht man, daß mir an der Freiheit dann nichts liegt, wenn
ich meinen reinen Namen nicht so wiederhaben kann, wie ich ihn hierher gebracht
habe.“ Weiter behauptet Grupen, ganz genau gewußt zu haben, wohin er zu gehen
habe. Er will den ganzen Tag über in einer Hirschberger Wohnung gewesen sein,
aber nicht in der Wohnung eines Gefängnisbeamten. Bei einem späteren Verhör
machte Grupen andere Angaben. Er bestätigte zwar wieder die Einzelheiten des
Ausbruchs, erklärte aber, sich den Tag über in einem Blitzableiterschacht im Gefängnishofe
versteckt zu haben. Diese Angabe klingt wahrscheinlich, wenn man bedenkt, daß
Grupen in Strümpfen entflohen ist und bei seiner Rückkehr die Strümpfe
tatsächlich nicht so aussahen, als ob er damit weit gelaufen wäre. Daß die
Flucht von langer Hand vorbereitet war, dürften folgende Umstände beleuchten:
Grupen hatte eine Zeitlang Selbstverpflegung aus einem Gasthause. Anfangs wurde
zu dem Essen ein Besteck nicht mitgegeben. Grupen bestand aber darauf, daß die
Gastwirtschaft Messer und Gabel lieferte. Zweifellos hat er nun eines Tages ein
Messer zurückbehalten und dieses ist dann so kunstgerecht als Säge hergerichtet
worden, daß man zweifeln kann, ob Grupen als Einarmiger diese Arbeit verrichtet
hat. Um in den Besitz des Schlafpulvers zu gelangen, das er seinem dritten
Zellengenossen in das Abendessen geschüttet hat, hat Grupen schon vor längerer
Zeit Schlaflosigkeit vorgeschützt. Nach den bisherigen sehr umfangreichen
Ermittelungen hat Grupen unter den G e
f ä n g - n i s b e a m t e n k e i n
e H e l f e r s h e l f e r gehabt. Wie zur Zeit des Prozesses ist
Grupen auch jetzt noch der Held gewisser Frauen. Nicht nur aus Hirschberg und
Umgebung, sondern auch aus anderen Orten Deutschlands, vom Kurfürstendamm in
Berlin usw., erden Briefe an Grupen gerichtet, die oft von Liebesgaben, wie
Blumen und Schokolade, begleitet sind. Selbstverständlich gelangen alle diese
Dinge nicht in Grupens Besitz. Überhaupt kämpfen die Hirschberger
Staatsanwaltschaft und die Gefängnisleitung einen äußerst schweren Kampf gegen
Mächte, die sich die Befreiung Grupens zum Ziele gesetzt haben.
Freitag, 3. März 1922, „Schlesische Zeitung“
Morgenblatt
Selbstmord
Grupens.
Hirschberg, 2. März.
Der wegen des Kleppelsdorfer Doppelmordes
zweimal zum Tode verurteilte Architekt
P e - t e r G r u p e n
hat in seiner Zelle Selbstmord verübt. Gegen 5 Uhr nachmittags wurde er
von einem revidierenden Beamten an einem Hosenträger hängend in seiner Zelle
tot aufgefunden. Grupen war seit seiner Flucht in der vergangenen Woche in
Einzelhaft.
Hirschberg, 2. März.
P e t e r
G r u p e n war nach seinem
letzten Fluchtversuch in der Nacht vom 23. zum 24. Februar in einer Einzelzelle
untergebracht. Er zeigte keinerlei Zeichen von Erregung, und genoß auch heute
sein Mittagessen in vollständiger Ruhe. Gegen 4 Uhr wurde seine Zelle
revidiert, und alles in Ordnung gefunden. Um 4 ¾ Uhr fand eine weitere Revision
statt. Beiu dieser Gelegenheit fand man Peter Grupen an seinem Hosenträger an
der Zentralheizung erhängt vor. Es wurden sofort Wiederbelebungsversuche
angestellt, die aber ergebnislos waren. Irgend eine schriftliche Aufzeichnung
hat Grupen nicht hinterlassen, auch nicht zu irgend jemand eine Äußerung getan,
die auf sein Vorhaben schließen ließ. Er hat also seine Rätsel mit ins Grab
genommen. Die Tat spricht jedoch dafür, daß er sowohl den Doppelmord in
Kleppelsdorf begangen, wie auch vorher seine auf rätselhafte Weise
verschwundene Frau ermordet haben dürfte. Anscheinend wußte Grupen aus seiner
verzweifelten Lage keinen anderen Ausweg.
Freitag, 3. März 1922, „Schlesische Zeitung“
Letzte Nachrichten des Abendblatts
Zum Selbstmord
Peter Grupens.
Hirschberg, 3. März.
Nach dem Ausbruch war G r u p e n
wieder in eine Einzelzelle gebracht worden, um ihm die Möglichkeit zu nehmen,
bei einem etwaigen neuen Ausbruchsversuch Helfershelfer zu haben. Man hatte ihm
auch Fesseln angelegt, die ihm aber abgenommen wurden mit Rücksicht auf seine
Einarmigkeit und weil er versprochen hatte, keine Ausschreitungen zu begeben.
Als der kontrollierende Beamte gegen 4 Uhr nachmittags wieder an Grupens Zelle
kam, sah er, daß die Scheibe des Gucklochs an der Zellentür mit Papier verhängt
war. Daraufhin wurde die Zelle geöffnet und
G r u p e n hing in schräger
Stellung an dem Heizkörper. Die V e r n
e h m u n g e n G r u p e n s zur Aufklärung seiner am Freitag voriger
Woche unternommenen Flucht haben einige bemerkenswerte neue Einzelheiten
ergeben. Bereits Donnerstag abend gegen 6 Uhr begannen Grupen und seine
Helfershelfer mit dem Zusammenknoten der Leinen. Grupen sah scharf darauf, daß
die Knoten sachgemäß geknüpft wurden. In solchen Dingen hatte er als früherer
Baugewerkschüler besondere Erfahrung. Er hatte auch Berechnungen über die
Stabilität der beiden Bettbretter angestellt, die bei dem Aussteigen aus dem
Fenster benutzt wurden. Gegen 3 Uhr morgens begann der Ausbruch. Zunächst kletterte
Grupens Zellengenosse B o h n durch das Gitter und ließ sich am Tau auf
das Dach des Beamtenhauses herab. Dann folgte Grupen, nachdem er die
Gitterstäbe noch erweitert hatte, da die Öffnung für seine gedrungene Gestalt
zu klein war. Als letzter folgte der Sträfling
V o g t l ä n d e r . Auf dem
Dach angelangt, befestigte Grupen das Schilfseil am Schornstein, an dem sich
dann die drei auf die Erde herabließen. Bohn fragte Grupen, ob er ihm und
Vogtländer ein Unterkommen verschaffen könnte, worauf Grupen erwiderte: „ W o
i c h h i n g e h e , k a n n
k e i n e r m i t k o m m e n .
“ Die beiden halfen dann Grupen auf die
Gefängnismauer, auf der er bis zum Holzhof des Gefängnisses lief, über den
Holzschuppen herab kam Grupen in den Holzhof und versteckte sich dann in dem
Blitzableiterschacht, in dem er sich den Tag über aufhielt, bis er sich am
Abend am Küchenfenster meldete. Bei seiner Vernehmung hat Grupen, wenn auch
erst nach stundenlangem Ausfragen, Auskunft gegeben, woher er die H i l f s m i t t e l z u r
F l u c h t bekommen habe. So
erklärte er über die Herbeischaffung des Schilftaues, daß es von einem
Mitgefangenen in einem Kübel in die Zelle gebracht worden war. In den letzten
Tagen hat Grupen offenbar Mitleid empfunden mit den Gefängnisbeamten, die durch
seinen Ausbruch in eine schwierige Lage gekommen sind. Er sprach sein Bedauern
aus, den Behörden Arbeit gemacht zu haben. Die Ermittelungen, inwieweit G e f ä n g n i s b e a m t e G r u p e n
g e g e n ü b e r i h r e D i e n s t p f l i c h t v e r l e t z t oder ihm seine Flucht erleichtert haben,
sind zu einem gewissen Abschluß gelangt. Ein Beamter ist bereits vom Dienst
suspendiert, ein zweiter freiwillig in Urlaub gegangen.
Freitag, 10. März 1922, „Schlesische Zeitung“
Letzte Nachrichten des Abendblatts
(Nachspiel
zu Grupens Selbstmord.)
Hirschberg, 10. März.
Der G
e f ä n g n i s i n s p e k t o r S c h
e n t k e , der dem D o p p e l m ö r d e r G r u p e n
im Gefängnis allerlei Gefälligkeiten erwiesen hat und im dringenden
vErdacht steht, Helfershelfer bei der Flucht gewesen zu sein, hat sich, nachdem
gegen ihn ein Strafverfahren eingeleitet worden war, h e u t e
e r s c h o s s e n .
Donnerstag, 16. März 1922, „Schlesische
Zeitung“ Morgenblatt
(Zum
Fall Grupen.)
Die Familie des wegen Doppelmordes zur Tode
verurteilten und inzwischen durch Selbstmord aus dem leben geschiedenen P e t e r
G r u p e n , hat, wie aus
Hirschberg berichtet wird, beschlossen, durch Rechtsanwalt D r .
P u p p e das W i e d e r a u f n a h m e v e r f a h r e
n zu betreiben. Auch die N a c h f o r s c h u n g e n nach dem Verbleib der verschwundenen F r a u
G r u p e n werden fortgesetzt;
man will ihr mit Hilfe eines s p i r i
t i s t i s c h e n M e d i u m s auf die Spur kommen. Geistergläubige haben
sich übrigens schon früher mit dem Fall Grupen beschäftigt. Während der
Prozeßverhandlung in Hirschberg traf beim Gericht ein Schreiben des Breslauer
Polizeipräsidenten ein, daß laut Mitteilung eines Spiritisten ein Breslauer
Spiritistenverein Sitzungen abgehalten habe, bei denen der Geist der ermordeten
Dörthe Rohrbeck erschienen sei. Der Vorsitzende gab dies den Prozeßbeteiligten
bekannt und fragte, ob ein Antrag auf Ladung des betreffenden Spiritisten
gestellt werde; aber sowohl der Staatsanwalt wie die Verteidiger und auch der
Angeklagte selbst verzichteten auf die Botschaft aus dem Geisterreiche.
Mittwoch, 16. Februar 1921 - „Neuer Görlitzer
Anzeiger“
Aus der Lausitz und dem Reiche
Doppelmord
auf einem niederschlesischen Rittergut
Ein schweres Verbrechen hat sich gestern auf
dem bei Lähn gelegenen Rittergut Kleppelsdorf zugetragen. Dort wurde die 17jährige
Rittergutsbesitzerin Dorothea Rohrbeck und ihre 12jährige Verwandte erschossen
aufgefunden. Ein Onkel der Ermordeten ist unter dem Verdacht der Täterschaft
verhaftet worden.
Uns sind über die Angelegenheit, die in der
Lähner und Hirschberger Gegend großes Aufsehen erregt, folgende Meldungen
zugegangen:
Lähn, 15. Februar. Ein blutiges Drama spielte
sich gestern (Montag) Mittag in Kleppelsdorf ab. Die 17jährige Tochter des
verstorbenen Rittergutsbesitzers Rohrbeck wurde in ihrem Zimmer, nachdem sie
kurz vorher von Lähn zurückgekehrt war, mit einer Schußwunde in der Brust tot
und ihre 12jährige Verwandte tödlich verletzt, mit einer Schußwunde am Kopf,
aufgefunden. Einige Stunden später ist diese verschieden. Der am Tatorte
gefundene Revolver gehörte angeblich niemandem und wurde beschlagnahmt. Der
Staatsanwalt aus Hirschberg wurde telegraphisch herbeigerufen und ist
gegenwärtig mit der Aufklärung der Angelegenheit beschäftigt.
Wegen des Doppelmordes auf Schloß
Kleppelsdorf ist dem „Boten aus dem Riesengebirge“ zufolge der Onkel der
ermordeten Rittergutsbesitzerin, ein gewisser Peter Grupen aus Berlin, unter
dem dringenden Verdacht der Mittäterschaft verhaftet worden. Die 16jährige
Besitzerin des Schlosses Kleppelsdorf, Dorothea Rohrbeck, alleinige Erbin von
drei Rittergütern, wurde von dem Dienstmädchen in ihrem Zimmer durch mehrere
Schüsse in Hals und Brust verletzt tot aufgefunden. In demselben Zimmer wurde
die auf Kleppelsdorf zu Besuch weilende 12jährige Cousine der Rohrbeck, Ursula
Schade aus Berlin, mit einem Schuß über dem rechten Auge schwer verletzt
aufgefunden. Sie ist zwei Stunden darauf ihren Verletzungen erlegen. Im Zimmer
fand man einen Damenrevolver, der jedoch noch gesichert war. In der Tasche der
Ursula Schade wurde ein Brief, an die in Berlin wohnende Großmutter der Schade
adressiert, gefunden, in dem das Kind mitteilt, die Rohrbeck und sich dann
selbst erschossen zu haben. Auf dem Gute weilten außer dem Dienstpersonal und
der Gesellschafterin der Rohrbeck, z. Z. die neunjährige Schwester der Schade
und der Stiefvater der beiden kleineren Mädchen, zugleich der Onkel der
Dorothea Rohrbeck, der nunmehr verhaftete Peter Grupen aus Berlin.
Donnerstag, 17. Februar 1921 - „Neuer
Görlitzer Anzeiger“
Aus der Lausitz und dem Reiche
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf
Zu der furchtbaren Tat, die sich am Montag
Mittag auf Schloß Kleppelsdorf bei Lähn abgespielt hat, werden noch folgende
Einzelheiten berichtet:
Lähn, 16. Febr. Vor etwa 30 Jahren wurde das
Rittergut Kleppelsdorf, zu dem die Vorwerke Gieshübel und Kuttenberg gehören,
insgesamt 315 Hektar groß, von einem gewissen Rohrbeck gekauft. Dieser stammte
aus Tempelhof bei Berlin und gehörte zu den Millionenbauern, die durch enorme
Preissteigerung von Grund und Boden in der Nähe von Berlin reich geworden
waren. R. und seine Frau sind gestorben und hatten als alleinige Erbin die
jetzt 16 Jahre alte Tochter hinterlassen, die auf dem Schlosse wohnte.
Fräulein Rohrbeck war Montag gegen 12 Uhr
noch in Lähn. Als sie nach Hause kam, gesellte sich die kleine Schade zu ihr,
und beide gingen in ein Zimmer. Die Hausdame von Fräulein Rohrbeck, Frau Zahn,
wünschte von Fräulein R. eine Auskunft und wollte sie durch ein Dienstmädchen
zu sich bitten lassen. Das Mädchen fand die beiden erschossen auf. Im Zimmer
lag ein noch gesicherter Damenrevolver. Gleichzeitig mit der Ursula Schade und
deren neunjähriger Schwester befand sich deren Stiefvater, ein Herr Peter
Grupen aus Berlin, also ein Onkel der Rohrbeck, seit einigen Tagen auf dem
Schlosse. Unter dem dringenden Verdacht, mit dem Morde in Verbindung zu stehen,
wurde Grupen Dienstag früh verhaftet. Am Vormittag weilte eine
Gerichtskommission mit Staatsanwaltschaftsrat Mertens und Amtsgerichtsrat
Thomas aus Hirschberg und dem Kreisarzt Dr. Petersen aus Löwenberg auf dem
Schlosse, wo an Ort und Stelle Vernehmungen stattfanden.
Die auf so schreckliche Weise um ihr junges
Leben gebrachte Dorothea Rohrbeck war ein hübsches, lebenslustiges Mädchen und
erfreute sich in Kleppelsdorf und Lähn großer Beliebtheit. Sie soll von ihren
Verwandten ziemlich knapp gehalten worden sein. Verwalter des Gutes ist
Direktor Bauer. In Lähn herrscht natürlich über den Vorgang helle Aufregung,
und als der verhaftete Grupen gestern, Dienstag, zum Verhör gebracht wurde,
nahm auf der Goldberger Straße eine Menschenmenge eine ziemlich drohende
Haltung gegen ihn ein.
Freitag, 18. Februar 1921 - „Neuer Görlitzer
Anzeiger“
Die
Tragödie der jungen Schlossherrin
Neue Feststellungen über den Doppelmord auf
Schloß Kleppelsdorf.
Die geheimnisvollen Vorgänge auf Schloß
Kleppelsdorf bei Lähn, die den Tod der 16jährigen Schloßbesitzerin Dorothea
Rohrbeck und ihrer 12 Jahre alten Base Ursula Schade aus Berlin zur Folge
hatten, sind noch nicht völlig aufgeklärt. Doch beweist die Verhaftung des 41
Jahre alten Architekten Peter Grupen aus Oldenbüttel bei Itzehoe, daß man in
ihm, der der Onkel der erschossenen Dorothea Rohrbeck und der Stiefvater der
Ursula Schade war, wen die Gerichtsbehörden, die die Untersuchung führen, als
den Schuldigen in diesem Drama betrachten. Zwar leugnet Architekt Grupen jede
Schuld, aber eine Reihe von auffallenden und überzeugenden Tatsachen läßt es
nahezu sicher erscheinen, daß Grupen seit zwei Jahren schon das Ziel verfolgt,
alle Erben der Rohrbeckschen Güter zu beseitigen, um sich selbst schließlich in
deren Besitz zu setzen.
Ein Sonderberichterstatter der „Berl.
Morgenpost“ meldet zu dem Vorfall noch folgendes:
Die Einsamkeit der jungen Schloßherrin wurde vor
etwa 8 Tagen durch den Besuch ihrer Verwandten unterbrochen. Ihre beiden
Cousinen, die 12jährige Ursula Schade und die 9jährige Irma Schade, waren aus
Oldenbüttel mit ihrem Stiefvater, dem Architekten Peter Grupen, auf dem Schloß
angekommen. In ihrer Begleitung befand sich auch die alte Frau Eckhardt, die
Großmutter der beiden Mädchen und zugleich auch die Großmutter von Dorothea
Rohrbeck. Grupen, dem es in letzter Zeit sehr schlecht gegangen war, und der
allerhand dunkel Schiebergeschäfte getätigt hatte, hoffte durch eine spätere
Heirat mit der jungen reichen Dorothea Rohrbeck seine finanziellen Verhältnisse
zu verbessern. Aus Briefen, die man bei ihr gefunden hat, ergab sich, daß er
sie mit Heiratsanträgen verfolgt hat, aber stets abgewiesen wurde, was weiter
nicht wundern kann, da Grupen um vieles älter war. Am Tage des Mordes war
Dorothea wie immer, um 12 Uhr mittags zur Post gegangen, um dort Briefe
abzuholen. Auf dem Heimwege hat sich ihr die jüngere Cousine Ursula Schade
angeschlossen und ist mit ihr in den Vorraum des Eßzimmers gegangen. Dort fand
man kurz darauf Dorothea tot und Ursula Schade sterbend auf dem Fußboden liegend.
Während zunächst von der Untersuchungsbehörde angenommen war, daß Grupen den
beiden Kindern in dem Zimmer aufgelauert und beide erschossen habe, neigt man
jetzt zu der Annahme, daß tatsächlich Ursula Schade ihre Cousine Dorothea und
dann sich selbst erschossen hat. Nur nimmt man an, daß Ursula Schade auf keinen
Fall aus eigenem Entschluß die furchtbare Tat begangen haben kann, sondern daß
sie unter einem von ihrem Stiefvater ausgeübten Zwange gehandelt hat. Überdies
ist erwiesen, daß Ursula ganz kurze Zeit vor dem verhängnisvollen Schuß mit
einem Gutsangestellten über einen in den nächsten Tagen zu unternehmenden
Ausfluge geplaudert hatte, wobei sie keinerlei Bewegung besonderer Art verriet.
Es sind bereits Sachverständige der Hypnose und Telepathie zur Begutachtung des
Falles aufgefordert worden. Die Vernehmung der Hausangestellten hat ferner
ergeben, daß Grupen die Bediensteten, die sich in der kritischen Zeit in der
nahe dem Mordzimmer gelegenen Küche befanden, fortgeschickt hat, so daß niemand
von den zahlreichen Hausbewohnern die drei abgefeuerten Schüsse vernommen hat.
Gegen Grupen haben sich noch verschiedene
andere Verdachtsmomente ergeben. Ein Fund, der bei der Hausuntersuchung gemacht
wurde, schloß indessen den Ring der Verdachtsgründe, so daß zu seiner
sofortigen Verhaftung geschritten wurde. Man fand nämlich im Zimmer der
Großmutter, Frau Eckhardt, unter anderem belastendem Material eine Flasche
Kognak, die ihr von ihrem Schwiegersohn Grupen geschenkt worden war, deren
Inhalt aber, wie festgestellt wurde, vergiftet war. Es ist also klar, auf
welcher Linie sich das Verbrechen des Grupen, wenn man ihn für den Schuldigen
an der Ermordung der jungen Gutsherrin hält, bewegt hat. Auch die alte Frau
war, wenn Dorothea und deren Cousine aus dem Wege geräumt war, eine Erbin, und
zwar die zuständige, die beseitigt werden mußte, dann erst hatte Grupen Anrecht
darauf, als Erbe des großen Besitzes in Frage zu kommen.
Sonnabend, 19. Februar 1921 - „Neuer
Görlitzer Anzeiger“
Lähn, 18. Febr.
Zu dem
Doppelmord in Kleppelsdorf
ist mitzuteilen, daß der Verhaftete Peter
Grupen in das Gefängnis nach Hirschberg überführt worden ist. Vor dem Bahnhofe
hatten sich Hunderte von Menschen angesammelt, die sehr erregt waren und
Drohungen gegen den Internierten ausstießen. Wenn es den begleitenden Beamten
nicht geglückt wäre, ihn schnell im Packwagen unterzubringen, wäre er von der
Menge gelyncht worden.
Sonntag, 20. Februar 1921 - „Neuer Görlitzer
Anzeiger“
Aus der Lausitz und dem Reiche
Die
Tragödie von Kleppelsdorf
Lähn, 19. Februar. In unserem kleinen
Städtchen herrscht seit einigen Tagen größte Aufregung. Noch nie hat diese
friedliche Gegend eine derartig traurige Sensation erlebt, wie sie der Mord an
der Rittergutsbesitzerin Dorothea Rohrbeck darstellt. Das junge Mädchen war in
der ganzen Gegend, besonders aber in Lähn, sehr bekannt und beliebt. Sie war
frisch, lebenslustig und sehr hübsch und pflegte viele Arme in Lähn persönlich
aufzusuchen, um ihnen ihre kleinen Spenden zu überbringen. Mit Rat und Hilfe
und auch mit Geldunterstützung war sie immer bei der Hand, wenn es irgendwo an
etwas fehlte. Sie verkehrte auf den wenigen umliegenden Gütern auf Waltersdorf
und bei den Besitzern der Burgruine Lähn, und die Schüler des Pädagogiums Lähn
waren allesamt in das schöne Mädchen verliebt.
Die Hirschberger Staatsanwaltschaft, die die
Untersuchung des geheimnisvollen Doppelmordes durchführt, ist auf der Suche
nach dem bisher verschwundenen Vormund der erschossenen Rittergutsbesitzerin
Dorothea Rohrbeck. Der Mann, dessen Name zunächst noch von der Behörde
geheimgehalten wird, soll sich auf einem Gut in der Nähe Berlins aufhalten.
Briefe, die man bei dem verdächtigen Architekten Peter Grupen aus Oldenbüttel
vorfand, belasten auch den Vormund sehr. Besonderes Augenmerk richtet man jetzt
auch auf die angeblich nach Amerika ausgerückte Ehefrau Grupen, die verwitwete
Frau Schade, die Mutter der ermordeten Ursula Schade. Es ist nicht ausgeschlossen,
daß Grupen auch seine Frau auf irgendeine Weise zu beseitigen oder zu entfernen
versucht hat.
Am Freitag wurde der Architekt noch einmal
einem Kreuzverhör unterzogen. Das Berliner Polizeipräsidium trägt sich mit dem
Plan, einen Kommissar zur Unterstützung der Lähner Untersuchungskommission an
den Tatort zu entsenden.
Von unserem Berichterstatter werden noch
folgende Einzelheiten gemeldet:
Hirschberg, 19. Februar. Aus Lähn wird
folgendes berichtet: Am Donnerstagnachmittag fand die Sezierung der Leichen der
beiden jungen Mädchen durch zwei Kreisärzte im Beisein einer Gerichtskommission
statt. Sie ergab, daß die Rohrbeck durch einen Schuß von der Seite durch den
Hals in den Kopf getötet worden ist. Ein zweiter Schuß saß in der Hüfte. Bei
der kleinen Schade war der Schuß über dem rechten Auge in den Kopf gedrungen.
Die Leiche der Rohrbeck ist freigegeben, die der Schade noch nicht. Die
Beerdigung der Rohrbeck findet heute (Sonnabend) in Kleppelsdorf statt. Eine
Überraschung ergab die Sezierung noch, und zwar die, daß sich herausstellte,
daß die bekanntlich erst 12 Jahre alte Ursula Schade schon einmal einer
Quecksilberkur unterworfen gewesen ist. Wie stark die Erregung unter der
Bevölkerung über die Tat ist, zeigt die Tatsache, daß, als am Donnerstagabend
in Lähn ein Wagen mit den Ärzten nach dem Bahnhofe fuhr, er von einer erregten
Menschenmenge angehalten wurde, da man glaubte, daß sich in dem Wagen die
Großmutter der beiden jungen Mädchen befände, gegen die sich auch eine starke
Mißstimmung richtet. Über die Tat selbst ist bis jetzt bekannt, daß die
Schüsse, durch die die beiden jungen Mädchen getötet wurden, aus dem Revolver
des verhafteten Onkels der Rohrbeck, des 26 Jahre alten Peter Grupen aus
Oldenbüttel bei Itzehoe, stammen. Die in Berlin bereits aufgestellte
Behauptung, die 12 Jahre alte Ursula Schade habe unter hypnotischem Zwange des
Peter Grupen erst die Rohrbeck und dann sich selbst erschossen, scheint sich
nicht zu bestätigen. Man nimmt vielmehr jetzt an, daß das junge Mädchen wohl
den Brief an ihre Großmutter unter hypnotischem Zwange geschrieben hat, daß
aber die Tat von Grupen selbst ausgeführt worden ist. Eine Haussuchung in
seiner Wohnung in Oldenbüttel hat weiter Material gegen ihn zu Tage gefördert.
Schwer belastet wird, wie schon kurz berichtet, auch der Vormund der beiden
jungen Mädchen, der verschwunden ist. Dagegen ist das Gerücht, daß der Gegenvormund,
Gutsdirektor Bauer, irgendwie in die Angelegenheit verwickelt sein soll,
unrichtig. Bauer ist an der ganzen Sache unbeteiligt. Ein Geheimnis, wie über
manches in dieser Angelegenheit, schwebt auch über dem Schicksal der zweiten
Frau des Grupen, der Witwe des Berliner Apothekersohnes Schade. Es besteht die
dringende Vermutung, daß die Frau sich gar nicht in Amerika befindet, sondern
in irgendeinem Sanatorium.
Dienstag, 22. Februar 1921 - „Neuer Görlitzer
Anzeiger“
Aus der Lausitz und dem Reiche
Hirschberg, 21. Februar
Zum
Doppelmord in Kleppelsdorf
Am Sonnabendnachmittag fand die Beerdigung der
von der Staatsanwaltschaft freigegebenen Leiche der kleinen Schade statt. Bei
der Trauerfeier im Schlosse hielt der Superintendent Buschbeck (Lähn) eine
kurze, ergreifende Ansprache. Dann wurde die Leiche durch das Städtchen Lähn
nach dem evangelischen Friedhof von Lähn gefahren, wo nach Gebet des
Geistlichen und Gesang der Schulkinder die Beisetzung erfolgte. An der
Beerdigung nahmen u. a. die Großmutter der Ermordeten, Frau Apotheker Schade
(Berlin), der Bruder des verstorbenen Gutsbesitzers Rohrbeck, der das
Jagdschloß St. Hubertus bei Zielenzig besitzt, und der Vormund der ermordeten
Rohrbeck, der Hauptmann Vielhack (Charlottenburg) teil. Entgegen einer früheren
Nachricht Berliner Blätter muß festgestellt werden, daß Vielhack mit der Tat in
gar keiner Beziehung steht und auch nicht verschwunden ist. Dagegen besteht in
der Bevölkerung von Lähn und Umgegend eine starke Erregung gegen den
Gegenvormund der ermordeten Gutsherrin, den Güterdirektor Bauer, der das
Rittergut Kleppelsdorf verwaltete und mit auf dem Schloß wohnte. Zwar steht
auch er der Tat völlig fern, aber man erhebt gegen ihn den Vorwurf, daß er die
Gutsherrin sehr kurz gehalten hat, so daß diese nur sehr wenig von ihrem
Reichtum hatte. - Nach der Beerdigung der kleinen Schade war die Besichtigung
der im Schloß aufgebahrten Leiche der jungen Gutsherrin gestattet. Das
Gutspersonal und die Bevölkerung von Kleppelsdorf und Lähn kamen sehr
zahlreich, um von der Toten, die wegen ihres frischen, fröhlichen Wesens und
ihrer oft geübten Wohltätigkeit sehr beliebt war, Abschied zu nehmen. Still und
friedlich, aber um Jahre gealtert, waren die schönen Gesichtszüge, wohl ein
Beweis, daß die Verstorbene plötzlich und ohne Schmerzen vom Tode überrascht
worden ist. Am Montagnachmittag 3 ½ Uhr findet die Beerdigung statt. Die Untersuchung
gegen Grupen wird eifrig fortgesetzt. Es erscheint sicher, daß er sich an der
ermordeten 12jährigen Schade auch in sittlicher Weise vergangen und das Kind
angesteckt hat, wie es bei der Sezierung festgestellt wurde. Der Behörde wäre
es von größtem Werte, etwas über den Verbleib der Frau Grupen, verwitweten
Schade, zu erfahren. Die Angabe des Grupen, seine Frau habe ihn und ihre aus
erster Ehe stammenden Kinder verlassen und sei nach Amerika gegangen, erscheint
sehr zweifelhaft. Anscheinend ist Grupen eine Verbrechernatur der allerschlimmsten
Art. Zurzeit werden auch Versuche nach wissenschaftlicher Methode, wegen der
Anwendung der Hypnose usw. angestellt. Grupen hat neben seinen Stiefkindern
auch ein Kindermädchen mit auf Schloß Kleppelsdorf gebracht, das seine Geliebte
war. Das Mädchen kann oder will aber über die Tat keine erheblichen
Mitteilungen machen. Grupen ist, wie nochmals festgestellt sei, nicht 41,
sondern 26 Jahre alt. Er war im Kriege Offizier und hat einen Arm verloren.
Mittwoch, 23. Februar 1921 - „Neuer Görlitzer
Anzeiger“
Aus der Lausitz und dem Reiche
Lähn, 22. Februar
Zu einer großen Trauerkundgebung gestaltete
sich die gestrige Beerdigung der durch Mörderhand so jäh aus dem Leben
gerissenen Dorothea Rohrbeck auf Schloß Kleppelsdorf. Tausende von Menschen
hatten sich eingefunden, um die Verewigte zur letzten Ruhestätte zu begleiten.
Um 3 ¼ Uhr Nachmittag erfolgte die Einsegnung der aufgebahrten Leiche im
Schlosse, nach vorangegangenem ernsten Gesange des evangelischen Kirchenchores
und stimmungsvollen Harmoniumklängen. Mit einer kurzen, eindrucksvollen
Ansprache des Herrn Superintendenten Buschbeck endete die Feier im Hause,
worauf sich der fast unübersehbare Leichenzug unter Choralmusik nach dem
Friedhof in Lähn bewegte. Hier hielt Herr Superintendent Buschbeck eine warm
empfundene und zu Herzen gehende Trauerrede. Mit einigen Lieblingsliedern der
Verstorbenen endete die ernste Feier. Die Beerdigung verlief völlig ruhig und
der verstärkte polizeiliche Schutz hatte keine Veranlassung, irgendwie in
Aktion zu treten.
Sonntag, 27. Februar 1921 - „Neuer Görlitzer
Anzeiger“
Das
neue Verbrechen in Lähn
Die Beraubung der Leiche der ermordeten
Schloßherrin
Wir haben bereits an anderer Stelle (Aus der
Lausiz und dem Reiche) über das neue Verbrechen in Lähn, wo der Sarg der
ermordeten Schloßherrin Dorothea Rohrbeck aufgebrochen und die Leiche beraubt
wurde, berichtet. Hierzu werden uns von unserem Lähner Berichterstatter noch
folgende Einzelheiten mitgeteilt:
Lähn, 26. Februar. Selbst im Grabe kann man
der ermordeten Schloßherrin noch keine Ruhe gönnen. In der Nacht zum Freitag
ist das Grab geöffnet worden. Die Täter holten aus dem verschlossenen Bahrhause
auf dem anstoßenden alten Friedhofe, das sie wahrscheinlich mittels
Nachschlüssel öffneten, Hacken und Schaufeln und beseitigten den Grabhügel am
Kopfende bis auf den Sargdeckel. Dieser wurde zertrümmert. als ein Steinmetz
aus Hußdorf, der den Auftrag hatte, eine Sandstein-Einfassung um das Grab
herzustellen, am Freitag früh zum Ausmessen des Grabes kam, bemerkte er die
Öffnung. Er vermutete eine angeordnete Ausgrabung und meldete dies der
Totengräberin. Da diese hiervon nichts wusste, machte sie hiervon dem
Kirchkassenrendenten Sauer Mitteilung. Inzwischen gelangte diese Nachricht auch
an das Amtsgericht, worauf Amtsgerichtsrat Thomas sich mit Polizeiorganen zum
Grabe begaben. Das Kruzifix vom Sargdeckel lag zerschmettert beim Grabe. Der
Sargdeckel wies eine größere Öffnung auf, die mit einem Kissen zugedeckt war.
Auf den freigelegten Teil des Sarges war etwas Erde gestreut. Der Kirchhof
wurde abgeschlossen und bewacht, während mit einem Auto ein Spürhund auf
Greiffenberg herbeigeholt wurde. Gegen 2 Uhr nachmittags traf der Staatsanwalt
mit dem Untersuchungsrichter und einem Kriminalbeamten aus Hirschberg am
Tatorte ein. Nach Besichtigung der Grabstelle wurde der Friedhof durch den
Spürhund abgesucht. Trotz der Absperrung des Friedhofes am Vormittag waren
schon zahlreiche Personen auf der Straße und in den Friedhof gegangen, so daß
das Auffinden der Spur sehr erschwert war. Trotzdem wurden durch den Hund
verschiedene Stellen besonders markiert, und noch festgestellt, daß auch die
Seilersche Gruft geöffnet worden war. Inzwischen wurde der Sarg der Rohrbeck
vollständig freigelegt, und man bemerkte, daß der Sargdeckel am Kopfende
eingeschlagen worden war. Der Leiche war das seidene Kleid ausgezogen, und
dieses, nebst Schärpe, sowie die Schuhe, ein seidenes Kissen, ferner die
Spitzen von der Unterwäsche abgetrennt und geraubt worden. Nachdem die Leiche
frisch bekleidet, wurde die Öffnung des Sarges wieder geschlossen und dieser
zum zweiten Male der Erde übergeben. Nachts gegen 3 Uhr sollen von Personen
dumpfe Schläge vernommen worden sein. Der Täter hatte mit kleinen Holzstückchen
die Sargöffnung überdeckt und darauf das eine Kissen gelegt. Beim weiteren
Zuschütten des Grabes sind die Täter wahrscheinlich gestört worden.
(Der Vorfall der Leichenberaubung in Lähn
erinnert recht lebhaft an jenes scheußliche Verbrechen, das im Sommer auf dem
Görlitzer Friedhofe verübt wurde. Auch hier in Görlitz wurde nachts das Grab
eines jungen Mädchens geöffnet und die Leiche beraubt. Dieses Verbrechen ist
bis heute noch unaufgeklärt geblieben.)
27.02.1921
- Rubrik „Aus der Lausiz und dem Reiche“ gibt es auf der Verfilmung der SBB
Westhafenspeicher nicht!
Sonnabend, 5. März 1921 - „Neuer Görlitzer
Anzeiger“
Aus der Lausitz und dem Reiche
Lähn, 4. März
Die
Tragödie von Kleppelsdorf
Trotz eifrigster Tätigkeit der Staatsanwaltschaft
in Hirschberg und der Polizeibehörden ist es noch nicht gelungen, das Dunkel,
das über der Tragödie von Schloß Kleppelsdorf lastet, etwas zu erhellen. Einen
sehr wichtigen Punkt in der noch schwachen Kette der Beweisführung, die sich in
der Hauptsache gegen den in Haft befindlichen Architekten Grupen richtet,
bildet das eigenartige Verschwinden der Frau Gertrud Grupen. Durch
Zeugenvernehmungen konnte einwandfrei festgestellt werden, daß man es bei Frau
Grupen mit einer sehr exzentrisch veranlagten Persönlichkeit zu tun hat. Die
Dame ist die Tochter eines Direktors Eckert aus Tempelhof bei Berlin und
heiratete in jungen Jahren den Apothekenbesitzer Schade aus Perleberg. Dieser,
auch noch ein junger Mann, verunglückte auf eigenartige Weise tödlich bei einem
Jagdunglück. Der Ehe entstammen die beiden Töchter Ursula und Irma. Bald nach
dem Tode des Apothekers verlobte sich Frau Schade mit einem Tierarzt Reske aus
Holstein. Reske starb aber noch vor der Hochzeit, und Frau Schade lernte jetzt
in Hamburg den Architekten Peter Grupen kennen, der dort eine Villa besaß. Auch
hier kam das Verlöbnis sehr schnell zustande, und nach der Eheschließung
siedelte das Paar nach Itzehoe über. Hier setzt nun die Verwicklung ein. Um die
Weihnachtszeit 1920 begab sich Frau Grupen mit ihren Kindern nach Kleppelsdorf
zu ihren Verwandten, der jetzigen ermordeten Gutsbesitzerin Dorothea Rohrbeck.
Dort ist sie auch eingetroffen, bevor der Ehemann nachfolgt, aber auch von dort
verschwunden. Wenn Grupen behauptet, seine Frau sei bereits aus Itzehoe
verschwunden, so dürfte die Angabe unzutreffend sein. In Itzehoe ist zwar ein
Brief der Frau Grupen gefunden worden, der inhaltlich besagt, daß sie nach
Amerika auswandere. Dieser Brief dürfte aber gefälscht sein, denn ein großer
gepackter Reisekoffer ist in der Wohnung in Itzehoe stehen geblieben. Frau
Grupen hat lediglich einen Geldbetrag von etwa 70 000 Mark mitgenommen. Es
klaffen aber zwischen der Darstellung des Verhafteten und den bisherigen
Ermittlungen noch große Lücken, die noch einer genauen Aufklärung bedürfen.
Auch die Hamburger Polizei hat sich mit der Angelegenheit befaßt. Sie hat
festgestellt, daß in Hamburg, von wo aus Frau Grupen die Amerikafahrt angeblich
antreten wollte, kein Reisepaß ausgestellt worden ist.
Mittwoch, 16. Februar 1921, „Berliner
Morgenpost“, S. 1
Doppelmord
auf einem schlesischen Schloß.
Geheimnisvoller Tod der sechzehnjährigen
Schloßherrin. -
Ein Berliner Kaufmann unter Mordverdacht
verhaftet.
Hirschberg, 15. Februar.
Ein bisher noch nicht ganz aufgeklärtes,
rätselhaftes Verbrechen hat sich auf dem Schlosse Kleppelsdorf bei Lähn im
Riesengebirge ereignet. Dort wurde die Besitzerin des Rittergutes, die sechzehn
Jahre alte Dorothea R o h r b e c k
, kurz nachdem sie von einer Fahrt nach
Hirschberg (Anmerkung: aus Lähn)
zurückgekehrt war, in ihrem Zimmer tot aufgefunden. Sie war durch mehrere
Schüsse in Hals und Brust getötet worden. Neben ihr lag mit einer Schußwunde
über dem rechten Auge ihre zwölfjährige Cousine, Ursula S c h a d e
aus Berlin, die vor einiger Zeit mit ihrer neunjährigen Schwester nach
Kleppelsdorf zu Besuch gekommen war. Sie starb zwei Stunden nach Entdeckung der
Tat, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. In ihrer Tasche fand man einen
Brief na ihre Großmutter in Berlin, in dem sie mitteilt, daß sie zuerst ihre
Cousine und dann sich selbst erschießen werde. Die Tat des Kindes schien völlig
rätselhaft, und die aus Hirschberg herbeigekommene Gerichtskommission
verhaftete noch in der Nacht den ebenfalls auf dem Schlosse zu Besuch weilenden
Stiefvater der beiden Schwestern Schade und Onkel des Fräuleins Rohrbeck, den
angeblichen Kaufmann G r u p e , nach einer anderen Meldung G r u p e r
aus Berlin, unter dem Verdachte des Mordes oder zumindest der Mittäterschaft.
Die ermordete sechzehnjährige
Schloßbesitzerin Dorothea Rohrbeck war die Tochter eines Grundstückspekulanten
in Berlin-Tempelhof, der beim Ausbau der Tempelhofer Territorien zum Millionär
geworden war und sich schon vor dreißig Jahren die Herrschaft Kleppelsdorf und
noch zwei andere Rittergüter in Schlesien gekauft hatte. Er ist vor wenigen
Jahren gestorben, auch seine Frau lebt nicht mehr. Dorothea Rohrbeck, die
einzige Tochter des Ehepaares, erbte den riesigen Besitz. Sie hielt sich mit
einer Gesellschafterin und ziemlich großem Dienstpersonal auf dem Schlosse
Kleppelsdorf auf. Ueber ihre Beziehungen zu ihren Berliner Verwandten ist
bisher noch nichts bekannt, auch über die Herkunft und die Persönlichkeit des
verhafteten Onkels Gruppe werden zurzeit noch Erhebungen gemacht. So viel bis
jetzt verlautet, soll seine erste Frau auf einem Ausfluge auf bisher nicht
bekannte Weise verunglückt und gestorben sein. Seine zweite Frau, die Mutter
der beiden Mädchen, die auf Schloß Kleppelsdorf bei ihrer weilten, soll nicht
in Berlin, sondern in Amerika leben. Die Mädchen haben, wie es heißt, bei ihrer
Großmutter in Berlin gelebt. Ueber den Gang der Untersuchungen wird vorläufig
noch Stillschweigen bewahrt.
Donnerstag, 17. Februar 1921, „Berliner
Morgenpost“, S. 1-2
Die
Tragödie auf Schloß Kleppelsdorf
Häufung der Verdachtsgründe gegen Grupen. -
Hypnose und Telepathie im Dienste des
Verbrechens.
- Von unserem nach dem Tatort entsandten
Sonderberichterstatter. -
Lähn in Schlesien, 16. Februar.
Die geheimnisvollen Vorgänge auf Schloß
Kleppelsdorf, die den Tod der sechzehnjährigen Schloßbesitzerin Dorothea R o h r b e c k und ihrer 12 Jahre alten Base Ursula S c h a d e
aus Berlin zur Folge hatten, sind noch nicht völlig aufgeklärt. Doch
beweist die Verhaftung des einundvierzig Jahre alten Architekten Peter G r u p e n
aus Oldenbüttel bei Itzehoe, daß man in ihm, der der Onkel der
erschossenen Dorothea Rohrbeck und der Stiefvater der Ursula Schade war, wen
die Gerichtsbehörden, die die Untersuchung führen, als den Schuldigen in diesem
Drama betrachten. Zwar leugnet Architekt Grupen jede Schuld, aber eine Reihe
von auffallenden und überzeugenden Tatsachen läßt es nahezu sicher erscheinen,
daß Grupen seit zwei Jahren schon das Ziel verfolgte, alle Erben der
Rohrbeckschen Güter zu beseitigen, um sich selbst schließlich in deren Besitz
zu setzen.
Schloß Kleppelsdorf liegt in nächster Nähe
des Städtchens Lähn am Bober, 17 Kilometer von Hirschberg entfernt. Es ist ein
villenartiges zweistöckiges Herrenhaus, auf einer Seite von Wirtschaftsgebäuden
und Bauernhäuschen, auf der anderen Seite von einem großen Park umgeben, und
liegt völlig abseits vom Verkehr. Das Schloß und das dazu gehörige Rittergut
gehört seit Jahrzehnten der Familie R o
h r b e c k , die außerdem noch ein Gut
in Gieshübel und eines in Kuttenberg besaß. In diesem Schloß wohnte das sechzehnjährige
Fräulein Dorothea Rohrbeck. Der Vater war erst vor zwei Jahren gestorben (Anmerkung: am 23.10.1914), ihre Mutter,
eine geborene Eckhart aus Berlin, hatte schon bei der Geburt der einzigen
Tochter das Leben eingebüßt. So war Dorothea Rohrbeck Alleinerbin des gesamten
beweglichen und unbeweglichen Vermögens der Rohrbecks geworden. Eine junge Dame
diente ihr als Gesellschafterin. Außerdem gab es natürlich auf dem großen Gute
zahlreiches Dienstpersonal. Um die Verwaltung des Gutes selbst brauchte sich
die Erbin nicht zu kümmern, sie lag in den Händen eines alten, schon vom Vater
her bewährten Direktors.
Die Einsamkeit der jungen Schloßherrin wurde
vor etwa acht Tagen durch den Besuch ihrer Verwandten unterbrochen. Ihre beiden
Cousinen, die zwölfjährige Ursula S c h
a d e und die neunjährige Irma Schade
waren aus Oldenbüttel mit ihrem Stiefvater, dem Architekten Peter G r u p e n , auf dem Schloß angekommen. In
ihrer Begleitung befand sich auch die alte Frau E c k h a r d t , die Großmutter der beiden Mädchen und
zugleich auch die Großmutter von Dorothea Rohrbeck. Die Großmutter und die
beiden jungen Mädchen Schade hatten seit einiger Zeit bei Grupen in Oldenbüttel
Aufenthalt genommen, obwohl ihre Mutter, aus deren erster Ehe mit dem Berliner
Apothekersohn Schade in der Großgörschenstraße die Mädchen stammten. (…) ihren
Mann, Peter Grupen, schon vor längerer Zeit verlassen hatte und nach Amerika
gegangen war. Es ist auffallend, daß Grupen, dem es gar nicht gut gegangen zu
sein scheint, und der sich nur mit großer Mühe aus dunklen Schiebergeschäften
seinen Lebensunterhalt verdiente, ohne irgend dazu verpflichtet zu sein, die
Last der Erhaltung der beiden Stieftöchter und der Großmutter auf sich geladen
hat. Es ist kaum anders zu erklären, als dadurch, daß die jungen Mädchen die
nächsten Erbinnen der Schloßbesitzerin von Kleppelsdorf waren und Grupen dadurch
irgendwie hoffte, in den Besitz des großen Erbes zu gelangen. Zunächst scheint
er es dadurch versucht zu haben, daß er die sechzehnjährige Dorothea zur Frau
gewinnen sollte. Aus Briefen, die man bei ihr gefunden hat, ergab sich, daß er
sie mit Heiratsanträgen verfolgt hat, aber stets abgewiesen wurde, was weiter
nicht wundern kann, da Grupen um vieles älter war. Uebrigens hat er im Kriege
einen Arm verloren. Dorothea Rohrbeck hat diese Abweisung mit dem Tode gebüßt.
Wie es jedoch zu der Bluttat gekommen ist, bedarf noch immer der völligen
Aufklärung.
Am Tage des Mordes war Dorothea, wie immer um
12 Uhr mittags zur Post gegangen, um dort Briefe abzuholen. Auf dem Heimwege
hat sich ihr die jüngere Cousine Ursula Schade angeschlossen und ist mit ihr in
den Vorraum des Eßzimmers gegangen. Dort fand man kurz darauf Dorothea tot und
Ursula Schade sterbend auf dem Fußboden liegen. Während zunächst von der
Untersuchungsbehörde angenommen worden war, daß Grupen den beiden Kindern in
dem Zimmer aufgelauert und beide erschossen habe, neigt man jetzt zu der
Annahme, daß tatsächlich Ursula Schade ihre Cousine Dorothea und dann sich
selbst erschossen hat. Nur nimmt man an, daß Ursula Schade auf keinen Fall aus
eigenem Entschluß die furchtbare Tat begangen haben kann, sondern daß sie unter
einem von ihrem Stiefvater ausgeübten Zwange, wie man annimmt, im Zustande der
Hypnose, gehandelt hat. Wie sollte ein zwölf Jahre altes kleines Mädchen ohne
die geringste Veranlassung und bei klarem Bewußtsein mit staunenswerter
Sicherheit auf zwölf Schritte Entfernung zwei tödlich treffende Schüsse auf ihr
Gegenüber abgegeben und dann noch mit der gleichen Ruhe und Sicherheit die
Waffe gegen die eigene Schläfe gerichtet haben? Ueberdies ist erwiesen, daß
Ursula ganz kurze Zeit vor dem verhängnisvollen Schuß mit einem
Gutsangestellten über einen in den nächsten Tagen zu unternehmenden Ausflug
geplaudert hatte, wobei sie keinerlei Bewegung besonderer Art verriet. Es sind
denn auch bereits Sachverständige der Hypnose und Telepathie zur Begutachtung
aufgefordert worden. Die Vernehmung der Hausangestellten hat ferner ergeben,
daß Grupen die Bediensteten, die sich in der kritischen Zeit in der nahe dem
Mordzimmer gelegenen Küche befanden, fortgeschickt hat, so daß niemand von den
zahlreichen Hausbewohnern die drei abgefeuerten Schüsse vernommen hat.
Eine außerordentlich schwere Belastung für
Grupen ist der Umstand, daß es s e i
n Revolver war, mit dem die Tat
begangen wurde. Er möchte dem Umstand, daß die Waffe in die Hand seiner
Stieftochter geriet, eine harmlose Erklärung geben. Er erzählt nämlich, er habe
in aller Frühe mit dem Revolver im Park Spatzen geschossen, hatte aber die
Waffe nachher nach Abgabe von drei Schüssen wieder gesichert und sie dann auf
dem Speisezimmertisch niedergelegt. Dort habe er sie vergessen, Ursula müßte
dann wohl den Revolver gefunden und im Scherz auf ihre Kusine Dorothea gezielt
und losgedrückt haben. Als sich die Waffe entlud - so kombiniert Grupen weiter
- und Dorothea tot umgefallen war, müsse das Kind aus Schock über das
angerichtete Unheil und aus Furcht vor Bestrafung sich dann selbst das Leben
genommen haben, nachdem es einen Abschiedsbrief an die Großmutter geschrieben
hatte. Diese sonderbare Erklärung wird schon dadurch widerlegt, daß Ursula ja
zwei Schüsse gegen ihre Kusine abfeuerte und überdies doch keinen Grund hatte,
ihrer Großmutter unter diesen Umständen noch etwas vorzulügen. Die Erklärung
Grupens ist also zweifellos falsch, wenn auch die Motive, aus denen Ursula
gehandelt hat, nicht ganz klar sind.
Ein Fund, der bei der Hausdurchsuchung
gemacht wurde, schloß indessen den Ring der schweren, gegen Grupen vorliegenden
Verdachtsgründe, so daß zu seiner sofortigen Verhaftung geschritten wurde. Man
fand nämlich im Zimmer der Großmutter, Frau Eckhardt, unter unterem belastenden
Material eine Flasche Kognak, die ihr von ihrem Schwiegersohn Grupen geschenkt
worden war, deren Inhalt aber, wie festgestellt wurde, vergiftet war. Es ist
also klar, auf welcher Linie sich das Verbrechen des Grupen, wenn man ihn für
den Schuldigen an der Ermordung der jungen Gutsherrin hält, bewegt hat. Auch
die alte Frau war, wenn Dorothea und deren Kusine aus dem Wege geräumt war,
eine Erbin, und zwar die vorletzte Erbin des Rohrbeckschen Vermögens. Die
Verhaftung erfolgte denn auch unter dem dringenden Verdacht, allen Erben der
Rohrbeckschen Güter und des Rohrbeckschen Vermögens nach dem Leben getrachtet
und an dem Tode der Nichte und der Stieftochter schuld zu haben.
Peter Grupen wurde gestern nach dem
Hirschberger Gefängnis gebracht. Die Untersuchung wird auf Schloß Kleppelsdorf
von dem Hirschberger Staatsanwalt, der dort mit mehreren Kriminalbeamten, dem
Obduktionsarzt und Photographen eingetroffen ist, weitergeführt. Auf dem Wege
von Schloß Kleppelsdorf zum Bahnhof Lähn entging Peter Grupen nur infolge
großer Anstrengungen der Polizeibeamten dem Versuch der Einwohner, ihn zu
lynchen. Die Menge war umso erregter, als die kleine Dorothea Rohrbeck ein
überall beliebtes, bescheidenes, bildhübsches Mädchen war, das auch unter der
armen Bevölkerung in aller Stille viel Wohltätigkeit übte. Ueberall beklagt man
hier das traurige Schicksal der unglücklichen jungen Erbin und Schloßherrin,
die weit und breit in der Gegend die „schöne Dorothea“ genannt war.
Donnerstag, 17. Februar 1921, „Berliner
Morgenpost“, S. 2
Die
Erben der Millionenbauer.
Zum Fall Rohrbeck-Schade.
Die Zusammenhänge des Doppelmordes auf dem
schlesischen Schloß Kleppelsdorf sind augenblicklich noch nicht vollkommen geklärt,
aber das blutige Drama hat durch die Vorgeschichte der Beteiligten starke
Beziehungen zu charakteristischen Erscheinungen der Großberliner Entwicklung,
die den älteren Berlinern und den Kennern der dörflichen Verhältnisse rund um
Berlin in unauslöschlicher Erinnerung sind.
Die Toten sind zwei junge Mädchen, die aus
den Geschlechtern der alten Tempelhofer Millionenbauern stammen, eine R o h r b e c k und eine
S c h a d e . Der Name Rohrbeck
ist in den letzten Jahrzehnten im Kreise Teltow wohl bekannt gewesen, auch in
der Kreisverwaltung war er mehrfach vertreten. Schade gibt es im Teltower
Kreise wie Sand am Meer, teils als Handwerker, teils als Landbesitzer. Der
Vater der ermordeten Dorothea Rohrbeck gehörte nicht eigentlich zu der alten
Bauernaristokratie der Berliner Dörfer, über deren arbeitsame und tüchtige
Würde die Großberliner Ausdehnung nach dem 70er Kriege wie eine unheilbringende
Sturmflut hereinbrach. Rohrbeck war schon ausgesprochener Terrainspekulant und
nicht mehr Bauer. Er gewann an seinen Länderein enorme Summen und legte sie in
Rittergütern an.
Die echten Millionenbauern, zu denen das
Verhängnis und das verlockende Gold zwischen 1870 und 1880 kam, im Tempelhof,
Schöneberg, Steglitz, Zehlendorf und Britz, sowie die Ackerbürger in
Charlottenburg hatten sich zunächst zäh gegen die Verlockung gewehrt, aber
erlagen ihr doch schließlich sämtlich. Es ist schwer, einen Morgen Land in
harter Arbeit zu beackern, wenn man ihn für 800 000 Mark und mehr verkaufen und
dafür eine Rente beziehen kann, die das Zehnfache und Zwanzigfache des
landwirtschaftlichen Ertrages ausmacht. Zum Segen ist das bare Geld nur wenigen
geworden. Klara Biebig schildert in ihrem Roman „Die vor den Toren“ die
Geschichte mehrerer Tempelhofer Familien, die sich auf die neuen Verhältnisse
nicht mehr umzustellen verstanden und bis auf wenige generationsweise zugrunde
gingen. Mit Recht weist sie auf die Inzucht hin, die schon vor dem Goldansturm
die Bauernrasse untergraben hatte. Spekulanten und Schwindler aller Art haben
dann vielfach leichtes Spiel gehabt, indem sie den Ahnungslosen den
schimmernden Glanz der städtischen „Kultur“ vormachten, sich durch Einheirat
und Handelsgeschäfte in das unbewachte Nest zu setzen. Wir alten Berliner
kennen noch manche Familien, von der der Großvater mit dem Kastenwagen nach
Berlin auf den Gendarmenmarkt oder Hermannplatz fuhr, um dort seine ländlichen
Erzeugnisse zu verkaufen, der Vater in elegantem Coupé durch die Straßen sauste
und der Enkelsohn schon wieder mit Holzpantinen als besitzloser Arbeitsmann
umherging.
Der Grund des schnellen Schicksalwechsels war
in allen Fällen die völlige Unerfahrenheit der alten Bauern, die keine Ahnung
davon hatten, daß die Berührung mit dem großstädtischen Lebenskreise für jeden
gefährlich ist, der seine ganze Bildung nicht vollständig auf diesen gänzlich
anderen Lebenskreis einzustellen vermag.
Die schnell reich Gewordenen ließen ihre
Kinder nicht lernen, und die Unwissenheit ist in solchen Fällen die sicherste
Gewähr schnellsten Zusammenbruchs. Diese Lebenstragik fand nicht nur in den
nahegelegenen Millionendörfern statt, sondern auch in den entfernteren Dörfern
der beiden Landkreise Teltow und Niederbarnim. Auch eine junge Industrie, die
nach 1870 steil aufschoß, die Ziegelindustrie in Teltow, wurde davon betroffen.
Die Alten, die die Industrie begründet hatten, hielten sich wacker, ließen aber
die nächste Generation nichts lernen und glaubten, alles getan zu haben, wenn
sie ihren Kindern reichlich Geld vermachten. Die Enkel sind heute zum großen
Teil schon wieder arme Leute und unfähig zu irgendeinem Aufstieg, da sie nichts
gelernt haben. Daß aus diesen Millionenbauern-Familien tüchtige und kulturell
wertvolle Menschen hervorgegangen sind, ist natürlich vereinzelt doch vorgekommen,
aber nur sehr vereinzelt.
Alles in allem genommen ist aus dem
Zusammenstoß des Großstädtischen mit dem Bäuerlichen mehr Unglück als Glück
entstanden. Das Großstadtwesen ist nur für den ungefährlich, der hinter dem
nichtigen äußeren Anschein den kulturell wertvollen Kern erkennt, und dessen
waren die meisten Sprösslinge der Bauernfamilien nicht fähig. Dazu kam, wie
schon gesagt, als Hemmnis die Inzucht, so daß Armut, Geisteskrankheiten und
Verbrechen nur zu oft hinter dem Goldstrom herschwammen, der sich in die
Umgebung der Großstädte ergoß.
Kulturverständige Volkswirte haben diesen
Zusammenhang längst erkannt, andere werden durch Erlebnisse klüger. Bis zu
einer gewissen Grenze wird auch die Vorgeschichte des Kleppelsdorfer Dramas die
Erkenntnis dieses Zusammenhangs fördern. A. B.
Freitag, 18. Februar 1921, „Berliner
Morgenpost“
Die
Tragödie von Kleppelsdorf.
Telegr. unseres Korrespondenten.
Lähn in Schlesien, 17. Februar.
Die Hirschberger Staatsanwaltschaft, die die
Untersuchung des geheimnisvollen Doppelmordes auf Schloß Kleppelsdorf mit einem
Heer von Kriminalbeamten durchführt, ist auf der Suche nach dem bisher
verschwundenen Vormund der erschossenen Rittergutsbesitzerin Dorothea Rohrbeck.
Der Mann, dessen Name zunächst noch von der Behörde geheimgehalten wird, soll
sich auf einem Gut in der Nähe Berlins aufhalten. Briefe, die man bei dem
verdächtigen Architekten Peter Grupen aus Oldenbüttel vorfand, belasten auch
den Vormund sehr.
Besonderes Augenmerk richtet man jetzt auf
die angeblich nach Amerika ausgerückte Ehefrau Grupen, die verwitwete Frau
Schade, die Mutter der ermordeten Ursula Schade. Es ist nicht ausgeschlossen,
daß Grupen auch seine Frau auf irgendeine Weise zu beseitigen oder zu entfernen
versucht hat.
Am heutigen Freitag wird der Architekt noch
einmal einem Kreuzverhör unterzogen. Da Grupen aber in seinen Angaben ungeheuer
vorsichtig ist, besteht wenig Aussicht, ihn zu einem Geständnis zu bewegen. Das
Berliner Polizeipräsidium trägt sich mit dem Plan, einen Kommissar zur
Unterstützung der Lähner Untersuchungskommission an den Tatort zu entsenden.
Am Donnerstag fand auf dem Lähner Friedhof
die Sektion der beiden Leichen statt. Es konnte keine Klarheit darüber erzielt
werden, ob das zwölfjährige Mädchen die drei Schüsse selbst abgegeben hat. Da
sich aber der aufgefundene Abschiedsbrief der Ursula Schade als gefälscht und
als von Peter Grupen geschrieben herausgestellt hat, ist kein Zweifel an der
Hauptschuld des Architekten. Die noch mit der überlebenden sieben Jahre alten
Irma zusammen auf dem Schloß wohnende Großmutter Eckard ist jetzt die Erbin der
drei Güter und des Millionen-Vermögens der Rohrbecks geworden. Die alte Frau,
die über den Tod ihrer beiden Enkelkinder völlig zusammengebrochen ist,
beabsichtigt aber die Grundstücke so schnell wie möglich zu verkaufen.
Sonnabend, 19. Februar 1921, „Berliner
Morgenpost“, S. 1-2
Das
Drama von Kleppelsdorf.
Zum Morde auf Schloß Kleppelsdorf wird noch
gemeldet: Die gestern stattgefundene Obduktion der Leichen ergab die
überraschende Feststellung, daß die erst zwölf Jahre alte Ursula S c h a d e schon einmal einer Quecksilberkur
unterworfen worden ist. Die Leiche der Dorothea R o h r b e c k wurde vom Gericht freigegeben und wird
Sonnabend beigesetzt, die Leiche der Schade ist noch beschlagnahmt. Es herrscht
jetzt die Annahme vor, daß nicht, wie zuerst angenommen, die Schade unter
hypnotischem Zwange ihres Stiefvaters zuerst ihre Cousine und dann sich selbst
erschossen hat, sondern daß die Tat von Grupen ausgeführt worden ist, der
vorher alle Dienstboten aus der Nähe des Mordzimmers entfernt hat. Dagegen
dürfte der Brief der Schade, worin sie ihrer Großmutter die Absicht mitteilt,
ihre Cousine und sich dann selbst zu töten, in einem von Grupen herbeigeführten
hypnotischen Zustande geschrieben worden sein. Ob die bei der Großmutter der
Rohrbeck vorgefundene Flasche Kognak vergiftet ist, steht noch nicht fest, da
die chemische Untersuchung noch nicht beendet ist,
Sonntag, 20. Februar 1921, „Berliner
Morgenpost“
Der
Mord auf Schloß Kleppelsdorf.
Zu der Kleppelsdorfer Mordaffäre wird noch
berichtet, daß es ausgeschlossen scheint, daß außer G r u p e n
noch jemand an der Ausführung des Mordes beteiligt war. Die bei der
kleinen Schade, die, wie gestern gemeldet, bereits eine Quecksilberkur
durchgemacht hat, festgestellte Erkrankung ist, wie festgestellt wurde, auf
Grupen zurückzuführen.
Ueber Grupens Vorleben herrscht noch völliges
Dunkel. Sehr eingehend wird nach seiner Frau, die nach seiner Angabe nach
Amerika gegangen sein soll, was aber unwahrscheinlich erscheint, geforscht. Auf
das Schloß brachte Grupen außer seiner Schwiegermutter und den beiden
Stiefkindern noch ein Kindermädchen mit, das, wie ermittelt wurde, sein
Verhältnis ist. Sie kann oder will aber nichts über seine Tat aussagen. Die
Leiche der kleinen Schade wurde bereits beerdigt. Die Beerdigung der ermordeten
Gutsherrin findet am Montag statt.
Sonnabend, 26. Februar 1921 „Berliner
Morgenpost“, S. 1
Leichenraub
in Kleppelsdorf.
Ein
unmenschliches Verbrechen!
Telegr. unseres Korrespondenten.
Breslau, 25. Februar
Der Doppelmord in Kleppelsdorf hat ein
weiteres schweres Verbrechen im Gefolge gehabt. Die Leiche der ermordeten
Dorothea Rohrbeck ist in schändlicher Weise beraubt worden. Als am Freitag
morgen ein Steinmetz auf dem Friedhofe in Lähn erschien, um am Grabe für eine
Stein-Einfassung Maß zu nehmen, fand er die Kränze vom Grabe entfernt. Am
Kopfende sah er einen Schacht, durch den man das Sargkissen erblickte. Es wurde
festgestellt, daß das Kruzifix auf dem Sarge umgestürzt war. Wie weiter
festgestellt wurde, war in das Leichenhaus eingebrochen und Aexte und sonstiges
Handwerkzeug daraus gestohlen worden, das zum Oeffnen des Sarges der Dorothea
Rohrbeck benutzt worden war.
Der Friedhof wurde sofort abgesperrt und
Polizeibeamte aus Hirschberg und Greiffenberg mit Polizeihunden herbeigerufen.
Die Hunde nahmen einige Spuren auf, verloren diese aber später wieder, ohne daß
man zu einem Ergebnis kam.
Das Grab wurde geöffnet und es ergab sich,
daß die Täter, da sie den Deckel des schweren Eisensarges nicht öffnen konnten,
in den Deckel ein Loch gestemmt hatten. Dann hatten sie der Toten das
weißseidene Kleid, in dem sie beerdigt war, und die Schuhe ausgezogen; ferner
entfernten sie vom Unterrock die wertvollen Spitzen, die sie abtrennten, sowie
eine Steppdecke. Die Täter waren auch an andere Gräber gegangen und hatten dort
die Särge geöffnet, aber nichts gestohlen. In Lähn herrscht ungeheure Erregung.
Freitag, 2. Dezember 1921, „Berliner
Morgenpost“ - Erste Beilage
Der
Mord auf Schloß Kleppelsdorf.
Verhandlung vor dem Schwurgericht Hirschberg.
- Doppelmord-Anschlag gegen Peter Grupen. - Ein dunkles Verbrechen.
Eines der seltsamsten, an Rätseln aller Art
überreiches Verbrechen wird in den nächsten Tagen das Schwurgericht der
schlesischen Stadt Hirschberg beschäftigen. Angeklagt ist der 27jährige
Architekt Peter G r u p e n , die 16jährige Besitzerin des Schlosses
Kleppelsdorf, Dörthe R o h r b e c k
, und ihre 13jährige Kusine Ursula S c h a d e , letztere seine eigene Stieftochter, ermordet
zu haben. Ein außerordentlicher Apparat an Zeugen und Sachverständigen ist
aufgeboten, um Peter Grupen der Tat zu überführen. In der ganzen Gegend des
Riesengebirges, wo die 16 Jahre alte Schloßbesitzerin und Millionärin eine sehr
bekannte Persönlichkeit war, sieht man mit außerordentlicher Spannung dem
Prozesse entgegen, der das Dunkel aufklären soll, das über dem Tode der beiden
genannten jungen Mädchen liegt. Dem Sachverhalt, der der Anklage zugrunde
liegt, ist folgendes zu entnehmen:
Am 14. Februar 1921 wurden im Schlosse
Kleppelsdorf die Schloßherrin Dörthe Rohrbeck und ihre Kusine, die 13jährige
Ursula Schade, erschossen aufgefunden. Ursula Schade weilte mit ihrer
Großmutter, Frau Eckert, die zugleich die Großmutter Dörthe Rohrbecks ist, mit
ihrer jüngeren Schwester Irmgard und ihrem Stiefvater Peter Grupen zu Besuch
auf Schloß Kleppelsdorf. An dem genannten Tage vormittags befanden sich
zunächst die drei jungen Mädchen, deren Großmutter, Peter Grupen, die
Erzieherin von Dörthe Rohrbeck, Fräulein Zahn, und die Wirtschafterin Fräulein
Mohr in zwei nebeneinanderliegenden, durch eine geöffnete Tür verbundenen
Zimmern des Schlosses. Die Frauen beschäftigten sich mit Handarbeiten, während
Peter Grupen mit den Kindern Mühle spielte. Dann rief Ursula Schade ihre Kusine
Dörthe aus dem Zimmer. Beide Mädchen waren etwa zwanzig Minuten abwesend, als
das Dienstmädchen zum Essen rief. Die in den beiden Wohnzimmern
zurückgebliebenen Personen begaben sich nach dem Eßzimmer, das im oberen
Stockwerk des Schlosses lag, und gaben dem Dienstmädchen den Auftrag, auch
Dörthe und Ursula zu Tisch zu rufen.
Als sich die Gesellschaft auf dem Wege nach
dem Eßzimmer begab, stürzte ihnen das Dienstmädchen mit der Schreckensnachricht
entgegen, daß die beiden Mädchen „unten im Blute lägen“. Peter Grupen eilte
nach dem Parterrezimmer. Dörthe war, als er das Zimmer betrat, schon tot. Ursula
lebte noch, sie blutete aus einer Kopfwunde. Ein rasch herbeigerufener Arzt
konnte durch eine Kampfereinspritzung den Puls der Bewußtlosen noch ein wenig
beleben, bald darauf aber war auch Ursula gestorben. Neben ihrer Leiche lag ein
Revolver, aus dem zwei Schüsse abgegeben waren. Der Befund ließ zunächst darauf
schließen, daß Ursula zuerst Dörthe und dann sich selbst erschossen habe. Doch
wurde Peter Grupen bald darauf unter der Bezichtigung, die beiden Mädchen
ermordet zu haben, verhaftet, obwohl zunächst alle genannten Personen erklärt
hatten, daß er im Laufe des Vormittags und insbesondere in der Zeit, in der der
Mord begangen sein mußte, das Zimmer nicht verlassen habe. Das Motiv für den
Mord sollte sein, daß durch den Tod von Dörthe Rohrbeck deren Großmutter, die
74 Jahre alte Frau Eckert, Erbin des mehrere Millionen betragenden Vermögens
geworden wäre. Diese alte Frau soll ganz unter dem Einfluß des Angeklagten
stehen, der daher hoffen konnte, selbst in absehbarer Zeit der Erbe des großen
Vermögens zu werden. Wie die Anklage annimmt, soll Peter Grupen zuerst Dörthe
getötet haben und darauf seine eigene Stieftochter Ursula, um die Mitwisserin
des Mordes an Dörthe aus dem Wege zu räumen. Die Anklage behauptet, daß Grupen
mit seiner 13jährigen Stieftochter in blutschänderischer Verbindung gestanden
habe.
Der Angeklagte bestreitet mit größter
Entschiedenheit, die Tat begangen zu haben und gibt der Vermutung Raum, daß
Ursula, die er hysterisch und psychopathisch nennt, zuerst die Kusine und dann sich
selbst erschossen habe. Das exaltierte Mädchen soll dies getan haben, weil
Dörthe mit der von Ursula sehr geliebten Großmutter aus schlechtem Fuße stand,
und die Großmutter sich deshalb sehr grämte. Bei der toten Ursula wurde ein
Brief an die Großmutter gefunden, in dem es heißt: „Du sollst Dich nimmer an
Dörthe ärgern“. Außerdem teilte Ursula in diesem Briefe mit, daß sie den
Revolver aus de, Schreibtisch des Vaters genommen habe. Erwiesen ist, daß der
Angeklagte Grupen diesen Revolver, bevor er einige Tage vor dem Drama in
Kleppelsdorf von seinem in der Nähe von Hamburg gelegenen kleinen Landgut
Ottenbüttel nach Schloß Kleppelsdorf abreiste, gekauft und ihn seinem Bruder,
der in seiner Abwesenheit das Gut verwalten sollte, zum Schutz ausgehändigt
hatte, weil in der letzten Zeit in der Umgegend vielfach Einbrüche vorgekommen
waren. Wie der Bruder angibt, hat er kurze Zeit darauf Ursula bei der Schublade
angetroffen und ihr ausdrücklich verboten, den Revolver anzurühren. Als er dann
aber am Abend nach der Abreise Grupens mit Ursula sich den Revolver holen
wollte, war dieser verschwunden.
Außer mehrfachen Indizien gegen gen
Angeklagten dürfte zur Verstärkung des Verdachtes auch das mysteriöse
Verschwinden der Gattin Grupens, der Mutter Ursulas, im Herbst vorigen Jahres
beigetragen haben. Dieses Verschwinden wird zweifellos auch einen breiten Raum
in den Erörterungen des Prozesses einnehmen. Bei dieser Gelegenheit seien auch
die Familienverhältnisse, die hier in Betracht kommen, dargelegt: Die alte Frau
Eckert hatte zwei Töchter, deren ältere mit dem Rittergutsbesitzer Rohrbeck
verheiratet war. Sie und ihr Gatte sind bereits verstorben und die einzige
Erbin der Rohrbeckschen Eheleute war die 16 Jahre alte Dorothea Rohrbeck. Die
zweite Tochter der Frau Eckert war in erster Ehe mit einem Herrn Schade, einem
Berliner, verheiratet, der dann unter etwas mysteriösen Umständen auf der Jagd
tödlich verunglückte. Aus dieser Ehe entstammen Ursula und deren jüngere
Schwester Irmgard. Die Witwe Schade hat dann in zweiter Ehe den Angeklagten
Grupen geheiratet.
Frau Grupen, verwitwete Schade, selbst
verschwand spurlos im Herbste vorigen Jahres. Sie hat allerdings eine größere
Anzahl von Briefen an Verwandte und Freundinnen zurückgelassen, in denen sie
mitteilte, daß sie nach Amerika gehe, und der Angeklagte selbst behauptete, daß
dies in Gesellschaft eines Schauspielers geschehen sei. Die Vermutung, daß etwa
der Angeklagte selbst diese Briefe und auch den bei Ursula vorgefundenen Brief
an die Großmutter gefälscht habe, hat sich nicht bestätigt. Zum mindesten
erklärten die im Vorverfahren gehörten Schriftsachverständigen, daß die Briefe
nicht von seiner, sondern von der Handschrift der Frau Grupen bezw. Ursulas
herrühren. Es sind auch Sachverständige, darunter Dr. Moll aus Berlin, zur
Prüfung der Frage geladen, ob es denkbar erscheine, daß der Angeklagte die
Schreiberinnen der Briefe durch hypnotischen Einfluß zu deren Anfertigung
bestimmt habe. Ursprünglich war auch die Vermutung aufgestellt worden, daß
Grupen durch Hypnose die 13jährige Ursula veranlaßt habe, erst Dörthe und dann
sich selbst zu erschießen. Die Anklage hat aber diesen Gesichtspunkt fallen
lassen, da sich kein Anhalt dafür ergeben hat, daß der Angeklagte sich jemals
mit hypnotischen Experimenten oder Versuchen befaßt habe.
Zu der Verhandlung sind außer den
sachverständigen Aerzten, die sich insbesondere darüber auszulassen haben
werden, ob die Art der geistigen Verfassung Ursulas eine Möglichkeit des
Selbstmordes zulasse oder ausschließe, auch Sachverständige über den Gebrauch
des Revolvers und etwa 70 Zeugen geladen. Im Laufe der Verhandlungen dürfte das
gesamte Schwurgericht sich nach Schloß Kleppelsdorf zu einem Lokaltermin
begeben.
Peter Grupen ist ein 27jähriger stattlicher
junger Mann, der im Felde den linken Arm verloren hat. Er hatte ursprünglich
das Maurerhandwerk erlernt, war eine Zeitlang Maurerpolier, besuchte aber dann
die Baugewerkschule in Eckernförde. Bei Ausbruch des Krieges trat er in das
Heer ein und wurde 1916, nachdem er durch einen Granatsplitter den linken Arm
verloren hatte, entlassen. Dann war er seine Zeitlang Zeichner auf den
Vulkanwerken in Hamburg, heiratete die verwitwete Frau Schade und zog mit ihr
zunächst nach Itzehoe und erwarb später das Grundstück in Ottenbüttel. Er ist
seit acht Monaten in Haft. Der Prozeß dürfte acht bis zehn Tage dauern.
Den Vorsitz im Prozeß wird
Oberlandesgerichtsrat K r i n k e aus Berlin führen. Die Staatsanwaltschaft
wird durch Staatsanwaltsrat Dr. Reifenrat vertreten. Die Verteidigung haben Justizrat
Dr. Ablaß aus Hirschberg und Justizrat Dr. Mamroth aus Breslau übernommen.
Dienstag, 6. Dezember 1921, „Berliner
Morgenpost“, S. 1-2
Der
Mord aus Schloß Kleppelsdorf.
Verhandlungsbeginn in Hirschberg. - Grupens
Frau spurlos verschwunden. - Verdächtige Reisen nach Kleppelsdorf.
Hirschberg, 5. Dezember.
Von uns. Sonderberichterstatter.
Der erste Tag des großen Hirschberger
Prozesses hat erst einen Teil des breit angelegten Verhörs mit dem Angeklagten P e t e r
G r u p e n gebracht. Noch hat
er allein das Wort, und man muß sagen: er hat es bisher nicht ohne Geschick
gebraucht. Er ist ein äußerst beherrschter Mensch, der sich zweifellos der
Situation, in der er sich befindet, voll bewußt ist.
Der Vorsitzende hat bei diesem Verhör den Weg
eingeschlagen, daß zunächst Klarheit über die Vorbedingungen geschaffen werden
sollen, unter denen Peter Grupen, wenn er den Mord begangen hat, in
Kleppelsdorf zur Tat geschritten wäre. Deshalb nimmt einen breiten Raum das
Verschwinden der F r a u G r u p e n
ein. Obwohl Briefe von der Handschrift der Frau bestehen, in denen sie
von ihren Angehörigen Abschied nimmt, angeblich um nach Amerika zu gehen, sind
doch verschiedene Umstände, unter denen sie ihr Heim verlassen hat, sehr
bedenklich und der Aufklärung bedürftig.
Ein weiteres Moment, das zur Aufklärung der
Tat in Kleppelsdorf dienen soll, ist die Betrachtung der Beziehungen zwischen
Peter Grupen und den Bewohnern in Kleppelsdorf, der jungen D ö r t h e R o h r b e c k und ihrer Erzieherin Fräulein Z a h n ,
mit dieser scheint sich Grupen in letzter Zeit sehr schlecht gestanden
zu haben. Er beschuldigt sie einer besonderen Verschwendungssucht und einer
sehr geringen Eignung zur Erziehung eines jungen Mädchens.
Am Dienstag dürfte die Gegenüberstellung mit
dieser Zeugin, die in dem Prozeß eine große Rolle spielt, erfolgen und man
erwartet heftige Zusammenstöße zwischen ihr und dem Angeklagten. Am Dienstag
wird auch das Verhör Grupens über die letzten Ereignisse in Kleppelsdorf vor
sich gehen.
***
Der Schwurgerichtssaal in Hirschberg, in dem
der Prozeß Grupen stattfindet, ist ein freundlicher, heller Raum, in den hohe
Glasfenster das volle Licht eines sonnigen Wintertages senden. Hell fällt
dieses Licht auf Peter G r u p e n
, den Angeklagten. Ein hochgewachsener,
junger Mann mit blondem Haar, kleinem blonden Schnurrbart und breiten
Schultern. Doch reicht der linke Aermel seines leichten sommerlichen
Touristenanzuges nur bis zum Ellbogen. Grupen hat den Arm im Kriege verloren. Trotzdem
macht seine Gestalt einen besonderen Eindruck gedrungener Kraft. Die gleiche
Stärke ist auch auf dem vollen Gesicht zu lesen, dem es jedoch an Geistigkeit
nicht fehlt. Besonders die Augen, die mit gespannter Aufmerksamkeit allen
einleitenden Vorgängen der Schwurgerichtsverhandlung folgen, haben einen nicht
gewöhnlichen Ausdruck durchdringenden Scharfblicks. Seine Erscheinung hat
nichts von einer ausgesprochenen Sinnlichkeit. Seine Stimme zeigt einen hohen
Tenor von fast weiblicher Klangfarbe. An gewinnenden Formen fehlt es dem
Angeklagten augenscheinlich nicht. Das sieht man schon an der leichten, höflichen
Verbeugung gegen das Publikum, mit dem er den Saal betritt, an der vornehmen
verbindlichen Art, wie er sich mit seinen Verteidigern unterhält.
Der Aufruf der Zeugen dauert eine volle halbe
Stunde. Es sind zahlreiche Aerzte und Sachverständige geladen, darunter
Geheimrat L e s s e r - Breslau, Chemiker J e s e r i c h - Berlin, ferner eine Anzahl waffenkundiger
Sachverständiger. Am Mittwoch wird in Kleppelsdorf der in diesem Prozeß
besonders wichtige Augenscheintermin stattfinden.
Vernehmung
des Angeklagten.
Bei der Vernehmung des Angeklagten kommt
zunächst seine Ehe mit Frau T r u d
e v e r w i t w e t e S c h a d e
zur Sprache.
Vorsitzender: Wie gestaltete sich diese Ehe?
Angeklagter: Wir waren zunächst sehr
glücklich miteinander; doch hatte meine Frau eine unwiderstehliche Neigung zum
Reisen und hatte wenig Interesse für den Haushalt. Auch besaß sie leider die
Gewohnheit, gegen Abend Wein und Likör zu trinken, die sie in dieser Menge
nicht vertrug. In einem dieser Fälle, als meine Frau berauscht war, machte sie
mir Geständnisse über ein Verhältnis, das sie mit einem Herrn Schulz in
Perleberg schon zu Lebzeiten des Herrn Schade, dessen Logenbruder er war, und
auch nach seinem Tode noch gehabt hat.
Vorsitzender: Sie soll sich über den Tod
ihres ersten Gatten, der auf der Jagd verunglückte, geäußert haben, wenigstens
behaupten Sie das.
Angeklagter: Sie machte Aeußerungen, aus denen
ich glaubte schließen zu können, daß dieser Tod kein zufälliger war.
Vorsitzender: Wollen Sie damit sagen, daß
Schade einem Morde zum Opfer gefallen ist?
Angeklagter: Ich möchte das nicht gerade
sagen. Aber die Aeußerungen meiner Frau ließen mich Aehnliches vermuten. Auch
dies trübte die Harmonie, die zwischen uns geherrscht hatte.
Vorsitzender: Sie sind dann von I t z e h o e nach Ottenbüttel gezogen. Auf Ihre
Veranlassung?
Angeklagter: Wir zogen nach O t t e n b ü t t e l , weil das Wohnungsamt in Itzehoe unser Haus
größtenteils beschlagnahmt hatte.
Vorsitzender: Im Juli traf D o r o t h e a R o h r b e c k mit ihrer Erzieherin Fräulein Zahn bei Ihnen
ein. Was war der Zweck dieser Reise?
Angeklagter: Als wir geheiratet hatten, war
aus Kleppelsdorf von Dörthe eine sehr kühle Nachricht gekommen. Wir hatten auch
sonst mit Kleppelsdorf nicht in Verbindung gestanden. Dörthe Rohrbeck hat sich
aus sich selbst heraus zum Besuch bei uns angemeldet. Die Großmutter war
anfangs dagegen, doch ließ sie es geschehen.
Vorsitzender: Fräulein Zahn erzählt, Sie
hätten ihr damals gesagt, Sie wollten sich von Ihrer Frau scheiden lassen und
sie heiraten.
Angeklagter: Das habe ich ihr nicht gesagt,
doch ist es möglich, daß die Spannung mit meiner Frau zum Ausdruck gekommen
ist.
Vorsitzender: Nun sagen Sie, welchen Eindruck
Dorothea Rohrbeck und Fräulein Zahn auf Sie gemacht haben?
Angeklagter: Den Eindruck, den Dörthe auf
mich gemacht hat?
Vorsitzender (unterbrechend): Sagen Sie ruhig
Fräulein Dorothea Rohrbeck!
Angeklagter: Dörthe … (sich unterbrechend),
also Fräulein Dorothea Rohrbeck machten einen guten Eindruck auf mich, dagegen
war der Eindruck, den Fräulein Zahn machte, derart, daß mit ihr gegenüber
Vorsicht am Platze schien. Ihre Angaben waren sehr widersprechend.
Vorsitzender: Sie machten dann einen
Gegenbesuch in Kleppelsdorf?
Angeklagter: Ja, am 6. September.
Vorsitzender: Aber nicht mit Ihrer Frau. Das
ist doch sonderlich.
Angeklagter: Ich fuhr nicht zu Besuchszwecken
nach Kleppelsdorf, sondern um den Damen materielle Hilfe zu bringen, damit sie
ihre dringenden Schulden bezahlen konnten. Ich brachte ihnen etwas über 2000
Mark mit.
Vorsitzender: Sie äußerten auch, Sie möchten
die Verwaltung von Kleppelsdorf gern übernehmen.
Angeklagter: Auch das habe ich erst später
gesagt, als ich erfahren hatte, daß die Verwaltung des Gutes äußerst schlecht
war.
Vorsitzender: Hatten Sie nicht den Besuch
Ihrer Frau in Kleppelsdorf in Aussicht gestellt?
Angeklagter: Ja, sie wollte weiteres Geld
dahin mitbringen. Ich bin dann aber nach Hause gefahren. Ich muß erwähnen, daß
meine Frau schon früher einmal geäußert hatte, daß sie nach Amerika wolle.
Vorsitzender: Das ist doch merkwürdig, daß
eine Frau nach sechsmonatiger Ehe schon von ihrem Mann und ihren Kindern weg
will.
Angeklagter: Wir haben das damals auch nur
für einen Scherz gehalten.
Frau
Grupen verschwunden.
Am 19. September, so sagt der Vorsitzende
weiter, sind Sie mit Ihrer Frau und zwei Dienstmädchen in einem Wagen nach
Itzehoe gefahren. Seit diesem Tage hat niemand mehr Ihre Frau gesehen. Wie war
sie an diesem Tage angezogen?
Angeklagter: Ich weiß nur, daß sie einen
grünen Hut und einen Pelzkragen hatte.
Vorsitzender: Den Pelzkragen hat sie im Wagen
liegen lassen, was allgemein verwundern mußte, da die Frau daran gewöhnt war,
den Pelz zu tragen.
Der Angeklagte erzählt nun, daß ihm auf dem
Wege zum Bahnhof, von wo Frau Grupen nach Kleppelsdorf fahren wollte, nichts am
Benehmen der Frau aufgefallen sei. Auf dem Wege setzte G r u p e n
die beiden Dienstmädchen in der Stadt ab und will dann zum Bahnhof
weitergefahren sein. Auf der Fahrt übergab die Frau einem der Mädchen einen
Brief an den Knecht, der den Auftrag erhielt, einen Wäschekoffer nach Hamburg
zu bringen.
Vorsitzender: Sie sind also zum Bahnhof
gekommen. Mit welchem Zuge ist Ihre Frau weggefahren?
Angeklagter: Ich vermute mit dem nächsten
Zuge. Ich selbst konnte nicht auf den Bahnsteig gehen, da ich die Pferde nicht
allen lassen konnte.
Ein Geschworener: Wie hat sich dann der
Abschied von Ihrer Frau vollzogen?
Angeklagter (nach einigem Nachdenken): So wie
immer, wir reichten uns die Hände.
Vorsitzender: Ihre Frau ist seither
verschwunden. Was geschah am Tage nach der Abreise?
Angeklagter: Am nächsten Tage schickten wir
ein Telegramm nach Kleppelsdorf, das die Abreise meiner Frau dahin meldete. Am
nächsten oder übernächsten Tage fand das Dienstmädchen auf dem Abort einen
Brief, der halb zerrissen war und es stand darin, daß meine Frau abreisen will,
und zwar wolle sie nach Amerika gehen; wir sollten unbesorgt sein, nämlich die
Großmutter und die Kinder, da ja Grupen für die Kinder sorgen würde.
Noch
ein merkwürdiger Fall.
Der Vorsitzende bringt nun einen zweiten,
ziemlich merkwürdigen Vorfall zur Sprache. Grupen besaß eine eiserne Kasette,
zu der der Schlüssel fehlte. Er ließ eines der Mädchen rufen, das die Kasette
in die Höhe halten mußte, worauf er durch einen Schlag gegen den Boden die
Kasette öffnete. Wie er behauptet, war kein Geld darin, sondern nur ein Kuvert mit
mehreren Schriftstücken und kleinen Rechnungen. G r u p e n
erklärt, er hätte vordem in der Kasette eine Summe von ungefähr 60 000
Mark gehabt, die die Frau mitgenommen hätte. Der V o r s i t z e n d e stellt fest, daß Frau Grupen sich persönlich
am 18. Dezember von Itzehoe nach Lübeck abgemeldet hatte. Schon während des
Krieges hatte sie sich wiederholt geäußert, daß sie zum Theater gehen wolle.
Sie ist auch öfters in Liebhabervorstellungen aufgetreten. G r u p e n
sagt aus, daß die Frau sich vor ihrer Abreise fünf bis sechs Kostüme und
zahlreiche Kleider habe machen lassen.
Die Unterhaltung über den Koffer und über die
Frage, warum der Angeklagte ihn nicht weggeschickt habe, wird im weiteren
Verlaufe sehr erregt. G r u p e n weiß allerlei Gründe anzuführen, so daß der
Wagen, mit dem die Kinder täglich zur Schule fuhren, zu klein war, um auch den
Koffer mitzunehmen, und daß ein Lastwagen erforderlich gewesen wäre, für den
die Pferde nicht zu haben waren. Der Angeklagte wirkt bei dieser Koffergeschichte
zeitweilig äußerst erregt und nervös, bis schließlich der V o r s i t z e n d e erklärt, über diese Frage später die Zeugen
vernehmen zu wollen.
Grupen veranlaßte nunmehr D ö r t e
R o h r b e c k , mit ihm nach
Itzehoe zu fahren. Fräulein Zahn reiste nicht mit, da sie mit der Großmutter
Frau Eckert nicht harmonierte.
Vorsitzender: Sie fuhren über Berlin? Wo sind
Sie dort abgestiegen?
Angeklagter: Im Christlichen Hospiz. Ich wollte
auch, daß Dörte ihren Vormund besuchte. Ich sagte, ich würde selbst zu ihm
gehen. Das tat ich auch. Als ich ins Hospiz zurückkam, war Dörte nicht da. Sie
war mit einer Freundin ausgegangen und kam erst spät zurück.
Grupen
und Dörte bei Dressel.
Vorsitzender: Sie sollen im R e s t a u r a n t D r e s s e l plötzlich aufgesprungen und weggegangen
sein, indem Sie sagten: da ist meine Frau.
Angeklagter: Ich tat das nur, weil ich für
ein so feines Lokal nicht gut genug angezogen war und deshalb weggehen wollte.
Vorsitzender: Sie kamen dann mit Fräulein
Dörte nach Itzehoe, und dort zeigten Sie am Tage Ihrer Ankunft der Frau Eckert
den Abschiedsbrief, den ihre Tochter ihr geschrieben hatte. Wie nahm denn Frau
Eckert die Nachricht vom Verschwinden ihrer Tochter auf? War sie sehr
aufgeregt?
Angeklagter: Nein.
Vorsitzender: Jedenfalls scheinen Sie
Fräulein Rohrbeck auf dieser Reise starke Antipathien eingeflößt zu haben, denn
sie telegraphierte sofort nach der Ankunft in Ottenbüttel an Fräulein Zahn, sie
möge sofort kommen, da sie sich sehr unglücklich fühle. Tatsächlich kam auch
Fräulein Zahn nach Itzehoe, von wo sie mit Grupen und Dörte nach Hamburg fuhr.
Dort machten sie eine Kahnfahrt auf der Alster; und es wird davon erzählt,
Grupen hätte die Damen bei dem Kahnfahren wiederholt in Lebensgefahr gebracht,
indem er sie in die Strömung der großen Dampfer hineinbrachte. Einmal soll er
sich plötzlich auf den Boden des Kahnes habe niederfallen lassen, so daß Dörte
um Hilfe rief. Grupen sucht diese kleinen Abenteuer als „harmlose Scherze“ auszulegen.
Eine Gefahr habe für so ein großes Boot auf der Alster überhaupt nicht
bestanden. Uebrigens hatte nur Fräulein Zahn Angst, während Dörte scherzte. Von
Hamburg fuhr er mit den Damen nach Kiel. Auf die Frage des S t a
a t s a n w a l t s , warum er denn nicht in Hamburg blieb, sondern
überflüssige und kostspielige Reisen unternommen hätte, erwiderte G r u p e n , diese Reisen wären viel billiger gewesen,
als ein Aufenthalt in Hamburg, wo die beiden Damen, namentlich Fräulein Zahn,
durch kostspielige Wünsche ihm außerordentlich hohe Kosten verursacht hätte.
Grupen
und Dörte in Hamburg.
Vorsitzender: Sie sind dann mit den Damen zu
einer Frau Barry gegangen, wie man durch Auskunft der Polizei erfahren hat, ein
übelberüchtigtes Absteigequartier.
Angeklagter: Das habe ich nicht gewußt. Ich
hatte auf telephonische Erkundigung kein Zimmer in einem Hotel bekommen.
Vorsitzender: Sie haben in der Nacht an die
Tür der Damen geklopft. Jedenfalls haben diese sich sehr gefürchtet.
Angeklagter: Ich wollte mich nur nach dem
Befinden der Damen erkundigen. ich klopfte, aber ich erhielt keine Antwort.
Staatsanwalt: War das Ihr eigenes
Absteigequartier in Hamburg?
Angeklagter: Ich hatte überhaupt keine
Absteigequartier.
Staatsanwalt: Wir werden Zeugen darüber
hören.
Vorsitzender: Sie hatten den Damen 10 000
Mark versprochen und ihnen am letzten Tage gesagt, Sie hätten Ihr Vermögen
vollständig verloren und kein Geld mehr übrig.
Angeklagter: Tatsächlich hatte ich eine
Summe, die ich erhalten sollte, nicht erhalten und glaubte in Uebertreibung der
Gefahr, daß ich mein ganzes Vermögen verloren hätte.
Der A
n g e k l a g t e wird weiter gefragt,
was er getan hätte, um den Aufenthalt seiner Frau zu erfahren. Er sagt, er sei
nach Berlin gereist, um sich mit dem Schwager seiner Frau, einem Herrn Schade,
zu beraten. Auch habe er getrachtet, den Aufenthaltsort jenes Herrn Schulz aus
Perleberg zu erfahren, der ihm noch immer als der Liebhaber seiner Frau galt.
Eine richtige Aufklärung über diese Frage sei nicht zu erlangen gewesen.
Am 8. Februar kam Grupen, der seinen und den
Besuch der Großmutter in Kleppelsdorf angekündigt hatte, auch mit den beiden
Kindern Ursula und Irma sowie der Gouvernante Fräulein Mohr nach dem Schlosse.
Vorsitzender: Der Empfang war wohl etwas
kühl, denn die Damen hatten ja auf so großen Besuch nicht gerechnet?
Angeklagter: Ja, indessen hatte ich nicht die
Absicht, länger als zwei bis drei Tage zu bleiben. Nur die Kinder sollten
bleiben, bis eine Wohnung gefunden wäre, da ich meine Besitzung in Ottenbüttel
verkauft hatte.
Mittwoch, 7. Dezember 1921, „Berliner
Morgenpost“, S. 1-2
Der
Mord auf Schloß Kleppelsdorf.
Grupen über die Vorgänge am Mordtag. - Seine
Vermögensverhältnisse und Heiratspläne. - Beginn der Zeugenvernehmung.
Hirschberg, 6. Dezember
Telegr. unseres Korrespondenten.
In dem Prozeß gegen den Architekten P e t e r
G r u p e n wegen des
Doppelmordes auf Schloß Kleppelsdorf wurde am Dienstag die Vernehmung des Angeklagten
zu Ende geführt. Er blieb dabei, daß er die beiden Mädchen nicht getötet habe
und nicht wisse, wie Ursula Schade zu seinem Revolver gekommen sei, der dann
bei ihrer Leiche gefunden worden ist. An die Vernehmung des Angeklagten schloß
sich die Vernehmung der ersten Zeugen. Auch hier war der Gang der Verhandlungen
der, daß zunächst die Zeugen gehört wurden, die über das Vorleben Grupens
Auskunft zu geben hatten.
Zum leichteren Verständnis der etwas
schwierigen Verwandtschaftsverhältnisse sei folgende Erläuterung gegeben:
Bankdirektor Eckert - Itzehoe V
verheiratet mit Frau Eckert
(Zeugin in Hirschberg)
|
---------------------------------------------------------------
| |
------------------------------ Trude Eckert
| | (angeblich
nach Amerika
Schloßbesitzer Frau spurlos verschwunden)
Rohrbeck V Rohrbeck V |
| | ---------------------------------
------------------------------ | |
| in erster Ehe
verheiratet in zweiter Ehe verheiratet
Einziges Kind mit dem Kaufmann Schade mit
Peter Grupen
Dorothea Rohrbeck V (auf
der Jagd verunglückt) (kinderlos)
|
------------------------------------
| |
Kinder aus dieser Ehe:
Ursula und Irma
(Ursula mit Dorothea in
Kleppelsdorf tot aufge-
funden)
Verhandlungsbericht vom Dienstag.
Der letzte Teil der
Vernehmung P e t e r G r u p e n s galt dem Schlussakt des Dramas auf
Kleppelsdorf. Um den Geschworenen die Urteilsbildung zu erleichtern, sind im
Saal zwei große Tafeln aufgestellt, auf denen die Grundrisse der Schloßräume
aufgezeichnet sind, und an der Hand dieser Zeichnungen zeigt Grupen, wo die
einzelnen Familienmitglieder gewohnt haben.
Am Vormittag des
Mordtages war G r u p e n mit Dorothea Rohrbeck in der Nachbarstadt Lähn
gewesen, von wo sie gegen Mittag nach Kleppelsdorf zurückkehrten. Dorothea ging
in das Kinderspielzimmer, während Grupen sich im Nebenzimmer befand. Die
Verbindungstür stand offen. Was im Kinderspielzimmer vorgegangen ist, will
Grupen nicht gehört haben. Als man sich zu Tisch begeben wollte, kam ihm das
Dienstmädchen auf der Treppe entgegen mit den Worten: „Die Kinder liegen unten
tot.“ Auf diesen Schreckensruf hin sind dann alle nach unten gelaufen, und
Grupen legte Dorothea ins Bett. Ursula kauerte am Schrank. Neben ihr lag die
Pistole und einige Schachteln mit 19 Patronen.
Vorsitzender: Die
Pistole, die neben Ursula lag, war Ihre Pistole. Wie ist es möglich, daß diese
Pistole nach Kleppelsdorf gekommen ist?
Angeklagter: Ich
bewahrte diese Pistole in meinem Schreibtisch in Ottenbüttel auf und hatte sie
meinem Bruder gegeben, der mich während meiner Abwesenheit vertrat. Wer die
Waffe mit nach Kleppelsdorf genommen hat, weiß ich nicht. Das Fach, in dem sie
lag, hatte ich für meinen Bruder offen gelassen. Ich habe Ursula einmal bei
diesem Fach gesehen, ihr einen Verweis erteilt und sie aus dem Zimmer gewiesen.
Ich nehme an, daß sie den Revolver an sich genommen und mit nach Kleppelsdorf
gebracht hat.
Vorsitzender: Sie
sollen unmittelbar nach der Tat zu Frau Eckert gesagt haben: „Weißt Du auch,
daß Du nun die Erbin von Kleppelsdorf bist?“ Wie kamen Sie dazu, in einem
solchen Augenblick hieran zu denken?
Angeklagter: Ich habe
das nicht unmittelbar nach der Tat gesagt, sondern erst am Abend; es kam das
Gespräch auf die Erbschaft. Ich nahm allerdings an, daß die Großmutter
Mit-Erbin wäre.
Vorsitzender: Nach
Mitternacht wurden Sie für verhaftet erklärt. Bei Ihrer Abführung sagten Sie zu
Frau Eckert: „Wenn Ihr aussagt, daß Ihr wißt, daß ich oben war, bin ich morgen
wieder frei.“
Angeklagter: Das habe
ich nicht gesagt. Wohl habe ich gesagt: „Meine Unschuld wird sich sicher
herausstellen, denn Ihr wißt doch, daß ich oben war.“
Vorsitzender: Haben
Sie jemals der Dorothea Rohrbeck einen Heiratsantrag gemacht?
Angeklagter: Nein.
Vorsitzender:
Fräulein Rohrbeck hat das aber wiederholt erzählt und auch mehrfach
geschrieben.
Angeklagter: Wo sind
die Briefe? Ich habe ihr einen feststehenden Heiratsantrag jedenfalls nicht
gemacht.
Vorsitzender: Was
heißt „feststehend“? Wollen Sie sagen, daß es möglich ist, daß Sie so etwas
einmal angedeutet haben?
Angeklagter: Das wäre
möglich.
Sachverständiger
Sanitätsrat L e s s e r fragt nach der Gemütsveranlagung der Ursula
Schade.
Angeklagter: Schon
als zwölfjähriges Mädchen litt Ursula an Schwermut. Diese Zustände wurden
später noch heftiger.
Vorsitzender: Den
vermutlichen Grund werde ich Ihnen nach Ausschluß der Oeffentlichkeit sagen.
Staatsanwalt: Der
Ursula hatte es in Kleppelsdorf so gut gefallen, daß am Abend vor dem Morde davon
gesprochen wurde, sie wolle dort bleiben und auch dort zur Schule gehen.
Verteidiger A b l a ß :
Haben Sie sich jemals mit Hypnose beschäftigt?
Angeklagter: Nein.
Vorsitzender: Sind
Sie ein guter Schütze?
Angeklagter: Vor meiner
Militärzeit kannte ich kein Gewehr. Später hatte ich in Itzehoe einen Revolver.
Ich darf sagen, daß ich ein verhältnismäßig guter Schütze bin.
Die Verhandlung
wendet sich den V e r m ö g e n s v e r
h ä l t n i s s e n d e s A n g e k l a g t e n zu. Während Grupen stets behauptet, daß er
vermögend und deshalb unabhängig war, wird ihm vorgehalten, daß er Wertstücke
seiner Frau und seiner Schwiegermutter verpfändet hat. Seine Schwiegermutter
Eckert hat davon erst nach seiner Verhaftung Kenntnis erhalten, und seitdem hat
ihre Neigung zu Grupen sehr nachgelassen.
Vorsitzender: Von den
vier Ringen Ihrer Frau, die Sie verpfändet haben, waren drei beschädigt. Der
Herr, bei dem sie verpfändet wurden, glaubt, daß diese Beschädigungen beim
gewaltsamen Abziehen der Ringe vom Finger erfolgt sind.
Angeklagter: Es waren
alte Ringe, die meine Frau schon lange nicht mehr trug, und die ich mit ihrem
Einverständnis verpfändete. Das Geld dafür habe ich ihr gegeben. Die Pelze habe
ich verpfändet, weil dies die einfachste Form der Aufbewahrung ist. Das
Silbergeschirr meiner Schwiegermutter habe ich allerdings in einer
augenblicklichen Geldverlegenheit versetzt, aber bald wieder eingelöst.
Fräulein Zahn als Zeugin.
Damit war die
Vernehmung beendet, und es begann die Z
e u g e n v e r n e h m u n g . Erste
Zeugin war die Erzieherin von Dörte Rohrbeck Fräulein Zahn. Sie ist in tiefe
Trauer gekleidet, eine hübsche elegante Frau von offenbar sehr guten Manieren
und bekundet in sehr gewählter Sprache:
Ich kam im Frühjahr
1905 als Hausdame und Erzieherin nach Kleppelsdorf. Dorothea war damals 1 ½
Jahre alt. Vor mir war ihre Großmutter, Frau Eckert, im Hause gewesen, nachdem
Frau Rohrbeck kurz nach der Geburt ihres Kindes gestorben war. Ich leitete den
Haushalt, bis Dorothea zur Schule ging. Im Jahre 1914 wurde Herr Rohrbeck
schwer krank und starb einige Monate später in einem Berliner Sanatorium. Er
hinterließ ein bedeutendes Vermögen und zwar neben dem Gut Kleppelsdorf die
kleineren Güter Tempelhof und Gießhübel im Werte von damals 1 ½ Millionen Mark
und außerdem ein Barvermögen von 1 ¼ Millionen Mark. Vormund der Dorothea wurde
ein Herr Vielhack. Ein Nachtrag des Testamentes bestimmte, daß die Ausbildung
und Erziehung der Dorothea mir übertragen wurde.
Vorsitzender: Man hat
behauptet, daß Frau Eckert eine Abneigung gegen Sie hatte, weil sie fürchtete,
daß Rohrbeck Sie heiraten könnte.
Zeugin: Frau Eckert
hatte den Wunsch, daß Rohrbeck ihre damals noch ledige Tochter, die spätere
Frau Grupen, heiraten möchte, und es bestand auch eine kurze Zeit lang so eine
Art Verlobung der beiden.
Vorsitzender: Frau
Eckert soll auch gefürchtet haben, daß Ihr Bruder Dorothea heiratet.
Zeugin: Das fürchtete
sie auch.
Vorsitzender: Frau
Eckert soll Ihnen Erbschleicherei vorgeworfen haben.
Zeugin: Das wohl
nicht, aber sie hat mir nicht ohne Absicht allerlei Geschichten über
Erbschleicherei erzählt.
Vorsitzender: Gab es
denn irgendwelche Unterlage dafür, daß Rohrbeck Sie heiraten würde?
Zeugin: Ich hatte
Rohrbeck während seiner Krankheit gepflegt und eine Zeitlang schien es, als ob
er wieder gesund werden sollte. Da sagte er mir einmal in Berlin im Garten des
Sanatoriums, er hätte den Wunsch, wenn er wieder zu Hause wäre, mich zu
heiraten. Auf seine Frage, ob ich das wolle, antwortete ich ihm: „Ich will es
gern tun.“
Vorsitzender: Ist es
dann zu Streitigkeiten gekommen zwischen Ihnen und dem Vormund Vielhack. Dieser
hatte seit 1916 für den Haushalt, die Erziehung, das Personal und die Kleidung
monatlich 100 Mark festgelegt, und das Geld soll nicht gereicht haben.
Zeugin: Das Leben
wurde von Tag zu Tag teurer und wir kamen wirklich nicht aus. Da es neben dem
Vormund Vielhack noch den Gegenvormund Bauer gab, der als Verwalter vielfach
nach Kleppelsdorf kam, so trug ich ihm meine Klage vor, und daraufhin kündigte
mir der Vormund Vielhack. Das Gericht hat die Kündigung auf Grund des
Testaments aber für ungültig erklärt, da ich nicht Angestellte des Vormundes
war.
Vorsitzender: Wie
entstanden nun Ihre Beziehungen zur Familie Grupen?
Zeugin: Dorothea
wurde Ostern 1920 konfirmiert, und ich hatte alle Verwandten gebeten, zur
Konfirmation nach Kleppelsdorf zu kommen. Sie kamen aber nicht. Den Vormund
hatte ich gebeten, das nötige Geld für die Feier und die Kleider zur Verfügung
zu stellen, aber er lehnte es ab, und auf dem Gericht sagte man mir, ich möchte
das Konfirmationskleid für Dorothea aus den alten Gesellschaftsanzügen des
Herrn Rohrbeck machen lassen. Erst auf mein hartnäckiges Weigern wurden mir 800
Mark für diese Zwecke zur Verfügung gestellt. Aber ich kam damit nicht aus, und
so mußten wir das Notwendigste aus anderen Quellen besorgen. Da wir selbst kein
Geld hatten, beschlossen wir, uns an die Verwandten zu wenden, und so wurde die
Verbindung mit Ottenbüttel hergestellt. Dorothea besuchte Mitte 1920 ihre
Großmutter Eckert und Grupen und wurde äußerst liebenswürdig empfangen. Auf
Grupens Wunsch sagten sie alle Du. Man fuhr gemeinsam nach Hamburg und verlebte
dort vergnügte Tage.
Vorsitzender: Hat er
nicht auch einmal über seine Frau mit Ihnen gesprochen?
Zeugin: Er fragte
mich, ob ich wüßte, daß seine Frau krebskrank wäre. Hätte er das gewußt, so
hätte er sie nicht geheiratet.
Vorsitzender: Wie sah
denn Frau Grupen aus?
Zeugin: Frau Grupen
war eine sehr elegante Frau, aber es schien mir, als ob sie in ihrem Aeußern
nicht mehr so sorgfältig wie früher war.
Vorsitzender: Hat
Ihnen Grupen nicht allerlei erzählt?
Zeugin: Er sagte
einmal, er bedauere, mich nicht früher kennen gelernt zu haben.
Vorsitzender: Was
wollte er denn damit sagen?
Zeugin:
Wahrscheinlich wollte er sein Gefallen damit ausdrücken.
Vorsitzender: Hat er
Ihnen gesagt, Sie sollen seine Frau werden?
Zeugin: Ich weiß
nicht, ob das damals war oder erst später. Er erzählte von einem reichen Onkel
in Amerika, den er besuchen müßte, es wäre schön, wenn ich mit ihm nach Amerika
ginge.
Vorsitzender:
Angeklagter, haben Sie einen Onkel in Amerika?
Angeklagter: Jawohl,
er heißt Joseph Polk. Von ihm aber habe ich nicht gesprochen, sondern in Hamburg
beim Anblick eines vorüberfahrenden Dampfers nur gesagt, daß es schön wäre, mit
diesem Dampfer nach Amerika zu fahren. Weiter habe ich nichts gesagt.
Zeugin: Frau Grupen
hat ihren Besuch auf Kleppelsdorf angekündigt, aber wir erwarteten sie vergeblich.
Dafür kam Grupen selbst und erzählte, seine Frau wäre nach Amerika gegangen.
Zum Schluß
gelangten A b s c h i e d s b r i e f
e der verschwundenen F r a u
G r u p e n an Dorothea Rohrbeck
und andere Verwandte zur Verlesung.
Ein Geschworener: Ist
überhaupt festgestellt, daß Frau Grupen die Schreiberin der Briefe ist?
Vorsitzender: Das ist
bisher nicht festgestellt, ein Sachverständiger ist darüber bisher nicht
vernommen worden. Das wird aber jetzt nachgeholt werden.
Donnerstag, 8. Dezember 1921, „Berliner
Morgenpost“ - Erste Beilage
Lokaltermin
auf Schloß Kleppelsdorf.
Gerichtsverhandlung
am Ort der Tat.
Lähn, 7. Dezember.
Von uns.
Sonderberichterstatter.
Waldige Höhen
umschließen das Städtchen L ä h n
, dessen sonst so friedliche Ruhe durch
ein ungewöhnliches Ereignis unterbrochen wird. Gegen Mittag rumpeln zwei
geräumige Auto-Omnibusse von Hirschberg her durch die Straßen dem Ende des
Städtchens zu, wo der Gutshof K l e p p
e l s d o r f liegt (Anmerkung: vor dem Städtchen, nicht am Ende).
Ein einfaches, einstöckiges Herrenhaus mit einem weitläufigen Hofe, gegenüber
die Scheunen und Wirtschaftsgebäude. Dem ersten Wagen entsteigen die
Gerichtsherren, die Geschworenen und einige Zeugen aus Hirschberg. Aus dem
zweiten funkeln zahlreiche Pickelhauben. Gerichtsdiener mit Aktenstößen
verlassen den Wagen. Ein Polizeikommissar gibt strenge Befehle, und am
Hintertor des Herrenhauses stehen einige Jäger in grünen Uniformen zum Empfang
bereit.
Als letzter verläßt Peter G r u p e n , in einen dunklen Mantel gehüllt, den Wagen.
Fast regungslos hatte er, in eine Ecke gedrückt, von einem Knäuel Polizisten
umgeben, darin gesessen, regungslos durch die Fenster in die bekannte Gegend
starrend, die er seit acht Monaten heute zum erstenmal wiedersieht. Keine
Muskel zuckt in dem unbeweglichen Gesicht, nur als der Omnibus vor dem Schlosse
vorfährt und er sich von seinem Sitze erhebt, scheint es, als wäre alles Blut
aus seinem Gesicht gewichen. Fünf Polizisten umringen ihn und rühren ihn zur
Gittertüre vor dem Herrenhaus. Hier steht ein Haufen von Menschen, Männer,
Frauen und Kinder, alle mit verdrossenen, feindseligen Gesichtern. „Da ist er,
der Schweinehund!“ ruft ein Mann, an dem Grupen hart vorüber muß, ganz laut,
und ein anderer ruft im schlesischen Tonfall „Runter mit´m Kopp!“ Mit beinahe
gellender Stimme ruft eine Frau dazwischen: „Er is es und keen andrer! Warum
die langen Umstände?“ Man fühlt, daß die Welle des Hasses dem Manne entgegenschlägt,
der nun eilig inmitten seiner Wächter im Hause verschwindet.
Ein großes Zimmer im ersten Stock, mit gutem
Geschmack eingerichtet, nimmt die Richter, Geschworenen und Zeugen auf. Die
Richter ziehen ihre Talare über die Pelze an. Die Verhandlung wird eröffnet.
Zunächst wieder die Treppe hinab zu dem im Erdgeschoß liegenden Mordzimmer. Es
ist seit dem Unglückstage verschlossen geblieben. An der Einrichtung ist nichts
geändert worden. Noch stehen hier nebeneinander zwei Betten, deren Wäsche mit
Blut bedeckt ist und vor dem Bette ein großer dunkler Fleck vom Blut der
unglücklichen Dörte, die an dieser Stelle den Tod gefunden hat. Ein Blutfleck
auch etwa zwei Schritte weiter, wo man die sterbende Ursula an einen Schrank
gekauert aufgefunden hat. Das Zimmer ist eng, kaum daß es die Personen faßt,
die dabei sein müssen. Als alle beisammen sind, kommt Peter Grupen, der
Angeklagte.
„Herr Vorsitzender,“ ruft er laut, „ich habe
ein Mitteilung zu machen. Als ich ins Haus trat, hat eine Frau gerufen: Da ist
der Mörder. Ich bin doch nicht verurteilt.“
Der Vorsitzende sagt: „Ich möchte das
Publikum bitten, den Angeklagten noch nicht als überführt anzusehen. Ich bitte
das zu unterlassen.“
Das Zimmer selbst ist ein freundliches,
helles Schlafzimmer mit zwei Betten in der Mitte, einem Waschtisch und zwei
Schränken. Vom Nebenzimmer führt eine Tür nach dem Flur, wo sich die Treppe
befindet, die zum ersten Stock führt. Eine der wichtigsten Feststellungen ist
die, daß die Patronenhülsen der abgeschossenen Kugeln alle drei nahe der
Eingangstür gefunden wurden, während Ursula und die Pistole auf der
entgegengesetzten Seite des Zimmers lagen.
Um ein deutliches Bild davon zu bekommen, wie
Dörte und Ursula aufgefunden wurden, werden die beiden Dienstmädchen Mende und
Hirsch, die zuerst die furchtbare Entdeckung gemacht hatten, gebeten, zu
zeigen, wie Dörte und Ursula dalagen. Die Lage Dörtes führt dann dazu, durch
den sachverständigen Arzt Kreismedizinalrat Dr. Peters aus der Lage des
Schußkanals die Richtung bestimmen zu lassen, aus der der Schuß vermutlich gekommen
ist. Der erste Schuß war in die Achselhöhle Dörthes eingedrungen und beim Halse
herausgetreten, war also von unten nach oben gegangen. Ebenso hatte der zweite
Schuß in den Kopf dieselbe Richtung. Die genaue Lage der Leiche nach der
Auffindung war kaum festzustellen, da die beiden Mädchen darüber verschiedene
Bekundungen machten. Auch wurden, als die anderen Hausgenossen ins Zimmer
kamen, Dörthe, die nach Fräulein Zahns Angaben noch lebte, aber wenige
Augenblicke später starb, sowie Ursula, die noch zwei Stunden mit dem Tode
rang, aufs Bett gelegt. Jedenfalls geschah aber die Tat zwischen 12 und ½ 1
Uhr. Als etwa 20 Minuten nach Entdeckung der Tat der Arzt Dr. Scholz kam, war
Dörthes Körper noch warm.
Der Tatort erweckt in Fräulein Z a h n ,
der Erzieherin, genauere Erinnerungen über die Entdeckung der Tat. „Als
ich Dörthe aus der Blutlache aufheben wollte, wobei ich eigentlich noch nicht wußte,
was geschehen war, sagte Grupen: „Da ist ja geschossen worden.“ Ich sah jetzt
die Wunden und fragte: „Wo ist denn das Ding?“ Darauf nahm Grupen den Revolver
und legte ihn auf den Tisch. Die Großmutter sagte jetzt: „Ja, wie kommt denn
Ursel zu der Waffe?“ Niemand wußte eine Antwort.“
Eine interessante Entdeckung machte der
Postverwalter G r i m m i g , der sofort nach dem Arzt ins Mordzimmer kam.
Als er den Revolver auf dem Tische liegen sah, wollte er ihn sichern. Da er das
System nicht kannte, aber annahm, daß die Waffe wohl entsichert war, drehte er
den Hebel nach der anderen Seite. Etwas später aber erkannte er, daß er die
Waffe nicht gesichert, sondern entsichert hatte. Grupen gibt zu, daß er, als er
den Revolver aufhob, ihn gewohnheitsmäßig gesichert haben könne, doch ist es
auffallend, daß er sich nicht genau erinnert, da der Hebel sehr schwer geht und
er im übrigen behauptet, die Waffe nie gebraucht zu haben.
Grimmig fragte auch: Wem gehört die Waffe?
Die Großmutter sagte, sie gehört niemand. Auch der Angeklagte sagte dieses.
Erst nachdem der Brief bei Ursula gefunden war, sagte er: Dann ist es doch
meine Waffe, dann bin ich ja schuld an dem Tode Dörthes.
Der Gerichtshof und alle Teilnehmer gehen
dann über die Treppe in die Räume im ersten Stock, wo sich zurzeit der Tat die
übrigen Familienmitglieder befanden. Ist es die merkwürdige Erinnerung dieses
Tages - die beiden freundlichen Zimmer sind wir von einem Hauch von Schwermut
erfüllt. Der Vorsitzende wünscht, daß alles wieder genau so gemacht werde, wie
an jenem traurigen Tage. Im vorderen Zimmer setzt sich Fräulein Zahn allein an
den Tisch, um Rechnungen zu prüfen. Im Nebenzimmer um den runden Tisch in der
Ecke, den man vom Platz des Fräulein Zahn aus übersehen kann, setzen sich die
Großmutter, die kleine Irma (Ursulas Schwester), ein schüchternes 10jähriges
Kind, das verhalten zu weinen beginnt, Fräulein Mohr, die Stütze, und endlich
der Angeklagte Grupen nieder. Die beiden Dienstmädchen stellen Dörthe und
Ursula vor, die im Zimmer des Fräulein Zahn am Fenster sitzen.
Plötzlich hört man die scharfe Stimme
des S t a a t s a n w a l t s : „Ein dringender Antrag Herr Vorsitzender.
Ich bitte, den Angeklagten Grupen zu entfernen und durch eine andere Person zu
ersetzen.“ Der Staatsanwalt deutet dabei auf die weinende Irma und die unruhig
auf ihrem Platze herumrückende Großmutter.
G r u p e n
steht sofort auf und sagt: Das ist mir auch sehr angenehm. An seine
Stelle setzt sich ein Polizeikommissar.
Nun geht das eine Dienstmädchen hinaus und
eine Weile darauf hört man die Tür klinken und die Worte: Dörthe, komm doch mal
und die Antwort Dörthes: Gleich komme ich.
In der beinahe gespenstischen Stille hört man
dieses Zwiegespräch, die letzten Worte, die vor acht Monaten zwei unglückliche Menschenkinder
sprachen, wie aus weiter Ferne. Vielleicht ist die Schallwirkung durch die
Anwesenheit der vielen Menschen abgeschwächt.
Dann hört man die etwas deutlichere Stimme
des Fräulein Z a h n : „Irma, sieh doch mal, wo Dörthe ist.“
Es ist damit erwiesen, daß Grupen alle diese
Worte hören konnte. Jetzt wird nur noch geprüft, wielange Zeit ein mit den
örtlichen Verhältnissen vertrauter Mann braucht, um aus dem oberen Zimmer nach
dem Mordzimmer im Parterre und zurück zu gelangen. Der jetzige Besitzer von
Kleppelsdorf, Herr P i n g e l , braucht dazu genau eine Minute.
Grupen steht unweit der Tür und folgt
wortlos, aber mit größter Aufmerksamkeit diesen für sein Schicksal vielleicht
so bedeutsamen Vorgängen.
Die Feststellungen am Tatorte selbst sind
beendet. Langsam leeren sich die Räume, die hoffentlich in Zukunft niemals
wieder von ähnlichen Schrecken heimgesucht sein werden, und in einem
saalähnlichen Zimmer des ersten Stockes versammelt sich das Gericht zur
Fortsetzung der Verhandlung.
Freitag, 9. Dezember 1921, „Berliner
Morgenpost“, S. 1+3
Irma
Schade belastet Grupen.
Aufsehen erregende
Aussage im Kleppelsdorfer Mordprozeß.
Die Zwölfjährige
gegen den Stiefvater. - Dörthes Ahnungen.
Hirschberg, 8.
Dezember.
Von uns.
Sonderberichterstatter.
Der heutige Tag
brachte im Prozeß Grupen eine überraschende Wendung zuungunsten des
Angeklagten. Seine Stieftochter, die jetzt zwölfjährige I r m a
S c h a d e , bekundete, daß
Grupen in der Zeit, in der der Mord geschah, das Zimmer im ersten Stock, das es
die ganze kritische Zeit über nicht verlassen haben will, doch verlassen habe.
Diese Aussage erregte um so mehr Aufsehen, als die Frage, ob der Angeklagte das
Zimmer verlassen haben konnte oder nicht, den Angelpunkt des gegen ihn geführten
Indizienbeweises bildete. Es ist weitaus die wichtigste Frage des Prozesses.
Zum besseren
Verständnis sei nochmals die örtliche Situation geschildert: Im ersten Stock
saß in der kritischen Zeit, am 14. Dezember zwischen 12 und 1/2 1 Uhr mittags,
in dem größten der drei Zimmer Fräulein Zahn und schrieb Briefe. Bei ihr
befanden sich zunächst Dörthe und Ursula, die dann das Zimmer verließen,
nachdem Ursula Dörthe gerufen hatte. Im Nebenzimmer, dem Wohnzimmer, saßen in
der Ecke um einen runden Tisch die Großmutter, die kleine Irma, die Stütze Frl.
Mohn und Grupen. Dieser spielte mit Irma Mühle. Aus diesem Zimmer führt eine
Tür nach dem „Schrankzimmer“, von dem man nur eine Tür zu öffnen braucht, um
nach der Treppe zu gelangen, die nach dem Parterre führte, wo der Mord geschah.
Es ist durch die Versuche beim Lokal-Augenschein bewiesen, daß man nur eine
Minute braucht, um aus dem Wohnzimmer nach dem Parterrezimmer und zurück zu
kommen. Das ist festzuhalten, um die Wichtigkeit der heutigen
Verhandlungsvorgänge zu verstehen.
Am späten Nachmittag
wurde die kleine I r m a als Zeugin vorgerufen. Auf Beschluß des
Gerichts wird der Angeklagte während der Vernehmung abgeführt, weil befürchtet
wird, daß Irma sich vor dem Angeklagten fürchtet. Gleich zu Beginn der Vernehmung
erklärt Irma, sie müsse noch etwas aussagen, was sie bisher vergessen habe. In
der Stunde vor der Tat, als sie einen schlechten Apfel auf den Abort tragen
wollte, sei der Stiefvater hinter ihr hergekommen.
Es entsteht sofort
eine große Bewegung im Saal, weil hier zum ersten Male bekundet wird, daß der
Angeklagte in der kritischen Stunde das Wohnzimmer verlassen hat. Der
Vorsitzende geht aber zunächst nicht auf diesen Punkt ein, sondern läßt sich
von Irma die Vorgänge in der Reihenfolge erzählen.
Die gutmütige,
gewinnende Art des Vorsitzenden läßt nun Irma, die einen durchaus intelligenten
Eindruck macht, frei und bestimmt ihre Aussage machen. Insbesondere bekundet
sie, daß sie niemals in den Händen ihrer Schwester einen Revolver gesehen habe
und auch nicht wußte, ob Ursula je geschossen hat. Am Vormittage des Mordtages
habe sie mit Dörthe Post und Apfelsinen geholt, und Ursel sei ihnen auf der
Treppe mit dem Vorwurf entgegengekommen: „Wo bleibt Ihr denn so lange mit den
Apfelsinen?“
Ursula hatte im
Mühlespielen eine Apfelsine gewonnen, die sie nun haben wollte. Ursula sei in
guter Laune gewesen. Dann sei sie in das Zimmer getreten und habe nun auch
Mühle gespielt. Die Großmutter habe dabeigesessen und war wohl etwas
eingeschlummert. Nach einer Weile sei sie von Fräulein Zahn aufgefordert
worden, Dörthe zu suchen. Sie habe dies auch getan, war auch unten im Eßzimmer,
habe sie aber nicht gefunden. Dann sei sie zurückgekommen. Nach einer Weile
habe sie einen Apfel essen wollen. Der sei schlecht gewesen.
Der Stiefvater habe
am Ofen gestanden und wollte den Apfel in den Ofen werfen, die Ofentür war aber
zum Oeffnen zu heiß. Dann habe der Stiefvater ihr gesagt, sie solle den Apfel
auf den Abort tragen.
„Dabei“ - fährt sie
wörtlich fort - „ging er hinter mir her und folgte mir ins Schrankzimmer. Als
ich vom Abort kam, sah ich ihn noch im Schrankzimmer. Wann er in das Wohnzimmer
zurückkam, weiß ich nicht.“
Verteidiger Dr.
Mamroth: „Diese Aussage macht Irmgard zum ersten Male und hat sie in keiner
früheren Vernehmung gesagt.“
Vorsitzender: „Sie
ist vielleicht nicht so eingehend danach gefragt worden. (Zur Zeugin:) Höre, kleine Irma, du mußt uns aber die
volle Wahrheit sagen! Wann ist dir denn das alles eingefallen? Oder hat dir
jemand gesagt, du sollst das aussagen?“
I r m a (energisch): „Nein, es ist mir schon im
Sommer eingefallen.“ Auf wiederholtes Fragen erklärt die Zeugin: „Ich habe das
schon im Sommer der Tante Erna Lux erzählt, und sie hat mir gesagt, ich solle
es nicht vergessen, heute zu sagen.“ Auch auf weitere Vorhaltungen bleibt
Irmgard bei ihrer Aussage.
Der A n g e k l a g t e wird hereingerufen. Der Vorsitzende liest
ihm die Aussage vor. Der Angeklagte folgt mit eiserner Ruhe und erklärt, er
habe Irma die Tür geöffnet, sei ihr aber nicht gefolgt. Irmgard bleibt jedoch
bei ihrer Bekundung, wobei sie dem Angeklagten den Rücken zudreht.
A n g e k l a g t e
r (in Erregung): „Irmgard ist schon vor
Jahren ein lügenhaftes und verstocktes Kind gewesen und hat der Großmutter 50
Mark gestohlen und die Tat erst nach einige Tagen eingestanden.“
Verteidiger Dr. A b l a ß
stellt nun den Antrag, das Gericht möge veranlassen, daß die Zeugin ihre
Bekundung dem Angeklagten Auge in Auge wiederholt. Geheimrat M o l l
erklärt als Sachverständiger das größte Bedenken gegen eine solche
Gegenüberstellung. Der Staatsanwalt bittet um Ablehnung des Antrages, da die
Strafprozeßordnung eine derartige Anforderung nicht stelle.
Während dieser
Gespräche bricht die kleine Irmgard in lebhaftes Weinen aus. Der Gerichtshof
zieht sich zur Beratung zurück und verkündet, der Antrag des Verteidigers sei
abgelehnt worden, da die Strafprozeßordnung zwar die Gegenüberstellung nicht
verbiete, aber auch nicht anordne. Die Verteidigung beantragt, Beweisführung
für die Lügenhaftigkeit der Zeugin.
Ursula und Dorothea.
Wichtige
Zeugenaussagen.
Aus dem weiteren
Verlauf der Donnerstag-Verhandlung, über deren überraschende Wendung wir auf
der ersten Seite berichten, sind noch die Aussagen der Erzieherin, Frl. Z a h n ,
über die Vorgänge am Tage vor der Tat, an einem Sonntag, zu erwähnen:
„Der Nachmittag verlief harmlos und heiter.
D ö r t h e spielte Klavier, und
es wurde gesungen. Nur U r s u l a stand scheu beiseite und war nicht zu
bewegen, an dem Gesang teilzunehmen, obgleich Grupen sie selbst dazu
aufforderte. Dann wurde getanzt. G r u
p e n war sehr lustig und forderte auch
mich zum Tanzen auf. Ich lehnte ab. Grupen tanzte dann mit der Großmutter. Das
Verhältnis Dorotheas und Ursulas war stets sehr gut. Nur war Ursula so
bedrückt, daß Dörthe äußerte: „Ich glaube, sie hat eine Sorge.“
Vorsitzender: Wußten
Sie, daß Ursula (geschlechtlich) erkrankt und in Behandlung war? - Fräulein
Zahn: Bei dem letzten Besuch in Hamburg sprach Grupen von Furunkeln. Ich wußte
aber nicht, um was es sich handelte. Dann aber sprach auch die Großmutter
davon, und zwar deutlicher, in Anwesenheit Dörthes beim Frühstück, was Dörthe
offensichtlich unangenehm war. Die Großmutter äußerte dabei, es sei doch sehr
lieb, daß Peter die Behandlung selbst vornimmt.
Ueber die Zeit der
Tat berichtet die Zeugin noch, daß sie mehrere Male die Türe gehen hörte, und
zwar bald, nachdem Dörthe und Ursula hinausgegangen waren. Doch weiß Frl. Zahn nicht,
wer sich entfernt hat. Nach einer Weile habe sie Irma gebeten, Dörthe zu holen,
weil sie mit dieser die Wochenrechnung machen wollte. Hierauf hat der
Angeklagte aus dem Nebenzimmer geantwortet: „Irma geht gleich.“ Irma kam nach
wenigen Minuten zurück, ohne Dörthe gefunden zu haben. Nach einer zweiten Frist
sei ein Dienstmädchen gekommen und habe eine Gemüseschüssel verlangt. Zu diesem
Zwecke mußte sie aufstehen und durch das Wohnzimmer gehen, wobei ihr der Angeklagte
auffällig scharf ins Gesicht gesehen habe.
Im weiteren Verlaufe
schilderte Fräulein Zahn die Ursula als ein überaus dürftiges, aufgeschlossenes
Kind, das früher zutunlich und heiter war, zuletzt außerordentlich
melancholisch und gedrückt gewesen sei. Sie sei leicht lenkbar und gefügig gewesen
und weder lügenhaft noch trotzig und habe in keiner Weise einen moralischen
Defekt gezeigt.
In der
Nachmittagssitzung wird Oberschwester Emma
K u b e aus Lähn vernommen, die
Dörthe von der Geburt her kannte und eine besondere Vertraute Dörthes war. Sie
müsse sagen, daß Fräulein Zahn in mustergültiger Weise Dörthe versorgt habe.
Der Vater Dorotheas habe viel von Fräulein Zahn gehalten und auch gelegentlich
geäußert, daß er sie ganz gerne heiraten würde. Er hat auch Fräulein Zahn
testamentarisch zur Erzieherin seiner Tochter bestimmt. Dorothea hat Fräulein
Zahn sehr geliebt und ihr einmal gesagt: Wenn ich mal majorenn bin, bekommt Fräulein
Zahn von mir das Gut Tempelhof. Das Verhältnis zwischen Dörthe und der
Großmutter sei immer ein kühleres gewesen, was vielleicht darauf zurückzuführen
sei, daß Herr Rohrbeck für seine Schwiegermutter keine großen Sympathien hatte.
Aber Dörthe sei ein viel zu zartfühlendes und gutes Kind gewesen, als daß sie
die Großmutter je verletzt hätte.
Besonders dramatisch
gestaltete sich die Erzählung der Oberschwester von den letzten Besuchen
Dörthes. Schon nach der Hamburger Reise hatte Dörthe erzählt, wie unheimlich
ihr das Verhalten Grupens auf der Alsterfahrt war. Dörthe habe das deutliche
Gefühl gehabt, daß Grupen ihr nach dem Leben trachtete. Insbesondere ängstigte
sie sich vor seinen Heiratsanträgen. Dörthe sei auch zu ihr gekommen, als
plötzlich Grupen mit der Großmutter und den Kindern eingetroffen war. Dörthe
sei sehr erregt gewesen, und sie selbst äußerte die größte Angst für Dörthe.
Sie solle sich jeden Abend einschließen. Dörthe äußerte den Wunsch, sich einen
Revolver zu kaufen. Als Dörthe wegging, drehte sie sich noch einmal in der Tür
nach ihr um und sagte: „Ach, Du liegst so geborgen, mich gruselt, wenn ich in
mein Haus gehe.“ Als dann zwei Tage später der Zeugin die Nachricht von dem
Unglück überbracht wurde, habe sie sofort gesagt: „Das ist kein Unglück -
Dörthe ist ermordet worden.“
Sonnabend, 10. Dezember 1921, „Berliner
Morgenpost“, S. 1-2
Neue
aufregende Zwischenfälle im Prozeß Grupen.
Bettelvormünder einer
Millionenerbin. - Eine Erklärung der Geschworenen. - Die Aussage des
Kindermädchens Mohr.
Hirschberg, 9.
Dezember.
Von uns.
Sonderberichterstatter.
Nun sind auch die
seltsamen Vormünder der Millionenerbin Dörthe Rohrbeck vor Gericht erschienen,
deren Sparsamkeit das Mündel gezwungen hat, bei fremden Leuten um Geld zu
betteln, während die Zinsen und Zinseszinsen ihres großen Vermögens zu einem
neuen Reichtum anwuchsen. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß Dörthe Rohrbeck
ohne diese Vormünder nie in jene enge Verbindung mit Grupen und seiner Familie
gekommen wäre, die ihr jedenfalls zum Verhängnis geworden ist.
Als Zeuge wird
zunächst Amtsgerichtsrat T h o m a
s aufgerufen, der als Vorsteher des Amtsgerichtes
Lähn der Vormundschaftsrichter für Dörthe Rohrbeck war. Kaum betritt der
kleine, noch jugendliche Herr den Raum, so ist die Luft wieder „dick“. Denn
ohne die Engherzigkeit des Vormundes, sagt man, hätte sich weder Fräulein Zahn
noch Dörthe diesem Grupen anvertraut, der ihnen in ausgesprochener Notlage als
einziger mit Geldmitteln zu Hilfe kam, und was der in Tempelhof wohnende
Vormund engherzig vorschrieb, hat der in unmittelbarer Nachbarschaft wohnende
Vormundschaftsrichter stets gebilligt, ohne sich . was so leicht gewesen wäre -
an Ort und Stelle von den Verhältnissen zu überzeugen.
Er muß das in seiner
Vernehmung zugeben, wie er auch keinen Widerspruch erhebt, als Frl. Z a h n
ihm öfters vorhält, daß die Einkünfte der jungen Schloßherrin, die ein
vermögen von mehr als drei Millionen besaß, von anfangs 26 000 Mark
(einschließlich der Gehälter und Naturalverpflegung) auf 1000 Mark monatlich
und später auf 120 Mark, ja hundert Mark wöchentlich (ausschließlich der
Gehälter und Naturalverpflegung) reduziert wurden. Als Fräulein Zahn anläßlich
der Konfirmation bei ihm einen Zuschuß beantragte, gab er ihr den Rat, die
Kleider für Dörthe aus den alten Anzügen des Vaters machen zu lassen und die
seidenen Hemden des Verstorbenen zu Blusen zu verarbeiten, was ein Lachen der
Entrüstung im Saale hervorruft.
Vorsitzender: Der
Vormund hat dann Fräulein Zahn wiederholt gekündigt, obwohl in dem Testament
stand, daß diese die Erziehung des Fräuleins bis zu ihrer Mündigkeit leiten
soll. Glaubte denn der Vormund und Sie, daß Sie hierzu ein Recht hatten? -
Zeuge: Das war jedenfalls die Ansicht des Vormundes und meine auch. -
Vorsitzender: Ihre Ansicht, aber die oberen Gerichte waren jedenfalls anderer
Ansicht. (Heiterkeit, die der Vorsitzende rügt.) Weshalb wollte der Vormund
Fräulein Zahn entlassen? - Zeuge: Er war der Meinung, daß ihm Fräulein Zahn das
Mündel entfremdete. - Vorsitzender: Aber der Vormund hatte doch gar keine
persönliche Beziehungen zu Fräulein Rohrbeck. Er war doch nur ein früherer
Jagdgast des Herrn Rohrbeck.
Aber die Situation
spitzt sich weiter zu, als der Zeuge erzählt: Kurz vor der Tat hatte der
Vormund beantragt, einige alte morsche Kastanienbäume vor dem Herrenhause
niederhauen zu lassen, wogegen Fräulein Rohrbeck, die die alten Bäume liebte,
Einspruch erhob. Der Vormund bestand darauf, weil er die Verantwortung für
einen Unglücksfall nicht übernehmen konnte. Fräulein Rohrbeck hatte am Tage vor
der Mordtat die Entscheidung des Vormundschaftsgericht zugestellt erhalten. Als
ich dann, sagt Zeuge, am Tage der Tat um 3 Uhr mit der Eisenbahn aus Hirschberg
in Lähn ankam, wurde ich von Sanitätsrat Dr. Scholz und anderen abgeholt, die
mich von dem Geschehenen unterrichteten. Ich eilte sofort nach dem Herrenhause,
wo mir Fräulein Zahn entgegentrat. Ich fragte: Dörthe wird sich doch die
Geschichte mit den dummen Bäumen nicht zu Herzen genommen haben? Ich zitterte
an allen Gliedern, während Fräulein Zahn eine unglaubliche Ruhe bewahrte. Ich
konnte ihr keine Erregung anmerken. Sie hat gelacht.“
In diesem Augenblick
geht eine heftige Bewegung durch den ganzen Saal. Man sieht im Halbdimmer des
Lampenlichts die schwarze Gestalt des Fräulein
Z a h n sich erheben. Unter
Schluchzen ruft sie aus:
„Das ist zuviel, Herr
Vorsitzender, das ist zuviel, das kann ich nicht ertragen!“
Auf Zureden des
Vorsitzenden verläßt Fräulein Zahn in tiefer Erregung den Saal.
Ein Geschworener
stellt die Frage: „Wie konnte der Zeuge glauben, Fräulein Dörthe habe sich
wegen der Kastanienbäume das Leben genommen, wo er doch über den Tatbestand
schon halbwegs unterrichtet war?“
Zeuge: Ich gebe zu,
daß der Gedanke nicht sehr geistreich war - er kam mir aber -
Verteidiger Dr.
Ablaß: Ich bedauere, daß Fräulein Zahn im Augenblick abwesend ist, aber ich muß
darauf zurückkommen, daß Fräulein Zahn von der Vormundschaft wegen ihres
„taktlosen Verhaltens“ Vorwürfe gemacht worden sind. Der Ausdruck kommt nicht
von mir. Er steht in den Akten.
Zeuge: Ich habe die
Worte gebraucht. Ich hatte sie bei einem Zwischenfall angewandt, der sich
nachher als ein Mißverständnis herausstellte. Taktlos fand ich es andrerseits,
daß Fräulein Zahn das Mündel über die vielfachen Differenzen, die zwischen
Fräulein Zahn und den Vormündern bestanden, unterrichtete.
Vorsitzender (mit
erhobenem Ton): Erlauben Sie, Herr Amtsgerichtsrat, Fräulein Zahn war die
Vertraute Dörthes. Mit wem sollte sie sich denn sonst aussprechen? Außerdem
machte sie doch ihre Schritte bei den Vormündern im Interesse Dörthes. Wollten
Sie vorher wirklich sagen, daß Fräulein Zahn gelacht hat, oder wollten Sie nur
sagen, daß Fräulein Zahn eine bewunderungswürdige Ruhe gezeigt hat?
Zeuge (zögert): Ich
wollte sagen, daß ich nie eine Frau gesehen habe, die in einer solchen
furchtbaren Situation eine solche Ruhe gezeigt hätte. - Vorsitzender: So - ich
habe vorher nach dem Ton Ihrer Aussage die Empfindung gehabt, als wollten Sie
an Fräulein Zahn eine üble Kritik üben.
Da geschieht das
Außerordentliche: Unter großer Bewegung im Saale erhebt sich einer der
Geschworenen: „Im Namen der Geschworenen erkläre ich, daß wir uns dem Urteil
des Herrn Vorsitzenden über die Aussage des Zeugen anschließen.“
Verteidiger Dr.
Ablaß: „Ich stelle den Antrag, die Erklärung des Geschworenen zu Protokoll zu
nehmen.“
Der ganze Saal
begreift: War die Erklärung des Geschworenen zulässig? Ist ein Revisionsgrund
gegeben?
Der Gerichtshof zieht
sich zur Beratung zurück und hinterläßt den Saal in fieberhafter Aufregung.
Nach langer Beratung
treten die Herren wieder ein. Der Vorsitzende richtet noch einmal das Wort an
den Zeugen: „Sie sollten, Herr Zeuge, nur ausdrücken, daß Sie eine Frau in
einer so schweren Lage nie in so vollkommener Ruhe gesehen haben?“
Zeuge: „Ja!“
Vorsitzender: „Gut! Das
Gericht hat zu Protokoll genommen: „Einer der Geschworenen gibt eine Erklärung
ab, die besagt, daß man auf der Geschworenenbank die Aussage des Zeugen als
eine Kritik am Verhalten des Fräulein Zahn angesehen habe. Der Zeuge hat
wiederholt ausgesprochen, daß eine solche Kritik nicht in seiner Absicht lag.
Die Geschworenen wurden nochmals von dieser Absicht des Zeugen unterrichtet.“
Damit ist wohl das Mißverständnis aufgehoben.“
Der Herr Vormund.
Der Vormund Dörthes,
Hauptmann a. D. V i e l h a c k , ein
stattlicher Herr von 65 Jahren, wird sodann aufgerufen. Die Beziehungen
zwischen dem Zeugen und Dörthes Vater waren nur jagdfreundlicher Natur. „Ich
selbst“ - sagt er - „war sehr überrascht, daß Rohrbeck mich zum Vormund seiner
Tochter gemacht hatte. Ich erfuhr es erst von Fräulein Zahn, als ich von ihr zu
dem kranken Herrn Rohrbeck gerufen wurde. Ich wußte, Herr Rohrbeck wünschte
nicht, daß seine Tochter von seinen Verwandten erzogen würde, insbesondere
nicht von seiner Schwägerin Frau S
c h a d e (der späteren Frau des Angeklagten). Vor dem
Besuch bat mich Fräulein Zahn, ich möchte bei Herrn Rohrbeck dafür sprechen,
daß sie testamentarisch zur Erzieherin seiner Tochter bestellt würde. Ich
selbst erwähnte, daß es für mich praktisch war, wenn Fräulein Zahn die
Erziehung behielte. In diesem Sinne sprach ich kurz vor dem Tode mit Rohrbeck,
der einen entsprechenden Nachsatz in dem Testament machte.“ Der Zeuge gibt nun
in militärischem Tone die Einzelheiten der Wirtschaftsführung an. Fräulein Z a h n sei mit dem Gelde nicht ausgekommen.
Vorsitzender: Es ist
doch aber alles soviel teurer geworden. - Zeuge: Wir müssen uns alle
einschränken. Ich habe dann den Eindruck gehabt, daß es für Dörthe besser war,
in eine Pension zu gehen. Vorsitzender: Aber Fräulein Zahn war doch
testamentarisch zur Erzieherin bestellt worden. - Zeuge: Ich hatte den
Eindruck, daß Fräulein Zahn mir Dörthe fernhielt. Sie hielt es nicht für nötig, Dörthe meiner
Frau vorzustellen.
Vorsitzender: Die
Unterlassung der Vorstellung konnte doch kein Grund sein, Fräulein Zahn zu
kündigen. - Zeuge: Ich habe auch sonst Ungünstiges über Fräulein Zahn gehört.
Da ich direkt keine Nachricht bekam, mußte ich mich auf Hintertüren verlegen,
und so verständigte ich mich mit einem Fräulein Christiane, das ¼ Jahr Lehrerin
in Kleppelsdorf war. Sie hat mir gesagt, daß bei einem gemeinsamen Spaziergang
das Kind hinterher gegangen sei, und als Fräulein Christiane das rügte, habe
Fräulein Zahn gesagt: „Lassen Sie doch - das Kind grübeln.“
Vorsitzender: Und das
machen Sie Fräulein Zahn zum Vorwurf? Das ist doch Klatsch, was haben Sie
weiter erfahren? - Zeuge: Dörthe Rohrbeck hat über den Tod des Leutnant M a t t
h ä i geweint - sie soll sogar
mit ihm verlobt gewesen sein, und das war nur ein Beweis g e g e n
die Erziehung des Fräulein Zahn. Denn sie hätte es nicht zulassen
dürfen, daß ein Kind einer so leidenschaftlichen Mutter, das eine so
leidenschaftliche Tante hat, sich verlobt.
Grupens „Stütze“ Luise Mohr. (Anm.: Luise, Martha oder Marie? Wahrscheinlich Marie)
Aeußerst eingehend
gestaltete sich die Vernehmung der Zeugin Martha Mohr, die im Dezember zu dem
Angeklagten nach Ottenbüttel gekommen war und mit ihm in intimen Beziehungen
stand, auch die Nacht vor der Tat mit ihm verbrachte. Martha Mohr ist das
typische blonde Landmädchen von der Waterkant, offenbar nicht von sehr wacher
Intelligenz. Der Staatsanwalt beantragt, von einem Gutachten Geheimrat M o l l s
unterstützt, die Entfernung des Angeklagten während der Vernehmung, da
die Gefahr der Beeinflussung bestehe. Der Antrag wird abgelehnt.
Die Vernehmung dieser
neben der Schwiegermutter Frau Eckert wichtigsten Zeugin ergibt das Bild einer
jedenfalls beschränkten Person. Ihr Gedächtnis ist schwach, sie gerät oft in
Widersprüche und erinnert sich erst nach wiederholten Vorhalten an gewisse
Einzelheiten. Nur an einem Punkt hält sie merkwürdigerweise sehr fest: daß der
Angeklagte sich in der kritischen Stunde nicht aus dem Wohnzimmer entfernt
habe. Es ist um so auffallender, als gerade in diesem Punkte vom Staatsanwalt
eine Beeinflussung von seiten des Angeklagten angenommen wird.
Die Zeugin wird
zunächst über die getötete Ursula befragt. Einen Revolver hat sie nie in
Ursulas Händen gesehen. Ueber Frau Eckert sagt die Zeugin, Frau Eckert habe mal
geäußert, Dörthe sei genauso verschwenderisch wie Fräulein Zahn, habe sich auch
sonst gelegentlich über Dörthes mangelnde Liebe und über den kühlen Empfang
beklagt. Frau Eckert hat auch gesagt, Herr Vielhack (der Vormund) hat Recht
gehabt, wenn er in einem Brief schrieb, die zwei Kleppelsdorfer werden ein Ende
mit Schrecken nehmen, anders verdienen sie es nicht.
Vorsitzender: Fanden
Sie diese Aeußerung nicht übertrieben - für den schlechten Empfang einer
Großmutter gleich ein Ende mit Schrecken? - Zeugin: Ich verstand die Aeußerung
damals gar nicht. Vorsitzender: Hat
Ihnen die kleine Ursula einen Brief an die Großmutter gegeben? - Zeugin: Ja,
aber am Abend kam sie und sagte, ich soll ihn erst am übernächsten Tage
abgeben. - Vorsitzender: Haben Sie denn das getan? - Zeugin: Nein, sie kam am
Abend wieder und sagte, ich soll ihn erst am übernächsten Tage geben. Ich habe
sie dann gefragt, warum sie ihn nicht selbst abgibt. Sie war ganz vergnügt und
sagte, es sei eine Ueberraschung für Großmutter. Nach drei Tagen gab ich ihr
den Brief zurück.
Vorsitzender: Hat der
Angeklagte etwas von dem Brief gewußt? - Zeugin: Er hat den Brief in meiner
Handtasche gesehen; ich sagte ihm, es sei ein Brief Ursulas, eine Ueberraschung
für die Großmutter. Der Angeklagte hat den Brief sich nicht angesehen.
Das Gespräch wendet
sich jetzt dem Tage der Tat zu. Martha Mohr schildert zunächst die Vorgänge am
Tage in der bekannten Weise, Ursula verließ, ohne ein Wort zu sagen und ohne
vom Angeklagten aufgefordert zu sein, das Zimmer. Daß Ursula Dörthe
herausgerufen hat, hat sie nicht bemerkt.
Dann haben wir Mühle
gespielt, Irmgard und ich gegen Grupen. Später haben wir Aepfel gegessen.
Irmgard sollte die Ueberreste ins Klosett werfen.
Vorsitzender: Ist der
Angeklagte hinter ihr hergegangen? - Zeugin: Nein. - Vorsitzender: Hat er ihr
die Tür geöffnet? - Zeugin: Nein. Er saß und spielte mit mir. - Vorsitzender:
Aber der Angeklagte sagt doch selbst, daß er Irmgard die Tür geöffnet hat. -
Zeugin: Davon weiß ich nichts. Irma brachte den verfaulten Apfel zurück, weil
er zu groß für das Abflußrohr war. Darauf stand der Angeklagte auf und warf den
Apfel in den Ofen.
Vorsitzender: Das ist
vollkommen neu. Ist der Angeklagte im Zimmer auf und ab gegangen? - Zeugin: Nein.
Staatsanwalt: Hat der
Angeklagte nicht auch das Nebenzimmer betreten? - Zeugin: Nein. - Staatsanwalt:
Aber hat der Angeklagte nicht Apfelsinen ins Nebenzimmer gebracht? - Zeugin:
Das kann sein. - Staatsanwalt: Dann muß er doch mal vom Spiel aufgestanden
sein.
Verteidiger Dr.
Ablaß: Hat Grupen während dieser Stunden das Zimmer verlassen? - Zeugin: Nein.
Vorsitzender: Können
Sie das, war Sie bisher immer behauptet haben, auch heute beschwören? - Zeugin:
Ja.
Sachverständiger:
Erinnern Sie sich, daß der Angeklagte Frl. Zahn gefragt hat, was auf
plattdeutsch „Küßchen" heißt? - Zeugin: Ja. (Bewegung.)
Vorsitzender: Zeugin,
Sie müssen hier die volle Wahrheit sagen. Sie haben in der Voruntersuchung
gesagt: Sie glauben alles, was Grupen sagt. Hat der Angeklagte nach der
Auffindung der Leichen nicht gesagt: „Es war gut, daß wir oben zusammen waren?“
- Zeugin: Nein. - Vorsitzender: Eine andere Zeugin kann es aber bestätigen. -
Zeugin (zögernd): Es kann sein.
Vorsitzender: Nach
der Tat, als Sie mit dem Angeklagten und Frau Eckert zusammen waren, wurde da
von der Erbschaft gesprochen? - Zeugin: Nein. - Vorsitzender: Als der
Angeklagte abgeführt wurde, hat er nicht gesagt: „Wenn Ihr aussagt, daß ich
oben war, wird meine Unschuld bald herauskommen“? - Zeugin: Nein; ich soll vor
allen Dingen die Wahrheit sagen, dann werde sich seine Unschuld schon
herausstellen.
Vorsitzender: Zeugin,
überlegen Sie sich genau: Als der Angeklagte nach Hirschberg geschafft wurde,
hat man da geweint? - Zeugin: Ja. - Vorsitzender: Hat der Angeklagte mit Ihnen
gesprochen? - Zeugin: Nein.
Vorsitzender: Aber
erinnern Sie sich nicht, daß der Landjäger die Unterhaltung verbot? - Zeugin:
Nein. - Vorsitzender: Hat er nicht etwas plattdeutsch zu Ihnen gesagt? - Zeugin
(zögernd): Ja, es ist möglich, daß er da gesagt hat, ich soll bei der Wahrheit
bleiben.
Vorsitzender: Wie
heißt denn das auf plattdeutsch? - Zeugin: Bliew bi die Wahrheit, dann wird
sich meine Unschuld schon herausstellen.
Vorsitzender: Das
hätten der Landjäger und die Großmutter auch verstanden, die ausdrücklich
sagen: sie hätten es nicht verstanden.
Angeklagter: Hat sich
die Frau Eckert über die Erbschaft geäußert? - Zeugin: Ja. Frau Eckert hat
gesagt, sie sei jetzt Millionenerbin.
Der Staatsanwalt
fragt den Angeklagten, was er damals plattdeutsch gesagt habe.
Der Angeklagte sagt
etwas, was vollständig unverständlich bleibt und ungefähr lautet: Bleib bei der
Wahrheit, geniere Dich auch nicht, über unser Verhältnis zu sprechen.
Verteidiger Ablaß: Das
war allerdings vollkommen unverständlich.
Vorsitzender: Hat der
Angeklagte das so gesagt? - Zeugin: Ja.
Vorsitzender: Aber warum haben Sie denn zuerst abgestritten, daß der
Angeklagte überhaupt etwas gesagt habe? - Zeugin schweigt.
Hierauf wird die
Oeffentlichkeit ausgeschlossen.
Sonntag, 11. Dezember 1921, „Berliner
Morgenpost“, S. 1-2
Dörthes
Großmutter als Zeugin.
Die verschwundene
Tochter. - Ursulas Brief. - „Ein paar Minuten kann Grupen weg gewesen sein!“ -
Die Erbin Aller.
Hirschberg, 10.
Dezember.
Von uns.
Sonderberichterstatter.
Der heutige
Verhandlungstag brachte die Zeugenaussage der Großmutter der beiden getöteten
Mädchen Dörthe Rohrbeck und Ursula Schade. Diese Aussage ist von großer
Wichtigkeit, da die alte Frau jedenfalls vor und nach der Tat sich im selben
Zimmer befand wie der Angeklagte und ihre Bekundungen um so mehr ins Gewicht
fallen, als die beiden anderen, im Zimmer anwesend gewesenen Personen, nämlich
die Stütze Marta Mohr und die kleine Irma Schade widersprechend aussagten,
überdies die Glaubwürdigkeit beider angezweifelt wird. Denn die Mohr war die
Geliebte Grupens und Irma Schade ist ein Kind, das sich vielleicht der
Tragweite seiner Aussage nicht bewußt ist. Auch Frau Eckert, die Großmutter,
hat nunmehr zugegeben, daß möglicherweise Grupen in der kritischen Zeit für
einige Minuten das Zimmer im oberen Stockwerk verlassen hat, bekanntlich eine
der wichtigsten Fragen in dem rätselhaften Prozeß. Auch im übrigen waren die
Aussagen der Großmutter wichtig und brachten mancherlei Aufklärung.
Frau E c k e r t
ist eine nahezu 78jährige, magere Frau, die aber noch sehr rüstig und
geistig frisch ist. Sie macht ihre Aussagen klar und deutlich.
Vorsitzender: Sie
sind die Schwiegermutter des Angeklagten. - Zeugin: Ja, leider. - Vorsitzender:
Sie brauchen nicht auszusagen, wenn Sie nicht wollen. - Zeugin: Ich will
aussagen. Nachdem Fräulein Zahn ins Haus gekommen war, ist mir die Liebe
Dörthes entfremdet worden. Ich habe um ihre Liebe geworben, aber Fräulein Zahn
hat Dörthe mehr ihren eigenen Verwandten zugeführt.
Vorsitzender: Wie
standen Sie denn mit Ihrer zweiten Tochter, der späteren Frau Grupen? - Zeugin:
Zuerst ganz gut. Nach dem Tode des ersten Mannes hatte sie ein Verhältnis mit
dem Seifenfabrikanten Schulz aus Perleberg. - Vorsitzender: Hatte sie nicht
schon vor dem Tode ein Verhältnis mit ihm? - Zeugin: Ich weiß nichts davon,
später zog sie nach Berlin, sie verlobte sich mit dem Staatsveterinär Reske,
dessen Tochter aus erster Ehe sie sofort zu sich nahm.
Vorsitzender: Nach
einer Weile kamen Fräulein Zahn und Dörthe nach Itzehoe zu Besuch. - Zeugin:
Ja, auf einer Verwandtenreise. Ich war sehr erfreut, aber sie wollten am
nächsten Tage nach Hamburg, um sich zu amüsieren.
Vorsitzender: Ich
komme nun zum Verschwinden Ihrer Tochter. Was geschah denn nach seiner Rückkehr
vom ersten Besuch in Kleppelsdorf beim Notar? - Zeugin: Ich konnte doch nicht
die Papiere, die ich hatte, selbst verwalten und hatte ihm Generalvollmacht
gegeben. Nun wollte Grupen, daß ich, wie meine Tochter es auch tat, meine
Hypothek auf die Perleberger Apotheke auf sie übertrage. - Vorsitzender: Warum
taten Sie denn das? - Zeugin: Ja, das war doch eben meine Dummheit. Zwei Tage
später erklärte meine Tochter persönlich, sie wolle nach Kleppelsdorf. Ich verstand
das gar nicht, weil die Kinder doch nicht in Ordnung waren. Sie verabschiedete
sich dann gar nicht als ob sie auf eine lange Reise gehen wollte, auch von den
Kindern nicht sehr herzlich. Sie nahm nur einen Handkoffer mit, ihre Kleider
waren auch nicht für eine weite Reise.
Vorsitzender: Der
Angeklagte begleitete Ihre Tochter und dann kam er zurück. - Zeugin: Er sagte,
in dem Koffer sei Wäsche, die nach Hamburg geschickt werden solle. Aber meine
Tochter hatte die Wäsche immer nach Neumünster geschickt. Ich Telefonierte und
telegraphierte nach Kleppelsdorf, wo ich zu meinem Schrecken hörte, daß meine
Tochter gar nicht angekommen sei. Dann fuhr der Angeklagte nach Kleppelsdorf.
Vorsitzender: Sie
wußten doch nicht, daß Ihre Tochter angeblich nach Amerika gegangen sei? -
Zeugin: Nein.
Vorsitzender (zum
Angeklagten): Aber Sie hatten doch die Abschiedsbriefe Ihrer Frau schon
gelesen? - Angeklagter: Ja, ich wollte eben Dörthe als Trost für die Großmutter
haben, wenn ich ihr die Abreise ihrer Tochter mitteilte.
Vorsitzender (zur
Zeugin): Dann kam er mit Dorothea zurück? - Zeugin: Ja, und dann las er mir die
Abschiedsbriefe vor, und ich glaubte wirklich, daß meine Tochter nach Amerika
gegangen sei. - Vorsitzender: Haben Sie denn nichts getan, um Ihre Tochter zu
suchen? - Zeugin: Der Angeklagte hat mir gesagt, er habe einen Hamburger
Detektiv beauftragt. Der habe gemeldet, meine Tochter sei mit einem reichen
Herrn durchgegangen, und es gehe ihr sehr gut. Außerdem erzählte er mir sehr
Schlechtes über meine Tochter.
Vorsitzender: Nun
kommt die gemeinsame Reise nach Kleppelsdorf. - Zeugin: Ich reiste erst nicht
gerne, mitten im Winter, aber der Angeklagte überrede mich. Ich richtete mich
auf acht Tage ein. Unterwegs sagte er mir: „Wir können ja sagen, wir kommen,
weil wir von Ottenbüttel wegziehen.“
Vorsitzender: War die
Möglichkeit vorhanden, daß Ursel den Revolver mitgenommen hat? - Zeugin: Nein.
Ich habe sie nie mit einer Waffe gesehen; sie konnte meines Wissens auch nicht
schießen. - Vorsitzender: Aber haben Sie den Revolver bei dem Angeklagten
gesehen? - Zeugin: Ja, er lag in der offenen Schreibtischschublade. Der Angeklagte
hatte ihn kurz vorher angeblich für seinen Bruder gekauft.
Vorsitzender: Haben
Sie einmal geäußert, es werde in Kleppelsdorf ein Ende mit Schrecken geben? -
Zeugin: Ich besinne mich nicht.
Eine wichtige Debatte
entspinnt sich über den Brief, den Ursula an eine Frau B a r t e l s in Itzehoe geschrieben hat. Ursula hatte den
Brief ursprünglich auf Veranlassung der Großmutter verfaßt, weinte aber später,
als sie den Brief noch einmal schreiben sollte. Das Konzept des Briefes ist
später in der Hosentasche des Angeklagten gefunden worden; die
Staatsanwaltschaft nimmt an, daß der Angeklagte den Brief noch einmal schreiben
ließ, um für die Fälschung des Abschiedsbriefes an „Großmutti“ ein Modell zu
haben. Der Angeklagte hatte bisher immer gesagt, Ursula habe auf Anordnung
der G r o ß m u t t e r den Brief noch einmal geschrieben. Dies bestreitet
heute Frau Eckert aufs Entschiedenste. Ursel habe geweint, weil sie den Brief
noch einmal schreiben mußte. Aber wer das angeordnet hat, weiß Frau Eckert
nicht.
Ueber das Verhältnis
Ursulas zu dem Angeklagten sagt sie: „Sie liebte ihn sehr, sie war sehr
anhänglich an ihn geworden, half ihm beim An- und Ausziehen und war sonderbar
traurig, wenn er nicht anwesend war.“ Frau Eckert schildert dann die Vorgänge
in der kritischen Stunde zunächst in der bekannten Weise.
Vorsitzender: Haben
Sie bemerkt, daß Irmgard mit den Apfelresten das Zimmer verlassen hat? -
Zeugin: Nein, ich habe nur gesehen, daß sie die Apfelreste in den Ofen geworfen
hat, oder mir war doch so. - Vorsitzender: Daß Irmgard aus dem Zimmer gegangen
ist, wissen Sie nicht? - Zeugin: Nein, das habe ich nicht bemerkt.
Bewegung im Publikum,
weil ja Irmgard und der Angeklagte selbst angeben, daß Irmgard das Zimmer
verlassen hat, und man erstaunt darüber ist, daß die Großmutter das nicht
bemerkt haben soll.
Vorsitzender: Waren
Sie vielleicht ein bißchen eingeschlafen?
Zeugin: Das ist wohl
möglich. Ich saß da und häkelte, und dabei schläft man wohl mal ein, wenn man
ein alter Mensch ist.
Vorsitzender: Und wo
war der Angeklagte? - Zeugin: Er ging im Zimmer auf und ab. Während dieser
Zeit, weiß ich, haben Irmgard und Martha Mühle gespielt. Dann glaube ich, daß
er Irmgard sagte, wo sie die Apfelreste hinwerfen solle. Jedenfalls habe ich
ihn dann für eine Weile nicht gesehen. Nachher saß er wieder auf seinem Stuhl.
Vorsitzender: Kann er
sich auch aus dem Zimmer entfernt haben? - Zeugin: Ich habe es nicht gesehen,
aber ich weiß genau, daß ich ihn für eine Weile aus den Augen verloren habe.
Vorsitzender: Wie
lange kann er abwesend gewesen sein? - Zeugin: Einige Minuten kann es gewesen
sein. Ich weiß nur, daß inzwischen Irmgard und Fräulein Mohr zusammen Mühle
spielten. Nachher saß er wieder da. - Vorsitzender: Glauben Sie, daß die Zeit
ausreichte, um bis zu dem Mordzimmer zu gelangen und von dort zurückzukommen? -
Zeugin: Nachdem die Versuche neulich in Kleppelsdorf gemacht worden sind und
man festgestellt hat, daß zu dem Wege nur 59 Sekunden gebraucht werden, habe
ich das Gefühl gehabt: ein paar Minuten kann er weg gewesen sein. (Große
Bewegung.)
Vorsitzender: Wie Sie
nun nach der Tat den Brief von Ursula in die Hand bekommen haben, was haben Sie
gedacht? - Zeugin: Ich war ganz sprachlos. Zuerst glaubte ich das, was in dem
Brief stand, und hielt Ursula für die Mörderin. Aber ich bin dann zu der festen
Ueberzeugung gekommen, daß es Ursula gar nicht gewesen sein konnte. Sie war ja
viel zu schwach, sie konnte keine Wasserkanne aufheben.
Vorsitzender: Hat
nicht der Angeklagte nachher gesagt, es sei seine Waffe? - Zeugin: Ja. -
Vorsitzender: Haben Sie ihn dann getröstet? - Zeugin: Er warf sich über die
Ursel und rief: „Mach doch die Augen auf und sage, wer es gewesen ist!“ - Und
da habe ich ihn getröstet und gesagt: „Aber du bist doch unschuldig!“
Einen langen Raum
nimmt dann die Debatte ein über die Frage, ob Frau Eckert zuerst von der Erbschaft
gesprochen habe oder der Angeklagte, als sie geraume Zeit nach der Tat im
Eßzimmer beisammen saßen. Frau Eckert versichert aufs Bestimmteste, daß der
Angeklagte zuerst es gewesen sei, der gesagt habe: „Nun bist du die Erbin.“
Dann wird versucht,
die Vermögensverhältnisse des Angeklagten klar zu stellen.
Zeugin: Ich habe
nicht darüber nachgedacht, wie er Geld verdiente. Angeblich hatte er einen
Kompagnon, mit dem er Baugeschäfte machte. Im übrigen hatte er Verfügung über
unser Vermögen. Einmal hat er meine Brillantbrosche nach Hamburg mit meiner
Erlaubnis mitgenommen, um sie zu verkaufen. Er tat das aber nicht. Später
behauptete er, meine Tochter hätte die Brillanten mit nach Amerika genommen. In
Wirklichkeit waren die Schmuckstücke in Hamburg versetzt worden. Außerdem soll
meine Tochter 70 000 Mark mit nach Amerika genommen haben. Als ich in Sorge um
meine Zukunft war, sagte er mir, er habe schon eine Viertel Million Mark
Vermögen, und er habe ein Testament zu meinen Gunsten und meiner Enkelkinder gemacht.
Staatsanwalt: Hat der
Angeklagte ein Testament gemacht? - Angeklagter: Ja, zugunsten meiner Frau und
meiner Kinder.
Die weitere
Vernehmung der Zeugin Eckert wird Montag unter Ausschluß der Oeffentlichkeit
fortgesetzt.
Dienstag, 13. Dezember 1921, „Berliner
Morgenpost“, S. 1-2
Neue
Zeugen im Grupen-Prozeß.
Briefe und Telegramme
an das Gericht. - Ursulas Krankheit. - Der gute Schütze. - Nochmals die
verschwundene Frau.
Der Prozeß vor den
Hirschberger Geschworenen, der nur für acht bis zehn Tage anberaumt war, hat
durch den Gang des Beweisverfahrens eine solche Ausdehnung erfahren, daß er
bestenfalls Ende dieser Woche durch das Urteil seinen Abschluß finden dürfte.
Es sind doch eine ganze Reihe von Zeugen zu vernehmen, denen die Aussagen der
Sachverständigen folgen werden. Gerade in diesem Prozesse sind die Gutachten
der Sachverständigen von besonderer Wichtigkeit, da man annimmt, daß ihre
Aussagen gerade in einige der dunkelsten Rätsel des Prozesses einiges Licht
bringen werden. Bei der Größe des Prozeßstoffes und der Wichtigkeit fast jedes
einzelnen Details sind auch sehr ausgedehnte Plaidoyers des öffentlichen
Anklägers und der Verteidiger zu erwarten.
Das außerordentliche
Interesse, das der Prozeß nicht nur am Verhandlungsorte, sondern in ganz
Deutschland, ja sogar im Auslande findet, hat dazu geführt, daß an den
Gerichtshof zahlreiche Schreiben gelangt sind, in denen gute Ratschläge zur
Erforschung der Wahrheit gegeben werden. Sogar aus der Schweiz langte ein
Telegramm an, in dem versichert wurde, Grupens verschwundene Frau lebte als
internationale Rokotte in der Schweiz und versorge mit dem Ueberschuß ihrer
Einkünfte, was ihr dank der Valuta leicht falle, ihren angeklagten Gatten.
Freilich bemerkte der Absender des Telegrammes, daß er seine Kenntnis aus -
spiritistischen Kreisen habe. Ein
anderes Telegramm lautete: „Kann nach der Handschrift männliches und weibliches
Geschlecht unterscheiden.“ Und Dutzende von mehr oder minder konfusen oder
verrückten Schreiben und Telegrammen ähnlicher Art. Der Vorsitzende sagt mit
heiterer Verzweiflung: „Die Irrsinnigen fangen schon an, uns Briefe zu
schreiben.“
Ein Wort noch den
verdienten Männern, die in diesem alle Kräfte anspannenden Prozeß der Erforschung
der Wahrheit dienen. Ueber alles Lob erhaben ist die Führung der Verhandlung
durch den Vorsitzenden, Oberlandesgerichtsrat
K r i n k e . Er war bisher
Staatsanwalt, und dies ist der erste große Prozeß, den er leitet. Dieser
Vorsitzende ist nicht nur Jurist, er ist ein Mensch. Dem bleichen, scharfen und
eckig geschnittenen Gesicht merkt man nicht sogleich die große geistige
Beweglichkeit, die schmiegsame, auf feinster Seelenkenntnis beruhende Fähigkeit
an, Menschen zu behandeln. Es ist ein Genuß, ihn mit Kindern sprechen zu hören;
aber aus seiner langen Staatsanwaltspraxis hat er sich auch eine Waffe
mitgebracht: eine Ironie von tödlicher Wirkung. Und dennoch - als er sie mit so
unfehlbarem Geschick gegen den Vormund Dörthes anwendete, da steckt doch eben
Herz und nichts als das dahinter. Lebendigstes Gefühl für das arme, liebliche
Opfer, von dem heute einer, der Dörthe gut kannte, sagte: „Ich bin ein
geschworener Junggeselle, aber die hätte ich geheiratet …“
Der Erste
Staatsanwalt, eigentlich schon Oberstaatsanwalt in Köln, Dr. R e i f e n r a t h , beherrscht den gesamten Stoff des
Riesenprozesses bis in seine feinsten Windungen und Ausläufer. Ein
passionierter Kriminalist, der mit ganzer Seele bei der Sache ist. Die beiden
Verteidiger endlich, die Justizräte Dr. Ablaß und Dr. Mamroth, in Kämpfen um
das Recht ergraute Männer, der erstere von unerschütterlicher Ruhe und ein
gewiegter Strafrechtsjurist, der andere temperamentvoll, findig und erfahren,
seine ideale Ergänzung.
***
Heute wurde das
Zeugenverhör fortgesetzt. Zunächst bekundete Frau Oberst S e m m e r a k , daß Dörthe das Muster eines wohlerzogenen
Mädchens war. Die Neigung zu dem gefallenen Leutnant war lediglich eine Mädchenschwärmerei.
Rittmeister L u x
berichtet von dem psychologischen Experiment, das er mit Frau Eckert
nach dem Morde angestellt hat. Während Frau Eckert in dem gewohnten Stuhl im
Wohnzimmer genau wie am Tage des Mordes halb häkelte, halb nickte, entfernte er
sich aus dem Zimmer. Er brauchte zu dem Wege ins Mordzimmer fünfzig Sekunden.
Seine Abwesenheit war von Frau Eckert nicht bemerkt worden. Von Frau G r u p e n
gewann er aus persönlicher Beobachtung den Eindruck, daß sie an ihren
Kindern sehr hing.
Dem
Gutsverwalter S c h ü p k e hat der Angeklagte drei Tage vor der Tat
erklärt, er interessiere sich für Schießsport und sei ein ausgezeichneter
Schütze. Auf die Frage: Dann schieße er wohl wie der Kaiser mit einem Arm,
hatte Grupen geantwortet: „Vielleicht noch besser.“
Gasanstaltsdirektor W r o
b e l aus Hirschberg, der von der
Staatsanwaltschaft zu hypnotischen Experimenten an den Prozessbeteiligten
herangezogen war, als Sachverständiger zu Beginn der Verhandlung aber abgelehnt
wurde, bekundet als Zeuge, daß Frau E c
k e r t und I r m g a r d leicht zu beeinflussen waren. Fräulein M o h r
war jedoch von Wrobel nicht zu beeinflussen, hingegen Frau Eckert
außerordentlich leicht. Nach kurzer Beeinflussung erinnerte sie sich nicht, daß
jemand aus dem Zimmer herausgegangen war.
Die Beweisaufnahme
wendet sich hierauf unter Ausschluß der Oeffentlichkeit des angeblichen
Sittlichkeitsverbrechen an Grupens Stieftochter, Ursula, zu. Hierüber wird
zunächst Frau E c k e r t vernommen. Ursula klagte eines Tages über
Schmerzen, der Angeklagte erzählte ihr davon und fuhr mit dem Kinde zu einem
Arzt. Grupen gab als Ursache des Leidens eine harmlose Angelegenheit an. Ein
Gehilfe des Angeklagten behandelte dann das Kind unter Grupens Anleitung.
Frau Eckert hat das
damals als lobenswert empfunden, weil niemand anders da war.
Die kleine Ruth R e s k e ,
jetzt in Berlin-Zehlendorf bei den Großeltern, eine Pflegetochter der
Frau Grupen, berichtet, daß die Frau des Angeklagten einmal von Amerika sprach
und zu ihrem Mann sagte: „Wenn Du artig bist, später nehme ich Dich mit.“ Ruth,
offenbar ein sehr gewecktes Kind, erklärt heute, daß sie diese Aeußerung für
Scherz gehalten habe.
Es erscheint dann ein
damals sechzehn Jahre altes Dienstmädchen des Angeklagten. Ihr hat Grupen die
Ehe versprochen, als seine Frau noch bei ihm war. Die Zeugin hatte den
Angeklagten gern und trat in engere Beziehungen zu ihm. Von einem Vergehen
Grupens an seiner Stieftochter oder einer anormalen Handlung der Mutter der
Ursula gegenüber weiß die Zeugin nichts.
Landgerichtsrat P i e t s c h , der einen Teil der Voruntersuchung führte,
suchte aufzuklären, in welcher Weise der Angeklagte sich in seinen bisherigen
Angaben über die Auffindung des Revolvers widersprochen hat. Und noch etwas
bekundet er: „Ich fragte den Angeklagten, wo seine Frau sei. - Darauf erwiderte
er zunächst nichts, sondern sah mich starr und eigentümlich an. Als ich ihm
sagte, eine Auskunft über seine Frau würde ihm nur nutzen, antwortete er: „Ich
kann und werde über meine Frau erst in der Hauptverhandlung Auskunft geben. Ich
fürchte, ich würde dann meiner Frau und anderen Persönlichkeiten
Ungelegenheiten bereiten.“ Ich hatte den bestimmten Eindruck, daß der
Angeklagte mir mit Bezug auf seine Frau etwas verheimliche.“
Zu einem
interessanten Ergebnis führte die Vernehmung des Geheimrats D u b i e l , der die Voruntersuchung geführt hat. In der
Hauptverhandlung hatte der Angeklagte bisher stets bestritten, Ursula zur
Wiederholung des Schreibens an Frau Bartel veranlaßt zu haben. In der Voruntersuchung
hatte dies Grupen aber bereits zugegeben, was man ihm aber, weil es die
Strafpro-zeßordnung verbietet, nicht vorhalten konnte. Auf die Aussage Dubiels
hin bequemte sich Grupen nun doch zu sagen: „Ich habe immer gesagt, daß ich die
Ursula veranlaßt habe, den Brief noch einmal zu schreiben, aufgefordert habe
ich sie nicht.“
Er erinnert sich
offenbar an den seinen Unterschied von „uffjefordert“ und „injeladen“.
Mittwoch, 14. Dezember 1921, „Berliner
Morgenpost“ - Erste Beilage
Frau Grupens
Verschwinden.
Neue Zeugen im
Mordprozeß Grupen. - Lässige Suche nach der Verschwunden. - Ein verdächtiges
Hypothekengeschäft.
Hirschberg, 13.
Dezember.
Telegramm unsers
Sonderberichterstatters.
Zwei halbe Tage war
die Oeffentlichkeit in der Verhandlung über den Kleppelsdorfer Mord
ausgeschlossen. Nun wurde sie bei ungeheurem Andrang des Publikums
wiederhergestellt. Heute kommt die Zeugengruppe zur Vernehmung, die etwas von
dem Verschwinden der Frau G r u p e
n wissen soll.
Als erster Zeuge
tritt der Vater des ersten Mannes der Frau Grupen, Apothekenbesitzer S c h a d e
aus Berlin, auf. Er hat den Angeklagten, der sich ihm gegenüber als
reicher Mann aufspielte, zweimal gesehen. Die Abschiedsbriefe der Frau Grupen
habe er immer für falsch gehalten. Ihm gegenüber habe sie nie von ihrer
Auswanderungslust nach Amerika gesprochen. Ein Verhältnis seiner
Schwiegertochter mit einem anderen Manne zu Lebzeiten seines Sohnes habe nicht
bestanden. Er hat sich gesagt, es müsse ein fanatischer Einfluß seine
Schwiegertochter zur Abreise veranlaßt haben.
Es folgt die Frau des
Vorzeugen. Auch Frau Schade war von der plötzlichen Abreise ihrer
Schwiegertochter vollkommen überrascht. Ich habe diese Abreise um so weniger
verstanden - sagte sie -, als Frau Grupen ihre Kinder sehr liebte.
Verteidiger Dr.
Mamroth: Hat nicht Ihre Tochter einmal geschrieben, Peters Liebe zu den Kindern
sei rührend? - Zeugin: Ja. - Verteidiger Dr. Mamroth: Haben Sie den Eindruck
gehabt, Frau Grupen habe in geistiger Umnachtung gehandelt? - Zeugin: Nein. Ich
habe bloß zum Trost an Frau Eckert geschrieben, Trude sei nach jahrelangem, mühevollem
Leben wohl auf die Idee gekommen, von allen diesen Dingen mal freizukommen.
Anders sei es nicht zu verstehen! Ich habe mich dann sehr gewundert, daß meine
Tochter die Muffe nicht mitgenommen hat, an der sie sehr hing. Ich sah dann
später die Muffe bei Marie M o h r
, der ich sie weggenommen habe.
Notar R h e i n e c k aus Itzehoe, der frühere Rechtsbeistand des
Angeklagten, fragte zunächst, ob ihn der Angeklagte von seiner Schweigepflicht
entbinde. Angeklagter bejaht.
Zeuge: Am 17.
September 1920 kam der Angeklagte mit Frau Eckert und seiner Frau zu mir. Die
Damen übertrugen zwei Hypotheken im Betrage von 72 000 M. auf den Angeklagten.
Mir fiel das gleich auf - ich dachte an eine Steuerschiebung - und sagte: „Was
ist das für ein Unsinn?“ Zumal er sagte, er gebe seiner Frau den vollen Gegenwert.
Es hatte ja keinen Zweck, die Hypotheken gegen Bezahlung abzutreten. Da sie die
notwendigen Papiere nicht bei sich hatten, sollten sie am nächsten Tage
wiederkommen. Das war der 18. Wir machten dann auch die Gütertrennung, und am
nächsten Tage war die Frau verschwunden. Ich erfuhr es erst einige Tage später,
als Grupen die Abschiedsbriefe in mein Büro brachte. Merkwürdigerweise war, wie
mir auffiel, kein Brief an den Angeklagten dabei. Grupen machte auf mich den
Eindruck eines geknickten Ehemannes, und ich redete ihm zu, daß er sofort die
Verfolgung seiner Frau aufnehme. Nach etwa 14 Tagen kam er zu mir zurück und
sagte, er habe alles getan, was ich ihm geraten hätte. Es sei alles vergebens
gewesen. Auf seinen Wunsch leitete ich dann die vorbereitenden Schritte zur
Ehescheidung ein. Als ich dann die Sache mit dem Mord in Kleppelsdorf hörte,
habe ich das Mandat niedergelegt und Anzeige vom Verschwinden der Frau an die
Staatsanwaltschaft erstattet.
Vorsitzender:
Angeklagter, haben Sie die Ratschläge des Zeugen befolgt? - Angeklagter: Ich
war in Berlin. - Vorsitzender: Ich fragte, ob Sie in Hamburg, wie es Ihnen der
Zeuge geraten hat, bei den Dampfergesellschaften … - Angeklagter: Ich war in
Berlin. Der Zeuge hatte mir auch gesagt, ich solle mich nach der Abreise des
Schulz erkundigen, der doch vielleicht mit meiner Frau durchgegangen sei. Ich
habe dann Frau Schade gefragt.
Vorsitzender: Frau
Schade, hat der Angeklagte Sie nach Schulz gefragt? - Frau Schade: Er hat mich
nur gefragt, ob der Schulz damals allein mit meinem Sohne auf der Jagd war, als
er verunglückte.
Vorsitzender: Was
haben Sie sonst noch unternommen, um Ihre Frau zu finden? - Angeklagter: Ich
habe Herrn Rechtsanwalt Rheineck gebeten, von der Polizei Erkundigungen
einzuziehen.
Zeuge Rheineck: Ich
habe bei der Polizei telephonisch angefragt und den Bescheid bekommen, daß sie nach
Lübeck abgemeldet sei.
Vorsitzender (zum
Angeklagten): Und was haben Sie sonst getan, um Ihre Frau zu finden? -
Angeklagter: Schweigt.
Vorsitzender: Wollen
Sie denn nun von Ihrer Frau nichts mehr wissen? - Angeklagter: Nein.
Verteidiger Dr. Mamroth
stellt fest, daß der Angeklagte von den anempfohlenen Maßnahmen nur unterlassen
habe, die Schiffahrtgesellschaften zu befragen. Die Aussprache mit den Berliner
Verwandten habe der Zeuge anempfohlen und der Angeklagte befolgt.
Vorsitzender: Der
Herr Zeuge hat uns geschildert, daß Sie vollkommen geknickt waren. - Zeuge:
Helle Tränen hat er geweint.
Vorsitzender
(fortfahrend): Und hier vor Gericht sagten Sie eben, daß Sie von Ihrer Frau
nichts mehr wissen wollten. Das ist doch ein Widerspruch.
Angeklagter
(trotzig): Dann ist es eben ein Widerspruch.
Vorsitzender: Ich
mache Sie darauf aufmerksam, daß die Geschworenen aus diesem Widerspruch
Schlüsse ziehen können. - Angeklagter (nervös): Man weiß eben nicht, was das
für eine Frau war - und ich wünsche keinem -
Staatsanwalt: Ist
Ihnen bekannt, daß der Angeklagte vom Gefängnis aus noch immer mit der
Generalvollmacht über das Vermögen der Frau Eckert verfügt? - Angeklagter: Dann
muß man x gleich u setzen, sonst stimmt´s nicht.
Staatsanwalt: Das
Vermögen der Frau Eckert soll doch 109 000 Mark betragen haben. Wo ist das
Geld?
Vorsitzender: Weg.
(Heiterkeit.)
Angeklagter: Frau
Eckert hat nichts gehabt. Die 109 000 M. in Wertpapieren gehörten meiner Frau
und nicht Frau Eckert. Ueber dieses Geld hat meine Frau zum größten Teil
verfügt oder es ausgegeben.
Vorsitzender: Der
Angeklagte hat diesen Standpunkt allerdings immer eingenommen.
Donnerstag, 15. Dezember 1921, „Berliner
Morgenpost“ - Zweite Beilage
Peter
Grupens Ehe-Irrungen.
Frau Grupens
Abschied. - Die Bräute bei Lebzeiten der Frau. - Eine gefaßte Großmutter. - Die
verschenkte Uhr.
Hirschberg, 14.
Dezember.
Telegramm unsers
Sonderberichterstatters.
Das Verschwinden der
Frau Grupen beherrscht auch weiterhin das Zeugenverhör. Dabei werden auch die
zahlreichen zärtlichen Beziehungen besprochen, die Grupen schon während der kurzen
Zeit seiner Ehe mit fast jeder seiner weiblichen Hausgenossen anknüpfte. Auch
über die verschwundene Frau Grupen selbst werden Tatsachen bekannt, die sie in
viel besserem Licht erscheinen lassen, als dies bisher der Fall war.
Als Zeugin erscheint
zunächst das 16jährige Dienstmädchen der Familie Grupen, Frl. K l ä s c h e n . Sie hat die Fahrt der Frau Grupen nach
Itzehoe mitgemacht, von der die Frau Grupen nicht zurückgekehrt ist. Die Zeugin
erzählt: Beim Abschied hat Frau Eckert gesagt: „Ach Trude, bleibe nicht lange
weg, mir ist so bange.“ Darauf hat Frau Grupen geantwortet: „Ich komme ja bald
wieder, Du weißt, ich kann ohne ihn nicht leben.“ Dann fuhren wir weg, und die
beide Ehegatten waren sehr vergnügt. In Itzehoe, wo ich eine
Evangelisationsveranstaltung besuchte, setzte er mich vor dem betreffenden
Hause ab und fuhr mit seiner Frau zum Bahnhof weiter. Nachher sollte ich ihn in
einem Wirtshaus erwarten, um mit ihm nach Hause zurückzufahren. Er kam aber
nicht, und da traf ich mich mit dem Knecht und der anderen Magd, und wir gingen
zusammen nach Hause.
Vorsitzender: Wer
öffnete Ihnen die Haustür? - Zeugin: Ich weiß nicht. - Vorsitzender: Der Knecht
behauptet, Herr Grupen selbst habe Ihnen aufgemacht. - Zeugin: Ich weiß nicht.
Ein Geschworener:
Konnte denn der Angeklagte mit der einen Hand das Pferd vom Wagen selbst
abschirren?
Angeklagter: Jawohl,
das kann ich.
Der Hausarzt der Frau
Grupen während ihres zweijährigen Aufenthalts in Rostock stellt ihr ein
glänzendes Zeugnis aus. Sie sei eine sehr besorgte, eher zu ängstliche Mutter
gewesen, und er könne sich absolut nicht vorstellen, daß die Frau auch bei
einem ernsteren Zerwürfnis mit ihrem Manne sich länger als vierzehn Tage von
ihren Kindern trennen könnte. Frau Grupen sei außerdem eine ausgezeichnete
Hausfrau gewesen, die niemals sich gescheut hat, mit Hand anzulegen, sie habe
auch grobe Arbeiten verrichtet, besonders im Garten. Während ihres ganzen Aufenthaltes
in Rostock sei ihr Ruf völlig makellos gewesen.
Der Zeuge B o o s ,
Bruder der Frau Eckert, erzählt: Nach dem Verschwinden meiner Nichte
kamen uns allmählich Zweifel, daß sie wirklich nach Amerika gegangen sei. Ich
riet deshalb meiner Schwester, sie solle sich in Hamburg bei einem Detektiv und
bei den Schiffahrtsgesellschaften erkundigen. Sie schrieb zurück: „Peter macht
alles!“ Dann bekam ich einen Brief von meiner Schwester, die mir schrieb, sie
möchte sich mal mit uns aussprechen. Den Brief hatte meine Schwester heimlich
zur Post gegeben, weil Grupen ihre ganze Post kontrollierte.
Staatsanwalt: Der
Bruder des Angeklagten, Wilhelm Grupen, hat, wie Sie früher gesagt haben, auf
Sie einen schlechten Eindruck gemacht. - Zeuge: Ja. Er schien mir hinterlistig
und spionierte, als ich mich später am Wohnort Grupens aufhielt, immer hinter
uns her. Es war ja das ein subjektiver Eindruck, aber dieser Mann war uns unheimlich
und verdächtig.
Vorsitzender: Haben
Sie denn Anhaltspunkte gehabt? - Zeuge: Wir haben uns gesagt, das Verschwinden
von Frau Grupen könnte nicht die Tat eines einzelnen Mannes sein, und glaubten
an die Möglichkeit, daß Wilhelm seinem Bruder bei der Beiseiteschaffung
geholfen habe, oder daß er etwas mehr davon wollte.
Die Dienstmagd G n i e w a k o w s k i sagt aus: Der Angeklagte hat schon vor dem
Verschwinden der Frau dem Kinderfräulein Charlotte M ü l l e r
die Ehe versprochen. Das war zu gleicher Zeit, als er der 16jährigen
Magd K l ä s c h e n auch die Ehe versprochen hatte. Da ist es zu
einer Auseinandersetzung gekommen zwischen Grupen, der Kläschen und der Müller.
Am Ende fiel die Müller dem Grupen um den Hals und sagte: „Ich will ihn haben!“
Vorsitzender:
Angeklagte, haben Sie eine Frage? - Angeklagter (stolz): Ich habe auf das
Gerede nichts zu erwidern.
Hinrich G r u p e n , der älteste Bruder des Angeklagten, wird
gerufen, um die Identität eines von ihm an den Angeklagten gerichteten
Schreibens zu bestätigen. Er sieht Peter sehr ähnlich, macht aber einen
gesetzteren Eindruck.
Es wird sodann eine
junge Frau vernommen, die einmal mit Grupen richtig verlobt war. Die blonde
freundliche Holsteinerin war nach dem Krieg Hilfsbriefträgerin gewesen. Grupen
hatte sie Briefe gebracht und dieser ihr Herz gewonnen. Lange aber hatte das
nicht gedauert: Da erklärte er ihr unter Tränen: Er müsse sich anderweitig
verloben. Ein Verhältnis mit einer anderen Frau sei nicht ohne Folgen
geblieben, sie müsse er nun heiraten. Aber wie zum Trost sagte er: „Meine Frau
habe ich doch nicht lange, Du kannst ja zu uns als Kindermädchen kommen!“ was
sie indessen nicht tat. Grupen sei ein sehr unruhiger Geist gewesen, er habe
jeden Augenblick einen anderen Plan gehabt. Einmal wollte er eine Luftschaukel kaufen,
dann kaufte er alte Fahrräder und Anzüge, die er aufarbeiten ließ und sie
nachträglich weiter verkaufte. Er bezog damals Erwerbslosenunterstützung. Er
verstand es, sich durch Bezugsscheine Anzüge zu verschaffen, die er verkaufte.
Vorsitzender zum
Angekl.: Was sagen Sie dazu, was die Zeugin behauptet, Sie hätten gesagt: Die
Frau habe ich nicht lange? - Angeklagter: Im Interesse der Zeugin wie meiner
Frau lehne ich jede Antwort ab.
Als nächste Zeugin
tritt eine neue ehemalige Braut auf, schlank, hochgewachsen, mit leuchtendem
blonden Haar. Sie hat inzwischen anderweitig geheiratet; in ihrem singenden
hübschen Dialekt erzählt sie ihre Leidensgeschichte.
Zeugin: Als meine
Verlobung mit Grupen schon aufgehoben war, traf ich ihn eines Abends einmal, und
als ich ihm sagte, daß ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wolle, weil ich
meinem neuen Bräutigam treu sei, da hat er einen Revolver gezogen und ihn mir
auf die Brust gesetzt und gesagt: Ich kann ohne Dir nicht leben. Da bin ich ihm
um den Hals gefallen und habe ihm versprochen, mich jede Woche mit ihm zu
treffen. Aber ich bin nicht hingegangen. Als er dann wieder schrieb, bin ich
mit meinem Verlobten zu ihm gegangen. Er hat ihm die Geschenke und noch 60 M.
gegeben, und dann hat Grupen die Geschenke seiner nächsten Braut geschenkt.
Frau Dr. B e y e r ,
eine Fräulein Zahn und Dorothea Rohrbeck befreundete Dame erzählt: Als
ich am Tage nach dem Unglück kam, fiel mir auf, das Frau Eckert immerzu Grupen
bedauerte. Es hieß immer: Der arme Peter! Als ich sagte: „Aber Frau Eckert,
Dorothea!“, da sagte Frau Eckert: „Ach Dorothea, die hat mich doch nie
gemocht.“ Erst als ich die Vermutung äußerte, daß Grupen vielleicht auch am
Verschwinden von Frau Grupen schuld sei, sagte Frau Eckert: „Wenn ich erfahre,
daß meine Tochter tot ist, lasse ich den Täter fallen.“ An die kleine Irma habe
ich öfters die Frage gerichtet, ob Peter Grupen wirklich nicht aus dem Zimmer
gegangen sei. Dann kam Marie M o h r der kleinen Irma immer zuvor und sagte:
„Herr Grupen ist nicht aus dem Zimmer gegangen.“
Vorsitzender: Hat
Frl. D o r o t h e a sich über die Reise des Grupen zur
Großmutter geäußert? - Zeugin: Ja. Dorothea sagte, sie sei sehr verwundert
gewesen, daß die Großmutter über das Befinden von Frau Grupen nicht sehr
traurig gewesen sei. Zuerst habe sie und Grupen ein bißchen geweint. Dann aber
waren sie ganz vergnügt. Und Dorothea sagte schließlich: „Mir kommt die ganze
Geschichte vor wie ein Theater.“
Eine besondere
Bewegung ruft die Aussage einer jungen Holsteinerin hervor, der Tochter von
Grupens Lehrherrn, die nach dem Verschwinden der Frau Grupen in Grupens Haus
als Stütze kam.
Vorsitzender: Der
Angeklagte hat Ihnen mal eine goldene Uhr geschenkt. - Zeugin: Ja. -
Vorsitzender: Wissen Sie, ob das die Uhr von der verschwundenen Frau Grupen
war? - Zeugin: Das weiß ich nicht. - Vorsitzender: Wo ist denn die Uhr jetzt? -
Zeugin: Ich habe sie noch zu Hause. - Angeklagter (sehr tief errötend): Darüber
kann ich eine Erklärung abgeben: Es ist die Uhr meiner Frau. - Staatsanwalt:
Das sagen Sie heute zum ersten Male aus! - Angekl.: Meine Frau hatte mehrere
Uhren.
Frau Eckert erklärt:
Meine Tochter hatte meines Wissens nur eine goldene Armbanduhr, die sie auf
Reisen wohl immer trug, ob auch am Tage der Abreise, kann ich nicht sagen.
Freitag, 16. Dezember 1921, „Berliner
Morgenpost“, S. 1-2
Grupens
Brüder und Freunde.
Geldgeschäfte unter
Brüdern. - Ursula und die Pistole. - Grupen wollte Kleppelsdorf verkaufen.
Hirschberg, 15.
Dezember.
Telegramm unsers
Sonderberichterstatters.
Trotz des weit
vorgeschrittenen Zeugenverhörs kommen in der Verhandlung über den
Kleppelsdorfer Mord noch immer neue Tatsachen hervor, die das gespannte
Interesse für diesen merkwürdigen Rechtsfall aufrecht erhalten. Der heutige Tag
brachte unter anderem die Aussage des Bruders des Angeklagten, Wilhelm Grupen,
an den Peter Grupen schwer zu erklärende Vermögensabtretungen machte. Auch die
Geschichte mit der Pistole, die Peter Grupen bei dem Bruder zurückließ, dem sie
die kleine Ursula angeblich entwendet haben soll, kommt zur Erörterung und
trägt nicht zur Entlastung des Angeklagten bei. Das weitere Verhör mit einem
Geschäftsgenossen Grupens bringt die überraschende Enthüllung, daß der
Angeklagte schon zwei Monate vor den Ereignissen in Kleppelsdorf über einen
Verkauf dieses Gutes verhandelt oder zumindest darüber gesprochen hat.
Nachstehend die Fortsetzung des Zeugenverhörs.
Zunächst wird die
letzte von Grupens vielen Bräuten, die Tochter seines früheren Lehrmeisters,
ein reizendes Mädchen mit seinen, zart geschnittenen Zügen, vernommen. Die
Zeugin erzählt: Als Grupen nach dem Verschwinden seiner Frau uns besuchte,
sagte mir mein Vater, seine Frau sei tot. Ich müsse ihm den Haushalt führen.
Mir sagte er dann später, seine Frau habe ihn verlassen, sei über Holland nach
Amerika gegangen und dort, wie er von einem Detektiv erfahren habe, an Syphilis
gestorben.
Vorsitzender:
Angeklagter! Das ist ja ganz neu, daß Ihre Frau über Holland fuhr. Wer ist denn
der Detektiv? - Angeklagter: (schweigt). - Zeugin: Später, als er mit Frl. Zahn
und Dorothea Rohrbeck in Hamburg gewesen war, kam er zurück und erzählte mir,
die beiden Damen hätten den Versuch gemacht, ihn zu vergiften, indem sie Gift
in eine Weinflasche schütteten.
Vorsitzender (zum
Angeklagten): Was sagen Sie dazu? - Angeklagter (lächelnd): Wir haben wohl
einen etwas starken Wein getrunken. - Vorsitzender: Den Wein haben doch aber
Sie bestellt, S i e haben die beiden Damen traktiert!
Nunmehr wird der
Bruder des Angeklagten, Wilhelm G r u p
e n , hervorgerufen. Man erwartet ihn
mit besonderem Interesse, da der Bruder der Frau Eckert von einer Möglichkeit
der Mitschuld Wilhelm Grupens an dem Verschwinden von Frau Grupen gesprochen
hat.
Vorsitzender: Wollen
Sie aussagen? Sie brauchen es nicht - Zeuge: Ich will.
Vorsitzender: Hat Ihr
Bruder vor seiner Verheiratung Vermögen gehabt, oder haben Sie ihn unterstützt?
- Zeuge: Meine Frau hat ihm mit Lebensmittel ausgeholfen. - Vorsitzender: Hat
Ihr Bruder Ihnen nicht aus dem Gefängnis eine Hypothek im Werte von 78 000 M.
zediert? - Zeuge: Ja. - Vorsitzender: Ja, warum hat Ihnen denn Ihr Bruder im
November 1920 Generalvollmacht erteilt? Haben Sie mit der Generalvollmacht
Geschäfte gemacht? - Zeuge: Nein.
Vorsitzender: Haben
Sie mit der Generalvollmacht einmal Geld von der Bank geholt? - Zeuge: Ja.
Das Gespräch über die
Geldangelegenheiten wird hier abgebrochen und man wendet sich den
Kleppelsdorfer Tagen zu. Vorsitzender: War die Waffe, die Ihnen Ihr Bruder
zurückließ, geladen? - Zeuge (verwirrt und verlegen): Ich kenne mich überhaupt
nicht mit der Waffe aus. - Vorsitzender: Sie wußten mit der Waffe nicht
Bescheid, aber die kleine Ursula soll damit so Bescheid gewußt haben, daß sie
den Mord begangen hat.
Die Waffe wird
nunmehr dem zeugen übergeben, nachdem der Polizeiinspektor den Rahmen
herausgenommen hat. - Vorsitzender: Ist das die Waffe, die Ihnen Ihr Bruder
gezeigt hat? - Zeuge (verwirrt): Es ist ja gar kein Patronenrahmen darin. -
Vorsitzender: Ja. Sie scheinen also mit der Waffe gut Bescheid zu wissen. Die
Unterhaltung über die Waffe dauert sehr lange, bis schließlich aus Handgriffen,
die der Zeuge macht, hervorgeht, daß er mit der Waffe ganz genau Bescheid
gewußt hat.
Es werden dann noch
Versuche mit dem Revolver angestellt, aus denen hervorgeht, daß der Angeklagte
den Revolver mit seine Hand sichern und entsichern kann. Er selbst sagt: „Ich
hätte vielleicht den Revolver auch allein laden und spannen können, aber mein
Bruder hat mir dabei geholfen.“
Das Verhör wendet
sich dann wieder dem Verschwinden der Frau Grupen zu.
Vorsitzender: Wissen
Sie etwas von dem Verschwinden Ihrer Schwägerin? - Zeuge: Nein. Erst nach den
Kleppelsdorfer Ereignissen habe ich mich bei den Hamburger Behörden erkundigt,
aber nichts erfahren. - Vorsitzender: Das ist doch 3 Monate nach dem
Verschwinden gewesen? - Ein
Geschworener: Wo haben Sie die Nachricht von den Kleppelsdorfer Ereignissen
erhalten? - Zeuge: In Ottenbüttel durch den Nachbar Hinrich Schmidt.
Heinrich Grupen, der
ältere Bruder des Angeklagten, dem Aussehen nach das sympathischste Mitglied
der Familie, wird in den Saal gerufen.
Vorsitzender: Haben
Sie Ihrem Bruder nahegestanden oder mit Ihrem Bruder Geschäfte gemacht? -
Zeuge: Ich wohne in Kiel, bin Schiffsführer und habe wenig Verkehr mit ihm. -
Vorsitzender: Hat Ihr Bruder Ihnen etwas vom Verschwinden seiner Frau erzählt?
- Zeuge: Ich bin meines Wissens seitdem nie mit ihm zusammengekommen.
Mit Hinrich M a a s
tritt einer der interessantesten Zeugen des Prozesses in den Saal. Ein
starker, hochgewachsener holsteinischer Bauer, ein Mann von einige vierzig
Jahren. Auf den breiten Schultern sitzt ein Kopf, der wie aus Stein gehauen,
niemals auch nur die mindeste innere Bewegung verrät. Die festen Wangen und der
scharf gezeichnete Mund sind bartlos. Die dünne Adlernase springt scharf nach
vorn. Nur in den großen, harten, blauen Augen ist ein heißes, schwer zu
deutendes Leben. Knapp und vorsichtig sind seine Antworten. Meistens stößt er
ein langgezogenes „Jach“ oder „Noon“ aus, das Heiterkeit, aber auch die größte
Aufmerksamkeit hervorruft. Mit ihm hat Grupen die meisten seiner Geschäfte
abgewickelt, und von größtem Interesse ist es, daß Grupen und er bereits im
Dezember, also zwei Monate vor dem Morde, daran dachten, das Gut Kleppelsdorf
zu kaufen. Vorsitzender: Haben Sie nicht einmal etwas davon gesprochen, daß Sie
das Gut Kleppelsdorf kaufen wollten? - Zeuge: Ich habe nichts mit dem
Angeklagten, sondern mit Frau E c k e r
t in der Weihnachtszeit davon
gesprochen. Sie hat mir erzählt, daß das Gut schlecht verwaltet, und daß die
Besitzerin ein junges Mädchen sei.
Vorsitzender: Hatten
Sie nicht auch mit dem Angeklagten darüber gesprochen? - Zeuge: Noon.
Staatsanwalt: Sie
haben aber anderen Zeugen gesagt, Sie hätten mit Grupen eine große Sache vor.
Sie wollten mit ihm Kleppelsdorf kaufen. - Zeuge: Ich wollte nicht kaufen,
sondern nur vermitteln. - Vorsitzender: Aber über die Verhandlungen müssen Sie
doch zumindest gesprochen haben? - Zeuge: Ich habe wohl mal gesagt, ich möchte
Kleppelsdorf ansehen.
Staatsanwalt:
Angeklagter, wie kommen Sie auf die Idee, Kleppelsdorf verkaufen zu wollen, wo
doch niemals in Kleppelsdorf selbst davon die Rede war, daß das Gut verkauft
werden sollte. - Angeklagter: Das Gut warf doch nichts ab, und der Vormund
hatte doch selbst gesagt, daß das Gut verkauft werden müsse, wenn so weiter
gewirtschaftet werde.
Nach längerer Debatte
beschließt das Gericht, zwei neue vom Staatsanwalt gestellte Zeugen zu
vernehmen. Johannes W i t t m a k
, Lehrer aus Mehlbeck, weiß nur, daß
der Zeuge Maas im Wirtshaus gesagt hat, daß er bald mal nach der Lausitz fahren
wolle, wo er in einer großen Sache zu tun habe. Johannes W i c h ,
Landmann und Kaufmann aus Mehlbeck, bekundet: Ungefähr vor einem Jahre
hat Maas gesagt: „Wir wollen nächstens nach der Lausitz fahren, um ein Gut zu
kaufen.“ - Vorsitzender: Wer ist wir? - Zeuge: Ich nehme an, daß das Maas und
Grupen waren, und als jetzt der Mordprozeß losging, und Maas mir erzählte, daß
er auch nach Hirschberg fahre, habe ich ihn gefragt, ob Kleppelsdorf das Gut
sei, daß er damals kaufen wollte. Und da sagte er: „Ja.“
Hierauf werden
mehrere Zeugen, darunter ein Rektor, die dem Angeklagten günstige Zeugnisse
ausstellen, vernommen. Insbesondere rühmt der Rektor, der ihm
Nachhilfsunterricht während seiner Lehrzeit gab, seinen Fleiß und Lerneifer.
Allerdings sei Grupen offenbar etwas zu ehrgeizig gewesen. Aber er habe in
seiner ganzen freien Zeit gearbeitet, und sein größter Ehrgeiz sei gewesen,
doch noch einmal sein Einjährigenzeugnis zu erwerben.
Der Vorsitzende teilt
mit, ein Kolporteur habe telegraphisch mitgeteilt, er könne bekunden, daß
Grupen kurz vor der Abreise seiner Frau diese gewürgt habe. Das Gericht
beschließt, den Kolporteur bis Sonnabend zu laden.
Es folgen einige
Gefängnisbeamte, die über das Verhalten des Angeklagten ein günstiges Zeugnis
ausstellten.
Der Staatsanwalt
bittet, den Untersuchungsrichter darüber zu befragen, ob Marie M o h r
auf ihn nicht in sittlicher Beziehung einen unnatürlich unbefangenen
Eindruck gemacht hat. Der Untersuchungsrichter fragte: Haben Sie denn überhaupt
kein Schamgefühl? Darauf sagt sie: Nein. Später sagt sie dann noch: Ich habe
mich geschämt.
Die Zeugin H a t s e ,
die schon einen Vor- und einen Nacheid geleistet hat, offiziell aber
entlassen ist, wird nochmals vorgerufen und zum dritten Male vereidigt. Sie
sagt: Grupen hat mir erzählt, daß Dorothea
R o h r b e c k ihm mehrere
Heiratsanträge gemacht habe. Er könne sie aber nicht leiden.
Sonnabend, 17. Dezember 1921, „Berliner
Morgenpost“ - Erste Beilage
Die
Sachverständigen im Prozeß Grupen.
Selbstmord
ausgeschlossen! - Projektionen im verdunkelten Saal. - Geheimrat Moll über sexuelle
Hörigkeit. - Grupen gibt den Kampf auf.
Hirschberg, 16.
Dezember.
Von uns.
Sonderberichterstatter.
Die lande Dauer des
Prozesses macht sich fast bei allen Beteiligten fühlbar. Der Staatsanwalt, der
aus Rücksicht auf die ungeheuren Kosten darauf gedrungen hatte, daß eine Anzahl
von Zeugen nach ihren Aussagen definitiv entlassen wurde, kommt oft in die
Lage, sich einen entlassenen Zeugen wieder herbeizuwünschen. Meist hat er Glück
und die Leute sitzen noch im Gerichtssaal oder wenigstens im Hotel. Eine Zeugin
erlebte auf diese Weise die Sensation, dreimal schwören zu müssen. Die
Bemühungen des Vorsitzenden, jeden Revisionsanlaß zu vermeiden, machen oft
lange juristische Erörterungen notwendig, bei denen sich die Gemüter erhitzen.
Die Stimmung ist aber namentlich deshalb gereizt, weil der Wunsch aller, die
Verhandlungen in der Nacht zum Sonntag zu Ende zu führen, nicht in Erfüllung
gehen wird. Der Staatsanwalt beansprucht einen vollen Tag zur Vorbereitung
seines Plädoyers. Bis jetzt ist folgendes bekannt: Beginn der Plädoyers Montag
Vormittag, Urteil vielleicht in der Nacht zum Dienstag.
Die Zeugenvernehmung
ist in der Hauptsache abgeschlossen und es beginnt die V e r n e h m u n g d e r
S a c h v e r s t ä n d i g e n .
Bücherrevisor S c h e r f - Brieg weist auf die völlig ungeordnete oder
vielmehr nicht existierende Buchführung des Angeklagten hin und sucht
nachzuweisen, daß er zur Zeit des Mordes über keine flüssigen Mittel verfügte.
Dann sprach der Berliner Gerichts-Chemiker Dr.
J e s e r i c h über die von ihm
angestellten Schriftvergleiche. Den Brief Ursels „An Großmutti“ bezeichnete er
als zweifellos von der Hand Ursels herrührend. Der Zusatz des Wortes „traurige“
in dem Brief Ursels an Frau Bartels aber ist, wie Jeserich ausführte,
zweifellos nachträglich hinzugefügt; ob von der Hand Ursels, ließ er
dahingestellt. Auch hier gab es zwischen dem Vorsitzenden und dem
Sachverständigen ein nervöses Geplänkel. Der einzig Ruhige im Saal ist der
Angeklagte - stets klug, kühl, schlagfertig und beherrscht.
Professor Jeserich
kam hinsichtlich der Abschiedsbriefe der Frau Grupen zu dem Schluß, daß keine
Fälschungen vorliegen und sich keine irgendwie bemerkenswerten Abweichungen
feststellen ließen. Auf einige Fragen, ob die Briefe psychisch beeinflußt sind,
antwortete Jeserisch, daß das nicht in sein Gebiet falle.
Auf diesen knapp und
sachlich sich äußernden Sachverständigen folgte Professor S c h n e i d e m ü h l . Er begann mit einer langatmigen und
selbstgefälligen Einleitung über seinen Werdegang. Nur für einige Minuten
befaßte er sich mit dem Beweisthema, um anzudeuten, daß Ursula zweifellos den
Brief an Großmutti geschrieben habe. Die Briefe der Frau Grupen erschienen ihm
nach dem graphischen Bilde zunächst als Geschäftsbriefe. Er kam zu dem Schluß,
daß auch diese Briefe unter äußerer Beeinflußung geschrieben worden sind.
Verteidiger Mamroth:
Glauben Sie nicht, daß, wenn die Frau diese Briefe wider Willen geschrieben
hat, die innere Hemmung gegen den Inhalt der Briefe eine so starke gewesen sein
muß, daß die Hemmung erkennbare Veränderungen in der Handschrift hervorgerufen
haben müßte?
Sachverständiger:
Möglich, daß Frau Grupen diese Briefe ganz harmlos geschrieben hat, vielleicht
hat man sie diese Briefe zum Scherz schreiben lassen. Jedenfalls war die innere
Erregung ausgeschlossen.
Schieß-Sachverständiger
Büchsenmeister W a l t e r : Die Schießversuche mit der Originalpistole
und der Originalladung haben ergeben, daß die Verbrennung bei Nahschüssen bis
zu 10 Zentimeter Entfernung sehr deutlich ist. Bei 15 bis 20 Zentimeter
Entfernung sind auch Stoffverbrennungen nicht mehr zu sehen. Es müssen bei
Einwirkung auf die Haut Schüsse bis 20 Zentimeter Entfernung absolut erkannt
werden. Die Durchschlagskraft nimmt ab, je weiter die Waffe sich vom Körper
befindet. Bei dieser Pistole läßt die Durchschlagskraft schon bei 8 Metern
nach.
Der Sachverständige
kam nach der Untersuchung zu dem Schluß, daß
U r s u l a u n m ö g l i c
h S e l b s t m o r d begangen haben könne, da sonst die
gefundenen Patronenhülsen in einem anderen Teil des Zimmers gelegen haben
müßten. Auch die Durchschlagskraft, die die Kugel gehabt hat, läßt annehmen,
daß der Täter in der Mitte des Zimmers gestanden hat, wahrscheinlich hat er
zuerst auf Dorothea den von unten nach oben laufenden Schuß abgegeben. Der
zweite Schuß galt der Ursula, die in den Hintergrund des Zimmers geflüchtet
war. Der dritte Schuß war wahrscheinlich ein sogenannter Handschuß, der auf die
schon am Boden liegende Ursula aus einer Entfernung von etwa 30 Zentimeter
abgegeben wurde. Auf jeden Fall also sind die Schüsse von dritter Hand
abgegeben worden.
Es entspinnt sich
zwischen dem Sachverständigen und dem Angeklagten, der in der Mitte des Saales
vor der Tafel steht, eine heftige Debatte. Der Angeklagte verteidigt sich mit
großer Lebhaftigkeit und Sachverständnis. Der Sachverständige bleibt dabei, er
halte es für ausgeschlossen, daß die kleine Ursula die Schüsse abgegeben hat.
Sachverständiger
Medizinalrat Dr. P e t e r s - Löwenberg, der die Sektion vorgenommen hat,
sagt aus, daß alle drei Schüsse aus mehr als 15 Zentimeter abgegeben worden
seien. Damit sei die Möglichkeit eines Selbstmordes der Ursula von vornherein
ausgeschlossen. Der Saal wird verdunkelt, und mit Hilfe eines Projektionsapparates
sieht man die Photographien, die von den Leichen gemacht worden sind. Das Kleid
der getöteten Dörthe, ein rotes Sommerkleidchen, ist auf eine Puppe gesteckt,
an der Medizinalrat Peters zu demonstrieren sucht, wie der erste Schuß Dorothea
getroffen hat. Da der Täter viel größer als Ursula ist, so ist zunächst der
Verlauf des Schußkanals im Kopfe Ursulas von unten nach oben auffallend.
Indessen sein anzunehmen, daß Ursula im Augenblicke des Angriffes sich mit
erhobenen Händen Armen nach hinten übergelegt hat.
Sachverständiger
Geheimrat Professor L e s s e r - Breslau: Für ihn besteht kein Zweifel an der
Tatsache, daß beide Schüsse von fremder Hand erfolgt sind. Auch sei es kaum denkbar,
daß ein 13jähriges, der Waffen ungewohntes Mädchen drei so absolut sichere
Schüsse abgeben kann.
Geh. Sanitätsrat M o l l -
Berlin geht in seinem Gutachten von der Hypnose aus, unter welchem Namen
eine ganze Reihe von Zuständen zusammengefaßt werden, bei denen Störungen der willkürlichen
Bewegungen bewirkt werden. Daß im Falle dieses Mordes die Hypnose eine Rolle
spielt, ist nicht ganz ausgeschlossen, aber auch nicht wahrscheinlich. Es sind
nur ganz vage Anhaltspunkte dafür vorhanden. Ganz anders mit der Suggestion.
Besonders stark ist die Suggestionskraft des Menschen, wenn die Suggestion sich
mit Erotik kreuzt. Ich halte es für möglich, daß insbesondere das Verhältnis zu
Ursula ein Fall sexueller Hörigkeit ist. Daß Ursel den Brief an Großmutti unter
hypnotischen Einflüssen geschrieben hat, ist nicht bewiesen. Aber der Brief ist
gar kein Abschiedsbrief: es steht darin nichts von Selbstmord. Hier liegt
allerdings die Annahme sehr nahe, daß der Angeklagte den Brief diktierte oder
vorschrieb, und zwar einfach, um eine Entlastung für sein Verbrechen
vorzubereiten.
Daß der Angeklagte
die Zeuginnen, wie Frau Eckert, die Marie Mohr und Irmgard, suggestiv
beeinflußt hat, ist klar. Ich bezweifle nicht den Wahrheitswillen dieser
Zeugen. Aber, was haben wir von ihren Zeugenaussagen zu halten?
Charakteristisch ist die Aenderung in der Aussage der Frau Eckert, die erst
später sagte: „Wenn der Weg zum Mordzimmer hin und zurück nur eine Minute
dauert, kann Grupen wohl abwesend gewesen sein.“ Frau Eckert hat eben nicht
ihre Wahrnehmungen mitgeteilt, sondern daß was sie geschlossen hat. Die
Wahrnehmungsfähigkeit wird auch von den Richtern meistens überschätzt. Fräulein
Marie Mohr indessen glaubt sich zu erinnern, daß der Angeklagte das Zimmer
nicht verlassen hat. Nun zu der Frage, ob Ursel die Täterin sein kann: Ursel
ist ein normales Kind gewesen und wer die Tragödie der geheimen Sitzung
miterlebt hat, weiß, warum dieses Kind betrübt und verstimmt war. Es war weder
geisteskrank noch hysterisch, noch melancholisch und es besteht kein Anlaß zu glauben,
daß dieses Kind die schreckliche Tat ausgeführt und sich selbst erschossen hat.
Es ist überhaupt äußerst selten, daß das weibliche Geschlecht mit der Pistole
umgeht, noch seltener bei einem Kinde weiblichen Geschlechts. Auch für das
angeblich perverse Verhältnis zwischen Mutter und Tochter ist gar kein Anlaß
vorhanden.
Die
Nachmittagssitzung nahm ein unerwartet rasches Ende, da merkwürdigerweise weder
die Verteidigung noch der Angeklagte G
r u p e n zu den Gutachten der
Sachverständigen Stellung nahmen. Die Verteidigung hat damit offenbar ihre
Praxis grundsätzlich geändert. Der Anstoß hierzu mag allerdings von dem
Angeklagten selbst ausgegangen sein, der nach der heftigen kontroverse mit dem
Schießsachverständigen, die mitten im Saale stattfand, plötzlich sagte: „Ich
habe nichts mehr zu erklären,“ und dann auf die Anklagebank zurückkehrte.
Infolgedessen wickelte sich die Nachmittagssitzung rasch ab.
Am Ende erschien als
letzter Zeuge ein Zeitungskolporteur aus Itzehoe, der aussagte, daß er einmal
einen Streit zwischen dem Ehepaar Grupen beobachtet hätte.
Damit war das
Programm des Tages erschöpft. Das Gericht beschloß von einer Vereidigung
Wilhelm Grupens Abstand zu nehmen. Der Sonnabend wird zur Vorbereitung der
Plädoyers freigegeben. Die Plädoyers beginnen Montag früh, und das Urteil wird
vermutlich in der Nacht vom Montag zum Dienstag gefällt werden.
Dienstag, 20. Dezember 1921, „Berliner
Morgenpost“, S. 1-2
Antrag
des Staatsanwalts im Grupen-Prozeß.
Schuldig des Doppelmordes und des Sittlichkeitsverbrechens.
- Die These des Verteidigers Ablaß: Ursula ist die Täterin!
Die Verhandlung über das Morddrama von
Kleppelsdorf neigt sich ihrem Ende zu, Der ungeheure Beweisapparat ist
erschöpft, die Beweisaufnahme geschlossen. Der Vertreter der Anklage hat seinen
Antrag gestellt. Peter Grupen sei schuldig zu sprechen des Doppelmordes an
Dörthe Rohrbeck und Ursula Schade und des Sittlichkeitsverbrechens, begangen an
seiner minderjährigen Stieftochter Ursula. In vierstündiger Rede begründete der
Staatsanwalt seinen Antrag.
Dann trat der erste Verteidiger Ablaß in
weitausholender Rede für den Angeklagten ein. Ohne den Angeklagten als einen
Ehrenmann hinstellen zu wollen, bestritt er doch aufs entschiedenste, daß er
ein Mörder wäre. Die Unglückstat habe vielmehr Ursula Schade, ein
unglückliches, nervenzerrüttetes Kind, begangen. Keines der von der Anklage
angeführten Motive wäre annähernd stark genug, um eine solche Tat
wahrscheinlich erscheinen zu lassen.
* *
*
Für den wahrscheinlich letzten Verhandlungstag
waren einige Sachverständige nochmals geladen. Privatdozent Dr. K u z n i t z k i - Breslau äußerte sich über das Ergebnis der
von ihm beim Angeklagten und bei einer Zeugin angestellten Blutuntersuchung.
Die Syphilis-Probe sei negativ verlaufen. Wohl aber haben die Zeugin, Ursula
und Grupen mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer anderen, weniger schweren
Krankheit gelitten. Geheimrat L e s s e
r - Breslau und Arzt Dr. C h a u s s y schlossen sich dieser Feststellung an. Dann
holte das Gericht die Vereidigung der Frau Eckert nach und mit allseitigem
Einverständnis wurde die Beweisaufnahme geschlossen.
Die vom Vorsitzenden entworfenen und weder
vom Staatsanwalt, noch von der Verteidigung bemängelten S c h u l d f r a g e n gegen Grupen lauten auf Mord, sowie auf
Sittlichkeitsverbrechen an einer Minderjährigen, die zugleich verwandt ist.
Die
Rede des Staatsanwalts.
Hierauf begründete O b e r s t a a t s a n w a l t Reifenrath die Anklage. Sein
viereinhalbstündiges Plädoyer schloß mit dem Antrage, den Angeklagten Grupen
sowohl des Doppelmordes wie des Sittlichkeitsverbrechens für schuldig zu
erklären.
Der Staatsanwalt erörterte mit großer
Ausführlichkeit jedes einzelne Indiz, das gegen Grupen spricht. Bei der Schilderung
der Tat verweist er auf die Lage des Revolvers links neben der sterbenden
Ursula. Der Staatsanwalt ist ferner der Ansicht, daß der Angeklagte als alter
Soldat unwillkürlich die Waffe unmittelbar nach der Tat sicherte, einer jener
Fehler, die fast alle Verbrecher begehen. Völlig unsinnig und unmöglich
erscheint es dem Staatsanwalt, daß Ursula sich das Schächtelchen mit den 19
Ersatzpatronen selbst in die Unterbindetasche gesteckt haben soll. Der
Angeklagte habe diese Patronen zweifellos in Ursulas Tasche gesteckt, um sich
selbst zu entlasten. Neu in der Darstellung des Staatsanwalts ist, daß er die
Annahme fallen läßt, Grupen habe die Tat begangen, als er nach Irmgard das
Zimmer verließ. Diese Zeitspanne erscheint dem Staatsanwalt zu kurz. Eher
glaubt er, daß die Tat schon am vorhergehenden Teil des Vormittags ausgeführt
worden ist.
Das Motiv für die Tat und für die
Handlungsweise des Angeklagten sieht der Staatsanwalt in dem Streben nach Macht
und Reichtum. Zuerst hatte er - durch Heiratsanträge - versucht, Dörthes
Millionen auf friedlichem Wege an sich zu bringen. Als das mißlungen war,
führte er den wohldurchdachten Plan aus. In nichtöffentlicher Sitzung begründete
der Staatsanwalt seine Anschauung, daß der Angeklagte mit Ursula intimen
Verkehr gehabt und sich daher eines Sittlichkeitsverbrechens schuldig gemacht
hat.
Der
erste Verteidiger.
Von den Verteidigern sprach zunächst
Justizrat A b l a ß - Hirschberg. Eindringlich wandte er sich an
die Geschworenen. „Die wahre Beredsamkeit besteht darin, das zu sagen, was zur
Sache gehört - und zwar nur das!“ Mit diesem Satz begann Justizrat Ablaß,
zugleich mit einem deutlichen Hinweis auf die Bemerkung des Staatsanwaltes, der
Angeklagte habe während der Verhandlung mehrfach gelächelt. Ablaß sagte, er
habe das Mandat angenommen, aber nicht in die Verhandlung eingegriffen, weil es
nicht seine Gewohnheit sei, der rächenden Gerechtigkeit in die Arme zu fallen.
Aber als er die Anklageschrift las, habe er sich gesagt, daß es noch nie eine
schwächer begründete Anklage gegeben habe. Die Suggestion habe den Angeklagten
zum Mörder gestempelt und, noch bevor das Urteil gefällt sei, war das Vorurteil
schon gesprochen. Der Verteidiger klagt den Untersuchungsrichter an, daß er
zuerst seine Ueberzeugung von der Schuld des Angeklagten ausgesprochen habe.
Von den Geschworenen erhoffe er das ehrlich Bestreben, abseits von der
öffentlichen Meinung die Wahrheit zu suchen.
Justizrat Ablaß geht nun auf die
Vorgeschichte des Kleppelsdorfer Personenkreises ein: „Ich kann den Standpunkt
von Fräulein Zahn verstehen, ich bezweifle nicht ihre Wahrheitsliebe, umso
weniger, als ich mich selbst auf einige ihrer Aussagen stützen muß. Aber ich
verstehe auch den Vormund, der seine Aufgabe vom Standpunkt eines alten
preußischen Offiziers aus zu lösen suchte. Ich urteile nicht darüber, welche
von den beiden Parteien recht hat. Aber es herrschte Feindschaft zwischen den
beiden Parteien, und aus dieser Gegnerschaft entstand die besondere Atmosphäre
von Kleppelsdorf, die sich auf so tragische Weise klären sollte.“ Ablaß wendet
sich dem Personenkreis um die Frau des Angeklagten zu: „Ich will ihr nicht
beweisen, was man ihr nachsagt. Denn sie hatte einen schlechten Ruf. Es heißt,
man soll auf Gerüchte nichts geben. Gut, meine Herren Geschworenen, ich bin der
gleichen Ansicht: aber (mit erhobener Stimme) dann dürfen Sie sich auch nicht
auf die Gerüchte einlassen, die über den Angeklagten umhergehen.“
Dann schildert Ablaß den Charakter des
Angeklagten, dessen „Fleiß, Ausdauer und Regsamkeit“ er hervorhebt. Die Ehe mit
seiner Frau war anfangs glücklich. Die Tatsache, daß Grupen die
Generalvollmacht der Frau Grupen und ihrer Mutter hatte, ist in der heutigen
Zeit kein Beweis für die sexuelle Hörigkeit. In nichtöffentlicher Sitzung gibt
der Verteidiger das Liebesleben des Angeklagten rücksichtslos preis. Er
schildert die verschiedenen Verhältnisse, die der Angeklagte teilweise zu
gleicher Zeit unterhielt, aber in einer Weise löste, die sich nicht beschönigen
läßt. Er bespricht das Eheleben des Angeklagten und führt Tatsachen an, die es
ihm glaubhaft erscheinen lassen, daß die Frau an der Zerrüttung des Ehelebens
die Schuld trug. Man könne nicht ohne weiteres die Schuld der Frau ablehnen und
alles dem Angeklagten zuschieben. Der Angeklagte habe sich bei seinen vielfachen
Beziehungen gewiß nicht einwandfrei benommen, aber anormal sei er nicht.
Die
Atmosphäre von Kleppelsdorf.
Ablaß fährt sodann fort: „Sie sehen, meine
Herren Geschworenen, in Kleppelsdorf eine geladene Atmosphäre: den Kampf um die
Macht, in Ottenbüttel eine sittlich unterwühlte Familie - wir kommen zur
Katastrophe. Der Staatsanwalt hat mit außerordentlichem Geschick all die Dinge
zusammengetragen, die für den Angeklagten belastend sind, - aber ohne
Berücksichtigung der zeitlichen Einordnung der Geschehnisse. Ich habe mich der
Riesenaufgabe unterzogen, die Geschehnisse zeitlich zu kontrollieren. Ich
fürchte nur Gespenster. Und ich komme jetzt zu einem Gespenst, gegen das zu
kämpfen schwer ist. Die Staatsanwaltschaft hat im Falle der angeblichen
Ermordung der Frau Grupen keine Anklage erhoben. Aber dieser Fall war ihr gut
genug, um aus dem Verdacht Beweise für die Kleppelsdorfer Tat abzuleiten. Es
ist vor der Abreise der Frau Grupen ein Entwurf zu dem Abschiedsbrief von einem
Dienstmädchen gefunden worden. Was wäre geschehen, wenn die Finderin das Papier
sofort zu Frau Eckert gebracht hätte? Frau Eckert hätte ihre Tochter von der
Flucht zurückgehalten - und die ganze sogenannte Mordtat wäre ungeschehen
geblieben.“
Ablaß stellt der These des Staatsanwalts und
der Sachverständigen eine andere These entgegen: wie wenn der Angeklagte, der
sich ja eingestandenermaßen wie befreit fühlte, als seine Frau verschwunden
war, einverstanden damit war, daß die Frau ihren oft geäußerten Wunsch, nach Amerika
zu gehen, ausführte? Dann bedurfte es keiner „Suggestion“, um die
Abschiedsbriefe zu schreiben und keines Abschiedsbriefes an den Angeklagten
selbst.
Warum nur, so fragte Ablaß weiter, hatte sich
der Angeklagte in die Kleppelsdorfer Angelegenheit gemischt? Der Angeklagte
arbeitete viel in Grundstücksgeschäften; er hatte einen reichen Freund, Hinrich
Maaß, hinter sich. War es nicht möglich, daß der Angeklagte sich sagte: „Die
Streitigkeiten zwischen Fräulein Zahn und dem Vormund, die Geldnöte von Kleppelsdorf
werden eines schönen Tages doch dazu führen, daß das Gut verkauft wird. Liegt
der Gedanke so weit ab, daß der Angeklagte sich sagte: vielleicht winkt hier
ein Geschäft? Der Verteidiger erörtert die einzelnen Verdachtsmomente aus den
Wochen vor dem Mord: „Man soll in dieser Sache nicht lächeln. Aber wirkt es
nicht wie eine Pose, wenn von einem Doppelmord-Versuch gesprochen wird, weil
auf dem Alsterbassin ein Ruder aus dem Boot ins Wasser fiel, ein Ruder, das von
einem der vielen dort verkehrenden Boote sofort aufgefischt und an Grupen
zurückgegeben wurde? Dies - ein Mordversuch? Es ist richtig, daß der Angeklagte
den Kleppelsdorfer Damen gegenüber in Verlegenheit geriet. Die Damen sagten, er
spiele ein Doppelspiel. Er befand sich allerdings in einer Zwickmühle. Es hatte
dem Vormund gegenüber nicht die Kraft besessen, den Standpunkt der Damen zu
wahren. Man war sich im Gespräch über eine gewisse Mißwirtschaft einig geworden,
und seine Aeußerungen hierüber wurden indiskreterweise den Kleppelsdorfer Damen
überbracht. Daher die Verstimmung und zu deren Behebung die Reise nach
Kleppelsdorf. Dort kühler Empfang, Beseitigung der Verstimmung durch den Besuch
bei Rechtsanwalt Pfeiffer. Es kommt der Brief der kleinen Ursel an die Frau
Bartels. Der Brief ist an sich vollkommen harmlos. Das Wort „traurig“ ist, wie
der Sachverständige Jeserich betont, später eingefügt. Sie war eben ein
unglückliches Kind, von dem ich annehme, daß es die Tat begangen hat. Warum
nicht das Natürlich annehmen, wenn ein Kind, das sich vor einer solchen Tat
befindet, ein solches Wort in seinen Brief hineinfügt? Sie fühlte sich eben
unglücklich, weil sie bei ursprünglich liebenswerter Veranlagung wußte, daß sie
ein körperlich und sittlich zerrüttetes Geschöpf war.
Suggestion
und Hypnose.
Ich erkenne die Bedeutung des Geheimrats Moll
vollkommen an. Er genießt seinen hohen Ruf mit Recht. Aber er hat eine
psychologische Theorie aufgestellt, die den Angeklagten unzweifelhaft belastet.
Ich weiß, daß das Gutachten Molls einen tiefen Eindruck gemacht hat. Aber
prüfen Sie, ob eine solche Theorie ausreicht, um ein Urteil darauf aufzubauen.
In einem Punkte mache ich mir allerdings die Ansicht Molls zu eigen. Ich glaube
nicht, daß die ganze Gesellschaft, die sich in dem Wohnzimmer befand, zur Zeit
des Mordes hypnotisiert gewesen ist. Wie aber kommt es, daß Irma Schade sich 14
Tage vor dem Prozeß daran erinnert, daß Grupen ihr aus dem Wohnzimmer gefolgt
sei, nachdem sie monatelang behauptet hat, der Angeklagte sei nicht aus dem
Zimmer gegangen. Da glaube ich wahrhaftig an eine Suggestion, und das ist keine
Grundlage, auf der ein Todesurteil aufgebaut werden kann. Der Staatsanwalt hat
gesagt, dreimal habe Fräulein Zahn den Angeklagten auffordern müssen, die tote
Dörthe auf das Bett zu legen; ein Mörder fasse eben sein Opfer nicht an. Und
hier ist beschworen worden, daß Grupen nach der ersten Aufforderung mit
angefaßt hat und Dörthe mit auf das Bett gehoben hat! Nur eine Hülse ist
unmittelbar nach der Tat gefunden worden, die beiden anderen sind zwei volle
Tage nach der Tat gesucht und aufgefunden worden! Wieviel Personen sind in
diesen zwei Tagen in dem Zimmer aus- und eingegangen! Wie leicht konnte die
Lage der Hülsen verändert werden! Sind aber diese Hülsen verschoben worden,
dann sind alle Gutachten der Schießsachverständigen hinfällig, denn diese
Gutachten der Schießsachverständigen bauen sich sämtlich auf die Lage der
Hülsen so auf, wie man sie gefunden hat.
Warum aber hat der Angeklagte den Mord
begangen? Er hat sein und seiner Frau, sowie Frau Eckerts Vermögen von etwa 100
000 Mark bis nahe an 300 000 Mark vergrößert. Was hatte er von einer Ermordung
Dörthes zu erwarten? Fräulein Dörthe Rohrbeck ist tot. H a t
der Angeklagte Kleppelsdorf? Nein, das Gut fiel an Frau Eckert und an
die Rohrbeckschen Erben. (Mit erhobener Stimme): Nein! Der Angeklagte hat von
dem Morde nichts zu erwarten gehabt. Wenn er den Mord wirklich begangen hat,
dann glaube ich, daß er mehr aus Blutdurst gehandelt hat als auch Habsucht. Von
den drei Personen, die ursprünglich behaupteten, der Angeklagte habe das Zimmer
nicht verlassen, sind zwei anderer Ansicht geworden. Die Geschworenen
müssen w i s s e n , ob der Angeklagte aus dem Zimmer gegangen
ist und den Mord begangen hat. Sie können nicht auf die Vermutung hin ein
Urteil fällen.
Ursula
die Täterin!
Justizrat Ablaß erörtert dann nochmals die
Möglichkeit, daß U r s e l d i e
T ä t e r i n war. Die Schüsse
müssen in einer Entfernung von mehr als 15 Zentimetern abgegeben sein, da unter
15 Zentimetern sich Verbrennungserscheinungen zeigen. Diese Entfernung ist aber
so gering, daß es dazu keiner Kunstfertigkeit bedurfte. Nach mehr als
fünfstündiger Rede schloß Justizrat A b
l a ß mit folgenden Worten:
„Glauben Sie, daß es mir leicht fällt, an die
Schuld dieses armen Kindes zu glauben? Aber warum soll es mir leicht fallen, an
die Schuld des Mannes zu glauben, der hinter mir sitzt? Das Mädchen war
körperlich und sittlich zerrüttet, und wir haben es oft gehört, wie traurig es
über seinen Zustand war. Es ist möglich, daß dieses Kind in einer furchtbaren
Depression so gehandelt hat. Aber für die Schuld des Grupen sehe ich keinen
Anlaß und keine Unterlage.“
Mittwoch, 21. Dezember 1921, „Berliner
Morgenpost“, S. 1-2
Peter
Grupen zum Tode verurteilt.
Alle Schuldfragen bejaht. - Das letzte Word.
- Grupens Verzicht auf Revision und Gnade. - Das Todesurteil damit
rechtskräftig.
Im Kleppelsdorfer Mordprozeß vor dem
Schwurgericht Hirschberg haben die Geschworenen den Angeklagten P e t e r
G r u p e n des Mordes in zwei
Fällen und des Sittlichkeitsverbrechens nach eineinhalbstündiger Beratung für
schuldig erklärt. Sämtliche ihnen unterbreiteten Schuldfragen wurden mit Ja
beantwortet. Darauf wurde Peter Grupen hereingeführt: er war bleich und
sichtlich nervös, beherrschte sich aber vollkommen.
Oberstaatsanwalt R e i f e n r a t h beantragte (hier ist ein Riss oder Knick in der Zeitung und daher eine Zeile nicht
lesbar!) Geschworenen die Todesstrafe und wegen des Sittlichkeitsverbrechens
fünf Jahre Zuchthaus sowie die üblichen Nebenstrafen. Die Verteidiger
Justizrat A b l a ß - Hirschberg und M a m r o t h - Breslau verzichteten auf das Wort.
Hierauf erhielt P e t e r
G r u p e n das letzte Wort. Er
erhob sich und sagte mit seiner hellen, fast nicht zitternden Stimme: „Ich
verzichte von vornherein auf jedes Rechtsmittel, auf Revision und Gnade. Ich
halte Ihren Spruch für einen Fehlspruch, den ich Ihnen aber nicht übelnehme,
weil ich einsehe, daß Sie bei der Art, wie die Anklage erhoben wurde, zu diesem
Spruch kommen mußten. Aber ich erkläre, daß ich unschuldig bin, und ich hoffe
bestimmt, daß die Zeit einmal eine Aufklärung bringen wird.“
Nunmehr zog sich der Gerichtshof zur Beratung
zurück. In der vierten Nachmittagsstunde wurde das Urteil verkündet: Zweimal
zum Tode, fünf Jahre Zuchthaus sowie dauernder Ehrverlust. Nach Verkündung des
Urteils wurde Peter Grupen abgeführt. Die Zuhörer brachen in laute Beifallsrufe
aus, die vom Vorsitzenden streng gerügt wurden.
* *
*
Unwiderruflich!
Von den vielen Ueberraschungen, die der K l e p p e l s d o r f e r P r o z e ß
gebracht hat, ist der Verzicht Peter Grupens auf Revision und Gnade
sicher die größte. Niemand, der die energische Verteidigung Grupens verfolgte,
hat wohl geglaubt, daß er so schnell die Waffen strecken würde. Ist es ein
verspätetes Schuldbekenntnis? An anderer Stelle ist darüber das Nötige gesagt.
Ohne Zweifel hat Peter Grupen bei diesem Verzicht nicht aus einem augenblicklichen
Impuls gehandelt, denn er ist sich über die Tragweite seiner Erklärung
sicherlich im unklaren gewesen.
Grupens Verzicht auf Revision ist endgültig.
Der Verzicht ist dem zuständigen Gericht gegenüber erklärt und damit
unwiderruflich: das Todesurteil ist damit rechtskräftig. Anders steht es mit
Grupens Verzicht auf die Gnadenmittel. Die Ausübung der Gnade ist von seinem
Willen völlig unabhängig. Nach der Strafprozeßordnung darf ein Todesurteil erst
vollstreckt werden, wenn das Staatsoberhaupt die Begnadigung abgelehnt hat. Es
wird also in jedem Fall geprüft, ob vom Gnadenrecht Gebrauch gemacht oder der
Urteilsvollstreckung freier Lauf gelassen werden soll. Nach der neuen
Preußischen Verfassung liegt das Begnadigungsrecht beim Preußischen
Staatsministerium, das dieses Recht im Namen des Volkes ausübt. Für diese
Ausübung gelten ganz selbstverständlich die Grundsätze, die für das
Begnadigungsrecht in der Monarchie galten, nämlich, daß in keinem Falle eine
Todesstrafe vollstreckt wird, wo nicht ein völlig lückenloser, jeden
Justiz-Irrtum ausschließender Indizienbeweis vorliegt.
* *
*
Nach
bestem Wissen und Gewissen.
Der
Spruch der Geschworenen.
Die Geschworenen von Hirschberg haben nach
bestem Wissen und Gewissen P e t e
r G r u p e n des Doppelmordes und eines der schwersten
Sittlichkeitsverbrechen schuldig gesprochen. Damit hat ein Prozeß, der die
öffentliche Meinung weit über das schlesische Gebirgsstädtchen hinaus
wochenlang in höchster Spannung gehalten hat, sein Ende gefunden. Der Angeklagte
Peter Grupen, der mit einer an sich bewundernswerten Willenskraft und
Nervenbeherrschung für seine Existenz gekämpft hatte, hat den weiteren Kampf
aufgegeben und auf die Revision des Urteils verzichtet. Es soll nicht
entschieden werden, ob dieser Verzicht der endlich doch erfolgte seelische Zusammenbruch
eines schuldbewußten Verbrechers oder die Resignation eines von der
Vergeblichkeit aller seiner Bemühungen überzeugten Unschuldigen ist.
Die Geschworenen brauchen ihr Urteil nicht zu
begründen. Vor ihnen hat sich der ganze ungeheure Stoff des Prozesses
aufgerollt, und als ernste Männer haben sie, sicher ihrer Verantwortung bewußt,
ihr Schuldig in der Erkenntnis ausgesprochen, daß sie damit der Gerechtigkeit
dienen. Es liegt im Wesen eines Indizienprozesses, wie er sich diesmal in
Hirschberg abrollte, daß trotz zahlloser Beweismomente, die für die Schuld des
Angeklagten sprechen, immer auch noch die Möglichkeit offen bleibt, daß eine
andere Deutung der Geschehnisse, der Zusammenhänge und Folgerungen auch zu
einem anderen Ergebnis führen kann. Jedenfalls waren aber in diesem Falle die
an sich of kleinen und in jedem anderen Falle bedeutungslosen Tatsachen zu
einer solchen Kette von Beweisen angehäuft, daß die Wahrscheinlichkeit der
Schuld Peter Grupens sich in den Geschworenen zur Gewissheit verdichten konnte.
Um ein Todesurteil zu fällen, müssen Geschworene aufs tiefste von der Schuld
des Angeklagten durchdrungen sein. Nur ein leiser Zweifel mußte sie vor einem
solchen Urteil zurückschrecken lassen. Die Geschwornen von Hirschberg haben
diesen Zweifel offenbar nicht gehabt.
Wenn wir uns fragen, wie diese Ueberzeugung
in den Geschworenen entstehen konnte, so müssen wir uns das Bild des
Angeklagten, wie es sich seinen Richtern darbot, aus den Prozeßergebnissen
wieder zu schaffen trachten. Es war das Bild eines Mannes, der, aus kleinen
Verhältnissen hervorgegangen, danach trachtete, durch eine reiche Heirat zu
Reichtum und Ansehen zu gelangen. Das wäre ihm weiter nicht zu verübeln
gewesen, denn tausend andere junge Leute tun nichts anderes, um emporzukommen.
Allein hier scheint die Versetzung in eine höhere bürgerliche Sphäre, in der
man weniger arbeitet und mehr genießt, alle schlechten Triebe zum Vorschein
gebracht zu haben. Er wird ein Frauenjäger schlimmster Sorte, auch im eigenen
Hause, ohne Scham und Zurückhaltung, ein wahrer Wüstling, der in der
Befriedigung seiner Gelüste keine Schranken kennt. Das führt zu Zerwürfnissen
mit der Frau, an denen sie kaum schuld gewesen ist, denn es spricht nicht für
die Abneigung der Frau, wenn sie sich bewegen läßt, ihr ganzes Vermögen in
seine Hand zu geben und sogar ein Testament zu seinen Gunsten zu verfassen. Am
Tage nach der Abfassung des Testaments verschwindet die Frau unter Umständen,
die den Gedanken nahelegen, daß sie ihren Platz nicht freiwillig geräumt hat.
Grupen hat so gut wie nichts getan, um das Verschwinden der Frau aufzuklären,
dagegen in der Verfügung über ihr Vermögen sich keinerlei Schranken auferlegt.
Er handelte so, als ob die Frau gestorben wäre und er das Recht hätte, ihr Erbe
anzutreten.
Aber auch als Erbe hatte er nur Rechte in
Anspruch genommen, dagegen die Pflichten aus das schmählichste verletzt. Es ist
durch die Sachverständigen erwiesen, daß er mit der minderjährigen
Stieftochter, die seiner Obhut anvertraut war, in ein unsittliches Verhältnis
getreten war, das zudem noch zur Erkrankung des Mädchens führte. Man mußte sich
sagen, daß ein Mensch, der ein solches Verbrechen begeht, auch von anderen
Hemmungen des Gewissens ziemlich befreit sein muß. Wie hätte er überdies der
Mutter des Kindes entgegentreten können, wenn sie doch einmal später
aufgetaucht wäre, was er ja als durchaus möglich bezeichnete?
Es wäre überflüssig, die schweren
Verdachtsmomente, die gegen Grupen in der Mordsache im Schlosse Kleppelsdorf
selbst vorlagen, neu aufzuzählen. Aber sie alle hätten vielleicht nicht zu
einem Schuldspruch führen müssen, wenn nicht durch das Verschwinden der Frau
und das Verbrechen an der kleinen Ursula die Voraussetzungen für weitere
Verbrechen geschaffen gewesen wären. Denn mit der Ehe, die er eingegangen war,
die aber ein so schnelles Ende genommen hatte, hatte er sein Ziel, in den Kreis
der reichen Familie als gleichberechtigtes Mitglied aufgenommen zu werden, noch
nicht erreicht. Dazu bedurfte es neuer Schritte, die ihn nach Kleppelsdorf führten.
Er hatte sich zweifellos mit dem Gedanken getragen, die Millionenerbin Dörthe
Rohrbeck zu heiraten, sah aber dieses Vorhaben halb an der erklärten Abneigung
des jungen Mädchens (hier
ist ein Riss oder Knick in der Zeitung und daher sind einige Wörter nicht
lesbar!) auch ihrer einflußreichen Erzieherin scheitern. Wäre er nun
von Kleppelsdorf weggegangen, so wäre er bei der gegen ihn dort herrschenden
Stimmung wahrscheinlich niemals dahin zurückgekehrt, zumal wenn eines Tages das
Verbrechen, das er an seiner Stieftochter begangen hatte, zum Vorschein
gekommen wäre. Wenn er die Tat begangen hat, woran seine Richter nicht zweifeln,
so dürfte die Entfernung der kleinen Ursula wahrscheinlich das Hauptmotiv
gewesen sein, denn mit dieser Zeugin, wenn sie am Leben blieb, war seine
Zukunft immer bedroht. Sein Streben ging nach Reichtum und Ehre. Der Tod Dörthe
Rohrbecks konnte ihm, der damals sich seines Einflusses auf die Großmutter für
sicher hielt, zum Reichtum verhelfen, der Tod Ursula Schades seine verlorene
Ehre retten.
Mit diesen, wenn man sie so nennen kann,
positiven Indizien, trifft eine Reihe negativer Indizien zusammen, die es als
höchst unwahrscheinlich erscheinen lassen, daß die dreizehnjährige Ursula
Schade, ein gutgeartetes, kränkliches und schwaches Kind, das nie mit einer
Waffe etwas zu tun hatte, ihre Kusine, mit der sie in bestem Einvernehmen
lebte, mit der tödlichen Sicherheit eines ausgezeichneten Schützen getötet und
dann mit derselben Sicherheit ihrem eigenen Leben ein Ende gemacht haben soll.
Selbst der bedeutsame Brief an die Großmutter, der Hauptstützpunkt der
Verteidigung Grupens, wurde ihm dadurch zum Verderben, daß das Kind ihn wie
eine scherzhafte Sache mehrere Tage vor der Tat dem Dienstmädchen Mohr
anvertraute, so daß an die ernsthafte Absicht Ursulas, dem Briefe eine solche
Deutung zu geben, kaum gedacht werden kann.
Aber wie dem immer sein: das Urteil wäre
niemals gesprochen worden, wenn nicht die Handlungen und Unterlassungen Grupens
in den Geschworenen von vornherein die Ueberzeugung gefertigt hätten, daß er
einer solchen Tat auch fähig sei. Ein Indizienbeweis ist wie ein Mosaikgemälde
aus tausend kleinen Steinchen mühselig zusammengesetzt, die aber doch im ganzen
ein vollendetes Bild ergeben. So auch in diesem Falle. Wäre während der Verhandlung
die verschwundene Frau Grupen erschienen oder hätte sie ein Lebenszeichen von
sich gegeben, so wäre zweifellos der ganze Bau der Anklage in sich
zusammengebrochen. Aber diese Frau wird nicht erscheinen.
Es wird sicher Menschen geben, die trotz der
Fülle von Beweismomenten an der Schuld Peter Grupens zweifeln. Und es ist sogar
anzunehmen, daß in Zukunft wiederholt der Ruf nach einer Wiederaufnahme des
Verfahrens ertönen wird. Denn das Rechtsbewußtsein des Volkes ist ein sehr
empfindliches Organ, und schon die Möglichkeit eines Fehlurteils beunruhigt
jeden, der in der wahren Gerechtigkeit eines der höchsten Güter des Volkes
sieht. Es ist indessen ein tröstlicher Gedanke, daß solche Fehlurteile, die
offenbar die Unschuld zum Leiden verdammen, sehr seltene Ereignisse sind. Die
Einrichtung der Geschworenengerichte, die den Schuldspruch über einen
Angeklagten vom dem Gewissen und der (hier
ist ein Riss oder Knick in der Zeitung und daher sind einige Wörter nicht
lesbar!) völlig unabhängiger Männer abhängig macht, bieten eine gewähr
dafür, daß nach menschlichem Ermessen ein richtiges Urteil gefällt wird.
So ist auch in diesem Falle anzunehmen, daß
der Schuldspruch von Hirschberg das Rechte getroffen hat. Nach einer alten
Gewohnheit wird in Fällen, wo sich das Todesurteil auf reine Indizien stützt
und kein Geständnis des Angeklagten vorliegt, eine Vollstreckung der schwersten
Strafe vermieden. Wenn also, so unwahrscheinlich das ist, neue Tatsachen in
Zukunft hervorkommen sollten, so wird es Peter Grupen auch noch erleben. Die
Wahrscheinlichkeit dafür ist aber gering.
m. m.
Die
Schlußverhandlung.
Ueber den letzten Teil der Verhandlung hatten
wir bis zu der großen Rede des Verteidigers
A b l a ß berichtet. Die Rede
dauerte bis nach 10 Uhr abends. Dann nahm als zweiter Verteidiger
Justizrat M a m r o t h das Wort, wie er sagte, um den Ausführungen
seines Mitverteidigers noch „einige Kleinigkeiten“ hinzuzufügen. Aus diesen
Kleinigkeiten wurde ein gewaltiges Plädoyer von vier Stunden. Mamroth kämpfte
in erster Linie gegen die „Volksstimme“ und führte als Beispiel den ernsthaften
Amtsrichter aus Itzehoe an, der herkam, um zu erzählen, seine Frau habe gesagt,
sie habe gehört, daß Grupen versucht habe, seine Frau einzumauern. Von diesen
Redereien dürften die Geschworenen sich nicht beeinflußen lassen, und es sei
zweifellos, daß eine ganze Reihe von Beweisversuchen auf solche Gerüchte und
Redereien sich stützen. Im übrigen seien einige zugespitzte Ausführungen
Mamroths wiedergegeben:
„Das Plädoyer des Staatsanwaltes lasse ich
gern gelten als eine Rechtfertigung der Anklage. Die Staatsanwaltschaft hat
ihre Pflicht erfüllt, wenn sie auf Grund hinreichenden Verdachtes ihre Anklage
erhebt. Aber für das Urteil genügt weder der hinreichende, noch der dringende
Verdacht. Hier bedarf es des B e w e i
s e s .
Aus der Tatsache, daß der Angeklagte in der
Nacht vor der Tat bei einem Mädchen war, um seine sexuellen Bedürfnisse zu
befriedigen, darf man nicht schließen, daß er sich nur zu ihm begeben hat, um
es in sexuelle Hörigkeit zu versetzen.
Doppelte
Vorsicht!
Wenn Sie, meine Herren Geschworenen, keinen
sympathischen Eindruck von dem Angeklagten bekommen haben, so müssen Sie
doppelt vorsichtig bei der Erwägung Ihres Urteils sein.
Es sind im ganzen doch so viel ungünstige
Dinge über das Vorleben der Frau Grupen bekannt geworden, daß man schließlich
auch glauben kann, sie habe jenes Ungeheuerliche getan, was der Bruder Grupens
durch die Tür gesehen zu haben behauptet. Wenn das aber wahr ist, so war ihr
Eheleben so zerrüttet, daß es für sie notwendig war, das Haus zu verlassen und
ihr Glück woanders zu versuchen. Und wenn sie bis heute nichts von sich hat
hören lassen. so wissen wir ja nicht, ob sie noch lebt oder ob sie nicht unter
ihr bisheriges Leben einen endgültigen Strich gezogen hat.
Ich habe alle Hochachtung vor dem
Sachverständigen Professor Dr. Schneidemühl. Als (hier ist ein Riss oder Knick in der Zeitung und daher sind einige
Wörter nicht lesbar!) daß ein Brief der Frau Grupen, der (wieder fehlen ein oder zwei Wörter!)
durchaus harmlos und behaglich war, jene so oft in dem Prozeß erwähnten
Wellenlinien zeige, die ein erregtes Gemüt verraten sollen, da antwortete mir
Prof. Schneidemühl: „Ja, das käme nicht darauf an, dann sei es eben
wahrscheinlich, daß die Gemütserregung früher gewesen sei; denn solche Dinge
zeigten sich in der Handschrift oft noch Wochen später.“ Mir scheint, mit der
Graphologie kann man alles beweisen.
Geheimrat
M o l l hatte die Aufgabe, hier
über die Hypnose zu reden. Er hat die ganze Beweisaufnahme unter der Flagge der
Psychologie der Zeugenaussagen aufgerollt. Ich bin gewiß der Ansicht, daß Herr
Geheimrat Moll ein scharfsinniger und interessanter Sachverständiger ist, aber
ich halte seinen Ausflug in das …anwaltliche Gebiet für mißglückt.
Der Staatsanwalt hat in einer drastischen
Weise ausgeführt, daß Dörthe von A h n
u n g e n erfüllt war und das Unglück
herankommen sei. Der Staatsanwalt meint, daß Leute, die ein schweres Schicksal
haben, dies immer vorausahnen. Wieso hat die kleine Ursula gar nichts geahnt?
Der Sachverständige Dr. Kuznitzki hat heute
gesagt, wir Aerzte sind Menschen und können uns irren. Der Sachverständige Dr.
Meyer hat von diesem Recht reichlich Gebrauch gemacht. Ein anderer
Sachverständiger hat gesagt, überzeugt sei er nicht, aber für wahrscheinlich
halte er die Uebertragung der Krankheit von Grupen auf Ursula …“
Der
Staatsanwalt unterbricht.
Staatsanwalt (unterbrechend): Ich bitte den
Verteidiger darauf hinzuweisen, daß der Sachverständige von h o h e r
Wahrscheinlichkeit gesprochen hat.
Vorsitzender: Ich erinnere mich ebenfalls,
daß der Sachverständige sich so ausgedrückt hat.
Verteidiger Dr. Mamroth: Selbst, wenn das der
Fall ist, so ist das kein Grund, mein Plädoyer zu unterbrechen.
Vorsitzender: Es ist die Pflicht des
Vorsitzenden, materielle Ungenauigkeiten zu korrigieren.
Verteidiger: ich bin mir der größten
Gewissenhaftigkeit bewußt; es muß aber mein gutes Recht sein, die Beweisaufnahme
anders zu werten als Sie.
Nach diesem kleinen Zwischenfall sprach
Mamroth ungehindert weiter. Es wurde später und immer später. Auf den
Geschworenenbänken nickte einer der Geschworenen nach dem andern ein, um
wenigstens für einige Stunden in das lieblichere Gebiet des Schlafes zu
enteilen. Ein Beisitzer nickte auch. Auch der Vorsitzende schloß für einige
Sekunden die Augen, und am Ende fielen sogar dem Angeklagten die Augen zu,
natürlich nur für Augenblicke.
Erwiderung
des Anklagevertreters.
In seiner Replik am Dienstag nahm O b e r s t a a t s a n w a l t Reifenrath noch einmal das Wort und
verteidigte nachdrücklich die Gutachten der Sachverständigen. Sei seien v e r n i c h t e n d für Grupen. Sodann ging der Oberstaatsanwalt
sehr scharf gegen das Liebesleben des Angeklagten vor. Er sei nicht der
harmlose Genießer, der gern Romanerlebnisse habe, sondern er habe wahllos tolle
Streiche mit von großer Gewissenlosigkeit getrieben. Der Zeugin Marie M o h r
glaube er durchaus. Aber sie i r
r e sich eben, wenn sie sage, daß der
Angeklagte das Zimmer nicht verließ. Sie hat darauf offenbar nicht geachtet,
was auch gar nicht verwunderlich ist; denn wer achtet auf so gleichgültige
Dinge? Wenn ihm, dem Oberstaatsanwalt, vorgeworfen sei, warum er n i c h t
a u c h M o r d a n k l a g
e im Falle des Verschwindens der F r a u
G r u p e n erhoben habe, so
erwidere er darauf, daß der Tod der Frau noch nicht so klar dargestellt sei.
Zuständig für einen neuen Mordprozeß sei die Staatsanwaltschaft Altona. Was
jedoch den Kleppelsdorfer Mord anbetreffe, so habe er geglaubt, daß Grupen,
unter der erdrückenden Last der Schuldbeweise gestern zusammenbrechend, ein
reumütiges Geständnis ablegen werde. Hierauf zogen sich die Geschworenen zur
Beratung zurück.
Donnerstag, 22. Dezember 1921, „Berliner
Morgenpost“
Die
verschwundene Frau Grupen.
Die in
B l a n k e n e s e bei Hamburg
erscheinenden Norddeutschen Nachrichten verbreiten das Gerücht weiter, daß die
am 31. Januar 1920 (Anm.: muss 1921
heißen) in der Wedeler Aue gefundene
L e i c h e mit der der verschwundenen
Frau Grupen identisch sei. Alle Nachforschungen nach ihr waren bisher
vergeblich, wie der Kleppelsdorfer Prozeß ergab. Die an der Leiche
vorgefundenen Wunden konnten nicht mit Sicherheit als Schnittwunden
festgestellt werden. Es wurde angenommen, daß die Wunden auch von scharfen
Eisschollen herrühren könnten. Zwar erklärte damals der Zahnarzt in Itzehoe,
der die Frau Grupen behandelt hat, daß das Gebiß der Toten nicht das der Frau
Grupen gewesen sei, doch wird jetzt wieder behauptet, die Tote sei die Frau
Grupen gewesen. Der Angeklagte war in Wedel sehr bekannt und hielt auch
seinerzeit um die Hand einer dortigen Landwirtstochter an.
Sonnabend, 28. Januar 1922, „Berliner
Morgenpost“
Peter
Grupens Selbstmordversuch.
Ueber den Selbstmordversuch des wegen des
Kleppelsdorfer Doppelmordes zum Tode verurteilten Peter G r u p e n
wird uns aus H i r s c h b e r
g berichtet: Bald nach seiner
Verurteilung zum Tode war Grupen sehr niedergeschlagen. Er erholte sich aber
dann wieder und trug seine alte zuversichtliche Miene zur Schau. Vor etwa zwei
Wochen fiel eines Tages dem Gefängnisbeamten auf, daß es in der Zelle von
Grupen sehr ruhig war. Durch das Beobachtungsfenster sah er, daß Grupen
Maßnahmen traf, sich zu erhängen. Die Beamten wollten jetzt rasch die Zellentür
öffnen, doch leistete diese starken Widerstand. Grupen hatte auf irgendeine
Weise die Tür versperrt, obwohl innen kein Riegel an ihr war. Die Tür wurde
gewaltsam erbrochen, und man kam eben noch zurecht, um den Selbstmord zu
verhindern. Daraufhin wurde Grupen, der bis dahin in Einzelhaft war, in eine
Gemeinschaftszelle gebracht.
In der ersten Zeit nach diesem Vorfall ist
Grupen auch, allerdings nicht sehr lange Zeit, in den Hungerstreik getreten. Er
verweigerte die Nahrungsmittelaufnahme, besann sich aber bald eines Besseren.
Im übrigen hat sein Verhältnis zu den Gefängnisbeamten, die zum Teil in der
Schwurgerichtsverhandlung ein gutes Zeugnis über ihn ablegten, eine starke
Trübung erfahren, er bereitete jetzt den Beamten allerhand Schwierigkeiten und
hat besonders einen Beamten gewisser Pflichtwidrigkeiten beschuldigt. Darüber
schwebt zurzeit eine Untersuchung.
Sonnabend, 25. Februar 1922, „Berliner
Morgenpost“, S. 1-2
Flucht
und Rückkehr Peter Grupens.
Der Ausbruch zu Dreien. - Das Brotmesser als
Stahlsäge. - Ein Seil aus Hanf. - Freiwillige Rückkehr ins Gefängnis.
Der wegen des zweifachen Mordes auf Schloß
Kleppelsdorf zum Tode verurteilte Peter Grupen ist in der Nacht auf Freitag aus
dem Gefängnis des Hirschberger Landgerichts mit zwei Zellengenossen auf kühne
und geschickte Weise ausgebrochen. Die Genossen und Helfer der Flucht Grupens
kehrten am Morgen, nachdem sich Grupen sogleich von ihnen getrennt hatte,
freiwillig wieder ins Gefängnis zurück. Alle Versuche, Grupens habhaft zu
werden, blieben zunächst vergeblich. Am Freitag abend jedoch fand sich der
geflüchtete Verbrecher, der angesichts des auffallenden Merkmals, seines
fehlenden Arms, wohl die Aussichtslosigkeit seines Unternehmens erkannt haben
mochte. selbst wieder im Hirschberger Gefängnis ein.
*
Ueber die näheren Einzelheiten der Flucht und
die dabei in Betracht kommenden Umstände wird uns aus H i r s c h b e r g berichtet:
Peter Grupen, der kurz nach seiner
Verurteilung zum Tode einen Selbstmordversuch durch Erhängen begangen hatte,
war zur besseren Ueberwachung in eine Zelle gebracht worden, die er mit drei
anderen Strafgefangenen teilte, die aber nur noch kurze Strafen zu verbüßen
hatten. Man ist jetzt geneigt, anzunehmen, daß Peter Grupen, der sich wegen
seines fehlenden Arms nicht selbst zu helfen vermochte, den Selbstmordversuch
nur vorgetäuscht habe, um Helfer für seine wahrscheinlich schon damals gehegten
Fluchtpläne zu gewinnen. Die Zelle liegt im zweiten Stockwerk des nach allen
modernen Grundsätzen erbauten Gerichtsgefängnisses. Aber offenbar hatte man
daran vergessen, daß bereits vor Jahren ein Gefangener in dieser Zelle den
Querstab des Gitterwerks durchgesägt hatte und glücklich entkommen war. Man
hatte nun den Querstab nicht durch einen neuen ersetzt, sondern durch zwei
Laschen zusammengeflickt. Ungefähr zwei Meter unter dieser Zelle aber, in einer
seitlichen Entfernung von einem reichlichen Meter, ist das Dach des Vorhauses,
in dem sich Büroräume und eine Beamtenwohnung befinden.
Am Freitag früh, als um 6 Uhr die auswärts
wohnenden Gefängnisbeamten ihren Dienst antreten wollten, fanden sie vor dem
Gefängnis die beiden Gefangenen B o h
n und
V o i g t l ä n - d e r . Sie erzählten, daß sie mit Grupen die Flucht
in der Nacht ausgeführt, dann aber sich die Sache überlegt hätten und
zurückgekehrt seien, weil sie doch nur noch eine geringe Zeit zu verbüßen
hätten. Der vierte Gefangene, der mit in der Zelle war, B u l l e c k , erklärte, von der ganzen Sache nichts gehört
zu haben. Auf einem Zettel, der bei ihm lag, entschuldigte sich Grupen in
höflichem Ton, daß er ihm ein Schlafpulver gegeben habe. Das sei aber nötig
gewesen, weil Bulleck sonst das Vorhaben vereitelt hätte. Nach den Angaben der
beiden zurückgekehrten Flüchtlinge hat sich die Flucht nun folgendermaßen
abgespielt:
Die beiden Helfer Grupens haben die Laschen
des Gitterwerks mit einem zur Säge umgewandelten Brotmesser abgesägt. Damit
hatte das Gitterwerk seinen Halt verloren und konnte leicht mit einem Bettbrett
durchstoßen werden. Das Bettbrett wurde in der Richtung auf das Dach des
Vorhauses aus dem Fenster geschoben und im Innern der Zelle befestigt. Am Ende
des Brettes wurde ein aus Bettlaken und Bettüchern zusammengedrehter Strick
befestigt. An dem Strick ließen sich zunächst Bohn und Voigtländer und zuletzt
Grupen hinab. Auf dem Dach des Vorhauses gingen sie weiter zum Vorderteil des
Gebäudes, auf dem sich ein Schornstein befindet. An dem Schornstein befestigten
sie eine doppelte Leine, die ziemlich kunstvoll zusammengesetzt war und in
ihrem oberen Teil aus zerschnittenen Riemen und zusammengedrehten Teilen von
bunten und weißen Bettüchern und am unteren Teil aus dicken Schilfrohrstöcken
bestand. An dieser doppelten Leine ließ sich diesmal Grupen zuerst herunter.
Als die anderen unten ankamen, war Grupen bereits spurlos verschwunden. Die
beiden Flüchtlinge gingen nun allein in die Stadt, kehrten aber am Morgen ins
Gefängnis zurück.
Grupen selbst mußte seine Kleidung immer
abends abgeben. Er hat sich dafür zur Flucht Kleider von Bulleck angezogen. Die
beiden Gefangenen erklärten, sie hätten unter einem unwiderstehlichen Zwang von
Grupen gehandelt. Allerdings erklärten sie dann wieder, sie wären Grupen zu
Willen gewesen, weil sie sich vor seiner Gewalttätigkeit fürchteten. Diese
Angabe erscheint aber wenig glaubhaft, da sich doch außer Grupen drei Mann in
der Zelle befanden, die mit dem einarmigen Grupen leicht fertig werden konnten.
Unaufgeklärt ist auch noch, wie Grupen in den Besitz des Brotmessers kam,
insbesondere, wie die Seile aus Schilfrohr in die Zelle gekommen sind.
Die Flucht hatte natürlich in der ganzen
Gegend ungeheures Aufsehen erregt. Alle Polizisten befanden sich den ganzen Tag
auf der vergeblichen Suche nach Grupen. In den letzten Tagen hat Grupen
wiederholt seine Unschuld beteuert. Er wollte nach seinen Angaben das
Wiederaufnahmeverfahren beschreiten, nachdem die Untersuchung in Altona wegen
des Verschwindens seiner Frau erledigt sein würde. Die Einreichung eines
Gnadengesuches hat er entschieden abgelehnt.
Gegen neun Uhr abends wurde die überraschende
Nachricht bekannt, daß Peter Grupen wieder nach Hirschberg zurückgekehrt sei.
Er war plötzlich wieder vor dem Landgerichtsgefängnis, das er die Nacht vorher
verlassen hatte, erschienen und hatte sich selbst gestellt. Er hatte offenbar
das Vergebliche seines Unternehmens eingesehen. Wohin er sich nach seiner
Flucht gewandt hatte, ist zurzeit noch nicht bekannt.
*
Wie war
die Flucht möglich?
Telegr. unseres Korrespondenten.
Hirschberg, 24. Februar.
Es wurde bereits gesagt, daß man jetzt in
Hirschberg nicht daran glaubt, daß Grupens Selbstmordversuch vor einigen Wochen
ernst gemeint war. Grupen, der, wie man weiß, im Kriege einen Arm verloren hat,
war, allein auf sich angewiesen, hilflos. Jeder Fluchtversuch war von
vornherein zum Scheitern verurteilt, ohne Hilfe war er seinem Schicksal
verfallen. Grupen war sich dessen bewußt. Er war sich aber auch offenbar seines
bannenden Einflusses auf seine Umgebung und nicht nur auf willensschwache
Personen bewußt. Helfer mußte er im Gefängnis suchen, und er hat es
durchzusetzen gewußt, in einer Gemeinschaftszelle mit anderen Gefangenen
untergebracht zu werden, und dort war es ihm auch in der Tat in kurzer Zeit
gelungen, zwei seiner Mitgefangenen seinem Willen untertan und völlig gefügig
zu machen. Sie sind es gewesen, die das schadhafte Gitterwerk durchgesägt, das
Rettungsgerüst, an dem Grupen zwei Stockwerke hoch an einem Arme hängend ins
Freie gelangt ist, gebaut, die Stricke gedreht, befestigt und so dem
Doppelmörder ins Freie verholfen haben. Kein eigenes Interesse trieb sie. Sie
alle hatten nur noch kurze Zeit zu sitzen. Und Geldversprechungen eines
flüchtigen Mörders können sie auch nicht gelockt haben. Und sie erklären, wie
so viele Zeuginnen im Prozeß, sie hätten es getan, weil Grupen es so wollte.
Also zwei Helfershelfer aus der Zelle zur letzten Durchführung der Tat.
Trotzdem: Wie war es möglich? Und hier tun
sich neue Rätsel auf. Wie ist Grupen - das ist die erste Frage - in den Besitz
des Schlafpulvers gekommen, mit dem der vierte Insasse der Zelle am Vorabend
der Flucht unschädlich gemacht worden ist? Wer hat dem Grupen das mit sehr feinen
Instrumenten zu einer Metallsäge umgewandelte Brotmesser zugesteckt? Wie ist
Grupen in den Besitz des recht dicken und handfesten Schilfrohrseiles gekommen?
In früheren Zeiten sind in dem Gefängnis Schilfrohrmatten angefertigt worden,
vor Monaten schon aber ist die Fabrikation eingestellt worden. Grupen ist
niemals mit diesen Arbeiten beschäftigt worden. Woher kommt das Seil? Die Reihe
der antwortheischenden Fragen ist damit aber nicht erschöpft: Wie konnte der
Doppelmörder, über dessen täuschende Verstellungskunst, kluge Verschlagenheit
und tollkühne Verwegenheit kein Mensch im unklaren sein konnte, in einer Zelle
mit schadhaftem Gitterwerk und obendrein noch gerade in einer der wenigen
Zellen untergebracht werden, deren Fenster nicht nach dem von einer hohen Mauer
umgürtelten Gefängnishofe, sondern über die Dächer des Vorhauses hinweg
unmittelbar ins Freie führt?
Da erinnert man sich unwillkürlich einer
merkwürdigen Szene aus der Verhandlung:
W i l h e l m Grupen, der Bruder
des Mörders, der einzige, der über die angeblichen Perversitäten der verschwundenen
Frau Grupen und über die angebliche Fortnahme des Revolvers durch Ursula Schade
etwas zu bekunden wußte, war vernommen worden und hatte sich dabei nicht wenig
zu den Aussagen seines angeklagten Bruders in Widerspruch gesetzt. Alsdann
wurden die Gefangenaufseher vernommen, und dabei gab es erstaunte Gesichter:
Wilhelm Grupen hatte seinem Bruder in der Untersuchungshaft einen Besuch
gemacht, war dabei von einem Gefangenaufseher oder, wie es wohl heute korrekt
heißt, „Strafanstaltswachtmeister“ überwacht worden und hat dann in der Wohnung
desselben Wachtmeisters übernachtet.
Und das nicht allein. Die Unterredung
zwischen den beiden Grupen, zwischen P
e t e r , dem Angeklagten, und W i l h e l m , dem Hauptentlastungszeugen, ist dabei
plattdeutsch geführt worden. Wo war da die Kontrolle? Der Schlesier, der nie
selbst jahrelang in plattdeutschen Gegenden gewohnt hat und trotzdem das
plattdeutsch geführte Gespräch zweier Füchse erfassen Will, soll noch geboren
werden. Der Vorsitzende der Verhandlung, Oberlandesgerichtsrat K r i n k e
war einen Augenblick sprachlos vor Erstaunen und ganz Hirschberg mit
ihm. Und dieses Erstaunen ist heute noch gewachsen und fordert endlich
Beachtung. Wie war es möglich, woher hatte Grupen die Hilfsmittel zur Flucht?
Wie ist es möglich, daß die Staatsanwalt bis heute keine Photographie des
Mörders besitzt, und weshalb - auch das muß einmal gesagt werden - ist erst
nach dem Hirschberger Prozeß die Untersuchung über das rätselhafte Verschwinden
der Frau Grupen eingeleitet worden?
Sonntag, 26. Februar 1922, „Berliner
Morgenpost“
Grupens
Rückkehr ins Gefängnis.
Peter
G r u p e n , der zunächst über
seine Flucht und seine Rückkehr ins Hirschberger Gefängnis keinerlei Angaben
machen wollte, hat sich dann doch zum Reden entschlossen. Er behauptete,
zurückgekehrt zu sein, um zu zeigen, daß er imstande sei, sich aus eigener
Kraft zu befreien, es aber vorgezogen habe, zurückzukehren, um weiterhin für
seine Unschuld einzustehen. Das glaubt natürlich niemand. Er behauptet ferner,
er habe sich den ganzen Tag nach seinem Ausbruch in Hirschberg in einer
Privatwohnung aufgehalten, doch sei es nicht die Wohnung eines Gefängnisbeamten
gewesen. Den Namen zu nennen weigerte er sich. Bei der Rückkehr in den
Gefängnishof - wobei er eine hohe Mauer übersteigen mußte - hätten ihm zwei
Personen geholfen, deren Namen zu nennen er gleichfalls ablehnt.
In Hirschberg haben im Zusammenhang mit der
Angelegenheit mehrere Hausdurchsuchungen stattgefunden, die jedoch kein
Ergebnis hatten. Vorläufig bleibt es daher noch immer in Dunkel gehüllt, woher
Grupen von außen Hilfe bekam und welche Gründe ihn eigentlich veranlaßten, ins
Gefängnis zurückzukehren. Es ist wohl das zunächst Liegende, anzunehmen, daß er
selbst die Schwierigkeit seines Unternehmens bei einigem Nachdenken einfach und
mit Hilfe von Personen, die sich auch leichtsinnig unterstützt hatten und
wahrscheinlich über diese Lösung erleichtert aufatmeten, wieder über die Mauer
ins Gefängnis stieg. Die Hirschberger Behörden setzen ihre Bemühungen fort, die
verschiedenen Rätsel der Angelegenheit aufzulösen.
Dienstag, 28. Februar 1922, „Berliner
Morgenpost“
Grupens
Fluchtversuch.
Das Versteck im Blitzableiterschacht.
Die Geschichte von Grupens Fluchtversuch und
Rückkehr wird immer verwickelter. Während bisher Grupen immer behauptet hatte,
er habe in einer Privatwohnung in der Wilhelmstraße den Freitag verbracht,
tritt er jetzt mit der Behauptung auf, er habe das Gefängnisgrundstück gar
nicht verlassen, sondern sich vielmehr im Blitzableiterschacht im Holzhof
verborgen. Es ist nicht zu verkennen, daß für die Angabe verschiedene Momente
sprechen.
Es herrscht wohl aber kein Zweifel, daß
Grupen die Flucht seit längerer Zeit sorgfältig vorbereitet hatte. Seine Behauptung,
er habe damit nur eine Kundgebung für seine Unschuld veranstalten wollen, wird
nach wie vor für unglaubwürdig gehalten. Zu den beiden anderen Gefangenen, die
mit ihm geflüchtet waren. hat er allerdings gesagt: „So, nun laßt uns wieder
hineingehen, dann sieht man wenigstens, daß mir an der Freiheit nichts liegt,
wenn ich meinen reinen Namen nicht wieder so haben kann, wie ich ihn
hierhergebracht habe.“
Die Ermittlungen, inwieweit Gefängnisbeamte
Grupen Vorschub geleistet haben, sind noch nicht abgeschlossen. Seit Anfang
Januar aber ist schon der Strafanstaltsinspektor S c h e n k e beurlaubt und seit Anfang Februar vom Dienst
suspendiert worden. Am Sonnabend hat auch noch ein anderer Gefängnisbeamter unfreiwillig
Urlaub nehmen müssen. Wahrscheinlich hängen beide Angelegenheiten mit dem Fall
Grupen zusammen. Von einer merkwürdigen Geistesverfassung mancher Menschen
zeugt es, daß an Grupen sehr viele Zuschriften von Damen ankommen; darunter ist
auch der Kurfürstendamm in B e r l i
n vertreten. Auch Blumen und Schokolage
sind für Grupen angekommen, aber natürlich nicht ausgeliefert worden.
Freitag, 3. März 1922, „Berliner Morgenpost“,
S. 1
Selbstmord
Grupens.
I n d
e r Z e l l e e r h ä n g t a u f g e f u n d e n .
Wie uns aus Hirschberg gemeldet wird, hat
nunmehr wenige Tage nach seiner Flucht und Rückkehr ins Gefängnis der zum Tode
verurteilte Peter Grupen seinem Leben selbst ein Ende gemacht. Er wurde am
gestrigen Donnerstag gegen 5 Uhr Nachmittag von einem revidierenden Beamten an
einem Hosenträger hängend, tot in der Einzelhaft aufgefunden, in die er nach
jenem Fluchtversuch gebracht worden war.
Grupen war nach seiner Rückkehr von seiner in
der Nacht zum vorigen Freitag unternommenen Flucht in Einzelhaft genommen
worden. Im Augenblick seiner Selbstgestellung war Grupen damals sehr erregt. Es
unterliegt keinem Zweifel mehr, daß Grupen damals keinen Ausweg mehr gesehen
und sich deshalb selbst wieder gestellt hat. Schon am nächsten Tage bei den umfangreichen
Verhören trug Grupen das alte sichere, mit Höflichkeit gepaarte Wesen zur
Schau. Weder die vernehmenden Beamten noch die Wärter hatten Grund zur Klage.
Grupen verweigerte einige Aussagen, machte sonst aber keinerlei
Schwierigkeiten, Auch gestern hat Grupen sein Mittagessen noch in aller Ruhe
eingenommen. Keinerlei Anzeichen von Erregung waren an ihm bemerkbar. Auch bei
einer um 4 Uhr nachmittags vorgenommenen Revision seiner Zelle war Grupen
völlig gelassen. Bei der nächsten, um ¾ 5 Uhr vorgenommenen Revision war Grupen
bereits tot. Er hatte sich mit einem Hosenträger an der Zentralheizung seiner
Zelle erhängt. Alle Wiederbelebungsversuche, die sofort angestellt wurden,
waren vergeblich. Grupen hat keinerlei Auslassung, auch nicht eine Zeile,
hinterlassen. Er hat vielmehr in den letzten Tagen über den Mord von
Kleppelsdorf nicht anders als sonst behauptet, daß er unschuldig sei.
*
Mit Peter Grupens selbstgewählten Tode findet
eine der merkwürdigsten, kriminalistisch wie psychologisch vielfach nicht
restlos aufgeklärten Mordtaten ihren Abschluss. Der ehemalige Maurergeselle,
der, von einer ungewöhnlichen Willenskraft beseelt, nach dem Verlust eines Arms
durch eine tückische Granate, sich zum Architekten hinaufarbeitete, geriet
durch seine Heirat mit einer älteren Frau in einen Lebenskreis verwöhnten und
verwöhnenden Reichtums, dem seine sittliche Kraft nicht gewachsen war. Die Ehe
wurde bald unglücklich, und es kann heute nach den Aufklärungen des
Hirschberger Prozesses kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß Grupen jene Frau
mit der ganzen kalten Berechnung, Voraussicht und bedenkenlosen
Gewalttätigkeit, deren nur der „große“ Verbrecher fähig ist, hat verschwinden
lassen. Dieses Verschwinden wäre wahrscheinlich niemals aufgeklärt worden, wenn
ihm nicht das Verbrechen auf dem Gute Kleppelsdorf gefolgt wäre und der
Verdacht, der auf Grupen gefallen war, zu ebenso umfangreichen als
ergebnislosen Nachforschungen geführt hätte.
auch der Doppelmord in Kleppelsdorf war, wie
die Beseitigung der Frau, nur denkbar, wenn man annahm, daß sich in Peter
Grupen ein eiserner verbrecherischer Willen mit der keine Mühe und Vorsicht
scheuenden Sorgfalt der Vorbereitung, mit ungeheurer Selbstbeherrschung und
blitzschnellem Entschluß zur Tat verbunden haben. Die Geschworenen und auch
wohl die meisten übrigen Teilnehmer der ereignis- und eindrucksreichen
Verhandlung sind zu dieser Ueberzeugung gekommen, trotzdem der Angeklagte nie
aufhörte, seine Unschuld zu versichern. Aber aus ihm sprach nicht die einfache
Stimme der verfolgten Unschuld, sondern die eines fast unpersönlichen,
geschickten, auf jede denkbare Frage sorgsam vorbereiteten Verteidigers. So ist
er von den Geschworenen nach bestem Wissen und Gewissen verurteilt worden. Die
ganze, in ihrer Art großartige Leistung, die Grupen seinem Willen und seinen
nerven abgerungen hatte, war vergeblich gewesen.
Wäre Grupen unschuldig gewesen, so hätte er
nicht verzweifeln müssen. Es mußte bloß, was in diesem Falle möglich, ja
wahrscheinlich gewesen wäre, seine verschwundene Frau wieder einmal auftauchen,
und eine Wiederaufnahme seines Prozesses wäre sicher gewesen. Aber diese
Hoffnung hatte er nicht. Deshalb gab er gleich nach dem Schuldspruch der
Geschworenen sein Spiel verloren, und versuchte, sich kurze Zeit danach, selbst
zu töten. Der Fluchtversuch war nur ein letztes Aufflackern der ungeheuren
Energie, die in diesem Manne lebte. Aber seine Vernunft sagte ihm, daß das
nicht der Weg in die Freiheit sei. Ihm blieb nur der eine Weg, den er jetzt
gegangen ist.
Sonnabend, 4. März 1922, „Berliner
Morgenpost“ - Erste Beilage
Der
Selbstmord Grupens.
Maßregelung von Hirschberger
Gefängnisbeamten.
Zu dem Selbstmorde Peter Grupens wird uns
aus H i r s c h b e r g mitgeteilt: Grupen wurde, nachdem er in einer
Einzelzelle untergebracht worden war, sehr stark bewacht. Jede halbe Stunde sah
ein Beamter durch das in der Zellentür befindliche Guckloch nach Grupen. Als
der Beamte am Donnerstag nach 4 Uhr die Zelle kontrollieren wollte, sah er, daß
das Guckloch an Grupens Zelle mit Papier zugeklebt worden war. Die Zelle wurde
sofort geöffnet und man fand Grupen an der Zentralheizung hängend vor. Da der
Körper noch warm war, wurden sofort Wiederbelebungsversuche vorgenommen, die
aber schließlich als erfolglos aufgegeben werden mußten.
Bis jetzt ist nicht bekannt, ob Grupen
irgendwelche Aufzeichnungen hinterlassen hat, so daß man bezüglich des
Selbstmordmotivs nur auf Vermutungen angewiesen ist. In den letzten Tagen war
er stundenlang über seine Flucht vernommen worden. Er hatte dabei eine zum Teil
neue Darstellung gegeben. Danach haben die drei Flüchtlinge in der Zelle noch
außer den zu Sägen umgewandelten Brotmessern ein richtiges Sägeblatt gehabt,
über dessen Herkunft noch Unklarheit herrscht. Er hatte aber bei der letzten
Vernehmung am Mittwoch abend noch dem Polizeiinspektor versprochen, auch zu
verraten, woher das Sägeblatt stammt. Nach seiner Darstellung hat er sich,
nachdem er im Hofe des Gefängnisses gelandet war, von den anderen Gefangenen wieder
auf die Gefängnismauer, die den Gefängnishof einschließt, heben lassen.
Auf dieser Mauer ist er bis zum Holzhofe
entlanggekrochen, hat sich über den Holzhaufen in den Hof hinabgelassen und
sich dann im Blitzableiterschacht verkrochen. Auf diese Weise würde es sich
erklären, daß Grupen zunächst fast in Freiheit war, denn er brauchte nur über
einen Zaun zu steigen, um auf die Straße zu kommen, daß er sich aber abends zum
allgemeinen Staunen wieder im Gefängnishofe meldete. Bemerkenswert ist noch,
daß er nach seiner Angabe vorher statische Berechnungen aufgestellt hat, ob die
beiden Bettbretter, die er zur Flucht aus dem Fenster besitzen mußte, auch
standhalten würden. Bei den Vernehmungen hat er noch sein Bedauern ausgesprochen,
daß er den beteiligten Behörden so viel Arbeit gemacht habe. Die Leiche Grupens
wurde von der Staatsanwaltschaft bereits zur Beerdigung freigegeben.
Die Ermittlungen inwieweit Gefängnisbeamte
Grupen gegenüber ihre Dienstpflicht verletzt und insbesondere ihm seine Flucht
erleichtert haben, sind zu einem gewissen Abschluß gelangt. Ein Beamter wurde
hierfür vom Dienst suspendiert, ein zweiter ist freiwillig in Urlaub gegangen
und jetzt wird wahrscheinlich auch noch gegen einen dritten Beamten das
Disziplinarverfahren eröffnet werden.
Donnerstag,
?. (Anfang) März 1922 - Berliner Morgenpost:
Frau Grupen in
Südamerika?
Der Fall Grupen beschäftigt trotz des
Selbstmordes Grupens noch die Gerichte. Bei dem Justizrat Ablaß, dem Verteidiger
Grupens in der Hirschberger Schwurgerichtsverhandlung, hat sich ein Zeuge
gemeldet mit der Angabe, daß er nach der Lektüre der in Buchform erschienenen
Verhandlungsberichte sich durch sein Gewissen gedrängt fühle, Bekundungen zu
machen, die vielleicht das Verschwinden der Frau Grupen aufklären könnten.
Justizrat Ablaß wies den Zeugen an den Rechtsanwalt Dr. Puppe in Berlin, der
kurz vor dem Selbstmorde Grupens dessen Verteidigung in der damals zu
erwartenden Altonaer Schwurgerichtsverhandlung übernommen hatte. Der Mann
machte folgende Aussage: er sei im September 1920 in Nordenham bei einer Schiffsreederei
beschäftigt gewesen. Am 29. September 1920 habe er auf der Mole eine Frau
beobachtet, die im Begriff war, mit einem Dampfer nach Südamerika abzureisen.
Auf diese Frau passe die Beschreibung die die Mutter der Frau Grupen, Frau
Schade (richtig: Frau Eckert), von
ihrer verschwundenen Tochter abgegeben habe. Der Zeuge hat sich jetzt nach
Hamburg und Nordenham begeben, um weitere Nachforschungen anzustellen und sich
eine Photographie der Frau Grupen zu beschaffen. Welcher Wert dieser Bekundung
beizumessen ist, muß naturgemäß abgewartet werden.
11. Dezember 1921, „Berliner Illustrirte
Zeitung“, Nr. 50, S. 804
Bilder
zu dem Prozeß vor dem Schwurgericht in Hirschberg
Schloß Kleppelsdorf
Vor dem Schwurgericht in Hirschberg in
Schlesien spielt sich der letzte Akt einer außerordentlichen, seltsamen und
noch dunklen Familientragödie ab, deren Schauplatz im Februar dieses Jahres das
schlesische Schloß Kleppelsdorf war. Hier wohnte das 16jährige Fräulein Dörthe
Rohrbeck, die einzige verwaiste Tochter und Erbin der Millionen und der Güter
ihres verstorbenen Vaters, eines Berliner Grundstücks-Spekulanten. Erzieherin
und große Dienerschaft waren die einzige Gesellschaft der jungen Schloßherrin.
Das junge Mädchen wurde am 21. Februar (Anmerkung:
es war der 14. Februar 1921) um die Mittagsstunde in einem Zimmer des Schlosses
erschossen aufgefunden. Im Nebenzimmer lag (Anmerkung:
beide lagen in demselben Zimmer), gleichfalls tödlich verwundet - sie starb
wenige Minuten später, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben -, ihre
13jährige (Anmerkung: 12jährige)
Cousine Ursula Schade, die zu jener Zeit mit ihrer Großmutter, der 74jährigen
Frau Eckert, ihrer kleinen Schwester Irmgard und ihrem Stiefvater, dem
Architekten Peter Grupen auf dem Schloß zu Besuch weilte. Ursula Schade hatte
einen Brief an ihre Großmutter zurückgelassen, aus dem man zunächst schloß, daß
sie die Cousine Dörthe und dann sich selbst erschossen hatte. Da man jedoch
keinen ausreichenden Grund für einen so fürchterlichen Haß des jungen Mädchens
gegen seine nahe Verwandte zu finden vermochte, richtete sich der Verdacht des
Mordes gegen Ursulas Stiefvater, Peter Grupen, der nunmehr angeklagt ist,
zuerst Dörthe Rohrbeck und dann Ursula Schade erschossen zu haben. Jedenfalls
war es sein Revolver, den man bei Ursula gefunden hat.
Wie um das Geheimnis um die Beweggründe
dieser Bluttat noch zu vertiefen, war kurz vorher auf völlig unaufgeklärte
Weise auch noch die Frau des Architekten Grupen, die Mutter Ursulas, im Herbst
vorigen Jahres verschwunden. Grupen behauptet, sie sei mit einem Schauspieler
nach Amerika durchgebrannt. Jedenfalls hat man keine Spur mehr von ihr
auffinden können. Das Motiv des Mordes, dessen Grupen nun angeklagt ist, wird
darin gesehen, daß Grupen hoffen durfte, nach dem Tod Dörthe Rohrbecks in den
Besitz der Rohrbeckschen Millionen zu gelangen, deren gesetzliche Erbin nun die
greise Großmutter ist, auf die der Schwiegersohn den größten Einfluß besaß. Dem
scheint aber der Charakter des Grupen zu widersprechen, der sich sein Leben
ganz aus eigener Kraft aufgebaut hat. Grupen, ein erst 27jähriger junger Mann,
der im Kriege durch einen Granatsplitter seinen linken Arm verlor, hat sich vom
einfachen Maurer zum Architekten emporgearbeitet. Zuletzt war er Besitzer eines
kleinen Gutes, Ottenbüttel bei Hamburg, wo er mit seinen beiden Stieftöchtern
und der Großmutter lebte.
Aber bald nach der Entdeckung der blutigen
Tat ergab sich eine weitere Komplikation, die die Verdachtsfäden noch mehr
verwirrte. Wenige Tage nach der Beisetzung der Opfer der Kleppelsdorfer
Tragödie wurde die Gruft der ermordeten Gutsherrin Dörthe erbrochen und
beraubt, eine Tat, die durch ihre niedrige Roheit allenthalben Abscheu erregte.
Ein großer Apparat an Zeugen und Sachverständigen ist aufgeboten, um in die
geheimnisvolle Angelegenheit, die auch in das Gebiet der Hypnose hineinspielt,
und die die Kriminalistik vor die schwierigsten Aufgaben stellt, aufzuklären.
Fotos zu diesem Artikel (Qualität der Kopie
ist zu schlecht, um sie hier wiederzugeben):
„Bilder zu dem großen Prozeß in Hirschberg,
der die Aufsehen erregende Mordtat im Schloß Kleppelsdorf enthüllen soll“
- Die ermordete Millionenerbin Frl. Rohrbeck
(Foto: F. Hartelt & Co., Breslau)
- Gruppenfoto: In der ersten Reihe von links:
die ermordete Ursula Schade (13 Jahre), Frau
Grupen, die Gattin des Angeklagten, die verschwunden ist, die ermordete
Dorothea Rohr-
beck
(16 Jahre) (Foto: van Bosch, Hirschberg)
- Schloß Kleppelsdorf, das Besitztum des
Fräuleins Rohrbeck, der Schauplatz der Tragödie
(Foto: Herta Schubert, Lähn)
- Die Grabstätte der ermordeten jungen
Gutsherrin. Die Gruft wurde wenige Tage nach der
Beisetzung erbrochen. (Foto: Herta Schubert, Lähn)
05.03.1922, „Berliner Illustrirte Zeitung“,
Nr. 10, S. 182
19.03.1922, „Berliner Illustrirte Zeitung“,
Nr. 12, S. 228
General-Anzeiger für
Hamburg-Altona
Keine
Berichterstattung im Februar und März 1921!
Montag, 5. Dezember 1921, „Hamburger
Anzeiger“
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Hirschberg, Anfang Dezember.
Heute beginnt vor dem Schwurgericht in
Hirschberg die Verhandlung eines Prozesses, der in der Kriminalgeschichte beispiellos
ist. Durch die Verhandlung soll der dichte Schleier zerrissen werden, der sich
geheimnisvoll über das gewaltsame Ende der jugendlichen Gutsherrin von
Kleppelsdorf und ihrer kleinen Base ausbreitet.
Seit dem 14. Februar 1921 wird Kleppelsdorf weit
über Schlesiens Grenzen hinaus viel genannt: Kleppelsdorf, das schlichte
bürgerliche Landgut jenseits des am stillen Städtchen Lähn dahinrauschenden
Boberflusses. An diesem Tage wurde die 16 Jahre alte Erbin des Gutes, Dorothea
Rohrbeck, und ihre Anverwandte Ursula Schade, ein Kind von 12 Jahren, im
Gutsschlosse e r s c h o s s e n aufgefunden.
Dorothea Rohrbeck war eine Waise. Von ihrer
Wiege hinweg riß der Tod die Mutter, und als zehnjährige stand sie an der Bahre
des Vaters. In Kleppelsdorf geboren, wuchs Dorothea hier auf. Ein bildhübsches,
freundliches Mädchen, war sie der Liebling der Ortsbewohner, die heute noch mit
viel Liebe von ihrer „Dörte“ sprechen. Die Einsamkeit des Schlosses teilte sie
mit ihrer Erzieherin Fräulein Zahn, mit ihrer 74 Jahre alten Großmutter, Frau
Eckhardt, einer geborenen Booß, und den Angestellten des kleinen Haushalts. In
den Ferienmonaten kamen Verwandte von mütterlicher Seite auf Besuch, namentlich
die in zweiter Ehe mit dem 27 Jahre alten Architekten Peter Grupen verheiratete,
jetzt verschollene Tochter der Frau Eckhardt aus zweiter Ehe, die auch ihre
Kinder, die ermordete Ursula Schade und deren jüngere Schwester Irmgard
mitbrachte. Die beiden kleinen Schade waren also die Stiefkinder des Peter
Grupen und die Stiefbasen der Rohrbeck.
An ihrer Erzieherin, Fräulein Zahn, hing die
Dörte mit kindlicher Liebe; kühler war das Verhältnis zur Großmutter. Hin und
wieder ließ sich auch Peter G r u p e
n auf Schloß Kleppelsdorf sehen, der
Dörtes Stiefonkel war. Nach dem rätselhaften Verschwinden seiner Frau soll
Grupen der Dorothea Rohrbeck mit L i e
b e s a n t r ä g e n genähert haben,
die aber, wie erzählt wird, mit Abneigung erwidert wurden. Dorothea unternahm
zwar einmal mit ihrer Erzieherin eine Reise nach Grupens Heimat, nach
Oldenbüttel bei Itzehoe, und besuchte mit ihm von dort aus auch Hamburg. Sonst
aber soll sie bestrebt gewesen sein, des Onkels Gesellschaft zu meiden. Wenn
Grupen auf Schloß Kleppelsdorf kam, soll Dorothea ihre Erzieherin gebeten
haben, in deren Zimmer schlafen zu dürfen.
Gegen Anfang Februar d. J. fand sich Grupen
wieder in Kleppelsdorf ein. Montag, den 14. Februar, war Dorothea Rohrbeck mit
Ursula Schade mittags zur Post nach Lähn gegangen. Nach ihrer Rückkehr um 12 ½
Uhr ließ Fräulein Zahn sie durch das Dienstmädchen Mende rufen. Das
Dienstmädchen suchte Dorothea in dem im Erdgeschoß des Schlosses befindlichen
Gastzimmer. Dort gewahrte die Mende Dörtes Gestalt vor dem Liegesofa und in der
Ecke zwischen Schrank und der zur Rollstube führenden Tür die Gestalt der
Ursula Schade. Die Mende glaubte, die beiden Mädchen spielten Verstecken. als
sie auf ihren Anruf keine Antwort erhielt und näher hinzutrat, gewahrte sie zu
ihrem Entsetzen, daß Dorothea entseelt in einer Blutlache am Boden lag und die
aus einer Stirnwunde blutende Ursula, in einer Ecke kauernd, mit dem Tode rang.
Ein furchtbares Drama hatte sich abgespielt - die Dörte und ihre Ursel waren
erschossen worden!
(Schluß folgt.)
Dienstag, 6. Dezember 1921, „Hamburger Anzeiger“
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Der Bericht hierüber erscheint auf Seite 6.
Dienstag, 6. Dezember 1921, „Hamburger
Anzeiger“
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Hirschberg, Anfang Dezember.
II.
Die Schlossbewohner, die Gutsleute und
Amtspersonen aus Lähn waren in wenigen Minuten an der Stätte der Tragödie
versammelt. Eine Krankenschwester bemühte sich um die schwerröchelnde Ursula
Schade, die, auf das im Zimmer befindliche Bett gelegt, nach etwa zwei Minuten
starb, ohne das Bewußtsein wieder erlangt zu haben. Bald erschien auch eine
Gerichtskommission, die an Dorothea Rohrbeck einen Schuß in die rechte
Brustseite und eine Schußverletzung am Halse, bei Ursula Schade einen Schuß in
die rechte Stirnseite feststellte. Ein Damenrevolver lag, merkwürdigerweise
gesichert, auf dem Fußboden, ferner wurden drei Patronenhülsen gefunden. In den
Kleidern der Ursula fand man einen von ihr an ihre Stief-Großmutter Eckhardt (richtig: Frau Eckhardt ist ihre wirkliche
Großmutter) geschriebenen Brief, worin es heißt: „Du sollst Dich nicht mehr
über Dörte ärgern.“
Dieser Brief ließ anfangs eine Kindertragödie
vermuten, einen möglicherweise im gegenseitigen Einverständnis verübten Mord
und Selbstmord der beiden Mädchen. Bald trat aber das Gerücht auf, Dorothea
Rohrbeck, die alleinige Erbin der Herrschaft Kleppelsdorf, deren Vermögen
mehrere Millionen betrug, sei das Opfer ihres Onkels Peter G r u p e n
geworden, der gleichzeitig auch gegen sein Stiefkind Ursula die Waffe
gerichtet habe. Grupen wurde, als des Doppelmordes verdächtig, bald verhaftet.
Bei seiner Ueberführung nach Hirschberg war es nur mit List möglich, ihn der
Lynchjustiz einer großen aufgeregten Menschenmasse zu entziehen.
Zur Stunde des Dramas soll Grupen bei der
Großmutter Schade im ersten Stock gewesen sein und zeitweilig an der
Unterhaltung teilgenommen haben, welche die Großmutter Eckhardt durch eine
offene Tür mit der in einem Nebenzimmer beim Briefschreiben beschäftigten
Erzieherin Zahn führte. Bei seiner Vernehmung wie auch während der langen
Untersuchungshaft hat Grupen, ein großer, kräftiger Mann, der im Kriege den
linken Arm verloren hat, jede Schuld entschieden in Abrede gestellt. Für die
Dorothea Rohrbeck, die von den Vormündern sehr kurz gehalten wurde, will er wie
ein aufrichtiger Verwandter gesorgt und dem Fräulein Zahn sogar namhafte
Erziehungsbeihilfen gegeben haben.
Die Anklage der Staatsanwaltschaft stützt
sich auf Indizien, deren Tragfähigkeit die Geschworenen prüfen sollen. Die
Anklagebehörde nimmt u. a. an, daß Grupen durch Hypnose seiner Stieftochter den
Revolver in die Hand gespielt und daß Ursula zunächst ihre Base und dann sich
selbst getötet hätte. Auch wird angenommen, daß Ursulas Brief an die Großmutter
unter Grupens hypnotischem Einfluß geschrieben worden sei. Es sei vermutlich
seine Absicht gewesen, durch den Mord seine Schwiegermutter Eckhardt zur Erbin
von Kleppelsdorf zu machen, auf die er einen großen Einfluß ausübte und von der
er dann große Vorteile erwartete. Die Ursula Schade soll übrigens schon dadurch
ein Opfer ihres Stiefvaters geworden sein, daß er sich an ihr in sittlicher
Beziehung schwer vergangen haben soll. Auch wird dem Angeklagten die Abgabe
einer falschen eidesstattlichen Versicherung zur Last gelegt.
Auf dem Lähner Friedhofe, der über einem
Eisenbahntunnel liegt, ist Dörte Rohrbeck neben Ursula Schade beigesetzt
worden. Aber wenige Tage danach war ihre Ruhestätte der Ort eines ruchlosen
Frevels. Das Grab wurde geöffnet, die Leiche des seidenen Kleides beraubt und
die Spitzen des Unterrockes abgeschnitten. Alle Bemühungen, den Leichenräuber
zu ermitteln, sind bisher vergeblich gewesen.
Vor den
H i r s c h b e r g e r
Geschworenen hat nunmehr der Prozeß begonnen, der Licht in das Dunkel
bringen soll, das sich noch immer über den mysteriösen Kriminalfall breitet.
Der Voruntersuchung ist es nicht gelungen, die rätselhaften Vorgänge
aufzuklären, wie sie sich am 14. Februar auf dem einsam an der Lähn gelegenen
Schloß zugetragen haben. Auf der Anklagebank sitzt der Stiefvater der kleinen
Ursula Schade, die zusammen mit der Dorothea Rohrbeck dem Verbrechen zum Opfer
fiel. Peter Grupen ist erst 27 Jahre alt. Er hat bisher ein einwandfreies Leben
geführt und hat es verstanden, sich vom einfachen Polier zum angesehenen
Architekten hinaufzuarbeiten. Im Kriege hat er dann einen Arm verloren. Ihm
legt die Anklageschrift bekanntlich den Mord an beiden Mädchen zur Last. Der
Prozeß wird sich mit interessanten psychologischen Fragen zu beschäftigen
haben; denn es wird angenommen, daß Grupen das
V e r b r e c h e n d u r c
h S u g g e s t i o n ausgeführt hat. Es finden sich daher auch
heute morgen schon lange vor Beginn der Verhandlung zahlreiche Sachverständige
in dem verhältnismäßig kleinen Schwurgerichtssaal ein. Unter ihnen erblickt man
den bekannten Psychiater Professor Dr.
M o l l aus Berlin und den
Geheimen Medizinalrat Dr. L e s s e
r aus Breslau.
Mittwoch, 7. Dezember 1921, „Hamburger
Anzeiger“
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Ueber den Angeklagten Grupen ergaben die
Verhandlungen folgendes: Nachdem er aus dem Lazarett als Kriegsbeschädigter
entlassen war, besuchte er die staatliche Baugewerkschule in Hamburg und füllte
stets seine freie Zeit mit Studien aus, nebenbei erteilte er auch noch
Privatstunden. Er machte die Abschlußprüfung. Der Vorsitzende hält ihm vor, daß
er sich in dieser Zeit
verschiedentlich
verlobt
habe. Grupen gibt dies zu. Er wird nun
gefragt, wie seine Bekanntschaft mit der
verschwundenen
Frau Grupen
zustande gekommen sei. Er gibt dazu an, daß
er sie auf Grund einer Anzeige kennen gelernt habe, die er l e d i g l i c h a u s
S c h e r z aufgegeben hatte. Er
habe nicht gewußt, daß Frau Grupen 13 Jahre älter war als er und auch nicht,
daß sie ein großes Vermögen besaß. Sie habe ihm die Gelder von selbst zur Verfügung
gestellt.
Es wurde dann in der Hauptsache über den
Verbleib der Frau Grupen verhandelt. Der Angeklagte wurde zunächst darüber
vernommen, wie die Vermögensverhältnisse waren und wann er zum letztenmal mit
seiner Frau zusammen gewesen war. In der Folge wird der Brief verlesen, den
seine Frau an den Knecht Roske um Nachsendung eines Koffers gerichtet hat,
nachdem sie von Itzehoe aus nach Lübeck abgereist war, um nicht mehr wiederzukehren.
Ein anderer Brief der Frau Grupen ist an ihre
Mutter adressiert und lautet: „Meine liebe Mutter! Wenn Du in den Besitz dieser
Zeilen gelangst, bin ich auf dem Wege nach Amerika, den ich ja schon lange
gehen wollte. Schon lange wollte ich die Fesseln in Deutschland abwerfen, und
nun hat sich endlich mein Künstlertum durchgerungen. Du darfst nicht denken,
daß Peter die Veranlassung dazu war bzw. unser Zusammenleben, denn den Plan
hatte ich schon, ehe ich Peter kennen lernte. Peter wird sicher für die Kinder
sorgen und auch Dir das Leben nicht schwer machen. Es küßt Dich in Liebe Deine
Tochter Gertrud.“ Trotz der sehr eingehenden Vernehmung des Angeklagten
wird k e i n e K l a r h e i t über den Verbleib der Frau Grupen
geschaffen.
Es wird dann dem Angeklagten vorgehalten, daß
er F r ä u l e i n D o r o t h e a R o h r b e c k zweimal in Lebensgefahr gebracht habe. Der
Angeklagte gibt dazu an, daß er in Hamburg
z w e i K a h n f a h r t e
n mit Fräulein Rohrbeck
auf der
Alster
unternommen habe. Fräulein Rohrbeck habe
keine Ahnung vom Rudern gehabt. Wenn die Zeugen ausgesagt hätten, daß er direkt
in die Wellen der vorüberfahrenden Dampfer gefahren sei, so könne er nur sagen,
daß man die Wellen senkrecht schneiden müsse und alsdann nichts geschehen
könne. Im zweiten Falle wird ihm zur Last gelegt, einfach die Ruder ins Wasser geworfen und sich der
Länge nach in den Kahn gelegt zu haben. - Der Angeklagte erklärt dazu, daß
Fräulein Rohrbeck sehr ängstlich gewesen sei. Da er aber infolge seines
fehlenden Armes nur mit einem Ruder habe arbeiten können, hätte er ihr das
andere Ruder überlassen. D i e s e s s e i a l s d a n n h e r a u s g e s p r u n g e n . Als er danach griff, sprang sein Ruder heraus
und f i e l i n s
W a s s e r . Darauf hätten ihm
die Insassen des vorüberfahrenden Bootes das Ruder zurückgebracht. Der Länge
nach habe er sich in dem Boote nicht hingelegt. Da es ein Boot für vier
Personen gewesen sei, könne ja keine Rede davon sein. - Der Vorsitzende
erklärt, daß die Vorfälle nicht so harmlos gewesen sein könnten, da Fräulein
Rohrbeck Zeugen gegenüber erklärt habe, sie hätte das sichere Gefühl gehabt,
daß Grupen ihr nach dem Leben trachte.
Die Ereignisse am Mordtage selbst ergaben
folgendes Bild: Grupen hatte erst mit den Kindern, dann mit der Stütze Frl.
Mohr Mühle gespielt, als das Mittagessen angerichtet war und das Dienstmädchen
Mende den sich zu Tisch Begebenden mit den Worten entgegenkam: „ D i e
K i n d e r l i e g e n u n t e n
t o t ! „
Bei Ursula wurde eine Schachtel mit 19 Patronen
und e i n B r i e f
gefunden, der lautete:
K l e p p e l s d o r f , 1 9 .
(muss heißen: 9.)
Liebe Großmutti! Sei mir nicht böse, daß ich
Vati den Revolver aus dem Schreibtisch genommen habe. Ich will dir helfen, du
sollst dich nie mehr über Dörte ärgern. Als Vati Onkel Wilhelm das zeigte, habe
ich das gesehen und ihn mitgenommen.
Die Adresse lautete: An Großmutti.
Vors.: Das soll dieser Brief sein, der schon
mehrere Male von der Mohr der Großmutter gegeben werden sollte? - Angekl.: Jawohl.
Vors.: Sie wollen dann zur Frau Eckert gesagt
haben: Das scheint ja meine Pistole zu sein.
Angekl.: Ich habe am Nachmittag zu Frau
Eckert gesagt, an der ganzen Sache bin ich schuld, weil ich die Pistole
eingeschlossen habe. Frau Eckert antwortete darauf:
„Beruhige
dich, du warst doch die ganze Zeit bei mir.“
Auf die Frage des Vorsitzenden, ob er jemals
der Dörte Rohrbeck einen H e i r a t s
a n t r a g gemacht habe, verneint dies
der Angeklagte. Vors.: Aber Frl. Rohrbeck hat es wiederholt erzählt und auch
geschrieben. Angekl.: Jedenfalls habe ich ihr einen feststehenden Heiratsantrag
nicht gemacht.
Auf Befragen des Sachverständigen über die
Gemütsveranlagung der Ursula Schade sagt der Angeklagte, daß sie schon als
12jähriges Mädchen
an
Schwermut gelitten
habe, also schon ein Jahr vor der Tat. Vors.:
Den vermutlichen Grund dazu werde ich Ihnen nach Ausschluß der Oeffentlichkeit
sagen. Es besteht nämlich die Vermutung, daß die Stieftochter
unter
dem hypnotischen Einfluß des Angeklagten
gestanden hätte. Die Frage des Verteidigers,
Justizrats Adler (richtig: Dr. Ablaß),
ob sich der Angeklagte schon mit Hypnose beschäftigt habe, verneint der
Angeklagte. Vors.: Sie sind ein guter Schütze? Angekl.: Vor meiner Militärzeit kannte
ich kein Gewehr, später hatte ich einen Revolver. Man kann aber annehmen, daß
ich ein verhältnißmäßig guter Schütze bin.
Hierauf wird die Oeffentlichkeit auf Antrag
des Staatsanwalts ausgeschlossen.
Donnerstag, 8. Dezember 1921, „Hamburger Anzeiger“
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Hirschberg, 7. Dezember.
Die fortgesetzte Vernehmung des
Angeklagten G r u p e n , der auch heute wieder sehr sicher und
gewandt auftritt und nur bei verfänglichen Fragen des Vorsitzenden in einige
Erregung gerät, dreht sich zunächst um die Ereignisse in der Zeit vom
Verschwinden seiner Frau ab bis zum Tage seines Eintreffens im Schloß
Kleppelsdorf. Der Angeklagte bleibt dabei, daß er an dem Verschwinden seiner
Frau vollkommen unbeteiligt sei, deutet aber an, daß sie schon während ihrer
ersten Ehe mit dem Perleberger Apotheker
S c h a d e sehr leicht gewesen
sei und ein Verhältnis mit einem gewissen
S c h m i d t unterhalten habe,
der vielleicht auch an dem plötzlichen Tode Schades, der bekanntlich auf der
Jagd von unbekannter Seite angeschossen wrude und an Verblutung verstarb, mitbeteiligt
sei. Er wisse jedenfalls von diesem ganzen Vorgange nichts, da er ja seine Frau
erst sehr viel später auf Grund eines Scherzinserats kennen gelernt habe. Es
wurde dann dem Angeklagten vorgehalten, daß er auf der Reise nach Hamburg
großen Aufwand getrieben hätte, während er sich schon in Vermögensverfall
befand. Auch erscheint es verdächtig, daß er in H a m b u r g m i t
d e r R o h r b e c k und deren Erzieherin Fräulein Z a h n
in
einem übelberüchtigten Absteigequartier
Wohnung nahm und sich dort nachts durch
Klopfen an die Tür bemerkbar machte. Jedenfalls war er nach diesen Vorgängen
und besonders dem Verhalten bei den Alsterfahrten Fräulein R o h r b e c k d e r a r t
u n h e i m l i c h geworden,
daß sie ihn, wie der Vorsitzende ihm vorhält, nur mit sehr gemischten Gefühlen
bei seiner Ankunft am 8. Febraur begrüßte.
Es wird nun in die Beweisaufnahme
eingetreten.
Als erste Zeugin wird Frl. Bertha Zahn
vernommen. Sie sagt unter anderem aus: Noch zu Lebzeiten des Vaters bin ich
nach Kleppelsdorf gekommen. Dorothea war damals 1 ½ Jahre alt. Ich übernahm die
Stelle der Frau Eckert, doch war unser Verhältnis von vornherein nicht sehr
günstig, da Frau Eckert annahm, daß ich mich mit Herrn Rohrbeck verheiraten
könnte, während sie eine Ehe des Herrn Rohrbeck mir Frl. Schade (richtig: Frau Schade), der späteren
Frau Grupen wünschte. In der Hauptsache übernahm ich die Wirtschaft und die
Erziehung der Dorothea. Nach dem Testament des Herrn Rohrbeck war seine
Tochter D o r o t h e a A l l e i n e r b i n . Das gesamte Erbe bestand aus dem Schloß
Kleppelsdorf, einem Besitztum Tempelhof bei Berlin und einem
Barvermögen
von mehreren Millionen.
Nach dem Testament war mir die
Haushaltsführung und die Erziehung der Dorothea Rohrbeck übertragen worden.
Frau Eckert war erbittert, daß ich im Testament nicht bedacht worden war. In
späteren Jahren entstanden zwischen mir und dem Vormund der Dorothea Rohrbeck D i f f e r e n z e n , da die Wirtschaftsausgaben dem Vormunde zu
hoch waren. Anfangs waren 1000 Mark monatlich als Wirtschaftsgeld ausgemacht,
das später zunächst in 120 Mark, dann auf 100 Mark wöchentlich festgesetzt
wurde. (Bewegung.) Mit diesem Gelde war es mir
u n m ö g l i c h die Wirtschaft
zu führen.
Kurz vor Weihnachten (Anmerkung: 1919) hat der Angeklagte nach Kleppelsdorf geschrieben,
daß er die verwitwete Frau Schade geheiratet habe. Einer daraufhin ergehenden
Einladung nach Kleppelsdorf wurde nicht Folge geleistet. Späterhin besuchte die
Zeugin, Dorothea Rohrbeck und Frau Eckert auf eine Einladung des Angeklagten
hin diesen und seine Frau in Hamburg, wo sie sehr nette Aufnahme fanden. Bei
dieser Gelegenheit bestand der Angeklagte darauf, daß Frl. Rohrbeck eine Bluse
von ihm als Erinnerung an diese Reise annehmen müsse. Man sprach auch von den
wirtschaftlichen Nöten und der Angeklagte bat ihnen dann seine Unterstützung
aus eigenen an.
Es werden dann die Abschiedsbriefe der Frau des
Angeklagten zur Verlesung gebracht, darunter auch einer an Frl. Dorothea
Rohrbeck folgenden Inhalts:
„Liebe Dörte! Ich sende dir hiermit vor
meiner Abreise nach Amerika noch einen Abschiedsbrief und wünsche dir, daß sich
dein Leben in Zukunft recht glücklich gestalten möge. Es wäre wohl am besten du
fändest einen guten Mann.
Nimm
die den guten Enkel Peter zum Berater,
der, nachdem er sehr viel verloren hat, auch
jetzt wieder viel verlieren wird und dennoch alle Lebensstürme überwinden
möchte. Herzliche Grüße von Deiner Tante.“ (Mit Peter ist der Angeklagte Peter
Grupen gemeint. Die Red.)
Ein Geschworener fragte den Vorsitzenden:
„Ist festgestellt, daß Frau Grupen auch Schreiberin dieses Briefes ist?“
Vors.: Das ist nicht festgestellt. Wir haben
diese Briefe niemals einem Sachverständigen vorgelegt, da die Verwandten der
Meinung waren, daß es die Schrift der Frau Grupen sei.
Justizrat Dr. Mamroth stellt den Antrag, die
Briefe einem Sachverständigen vorzulegen.
Der Vorsitzende erklärt, daß er sämtliche
Abschiedsbriefe dem zurzeit noch nicht anwesenden Sachverständigen Prof.
Jeserich vorlegen werde.
Der weitere Termin ist dem l o k a l e n A u g e n s c h e i n auf Schloß Kleppelsdorf gewidmet. Um 9 ½ Uhr
vormittags begaben sich der Gerichtshof, der Angeklagte, einige Zeugen und
Sachverständige nach Kleppelsdorf. Dort werden auch verschiedene Schießproben
vorgenommen werden. Der Augenschein dürfte mehrere Stunden in Anspruch nehmen.
Freitag, 9. Dezember 1921, „Hamburger
Anzeiger“
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Hirschberg, 8. Dezember.
Wie wir bereits meldeten, wurden am letzten
Termin der Verhandlungen gegen den Angeklagten
G r u p e n die Lokalitäten des
Schlosses Kleppelsdorf durch den Gerichtshof besichtigt.
Während in dem sogenannten Mordzimmer des
Schlosses stundenlange Schießversuche der Sachverständigen stattfanden, wurden
in einem anderen Zimmer, in dem sich der Gerichtshof versammelte, die Z e u g e n v e r n e h m u n g e n fortgesetzt. -
Die Zeugin
M a n d e (richtig: Mende) hat von einer Verstimmung der Ursula gegen
Dorothea Rohrbeck nichts gemerkt, auch nichts von einem Revolver oder von
Patronen. Der Zeugin ist aufgefallen, daß, als sie Grupen zu der Vernehmung
durch den Amtsrichter rufen wollte, die Tür im Eßzimmer, wo sich Grupen und
Frau Eckert befanden, v e r s c h l o s
s e n war und auf Klopfen nicht gleich
geöffnet wurde. Sie will hinter der Tür Papiergeräusche gehört haben. - Zeuge
Sanitätsrat Dr. Scholz macht Angaben über seine Wahrnehmungen bei seinem
Erscheinen im Schlosse, in das er etwa acht Minuten nach der Tat eingetroffen
war. Er hörte, daß Grupen nach Verlesung des Briefes sagte:
Da bin
ich also doch schuldig.
Die Großmutter b e r u h i g t e i h n ,
was dem Zeugen auffiel, da sie i
m A n b l i c k i h r e r
e r s c h o s s e n e n E n k e
l den Schwiegersohn t r ö s t e t e . Zeuge Postverwalter G r i m m i g sagte aus: Ich verkehre seit zehn Jahren im
Rohrbeckschen Hause und bin in alle Verhältnisse eingeweiht. Ich bin mit der
vorgefaßten Meinung am Mordtage hierher gekommen, daß der Angeklagte
Grupen
der Mörder
sei. Dann hatte ich Grupen nicht für den
Mörder gehalten, denn er war ruhig. Dagegen konnte ich mir das Verhalten der
Frau Eckert nicht erklären, die beim Anblick der beiden niedergeschossenen
Enkel so ruhig war. Dem Zeugen Oberwachtmeister Klapper fiel auch
das
merkwürdige Benehmen der Großmutter
auf, die den Angeklagten am Aermel faßte und
sagte: Aber Peter, Du kannst doch nichts dafür. Die Zeugin Z a h n
wird darüber befrag, wie sich der Angeklagte im Mordzimmer verhielt.
Zeugin: Er war sehr aufgeregt und hat g
e w e i n t . Ich konnte nur nicht
begreifen, daß ich Grupen erst dreimal bitten mußte, er möge mir helfen, Dörte
auf das Bett zu legen. Das machte auf mich einen merkwürdigen Eindruck, und ich
hatte das Gefühl, d a ß d e r
T ä t e r d a s O p f e r
w o h l n i c h t a n f a s s e n w o l l t e .
Sonnabend, 10. Dezember 1921, „Hamburger
Anzeiger“
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Belastung
Grupens durch seine Stieftochter.
Hirschberg, 9. Dezember.
Die Erzieherin Frl. Z a h n
berichtet weiter über das Folgende: Grupen zog mich in ein Gespräch
über D ö r t e s C h a r a k t e r . Ich konnte ihm nur gutes mitteilen. Dörte
selbst hat mich in jenen Tagen keinen Schritt verlassen, weil sie s o
u n r u h i g war. Bei dem Gespräch
mit Grupen hatte ich den Eindruck, daß er wünschte, wir sollten uns seinen
freieren Ansichten anschließen. Die Unterhaltung gestaltete sich zu einem r e l i g i ö s e n G e s p r ä c h . Ich schlug daher abends vor, etwas aus
Maltzahns Erbauungsbuch vorzulesen und Grupen zu überzeugen, daß man doch an
Gott glauben könne. Im Laufe des Abends fragte mich Grupen, ob es vielleicht
vorteilhaft wäre, wenn U r s u l a l ä n g e r e Z e i t
i n K l e p p e l s d o r f bleibe. Meine Erziehungsmethode gefalle ihm.
Ich sagte zu, zumal Dörte die Ursula sehr gern hatte. Dörte ging im Laufe des
folgenden Vormittags, also am Mordtage, die Postsachen holen, und zwar mit Irma
Schade.
Staatsanwalt: Hatten Sie den Eindruck, daß
die Kinder (Dörte und Ursula) gut miteinander standen?
Zeugin Zahn: Die Kinder standen sich immer
gut. Dörte hatte schon beobachtet, daß Ursula ein auffallend gedrücktes Wesen
habe. Dörte meinte, „ U r s e l m ü s s e
e i n e S o r g e h a b e n “ . Jedenfalls hatte die Traurigkeit der Ursula
mit etwaigen Unstimmigkeiten der Kinder nichts zu tun. Ursula war zwar ein
nicht besonders intelligentes, aber sehr liebes Kind, dem sie irgend eine
moralisch-minderwertige Handlung nicht zutraue. Bei dem letzten besuch war
Ursula gegen früher allerdings sehr verändert, sehr traurig und mißgestimmt.
Nach ihrer Meinung sei Ursula sehr leicht zu lenken gewesen. Zwischen dem A n g e k l a g t e n und Frau
E c k e r t habe e i n
b e s o n d e r s h e r z l i c
h e s V e r h ä l t n i s bestanden, wie man es sonst unter
Schwiegermüttern und Schwiegersöhnen selten findet. Der Angeklagte habe seine
Schwiegermutter zärtlich gestreichelt, und noch am Abend vor dem Mordtage habe
Grupen mit der Großmutter g e t a n z t
, nachdem die Zeugin und Dorothea es
abgelehnt hatten, mit Grupen zu tanzen. Grupen hat auch einmal gesagt: „Was
würdet Ihr wohl sagen, wenn ich die Großmutter heiratete“, was allerdings die
Zeugin nicht ernst genommen habe. Ursula und auch Irma hätten mit geradezu
schwärmerischer Liebe an ihrem Stiefvater gehangen.
In der weiteren Verhandlung kommt es zu einer
kleinen Auseinandersetzung zwischen den Verteidigern und dem
Schreibsachverständigen Professor Schneidemühl, der in sehr zahlreichen Fragen
Auskunft von der Zeugin verlangt, so auch, welchen Eindruck sie von den
Schriftstücken der verschwundenen Frau Grupen hatte.
Sehr bemerkenswert war die Aussage der dann
vernommenen Oberschwester K u b e aus Lähn, die mit der ermordeten
Schloßherrin von Kleppelsdorf sehr befreundet war. Zu ihr habe Dörte gesagt:
Weißt Du, Grupen ist ein ganz schlechter Kerl. Bei einer Alsterfahrt hat er die
Ruder weggeworfen, daß ich große Angst bekam. Ich glaube, er hatte es a u f
m e i n L e b e n a b g e s e h e n . Auf die Bemerkung der Zeugin, daß Dörte wohl
nur Scherz treibe, erwiderte diese: Nein, nein, und die H e i r a t s a n t r ä g e sind mir
direkt
unheimlich geworden.
Nach Ansicht der Zeugin hat Grupen nicht den
Eindruck eines gebildeten Mannes gemacht. Im Februar habe Dörte die erkrankte
Zeugin besucht und erzählt, daß Grupen mit seiner ganzen Familie auf Besuch
gekommen sei. Dörte sagte, er hat mir w
i e d e r H e i r a t s a n t r ä g
e gemacht; ja, du liegst geborgen in
deiner Ecke, aber mir g r u s e l t
, wenn ich in mein Haus gehe. Weiter
sagte Dörte, die später einmal Millionenerbin sein sollte: Nun kommt wieder
dieser viele Besuch und wir haben es doch selbst s e h r
k n a p p . Jedenfalls hat Dörte
eine sehr große Angst vor Grupen gehabt, so daß die Zeugin ihr riet, mit ihm
nie allein zu gehen.
Bei der
V e r n e h m u n g d e r k l e i n e n I r m a
S c h a d e , der Stieftochter
Grupens, wird der A n g e k l a g t e a u s
d e m S a a l e g e f ü h r t , um eine Beeinflußung des Kindes durch die
Anwesenheit des Stiefvaters zu verhindern. Sie sagt aus, daß der Angeklagte im
allgemeinen gut zu den Kindern war, besonders habe er Ursula gern gehabt.
Die kleine Irma macht dann folgende A u f s e h e n e r r e g e n d e B e k u n d u n g , die die Behauptung des Angeklagten, er habe
zur kritischen Stunde sein Zimmer nicht verlassen, umstürzt. Alle Anwesenden
folgen mit gespanntester Aufmerksamkeit. Irma sagte aus: „Unter den Aepfeln,
die wir beim Mühlespielen verzehrten, befand sich auch ein schlechter. Diesen
wollte ich erst in den Ofen werfen, aber auf Veranlassung meines Vaters trug
ich ihn hinaus.
Mein
Vater kam hinter mir her
ins Schrankzimmer. Weiter habe ich ihn nicht
beobachtet.“
Auf den Vorhalt, warum die Zeugin bei ihren
früheren Vernehmungen über diese wichtige Tatsache nichts gesagt habe, antwortete
sie: Ich habe mich erst gestern beim L
o k a l t e r m i n a u f S c h l o ß
K l e p p e l s d o r f wieder
daran erinnert. Niemand hat mir diese Bekundung eingeredet. Ich sehe noch heute
den Angeklagten in seinem grauen Anzug im Schrankzimmer.
Als dem Angeklagten nach seinem
Wiedererscheinen im Saale die Aussage seiner Stieftochter vorgelesen wurde,
bemüht er sich, d a s K i n d
a l s e i n e v e r s t o c k t e L ü g n e r i n h i n z u s t e l l e n .
Verteidiger Dr. Ablaß versucht, die Zeugin zu
veranlassen, ihre Behauptung, daß ihr der Angeklagte nachgegangen sei, ihm ins
Gesicht zu sagen.
Der S
t a a t s a n w a l t widerspricht
diesem Antrage. Auch Geheimer Medizinalrat Dr.
M o l l spricht sich dagegen
aus, unter dem stechenden Blick des Angeklagten würde die Wahrheit leiden, wenn
das Kind veranlaßt werden sollte, dem Angeklagten etwas ins Gesicht zu sagen.
Im weitere Verlauf der Beweisaufnahme kommt
noch zur Sprache, daß der A n g e k l a
g t e den Amtsgerichtsrat T h o r m a n n (richtig:
Thomas) während der Voruntersuchung einmal gefragt hat, ob Fräulein Mohr
und seine Schwiegermuter bei ihren Aussagen geblieben seien, und als der
Amtsgerichtsrat bejahte, sagte Grupen: „D a n n b i n
i c h b e r u - h i g t . “
Später hat der Angeklagte Fräulein Mohr und seiner Schwiegermutter
gesagt: „ I h r b l e i b t
b e i e u r e r A u s s a g e . „
Interessant ist auch der wirtschaftliche
Horizont mancher Vormünder. So war der Amtsgerichtsrat Thomas aus Lähn, der
Vormundschaftsrichter für Dorothea Rohrbeck war, in Ueber-einstimmung mit dem
Vormund Vielhak der Ansicht, daß in Kleppelsdorf unter Fräulein Zahn z u
g r o ß e A u s g a b e n gemacht würden. Die Aeußerungen des Zeugen,
die eine rührende Weltfremdheit zeigen, wurden von dem Vorsitzenden durchaus
nicht geteilt. So erzählten die beiden Damen aus dem Schlosse, daß sie i n
d e r l e t z t e n Z e i t
w ö c h e n t l i c h n u r h u n d e r t M a r k
erhalten hätten, mit denen sie natürlich nicht auskommen konnten. Ueber
die Aeußerungen des Zeugen kam es im Zuschauerraum wiederholt zu großer
Heiterkeit. So zum Beispiel, als der Zeuge ausführte, daß er tatsächlich der
Meinung war, daß sich aus den Sachen des verstorbenen Herrn Rohrbeck
Kleidungsstücke hätten herstellen lassen können, außerdem auf den Hinweis, daß
sich aus den seidenen Sprthemden des Herrn Rohrbeck Blusen für Dorothea zu
ihrem Konfirmationstag machen ließen. Der Vorsitzende sagte hierbei: „Und das
bei einer Millionenerbin.“
Dann folgt noch eine hochdramatische Szene.
Der Zeuge sagt ferner aus, daß er, als er nach der Tat in das Schloß kam,
an F r ä u l e i n Z a h n
n i c h t d i e g e r i n g s t e E r r e g u n g bemerkt habe, so daß die Liebe des Fräulein
Zahn zu Fräulein Rohrbeck doch wohl nicht so groß gewesen sei. Fräulein Zahn,
die sich im Zeugenraum befindet, ruft aus:
„ D a s i s t z u
v i e l ! I c h k a n n
n i c h t m e h r ! “ Und mit Erlaubnis des Vorsitzenden verläßt
sie den Saal. Später schränkt der Zeuge seine Aussagen etwas ein. Aber der
Vorsitzende bemerkt: „Ich habe vorhin aus dem Tone Ihrer Aussagen die
Empfindung gehabt, als wollten Sie an Fräulein Zahn eine sehr üble Kritik
üben.“
Montag, 12. Dezember 1921, „Hamburger
Anzeiger“
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Hirschberg, im Dezember.
Der Vorsitzende fragt den A n g e k l a g t e n , warum er in Kleppelsdorf geblieben sei,
nachdem er doch gemerkt habe, daß der Empfang so kühl war. Warum sind Sie nicht
abgereist? - Angeklagter (in Erregung geratend): Aber ich war doch zu Besuch.
Vors.: Aber erlauben Sie, Sie haben sich doch
selbst angemeldet. Wollten Sie denn warten, bis Sie hinausgeschmissen würden?
Angeklagter (mit erhobener Stimme): Ich w o l l t e
i c h w ä r e h i n a u s g e s c h m i s s e n worden, dann säße ich h e u t e
n i c h t a u f d e r
A n k l a g e b a n k .
(Bewegung.)
Anschließend wurde eine L e h r e r i n d e
r g e t ö t e t e n U r s u l a
vernommen, bei der Ursula von Ostern bis Michaelis 1920 in der Schule
war. Sie hat Ursula immer als ein sehr nettes, zartes und gefügiges Lind kennen
gelernt. Nach der Mordtat sei ihr von Mitschülerinnen erzählt worden, daß
Ursula einmal nach der Schule, in der von Hypnotisieren die Rede war, gesagt
hatte: ihre Mutter kenne einen Mann, der einen so scharfen Blick habe, daß man
alles tun müsse, was er wolle. Eine Adresse dieses Mannes hat Ursula nicht
angegeben. Die Angaben der Mädchen über diesen Ausspruch sind ganz bestimmt,
aber sie konnten des näheren nicht nachgeprüft werden. Die Lehrerin hält es für
völlig ausgeschlossen, daß Ursula die Tat begangen haben kann.
Dann folgte noch die mit Spannung erwartete
Vernehmung der Schwiegermutter des Angeklagten,
Frau
Eckert,
die eine
s e h r s c h w e r e B e l a s t u n g für den Angeklagten ergab. Als der
Vorsitzende fragte: „Sind Sie die Schwiegermutter des Angeklagten?“ antwortete
sie: „ J a , l e i d e r . “ Von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht macht
die Zeugin keinen Gebrauch. Sie sagt aus, daß ihre Tochter aus erster Ehe mit
dem bereits verstorbenen R o h r b e c
k verheiratet war. Ihre Tochter aus
zweiter Ehe war zuerst mit dem Apothekenbesitzer S c h a d e
in Perleberg verheiratet. Der Tod des Herrn Schade wurde zunächst auf
einen Unglücksfall zurückgeführt, es hat indessen auch eine Untersuchung gegen
den Seifenfabrikanten Schulz in Perleberg stattgefunden, der mit meiner Tochter
enge Beziehungen hatte. „Damals war ich meiner Tochter sehr böse“, sagte die
Zeugin, „ich habe ihr später verziehen. Dann war meine Tochter mit dem
Stabsveterinär R e s k e in Berlin verlobt, der aber vor der
Verheiratung starb. Die Bekanntschaft mit Grupen kam dann durch eine
Heiratsanzeige zustande, worauf Frau Schade später das Grundstück in Itzehoe
kaufte. Das Verhältnis der Frau Schade zu Grupen war zunächst sehr herzlich,
denn man rechnete es Grupen hoch an, daß er eine Witwe mit drei Kindern
heiratete. Die Zeugin hatte damals ein Vermögen von 100 000 Mark. Später kam es
zwischen den Eheleuten zu Differenzen. Dem Angeklagten hat die Zeugin, ebenso
wie ihre Tochter, Generalvollmacht erteilt und eine Hypothek von 37 000 Mark
übertragen. Am 19. September sagte meine Tochter: „ I c h
f a h r e n a c h K l e p p e l s d o r f “ , und ist
seit
dieser Zeit verschwunden.
Grupen erwähnte hierbei, er habe einen
Detektiv in Hamburg mit den Nachforschungen beauftragt. Dieser habe ermittelt,
daß seine Frau mit einem unbekannten Manne durchgegangen sei, und daß es ihr
sehr gut gehe.
Frau Eckert erzählte dann weiter, daß U r s u l a
m i t g r o ß e r L i e b e
an dem Stiefvater gehangen hätte; sie war
wie
gebannt von diesem Manne.
Dann kommt eine für den Angeklagten sehr
belastende Aussage. Frau Eckert bekundet nämlich: Am 14. Februar saß ich im
sogenannten Winterwohnzimmer und häkelte. Grupen spielte mit Frl. Mohr Mühle.
Ursula saß auf dem Sofa und las. Dann war Ursula plötzlich aus dem Zimmer, ohne
daß ich es beobachtet habe. Der Angeklagte ging mehrmals im Zimmer auf und ab
und sprach auch mit dem im Nebenzimmer weilenden Fräulein Zahn. Irmgard stand
dann auf, um die Reste von einem Apfel wegzuschaffen, auch der Angeklagte hatte
sich erhoben, und ich nahm an, daß er vielleicht Irma begleiten wollte. Dann
habe ich den Angeklagten e i n i g
e M i n u t e n im Zimmer
n i c h t gesehen. Vielleicht
war ich auch etwas eingeschlafen, ich habe ihn nicht das Zimmer verlassen sehen
oder hören. Die Zeit, in der ich den Angeklagten n i c h t
beobachtet habe, würde nach meiner Ansicht genügen, die Tat zu verüben.
Ursula traue ich auf k e i n e n Fall die Tat zu, ich halte es sogar für
völlig ausgeschlossen.
Hierauf werden noch der Schneidermeister W a r n i n g aus Hamburg und seine Ehefrau vernommen, in
deren Haus Grupen ein Absteigequartier hatte. Ueber das Auffinden einer
Frauenleiche in e i n e m H a m b u r g e r W a s s e r l o c h - angeblich sollte es Frau Grupen sein -
wissen beide Zeugen nicht besonderes zu berichten. Dann wird die weitere
Zeugenvernehmung auf morgen, vormittags 10 Uhr, vertagt, b e i
d e r d i e O e f f e n t l i c h k e i t d e n
g a n z e n T a g a u s g e s c h l o s s e n b l e i b t .
Donnerstag, 15. Dezember 1921, „Hamburger
Anzeiger“
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Hirschberg, im Dezember.
Frau Oberst Semerak gibt Auskunft über eine
Unterredung, die sie im Januar d. J. mit Dorothea Rohrbeck gehabt hatte.
Fräulein Rohrbeck hat ihr erzählt, daß sie den Inhalt einer Kognakflasche, die
ein Geschenk Grupens war, untersuchen lassen wollte. Als die Zeugin nach dem
Grunde fragte, antwortete Dörte: „ I c
h f ü r c h t e , d a ß
G r u p e n m i r n a c h
d e m L e b e n t r a
c h t e t . “ Vors. (zum
Rittergutsbesitzer Lux): Wie ist der Charakter der kleinen Irmgard Schade, die
Sie in Pflege genommen haben? - Zeuge: Ich habe viele Freude an dem Kinde. Es
ist geradezu empörend, daß dem Kinde wegen eriner einfachen Lüge Eigenschaften
beigemessen werden, die es tatsächlich gar nicht hat. - Der Zeuge Gutsverwalter
Schöpke weiß, daß Frl. Zahn gesagt hat: „Es ist furchtbar, daß dieser Mann
(Grupen) in unserem Hause ist!“
Beeinflussungsexperimente?
Gaswerksdirektor Wrobel hat im Auftrage des
Staatsanwalts festzustellen versucht, ob die Stütze Mohr, Frau Eckert und die
kleine Irma leicht oder schwer zu beeinflussen sind, ob sie unter dem Einfluß
des Angeklagten stehen und wie ihre Aussagen bezüglich des Verlassens des
Zimmers durch Grupen zu bewerten sind. Die Versuche wurden im Winterwohnzimmer,
an dem bekannten Tische, an dem Mühle gespielt worden war, vorgenommen. Sowohl
die Irma, wie Frau Eckert haben im Zustande suggestiver Beeinflussung n i c h t
b e m e r k t , daß der den Versuchen
beiwohnende Oberstaatsanwalt d a s Z i m m e r
v e r l i e ß .
An den Zeugen Landsgerichtsrat Pietsch
richtet der Vorsitzende die Frage, ob er bei der Vernehmung des Angeklagten den
Eindruck hatte, daß dieser die Absicht hegte, den Gang der Untersuchung zu
erschweren, oder ob er bestrebt war, die Sache aufzuklären. Der Zeuge erklärt
hierzu, daß der Angeklagte damals auf die Frage, wo seine Frau sei, keine
Antwort gegeben und den Zeugen vielmehr dabei sehr scharf angesehen und erklärt
habe: „Ich kann darüber nur in der Hauptverhandlung Auskunft geben. I c h
f ü r c h t e , m i t m e i n e r
A u s k u n f t m e i n e r F r a u
u n d a n d e r e n P e r s o n e n U n g e l e g e n h e i t e n z u
b e r e i t e n . “ Ich hatte
den Eindruck, daß der Angeklagte etwas zu verheimlichen hatte und verheimlichen
wollte. Es schien, als ob sich der Angeklagte auf mich stürzen wollte. Ferner
hat der Angeklagte bestritten, mit den beiden Dienstmädchen intim verkehrt zu
haben.
Im weiteren Verlauf der n i c h t ö f f e n t l i c h e n Sitzung sprachen sich die m e d i z i n i s c h e n S a c h v e r s t ä n d i g e n in ihren Gutachten über die
Wahrscheinlichkeit des dem Angeklagten zur Last gelegten Sittlichkeitsverbrechens s e h r
z u r ü c k h a l t e n d aus.
Die Möglichkeit eines intimen Verkehrs zwischen Ursula und dem Angeklagten wurde
zugelassen, weil ein solcher Verkehr sich im Rahmen der Diagnose befinde. Der
Angeklagte erklärt sich mit dem Antrag eines Sachverständigen, von ihm eine
Blutprobe zur Feststellung einer gewissen Krankheit zu entnehmen,
einverstanden. In der ö f f e n t l i c
h e n Verhandlung wurde zunächst der
Apothekenbesitzer Otto S c h a d e aus Berlin vernommen, der Vater des ersten
Ehemannes der Frau Grupen. Er bekundet: Ostern 1920 stellte mir meine
Schwiegertochter den Angeklagten als ihren Ehemann vor, der auf mich einen ganz
günstigen Eindruck machte. Meine Schwiegertochter hat mir n i e m a l s davon gesprochen, daß sie nach Amerika gehen
wollte. - Vors.: Hat der Angeklagte Nachforschungen nach seiner Frau
angestellt? - Zeuge: Der Angeklagte sagte mir, er hätte einen Detektiv mit der
Ermittelung beauftragt. Ueber den Erfolg hat er mir nichts mitgeteilt. Die
Abschiedsbriefe seiner Frau hat er mir gezeigt. Ich erklärte ihm sofort, daß
Trude diese Briefe unmöglich geschrieben haben könnte. Das Verhältnis meiner
Schwiegertochter mit dem Fabrikbesitzer Schulz ist uns bekannt geworden.
Frau Margarete S c h a d e , die Gattin des Vorzeugen, hat den
Angeklagten bei seinem ersten Besuch als
s e h r z u r ü c k h a l t e n
d kennen gelernt. Die Abschiedsbriefe,
die er uns zeigte, kamen mir m e r k w
ü r d i g k ü h l vor. Wenn meine Schwiegertochter wirklich
nach Amerika gegangen sein sollte, so kann sie es n u r
i n g e i s t i g e r U m n a c h t u n g getan haben, denn sie hing sehr an ihren
Kindern. Ueber die Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit der kleinen Irma kann die
Zeugin ebenso wie ihr Ehemann aus eigener Erfahrung nichts nachteiliges sagen.
(Der
Text geht nahtlos mit dem folgenden Absatz weiter, aber hier fehlen einige
Angaben. Es handelt sich um die Aussage des Rechtsanwalts und Notars Reinecke
aus Itzehoe, bei der hier einige Passagen fehlen!)
Als ich Grupen von dem Inhalt der Briefe in
Kenntnis gesetzt habe, machte er auf mich den Eindruck eines geknickten
Ehemannes. Ich gab ihm den Rat, nach seiner Frau zu forschen. Nach vierzehn
Tagen beauftragte mich Herr Grupen mit der Einleitung der Ehescheidungsklage.
Als ich im Februar von dem Mord las, da machte ich mir meine eigenen Gedanken
und legte mein Mandat für Grupen nieder. - Vors. zum Angeklagten: Haben Sie den
Rat des Rechtsanwalts ausgeführt? - Angekl.: Jawohl, ich bin nach Berlin zu den
Verwandten meiner Frau gefahren. - Vors.: Angeklagter, sind Sie bei den
Dampfergesellschaften gewesen? - Angekl.: Nein, weil ich erfahren hatte, daß
meine Frau sich nach Lübeck abgemeldet hatte.
Freitag, 16. Dezember 1921, „Hamburger
Anzeiger“
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Hirschberg, 15. Dezember.
Im Kleppelsdorfer Mordprozeß wurden heute
zunächst die Z e u g e n a u s
I t z e h o e vernommen. Eine
Frau H a f f n e r erzählte, daß nach ihrer Beobachtung bei
einem Besuch in Ottenbüttel das Zusammenleben von Grupen mit seiner Frau n i c h t
s e h r g l ü c k l i c h war.
Das Dienstmädchen G n i e w o k o w s k y meldet sich noch einmal als Zeugin und
erklärt, der Angeklagte habe auch dem Kindermädchen Müller d i e
E h e v e r s p r o c h e n
, deshalb habe ihn die Klara, der er
bekanntlich auch ein Eheversprechen gemacht hat, zur Rede gestellt. Bei der
Auseinandersetzung mit der Müller ist diese schließlich dem Angeklagten um den
Hals gefallen und hat gesagt: „Wenn ich Dich nur habe.“ Dies sei passiert, als
Frau Grupen n o c h n i c h t
v e r s c h w u n d e n war.
Der nächste Zeuge, Direktor der
landwirtschaftlichen Schule in Perleberg
v . T o b a l d , gehörte mit zu einem Freundeskreis, zu dem
auch der Apothekenbesitzer S c h a d
e und dessen Frau, die spätere Frau
Grupen, gehörten. Als 1911 Herr Schade auf der Jagd tödlich verunglückte, nahm
sich der Fabrikbesitzer Schulz der Frau Schade an. Er führte ihr die Bücher und
stand ihr bei. Er gewann auch ihr Vertrauen und verkehrte sehr viel bei ihr.
Nach seiner Kenntnis ist das Verhältnis zwischen Frau Schade und dem
Fabrikbesitzer erst nach dem Tode ihres Mannes entstanden. D r e i
F r e u n d i n n e n d e r F r a u
G r u p e n schildern diese als
tüchtige Hausfrau und gute Mutter; sie hatten den Eindruck, als ob sie u n t e r
d e m E i n f l u ß i h r e s
M a n n e s s t a n d .
Eine
f r ü h e r e V e r l o b t
e d e s A n g e k l a g t e n , Frau
V o l p e r t aus H a m b u r g , bekundet, Grupen führte e i n
s e h r u n r u h i g e s L e b e n .
Heute wollte er dies, morgen jenes. Einmal wollte er eine Luftschaukel
kaufen, dann eine Speiseanstalt einrichten. Er kaufte alte Fahrräder und
verkaufte sie wieder. Er wollte, wie er sagte, den „Doktor machen“ und sich
eine Villa kaufen. Unter falschen Angaben und nach Verteilen von Schokolade
verschaffte er sich Kleider aus der Kleiderverwertungsstelle, die man sonst nur
gegen Bezugsschein erhielt; er sagte auch, daß er Erwerbslosenunterstützung
beziehe. Als er noch mit ihr verlobt war, teilte er ihr mit, daß er sich mit
Frau Schade verlobt habe, da sein Verhältnis zu ihr nicht ohne Folgen geblieben
sei. Ich gab ihm den Ring zurück. Nach einigen Monaten telephonierte er mir,
daß ich noch zu ihm halten solle, denn seine Frau sei krank und werde nicht
mehr lange leben.
Vorsitzender: Wollen Sie nun der Wahrheit die
Ehre geben und sagen, warum Sie sich mit Frau Schade verlobten?
Angeklagter: Im Interesse der Zeugin und im
Interesse meiner Frau gebe ich darüber keine Erklärung ab.
Sonnabend, 17. Dezember 1921, „Hamburger
Anzeiger“
Ungünstige
Gutachten für Grupen.
Hirschberg, 17. Dezember. (Drahtmeldung.)
In den Verhandlungen des Kloppelsdorfer
Mordprozesses wurde das Gutachten des Schreibsachverständigen abgegeben, daß
dieser Brief durchaus mit anderen Briefen von Frau Grupen übereinstimmt und daß
es kaum möglich sei, daß der Angeklagte den Abschiedsbrief nachgeahmt habe. Das
Gutachten über die Briefe der kleinen Ursula geht ebenfalls dahin, daß sie wohl
von dem Kinde selbst geschrieben wurden; es sei allerdings möglich, daß das
Kind dabei unter dem Einfluß des Angeklagten gestanden habe, bezw. daß der Inhalt
des Briefes dem Kinde gar nicht ins Bewußtsein gekommen ist und daß der Brief
möglicherweise diktiert worden ist.
Es werden dann die Gutachten der
Schieß-Sachverständigen abgegeben. Aus diesen geht hervor, daß es ganz a u s g e s c h l o s s e n i s t ,
d a ß U r s u l a S c h a d e
s i c h s e l b s t e r s c h o s s e n habe. Es müsse vielmehr ein anderer die
Waffe auf sie gerichtet haben. Der Täter habe bestimmt in der Mitte des Zimmers
gestanden, und Ursula, die nach der Tür geflüchtet sei, habe dort den Schuß
erhalten, der sie sofort tötete, auch Dörthe Rohrbeck habe zweifellos die
Schüsse von fremder Hand bekommen, und zwar sei der zweite Schuß ein sogenannter
Fangschuß gewesen, da sie nach dem ersten Schuß noch lebte. Der Sachverständige
hält es für ausgeschlossen, daß die dreizehnjährige Ursula technisch imstande
gewesen sei, die komplizierte Waffe zu bedienen. Es sei dazu grpße Gewandheit
erforderlich.
Der Angeklagte kam mit den
Schießsachverständigen in eine heftige Auseinandersetzung und geriet
schließlich in große Erregung, so daß er erklärte, er werde künftighin jede
Aeußerung ablehnen. Auch der zweite Schießsachverständige schloß sich dem
Urteil an, daß kein Selbstmord in Frage komme, sondern daß Ursula die Kudel
dort erhalten habe, wo sie aufgefunden wurde. Medizinalrat Dr. Peters sagt zum
Schluß wörtlich: „ I c h h a b e
k e i n e n Z w e i f e l , a u c h
n i c h t d e n g e r i n g s t e n , d a ß
d e r T o d b e i d e r
M ä d c h e n d u r c h f r e m d e
H a n d h e r b e i g e f ü h r
t w o r d e n i s t . “
Sonnabend, 17. Dezember 1921, „Hamburger
Anzeiger“
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Hirschberg, 16. Dezember.
Es wurde die
V e r n e h m u n g W i l h e l
m G r u p e n s , eines Bruders des Angeklagten, fortgesetzt,
der sich dabei über die Frage, ob er einmal im Zimmer der Kinder geschlafen
habe, in Widersprüche mit den Aussagen der kleinen Irmgard Schade und der
Stütze Hatje verwickelt. Der z w e i t
e B r u d e r des Angeklagten, H e i n r i c h G r u p e n , der einen sehr günstigen Eindruck macht, ist
mit seinem Bruder seit dem Verschwinden der Schwägerin nicht mehr zusammen
gekommen. Er kann daher darüber keine Angaben machen. Er hat aber einmal an den
Angeklagten einen e n e r g i s c h e
n B r i e f geschrieben, er solle seine Verpflichtungen
gegen die Eltern, die er bei der Uebernahme des elterlichen Grundstückes
übernommen habe, auch erfüllen.
Sehr zahlreiche Geschäfte hat der Angeklagte
mit dem Zeugen Maars aus Mehlbeck gemacht, der in seinen Aussagen aber recht
zögernd und zurückhaltend ist. Er ist der Typus eines gerissenen
Geschäftsmannes von der Waterkant. Der Angeklagte hat mit ihm auch über
den V e r k a u f v o n
K l e p p e l s d o r f g e s p
r o c h e n , wobei der S t a a t s a n w a l t seine Verwunderung ausspricht, da
Kleppelsdorf doch gar nicht verkauft werden sollte.
Eine Reihe von Zeugen wird dann über den
Leumund des Angeklagten vernommen. Ein Teil der Zeugen sagt ungünstig über
Grupen aus, da er sie bei Geschäften angeblich übervorteilt hat. Die
Gefängnisbeamten aus Hirschberg loben Grupen, da er sich im Gefängnis sehr gut
geführt habe.
Der Staatsanwalt erklärt, nach seiner
Feststellung habe der Angeklagte zur Zeit seiner Verhaftung ein Vermögen von
110 000 Mark gehabt, worauf der Angeklagte erwidert, er werde beweisen, daß er
damals eine Viertelmillion besaß, und daß er das Vermögen seiner Frau und
seiner Schwiegermutter nicht angegriffen habe.
Mittwoch, 21. Dezember 1921, „Hamburger
Anzeiger“
(Wiederholt, weil in einem Teil der letzten
Ausgabe nicht erschienen.)
Die
Plaidoyers im Kleppelsdorfer Mordprozeß.
n. Hirschberg, 20. Dezember. (Eigener
Drahtbericht.)
Bei der Darstellung der Tat betonte der
Staatsanwalt besonders die Lage des Revolvers neben der toten Ursula. Die Waffe
lag nämlich zur Linken Ursulas. Der Staatsanwalt ist ferner der Ansicht, daß
der Angeklagte unwillkürlich als alter Soldat die Waffe unmittelbar nach der
Tat sicherte, einer jener Fehler, die fast alle Verbrecher begehen. Völlig
unsinnig und unmöglich erscheint es ihm, daß Ursula sich das Schächtelchen mit
den 19 Ersatzpatronen selbst in die Unterbindetasche gesteckt hätte. Der
Angeklagte habe zweifellos diese Patronen in Ursulas Tasche gesteckt, um sich
selbst zu entlasten. Wesentlich neu in der Darstellung des Staatsanwalts ist
es, daß er annimmt, Grupen habe die Tat nicht begangen, als er nach Irmgard das
Zimmer verließ. Eher glaubt er, daß die Tat schon im vorhergehenden Teil des
Vormittags ausgeführt ist. Den Grund für die Tat und die Handlungsweise des
Angeklagten sieht der Staatsanwalt in dem Streben nach Macht und Reichtum. In
nichtöffentlicher Sitzung begründet der Staatsanwalt seine Anschauung, daß der
Angeklagte sich eines Sittlichkeitsverbrechens schuldig gemacht habe. Am Ende
seiner Ausführungen bittet der Staatsanwalt die Geschworenen,
den
Angeklagten im Sinne der Anklage, insbesondere des Doppelmordes
als
auch des Sittlichkeitsverbrechens für schuldig zu befinden.
4 ½ Stunden lang sprach der Staatsanwalt,
eintönig die Indizien aneinanderreihend. Ihm folgte der Verteidiger Dr. A b l a ß ,
der mit großer Eindringlichkeit spricht. Die Massensuggestion habe den
Angeklagten zum Mörder gestempelt. Von den Geschworenen erhoffe er das ehrliche
Bestreben, abseits von der öffentlichen Meinung die Wahrheit zu suchen. Der
Verteidiger schildert den Personenverkehr um die Frau Grupen, die an der
Zerrüttung des Ehelebens die Schuld getragen habe. Ablaß stellte der These des
Staatsanwalts und der Sachverständigen seine eigene entgegen: „Die kleine Irma
Schade hat so viel vom Hinausgehen Grupens gehört - bis sie sich erinnerte.
Aber, meine Herren Geschworenen, ist das eine Grundlage, auf die Sie ein
Todesurteil aufbauen können? Nur eine Hülse ist unmittelbar nach der Tat
gefunden worden. Die beiden anderen sind zwei volle Tage nach der Tat aufgefunden
worden. Wie viel Personen sind in diesen beiden Tagen im Zimmer ein- und
ausgegangen. Sind aber diese Hülsen verschoben worden, dann sind alle Gutachten
der Schießsachverständigen hinfällig.“ Justizrat Ablaß erörterte dann die
Möglichkeit, daß Ursula die Täterin sein könne. Nach 4 1/2stündiger Rede schloß
Justizrat Ablaß sein Plaidoyer mit den Worten: „Glauben Sie, daß es mir leicht fällt,
an die Schuld dieses armen Kindes zu glauben? Aber warum soll es mir leicht
fallen, an die Schuld des Mannes zu glauben, der hinter mir sitzt. Das Mädchen
war körperlich und sittlich zerrüttet und wir haben oft gehört, wie traurig es
über seinen Zustand war. (Mit erhobener Stimme zu den Geschworenen:) Lassen Sie
sich bei allen Ihren Entschlüssen nur von Ihrem Gewissen leiten.
Mittwoch, 21. Dezember 1921, „Hamburger
Anzeiger“
Peter
Grupen zum Tode verurteilt.
Der letzte Akt im Drama des Schlosses Kleppelsdorf
ist abgerollt. Wie aus Hirschberg gemeldet wird, sprachen die Geschworenen den
Angeklagten G r u p e n d e s
M o r d e s i n z w e i
F ä l l e n und des S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e
n s in Tateinheit für s c h u l d i g . Das Urteil des Gerichtshofes lautet z w e i m a l z u m
T o d e u n d f ü n f
J a h r e Z u c h t h a u s sowie dauernder Ehrverlust. Der Angeklagte
erklärte in seinem Schlußwort, auf eine Revision und die Gnadenmittel z u v e r z i c h t e n . - In längeren Ausführungen verbreiten die
Norddeutschen Nachrichten das Gerücht weiter, daß die am 31. Januar 1920 in der
Wedeler Aue gefundene Leiche mit der verschwundenen F r a u
G r u p e n identisch sei. Alle
Nachforschungen nach ihr waren bisher vergeblich, wie der Kleppelsdorfer Prozeß
ergab. Der Angeklagte Grupen hielt auch seinerzeit in Wedel um die Hand einer
hiesigen Landwirtstochter an. Bemerkt sei noch, daß die fragliche Leiche
ausschließlich auf die Aussage eines I
t z e h o e r Z a h n a r z t e s hin als nicht identisch mit der Frau Grupen
angesehen wurde.
Der
Zeitraum 01.01.1922-31.03.1922 ist in der Staats- und Universitätsbibliothek
Hamburg nicht vorhanden!
Freitag, 5. Mai 1921, „Hamburger Anzeiger“
Peter
Grupens Fluchtgenossen.
Die Hirschberger Strafkammer hat die beiden
Gefangenen, die mit Peter Grupen aus dem Gefängnis entflohen waren, sich aber
am nächsten Morgen wieder freiwillig gestellt hatten, zu j e
s e c h s M o n a t e n G e f ä n g n i s verurteilt. Strafaufschub wurde abgelehnt
mit Rücksicht auf die Vorstrafen der Angeklagten und auf die Tatsache, daß sie
einem bereits verurteilten Mörder z u
r F l u c h t v e r h o l f e n haben.
Morgenzeitung für
Politik, Handel und Schiffahrt
Mittwoch, 16. Februar 1921, „Hamburger
Nachrichten“ Morgen-Ausgabe
Wegen
Doppelmordes
auf dem Schloß Klappelsdorf (richtig:
Kleppelsdorf) in Schlesien ist d e
r O n k e l der ermordeten Rittergutsbesitzerin,
Peter G r u p e n aus Berlin, unter dem dringenden Verdacht
der Täterschaft verhaftet worden. Die s
e c h z e h n j ä h r i g e Besitzerin
des Schlosses, Dorothea R o h r b e c k
, alleinige Erbin von drei Rittergütern, wurde von dem Dienstmädchen in ihrem
Zimmer (richtig: im Gästezimmer),
durch mehrere Schüsse in Hals und Brust verletzt, tot aufgefunden. In demselben
Zimmer wurde die auf dem Schlosse zu Besuch weilende zwölfjährige Kusine der
Rohrbeck, Ursula S c h a d e aus Berlin, mit einem Schuß über dem rechten
Auge schwer verletzt aufgefunden; sie erlag zwei Stunden darauf ihren
Verletzungen. In demselben Zimmer fand man einen Damenrevolver, der jedoch noch
gesichert war. In der Tasche der Schade wurde ein Brief an ihre in Berlin
wohnende Großmutter aufgefunden, worin das Kind mitteilt, daß es die Rohrbeck
und dann sich selbst erschießen werde. Der nun verhaftete Grupen weilte
gleichfalls zu Besuch auf dem Schlosse.
Donnerstag, 17. Februar 1921, „Hamburger
Nachrichten“ Abend-Ausgabe
Der
Mord auf Schloß Kleppelsdorf.
Berlin, den 17. Februar.
Das Dunkel, das über dem s c h w e r e n V e r b r e c h e n a u f
S c h l o ß K l e p - p e l s d o r f gebreitet ist, hat trotz eifriger Nachforschungen
der Staatsanwaltschaft und der Kriminalpolizei
n o c h n i c h t g e l i c h t e t werden können. Der Verdacht der Täterschaft
lenkt sich mehr und mehr auf den bereits verhafteten Onkel der ermordeten
Schloßherrin Dorothea Rohrbeck, einen Berliner Grundstücksspekulanten G r u b e r
(richtig: Grupen). Der
Verhaftete befindet sich im Polizeigefängnis; er bestreitet die ihm zur Last
gelegte Tat. In der mysteriösen Angelegenheit soll auch der Vormund der
Rittergutsbesitzerin eine Rolle spielen. Der Gutsverwalter auf Schloß
Kleppelsdorf, Direktor B a u e r , ist seit dem Mordtage s p u r l o s v e r s c h w u n d e n .
Sonnabend, 19. Februar 1921, „Hamburger
Nachrichten“ Abend-Ausgabe
Das
Verbrechen auf Schloß Kleppelsdorf.
Zu der Tragödie auf S c h l o ß
K l e p p e l s d o r f erfährt
das Berl. Tagebl. noch aus Hirschberg: Die gestern vorgenommene Obduktion der
Leichen hat ergeben, daß Dorothea R o h
r b e c k durch z w e i
S c h ü s s e und ihre Kusine
Ursula S c h a d e durch einen Schuß g e t ö t e t worden sind. Die Leiche der Gutsherrin ist
von der Kommission freigegeben worden, während die andere Leiche noch
zurückbehalten wird. Es herrscht jetzt die Annahme vor, daß nicht, wie zuerst
angenommen, die Schade vielleicht unter hypnotischem Zwange ihres Stiefvaters
zuerst ihre Kusine und dann sich selbst erschossen hat, sondern daß die Tat von
Grupe (richtig: Grupen) ausgeführt
worden ist, der vorher alle Dienstboten aus der Nähe des Mordzimmers entfernt hat.
Ob eine bei der Großmutter der Rohrbeck gefundene Flasche Kognak vergiftet ist,
steht noch nicht fest. Vieles ist noch aufzuklären. So ist der in der Nähe von
Berlin wohnende Vormund der Rohrbeck, der schwer belastet ist, nicht
aufzufinden.
Sonnabend, 22. Februar 1921, „Hamburger
Nachrichten“ Abend-Ausgabe
Grabschändung
in Kleppelsdorf.
Berlin, den 26. Februar.
Der K
l e p p e l s d o r f e r D o p p e l m
o r d hat, wie dem Tag aus Hirschberg
berichtet wird, ein z w e i t e s s c h w e r e s V e r b r e c h e n im Gefolge gehabt. Das G r a b
der ermordeten sechzehnjährigen Gutsbesitzerin D o r o t h e a R o h r b e c k ist auf empörende Weise geöffnet und d i e
L e i c h e b e r a u b t worden. Der Steinsetzmeister, der gestern am
Grab der Verstorbenen die Steinfassung anbringen wollte, fand die Kränze vom
Grab entfernt. Am Kopfende bemerkte er einen
g e g r a b e n e n S c h a c h
t , durch den man das Sargkissen
erblickte. Auch wurde festgestellt, daß das Kruzifix auf dem Sarge zertrümmert
war. Das Leichenhaus war erbrochen und sonstige Handwerkszeuge daraus gestohlen
und zum Öffnen des Grabes benutzt worden. Die Täter hatten den Deckel des
schweren Eichensarges nicht öffnen können und
e i n g r o ß e s L o c h
i n d e n S a r g
g e s t e m m t . Darauf hatten
sie der Toten das w e i ß s e i d e n
e K l e i d , in dem sie beerdigt worden war, und die
Schuhe a u s g e z o g e n , ferner vom Unterrock die wertvollen Spitzen
abgetrennt und eine Steppdecke geraubt. Die Täter waren dann noch in eine
andere Gruft gegangen, hatten dort aber offenbar nichts gestohlen.
Dienstag, 6. Dezember 1921, „Hamburger
Nachrichten“ Morgen-Ausgabe
Ein
Mordprozeß in Hirschberg.
(Drahtmeldung)
Berlin, den 5. Dezember.
Vor dem Schwurgericht H i r s c h b e r g begann der Prozeß gegen den Architekten und
Gutsbesitzer Peter G r u p e n , der des Mordes an den beiden jungen Mädchen
Dörte R o h r b e c k und Ursula
S c h a d e auf Schloß K l e p p e l s d o r f angeklagt ist.
Dienstag, 20. Dezember 1921, „Hamburger
Nachrichten“ Abend-Ausgabe
Mordprozeß
Kleppelsdorf.
Gestern war voraussichtlich der l e t z t e
T a g des Kleppelsdorfer
Mordprozesses. Der Zuhörerraum war überfüllt und vor dem Gerichtsgebäude
wartete eine noch Hunderte zählende Schar von Menschen, die keinen Einlaß mehr
gefunden hatte. Die Schuldfragen lauteten, ob sich der Angeklagte in zwei
Fällen des Mordes an der Dorothea Rohrbeck und Ursula Schade und des
Sittlichkeitsverbrechens an Ursula Schade schuldig gemacht habe. Dann beginnt
Oberstaatsanwalt Dr. R e i f e n r a
d sein
P l a i d o y e r . Er schildert
die Einzelheiten der furchtbaren Mordtat und weist auf die Angst hin, die
Dorothea Rohrbeck vor dem Angeklagten gehabt hat. Bei der Schilderung der Tat
selbst betont der Staatsanwalt, daß die
G u t a c h t e n d e r S a c h v e r s t ä n d i g e n f ü r
d e n A n g e k l a g t e n K e u l e n s c h l ä g e seien,
d i e i h n z e r m a l m e n müßten. Liege kein Mord und Selbstmord der
Ursula vor, dann kann nur der Angeklagte der Schuldige sein. Die Patronen habe
er zweifellos in die Tasche der Ursula gesteckt, um sich zu entlasten. Der A n g e k l a g t e h a t
D o r o t h e a R o h r b e c
k e r m o r d e t , weil sein Plan, sie zu heiraten, scheiterte.
Ursula Schade mußte ihr Schicksal teilen, weil sie die Zeugin ges Verbrechens
war und weil er auf sie die Schuld schieben wollte. Auch wollte er sie wegen
der an ihr begangenen Sittlichkeitsverbrechen beseitigen. I n
n i c h t ö f f e n t l i c h e
r S i t z u n g führte der Staatsanwalt aus, daß die S c h u l d
G r u p e n s a n d e m
S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e n e r w i e s e n s e i .
Der Staatsanwalt beantragte, den
Angeklagten G r u p e n im Sinne der Anklage sowohl des D o p p e l m o r d e s , wie auch des S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e
n s f ü r s c h u l d i g zu befinden.
Hirschberg, den 20. Dezember.
Der Kleppelsdorfer Mordprozeß konnte nachts
noch nicht beendet werden. Nach dem Staatsanwalt, der fünf Stunden sprach,
kamen die beiden Verteidiger zu Wort. Dr. Ablaß (Hirschberg) sprach 5 ½ Stunden
und Dr. Mamroth (Breslau) über vier Stunden. Nach 2 Uhr nachts wurde die
Verhandlung auf heute Vormittag 9 ½ Uhr vertagt. Das U r t e i l
wird wahrscheinlich am Nachmittag zu erwarten sein.
Mittwoch, 21. Dezember 1921, „Hamburger
Nachrichten“ Morgen-Ausgabe
Das
Urteil im Kleppelsdorfer Mordprozeß.
(Drahtmeldung.)
wtb. Hirschberg, den 17. Februar.
Im Hirschberger Mordprozeß sprachen die
Geschworenen den Angeklagten G r u p e
n des Mordes in zwei Fällen und des
Sittlichkeitsverbrechens in Tateinheit für
s c h u l d i g . Das U r t e i l
des Gerichtshofes lautete: Z w e
i m a l z u m T o d e
und f ü n f J a h r e
Z u c h t h a u s , sowie dauernder
Ehrverlust. Der Angeklagte erklärte in seinem Schlußwort, auf eine R e v i s i o n und die
G n a d e n m i t t e l z u v e r z i c h t e n .
Freitag, 24. Februar 1922, „Hamburger
Nachrichten“ Abend-Ausgabe
Der
Doppelmörder Grupen entflohen.
wtb. Hirschberg, den 24. Februar.
Wie der Bote aus dem Riesengebirge bekannt gibt,
ist der Kleppelsdorfer Doppelmörder G r
u p e n , dessen Verurteilung durch
Entscheid des Reichsgerichts vorgestern rechtskräftig geworden ist, in der
vergangenen Nacht aus dem Gerichtsgefängnis
a u s g e b r o c h e n und e n t f l o h e n .
Über die Flucht wird noch berichtet: Das F e n s t e r g i t t e r der im zweiten Stock gelegenen Zelle ist mit
feinen Sägen d u r c h s c h n i t t e
n worden. Grupen hat sich an einem S t r o h s e i l herabgelassen und ist auf das Dach eines
Vorgebäudes gekommen, das direkt an der Bergstraße liegt. Er hat vermutlich das
Riesengebirge erreicht und kann in der Nacht nur ü b e r
b ö h m i s c h e G r e n z
e gegangen sein. Mit Grupen sind auch
seine zwei Zellengenossen, die mit ihm zusammen untergebracht waren, weil er
schon einmal einen Selbstmordversuch unternommen hatte, mit Hilfe des
Strohseiles entkommen. Sie haben sich aber heute morgen freiwillig gestellt, wodurch
Grupens Flucht bekannt wurde. Grupen trug Gefängniskleider und man vermutet,
daß er gleich nach seiner Flucht mit anderen Kleidern versehen wurde. Von der
Gefängnisverwaltung, der Polizei und der Staatsanwaltschaft wurden umfangreiche
Maßnahmen zur Wiederergreifung des Flüchtlings getroffen.
Sonnabend, 25. Februar 1922, „Hamburger
Nachrichten“ Morgen-Ausgabe
Grupen
hat sich wieder gestellt.
wtb. Hirschberg
(Schlesien), den 24. Februar.
Der
Kleppelsdorfer Doppelmörder stellte sich abends im Gefängnis selbst.
Der Bote aus dem Riesengebirge meldet noch
zur Flucht Grupens aus dem Hirschberger Gerichtsgefängnis: Grupen schläferte
einen seiner beiden Zellengenossen am Donnerstag mit Schlafpulver ein und
eignete sich dessen Zivilkleider an. Aus der Zelle, in der Grupen untergebracht
war, ist bereits früher ein Gefangener ausgebrochen, nachdem er die Querstange
des vergitterten Fensters durchsägt hatte. Diese Querstange wurde mit Hilfe
zweier Laschen repariert. Die Köpfe der Nieten, womit diese Laschen an der
Querstange angebracht waren, durchsägte Grupen und die Mitgefangenen mit einem
zur Säge umgewandelten Brotmesser und bogen daraufhin das Gitterwerk
auseinander, zwängten sich durch die Öffnung hindurch und ließen sich dann an
einem Strick hinunter. Die beiden Gefangenen, die Grupen beim Ausbruch
behilflich waren, stellten sich Freitag früh wieder und erklärten, unter einem
unbegreiflichen Zwange gehandelt zu haben, den Grupen auf sie ausübte. Wie das
zur Säge umgewandelte Brotmesser und das Schlafpulver in den Besitz Grupens
gelangte, ist bis jetzt ungeklärt.
Sonnabend, 25. Februar 1922, „Hamburger
Nachrichten“ Abend-Ausgabe
Die
geheimnisvolle Flucht Grupens.
(Drahtmeldung.)
wtb. Hirschberg, den 25. Februar.
Wie der Bote aus dem Riesengebirge zur
Selbststellung G r u p e n s noch mitteilt, verweigert Grupen jede Auskunft
über den Grund des Ausbruches und über seinen Aufenthalt während des Freitags.
Die Nachforschungen über seinen Verbleib während dieses Tages haben bis abends
noch zu keinem Ergebnis geführt.
Sonntag, 26. Februar 1922, „Hamburger
Nachrichten“ Morgen-Ausgabe
Grupens
Flucht.
(Drahtmeldung.)
wtb. Hirschberg, den 25. Februar.
Grupen, der zunächst nach seiner Gestellung
jede Auskunft verweigerte, erklärte später, daß er ausgebrochen sei, um zu
beweisen, daß er aus eigener Kraft seine Freiheit zu erlangen vermöchte und
zurückgekehrt sei, um seine Unschuld darzutun. Diese Erklärung findet keinen
Glauben, man ist der Überzeugung, daß es ihm aus irgend einem Grunde unmöglich
geworden ist, sich in Sicherheit zu bringen. Bei seiner Rückkehr ins Gefängnis
will Grupen die Mauer mit Hilfe zweier Personen überklettert haben, …
(nicht
weiter kopiert!)
Freitag, 3. März 1922, „Hamburger
Nachrichten“ Morgen-Ausgabe
Selbstmord
Grupen.
(Drahtmeldung.)
wtb. Hirschberg, den 2. März.
Der wegen des Kleppelsdorfer Doppelmordes
zweimal zum Tode verurteilte G r u p e
n verübte in der Zelle S e l b s t m o r d . Heute nachmittag wurde er von einem Beamten
am Hosenträger hängend in der Zelle t o
t aufgefunden. Grupen war seit der
Flucht in der vergangenen Woche in Einzelhaft.
Freitag, 3. März 1922, „Hamburger
Nachrichten“ Abend-Ausgabe
Zum
Selbstmord Grupens wird
uns noch mitgeteilt: Grupen hat gestern das Mittagessen noch in aller Ruhe eingenommen.
Bei einer um 4 Uhr vorgenommenen Revision seiner Zelle war Grupen noch völlig
gelassen, bei der nächsten um 4 ¾ Uhr vorgenommenen Revision war er bereits
tot. Er hatte sich mit seinem Hosenträger an der Zentralheizung seiner Zelle
erhängt. Alle W i e d e r b e l e b u n
g s v e r s u c h e , die sofort
angestellt wurden, waren v e r g e b l
i c h . Grupen hat keinerlei
Auslassungen, auch keine Zeile hinterlassen. Er hatte auch in den letzten Tagen
zu dem Mord von Kleppelsdorf nichts anderes erklärt, als daß er unschuldig sei.
Mit dem Selbstmord Grupens hat nun die so rätselhafte Kleppelsdorfer
Doppelmordaffäre ihren Abschluß gefunden. Wie Rechtsanwalt Dr. P u p p e ,
der Grupen im Altonaer Prozeß verteidigen sollte, mitteilt, liegt die
Vermutung sehr nahe, daß Grupen in einem ganz plötzlichen seelischen
Zusammenbruch Hand an sich gelegt hat.
Von Altona wird uns noch mitgeteilt, daß die
Voruntersuchung wegen der Ermordung Grupens schon seit langer Zeit beim
Landgericht Altona schwebt. Die Ermittlungen sind, wie uns von maßgebender
Seite mitgeteilt wird, noch nicht abgeschlossen. Bevor man nicht die Leiche der
Frau gefunden hat, wird der Beweis schwer zu erbringen sein.
Amtlicher
Anzeiger der Staats- und Gemeindebehörden der Elbgegend
Donnerstag, den 24. Februar 1921,
„Norddeutsche Nachrichten“
Haseldorf,
im Februar.
Ein
entsetzliches Verbrechen
ist in einem Schlosse in Schlesien begangen
worden, dessen Urheber Peter Grupen sein soll, der aus H a s e l d o r f stammt und in hiesiger Gegend allgemein
bekannt ist. Grupen hatte nach dem Kriege eine Witwe geheiratet, mit der er in
der Nähe von Kellinghusen wohnte. Ueber die furchtbare Tat, die ungewöhnliches
Aufsehen erregt, wird aus Lähn in Schlesien folgendes berichtet: In einem
Gartenzimmer ihres Schlosses ist die 16jährige Gutsbesitzerin Dorothea Rohrbeck
erschossen aufgefunden worden. Neben ihr lag die Leiche der gleichfalls
erschossenen kleinen Kusine der Schloßherrin, der zwölfjährigen kleinen Ursula
Schade aus Oldenhütten bei Kellinghusen, die mit ihrer jüngeren Schwester,
ihrem Stiefvater Peter Grupen und ihrer Großmutter Frau Ekhardt, die zugleich
die Großmutter der Dorothea Rohrbeck ist, zu Besuch auf dem Schloß weilte. In
der Tasche der Ursula Schade wurde ein Brief vorgefunden, in dem sich die
Kleine des Mordes an ihrer Kusine bezichtigt. Auf dem Tisch lag ein Revolver,
mit dem die Tat zur Ausführung gelangte. Als des Mordes dringend verdächtig
wurde P e t e r G r u p e n , der Stiefvater der kleinen Schade und
angeheiratete Onkel der Dorothea Rohrbeck, verhaftet. Es wird behauptet, daß
Grupen, der völlig vermögenslos ist, durch Hinwegräumen der Dorothea Rohrbeck
und ihrer Nacherben den Versuch machen wollte, das gesamte, sehr große Vermögen
an sich zu bringen. Die Frau des Grupen war eine Apothekerstochter, die Witwe
wurde, und deren zweiter Bräutigam im Felde fiel. Sie heiratete dann den Maurer
Grupen, der sich „Architekt“ nannte. In der Nähe von Kellinghusen hatte sie
eine schöne Besitzung, und ihre Tochter, die kleine Ursula, war allgemein
bekannt. - Die Untersuchung der Behörde geht nun dahin, ob Peter Grupen die
Schüsse selbst abgegeben hat, oder ob er durch hypnotische Einwirkung auf seine
Stieftochter Ursula diese dahin gebracht hat, Dorothea und dann sich selbst
umzubringen. Der Brief, der bei Ursula Schade vorgefunden wurde und in dem sie
bekennt, sich selbst und ihre Kusine erschossen zu haben, wird von den
Sachverständigen genau geprüft werden, jedoch soll sich schon nach flüchtiger
Prüfung ergeben, daß der Brief unmöglich von der Kleinen geschrieben worden
sein kann. Weiterhin sollen die Schriftzüge auffallende Aehnlichkeit mit denen
des verdächtigen Peter Grupen aufweisen. Dieser hat früher die verschiedensten
Berufe ausgeübt, bezeichnet sich teils als Grundstücksspekulant, teils als
Architekt und rühmte sich oft, es im Schießen zu einer Fertigkeit gebracht zu
haben, die an die eines Kunstschützen heranreichte. Schon im vergangenen Sommer
ist ein Attentat auf die nun ermordete Dorothea Rohrbeck verübt worden. Es
wurde damals von außen her in das Zimmer, in dem sie sich aufhielt, geschossen.
Von dem Täter war keine Spur zu ermitteln. Grupen soll auch versucht haben, die
Großmutter der erschossenen Kinder, die alte Frau Ekhardt, durch Ueberreichung
einer Flasche Kognak, die stark wirkendes Gift enthielt, aus dem Wege zu
räumen. Zum Glück ist die Flasche nicht geöffnet worden. Nur so ist die alte
Dame dem Tode entronnen. Als Motiv für diesen Plan wird folgendes angegeben:
Die Erbin der Schloßherrin von Kleppelsdorf ist ihre Großmutter, eben die alte
Frau Ekhardt. Nach deren Tode erbt, da die Mutter der Dorothea Rohrbeck, die
älteste Tochter der Frau Ekhardt, vor etwa 12 Jahren verstorben ist, ihre
zweite Tochter, also die jetzige Ehefrau des Grupen, das gesamte Vermögen. Diese
lebt aber schon seit geraumer Zeit von ihrem Ehemann getrennt. Seit einigen
Monaten hat man nichts von ihr gehört. Nach den Angaben Grupens ist seine Frau
nach Amerika ausgewandert. Die Behörde bringt jedoch dieser Angabe jetzt
starkes Mißtrauen entgegen und forscht nach dem Verbleib der Verschwundenen. An
der Neuenbroken Schleuse bei der Stör ist im Dezember eine weibliche Leiche
aufgefunden worden, die vielleicht die Verschwundene ist. Wenn also auch diese
aus dem Leben geschieden sein würde, so kämen als nächste Erben ihre Kinder aus
erster Ehe, eben die kleinen Schade, in Betracht, von denen Ursula ermordet
aufgefunden wurde. Ueber die Erbenreihe hinweg würde dann Grupen selbst das
mehrere Millionen große Vermögen zufallen. Grupen ist vor etwa drei Wochen
zugleich mit Frau Ekhardt, seinen beiden Stieftöchtern und dem Kindermädchen,
das, wie sich herausstellte, seine Geliebte ist, auf Kleppelsdorf zu Besuch bei
seiner Nichte eingetroffen. Er hat noch die Nacht vor dem Morde bei seiner
Geliebten zugebracht. Die Untersuchung wird von dem Landgerichtsdirektor Dubiel
in Hirschberg geführt, wohin der des Mordes Verdächtigte ins Untersuchungsgefängnis
verbracht worden ist. Vieles ist noch aufzuklären. So ist der in der Nähe von
Berlin wohnende Vormund der Rohrbeck, der schwer belastet ist, nicht
aufzufinden.
Sonnabend, den 26. Februar 1921,
„Norddeutsche Nachrichten“
Ein
neues Verbrechen in der Mordaffäre Peter Grupen aus Haseldorf.
WTB. Berlin, den 26. Februar
Die Klöppelsdorfer Mordaffäre, in die der Maurer
Peter Grupen aus Haseldorf verwickelt ist, hat ein zweites großes Verbrechen
zur Folge gehabt. Das Grab der 16jährigen Gutsbesitzerstochter Dörthe Rohrbeck
ist in grober Weise geöffnet und die Leiche beraubt worden.
Montag, den 28. Februar 1921, „Norddeutsche
Nachrichten“
Haseldorf,
im Februar.
Z
u d e r T r a g ö d i e a u f
S c h l o ß K l e p p e l s d o
r f ,
die auch in unserer Gegend ungeheures
Aufsehen erregt, weil der als Täter verdächtige Grupen aus H a s e l d o r f stammt und verschiedene in dem Drama
genannte Personen hierselbst bekannt sind, wird weiter berichtet: Die ermordete
16 Jahre alte Gutsherrin Dorothea Rohrbeck ist am Dienstag zur letzten Ruhe
gebettet worden. In einem endlosen Trauerzuge, an dem wohl 800 Menschen
teilnahmen, wurde die Leiche nach dem Friedhof gefahren, wo die Beisetzung
neben der am Sonnabend beerdigten Kusine Ursula Schade erfolgte. In der Familie
Rohrbeck hat sich zur gleichen Stunde ein zweiter trauriger Fall ereignet.
Während der Schwager des verstorbenen Vaters der Dorothea Rohrbeck, Pingel, an
der Beerdigung teilnahm, hat sich sein Sohn auf dem väterlichen Gute in
Hannover erschossen. In Lähn wurde am Trauertage die Nachricht verbreitet, daß
die Leiche der verstorbenen Frau Grupen in der Nähe von Itzehoe aufgefunden worden
sei. Die Staatsanwaltschaft neigt bekanntlich zu der Annahme, daß der
verhaftete Architekt Grupen seine Frau verborgen hält, um deren Aussagen über
das Verbrechen, von dem diese wahrscheinlich unterrichtet ist, zu verhüten. An
amtlicher Stelle lag noch keine Bestätigung dieser Meldung vor. - Wie schon
kurz gemeldet, ist ein unerhörtes Verbrechen in der Nacht zum Sonntag an der
Ruhestätte der ermordeten Schloßherrin von Kleppelsdorf verübt worden. Das
frische Grab auf dem Friedhofe in Lähn wurde aufgegraben und der Sarg am
Kopfende zertrümmert. Das Kissen, auf dem der Kopf der Ermordeten ruhte, fand
man am Morgen auf dem Grabe vor. Der Steinsetzmeister, der am Grab der
Verstorbenen die Steinfassung anbringen wollte, fand die Kränze vom Grab
entfernt. Am Kopfende bemerkte er einen gegrabenen Schacht, durch den man das
Sargkissen erblickte. Auch wurde festgestellt, daß das Kruzifix auf dem Sarge
zertrümmert war. Das Leichenhaus wurde erbrochen und verschiedene
Handwerkszeuge daraus gestohlen und zum Oeffnen des Grabes benutzt worden. Die
Täter hatten den Deckel des schweren Eichensarges nicht öffnen können und ein
großes Loch in den Sarg gestemmt. Darauf hatten sie der Toten das weißseidene
Kleid, in dem sie beerdigt worden war, und die Schuhe ausgezogen, ferner vom
Unterrock die wertvollen Spitzen abgetrennt und eine Steppdecke geraubt. Die
Täter waren dann noch in eine andere Gruft gegangen, hatten dort aber offenbar
nichts gestohlen.
Donnerstag, den 3. März 1921, „Norddeutsche
Nachrichten“
Haseldorf,
im März.
D i
e T r a g ö d i e a u f
d e m G u t e K l e p p e l s d o r f i n
S c h l e s i e n ,
an der Peter Grupen aus Haseldorf beteiligt
ist, zieht immer weitere Kreise. Sie beschäftigt jetzt auch die Hamburger
Kriminalpolizei, da der wegen Verdachts, den Doppelmord begangen zu haben, in
Untersuchungshaft genommene Peter Grupen vor seiner Verheiratung mit der
Apothekerswitwe Schade längere Zeit in Hamburg gewohnt hat und man das und man
das Verschwinden der Frau Gr. nunmehr mit der Mordtat selber in Zusammenhang
bringt. Grupen, der Kriegsbeschädigter ist - ihm fehlt der linke Unterarm -
hatte in Hamburg Hasselbrookstraße 37, bei der Familie Rexhäuser und
Angerstraße 15 bei der Familie Hintze gewohnt. Er verlobte sich mit der Tochter
des Postbeamten Hintze im vergangenen Jahre, suchte aber trotzdem die Bekanntschaft
der Witwe Schade und heiratete diese am 22. Dezember 1920 (Anm.: muss 1919 heißen), ohne vorher das Verlöbnis mit Fräulein H.
zu lösen. Diese kam erst durch eine Photographie, die sie bei ihm fand,
dahinter, daß ihr Bräutigam verheiratet war. Die sofortige Lösung des
Verlöbnisses war natürlich die Folge. Während Frau Grupen, verwitwete Schade,
plötzlich spurlos verschwand, erschien Grupen auf Kleppelsdorf, wo man eines
Tages seine 13jährige Stieftochter und die 16jährige Gutsbesitzerin Rohrbeck
erschossen auffand. Der Verdacht geht dahin, daß Grupen, dessen ganzes Streben
nur darauf gerichtet war, schnell und mühelos reich zu werden, seine Frau
getötet und die Leiche auf die Seite gebracht hat. Er heiratete die um 12 Jahre
ältere Witwe nur wegen ihres Vermögens. Da aber die 13jährige Tochter bei einem
Ableben der Frau mit als Erbin auftreten konnte, mußte auch sie beseitigt
werden. Die 16jährige Dorothea Rohrbeck mußte ebenfalls als Opfer fallen, weil
sie zuviel wußte. Es war nämlich kein Geheimnis mehr, daß der jung verheiratete
Grupen inzwischen auch der jungen Gutsbesitzerin einen Heiratsantrag gemacht
hatte. Da Grupen, der des Doppelmordes und nun auch des Gattenmordes
Verdächtige, in Hamburg längere Zeit lebte, und seinen Angaben, seine vermißte
Frau wäre nach Hamburg gefahren, um von hier aus nach Amerika auszuwandern, um
einer artistischen Neigung nachzugehen, nicht geglaubt wird, vermutet man, daß
Grupen in Hamburg oder in der Nähe Hamburgs seine Frau beseitigt hat. Die
angestellten Nachforschungen haben ergeben, daß Frau Grupen hier keinen
Ausreisepaß erhalten hat, während Grupen selber einen Paß nach Dänemark
besitzt.
Dienstag, den 15. März 1921, „Norddeutsche
Nachrichten“
Haseldorf,
im März.
Peter
Grupen dreifacher Mörder!
Die
Tote von Wedel die vermißte Frau Grupen?
Der wegen der Kleppelsdorfer Doppelmordtat
verhaftete, 26 Jahre alte Architekt P e
t e r G r u p e n ist jetzt stark verdächtig, a u c h
s e i n e F r a u , die frühere Apothekerswitwe S c h a d e , e r m o r d e t zu haben. Auf Ersuchen des
Untersuchungsrichters von Hirschberg in Schlesien wurde in Hamburg jetzt das
frühere Dienstmädchen Grupens, K l ä s
c h e n , vernommen. Ein Beamter der
Oberinspektion D. ermittelte diese wichtige Zeugin im Eckhause Gluck- und von
Essenstraße in Hamburg. Da man am 30. Dezember 1920 bei W e d e l
die Leiche einer nur mit einem Strumpf, einem Schuh und einem (?
unleserlich) bekleideten unbekannten Frau aus dem Wasser gezogen hatte, die
verschiedene Verletzungen, die Messerschnitten sehr ähnlich schienen, am Hals
und Rücken aufwies, war der Verdacht eines Mordes aufgetaucht. Inzwischen wurde
das Verschwinden der Frau Grupen bekannt, und man kam auf den Gedanken, daß
die T o t e v o n
W e d e l d i e v e r m i ß t e F r a u
G r u p e n sein könnte. Das
nach Wedel gesandte Dienstmädchen Kläschen erklärte, daß die vorgelegten
Sachen n i c h t die der Frau Grupen seien. Allem Anschein
nach handelt es sich bei der Toten d e
n n o c h um Frau Grupen, denn die
Beschreibung, die man von der Vermißten gibt, stimmt g e n a u
mit den Kennzeichen, die man an der Leiche fand, überein.
Das
Verschwinden der Frau Grupen.
Ueber das Verschwinden der Frau Grupen weiß
die Kläschen folgendes zu berichten: Am 19. September hat Gr. seine Frau mit
eigenem Wagen zur Bahn nach I t z e h o
e fahren wollen. Auch das Dienstmädchen
fuhr mit, um einem Vereinsvergnügen beizuwohnen. Grupen erklärte bei der
Hinfahrt, daß er das Mädchen nach Schluß des Vergnügens abholen wolle, was er
aber nicht getan hat. Aufgefallen ist dem Mädchen, daß Grupen peinlichst bedacht
war, über alle Vorkommnisse, selbst die geringsten, Zeugen zu haben, so z. B.
als er die Kassette im Schreibtisch öffnete, aus dem seine Frau angeblich
60.000 Mark genommen haben soll. Hierbei mußten beide Dienstmädchen zugegen
sein. Auf dem Klosett fand die Kläschen eine Briefabschrift, die man
anscheinend extra hingelegt hatte, damit sie gefunden wird. Es sollte die
Ansicht erweckt werden als ob es sich um eine Kladde eines Briefes, den Frau
Grupen an ihre Mutter geschrieben hatte, handele. Die Hamburger Kriminalpolizei
war davon unterrichtet, daß Grupen bei der Deutschen Bank am Adolfsplatz ein
Bankfach hatte. Da dieses Fach nicht ohne die im Besitz des Fachinhabers
befindlichen Schlüssel zu öffnen ist, wurde Grupen aufgefordert, vom Untersuchungsgefängnis
aus die Vollmacht zur Oeffnung des Faches und die erforderlichen Schlüssel
herzugeben. Da er erklärte, die Schlüssel verloren zu haben, verfügte die Bank
die Oeffnung des …faches. Dieses wurde in Gegenwart eines Kriminalbeamten und
Bankangestellten aufgebohrt - e s w a r
l e e r . Nun steht man vor dem
Rätsel, wohin das Geld und die Wertgegenstände gekommen sind. Vorläufig bemüht
sich die Hamburger Kriminalpolizei weiter, das Dunkel des Verschwindens der
Frau Grupen aufzuklären und ersucht alle Personen, die hierüber Angaben machen
können, sich zu melden.
Mittwoch, den 30. November 1921,
„Norddeutsche Nachrichten“
Die
Tragödie einer Millionenerbin vor dem Schwurgericht.
Peter
Grupen aus Oldenbüttel bei Itzehoe vor den Richtern.
In einer Sondertagung des Schwurgerichts
in H i r s c h b e r g gelangt am kommenden Montag der rätselhafte
Doppelmord auf S c h l o ß K l e p p e l s d o r f bei Lähn (Riesengeb.) zur Verhandlung. Unter
der Anklage, am 14. Februar die 16 Jahre alte Besitzerin des Rittergutes
Kleppelsdorf, D o r o t h e a R o h r b e c k , und deren 12jährige Stiefbase U r s u l a
S c h a d e aus Berlin mit einem
Revolver erschossen, an der Großmutter der beiden Mädchen, einer F r a u
E c k h a r d t , einen
Giftmordversuch, und an der 12jährigen Ursula Schade außerdem ein
Sittlichkeitsverbrechen verübt zu haben, steht der Stiefvater der Ursula Schade
und Onkel der Dorothea Rohrbeck, der aus Oldenbüttel bei Itzehoe stammende und
auch in unserem Leserkreise bekannte Architekt Peter Grupen vor den
Geschworenen. - Die sensationellen und in ihren Einzelheiten bisher noch von
einem dichten Schleier des Geheimnisses umgebenen Vorgänge auf Kleppelsdorf
haben bei ihrem Bekanntwerden das größte Aufsehen hervorgerufen. Handelte es
sich doch um den mysteriösen Tod einer Millionenerbin und den zunächst aufgetauchten
Verdacht, daß diese von ihrer erst 12jährigen Base erschossen worden sei, sowie
um die Behauptung. daß der jetzige Angeklagte seine Stieftochter zur Begehung
dieses Verbrechens durch Hypnose oder Suggestion unter dem Druck sexueller
Hörigkeit angestiftet habe.
Die Hauptperson des Dramas, die 16jährige
Rittergutsbesitzerin Dorothea R o h r b
e c k , ist das Kind eines Bauerngutsbesitzers
in Tempelhof bei Berlin, der durch glückliche Grundstücksspekulationen bei der
Ausdehnung der südlichen Berliner Vororte zum mehrfachen Millionär geworden
war. Er kaufte sich dann im Riesengebirge bei Gießhübel und Kuttenberg sowie in
der Nähe des 17 Kilometer von Hirschberg gelegenen Kurorts Lähn am Bober an.
Hier erwarb er das Luxusgut Kleppelsdorf, das einen großen, mit herrlichem
Park, Scheunen und Bauernhäusern ausgestatteten Besitz darstellt. Frau
Rohrbeck, eine geborene Eckhardt, war bei der Geburt ihrer Tochter 1905
gestorben, ihr Ehemann verschied während des Krieges. Beide wurden in dem
Erbbegräbnis der Familie in Tempelhof beigesetzt, während die kleine Dorothea
Rohrbeck 1919 als 14jährige Vollwaise die Alleinerbin der gesamten Güter und
des ganzen Vermögens ihrer Familie wurde. Sie wohnte auf Kleppelsdorf in
Gesellschaft einer von ihr als Aufsichtsdame engagierten jungen Frau namens
Zahn. Die Gutsarbeiten leitete ein Direktor Bauer.
Anfang Februar d. J. traf die Großmutter der
jungen Gutsherrin mit deren beiden Kusinen, der 12jährigen U r s u l a
S c h a d e und der
9jährigen I r m a S c h a d e
auf Kleppelsdorf zu Besuch ein. In der Gesellschaft der drei befand sich
auch der jetzige Angeklagte, P e t e r G r u p e n , der ursprünglich Maurergeselle, später Kunstschütze
war und zuletzt in Grundstücken spekulierte, wobei er sich des Deckmantels
eines Architekten bediente. Er kam aus
K e l l i n g h u s e n , wo
Grupen ein starkverschuldetes Besitztum hat. Seine Frau war eine Apothekerstochter,
die ihm dieses Besitztum mit in die Ehe gebracht hatte, und die schon seit
geraumer Zeit verschwunden ist. Ihr Aufenthalt konnte nicht festgestellt
werden; der Angeklagte selbst gibt an, daß sie nach Amerika ausgewandert sei.
Von anderer Seite wird dagegen behauptet, daß sie mit einer weiblichen Leiche
identisch sei, die im Dezember v. J. an der Neuenbrocker Schleuse bei der Stör
aufgefunden ist, aber nicht rekognosziert werden konnte. - In der Begleitung
der vier Besucher befand sich ferner ein Hausmädchen des Angeklagten, das
damals seine Geliebte war. Auch der ermordeten 12jährigen S c h a d e , seiner Stieftochter, soll sich der
Angeklagte genähert haben, sie mißbraucht und sogar geschlechtlich infiziert
haben. Sie stand deshalb eine Zeitlang in ärztlicher Behandlung.
Der Besuch Grupens, der ein 26jähriger junger
Mann von eleganter Aufmachung und guten Umgangsformen war, jedoch im Kriege den
linken Arm verloren hat, verfolgte den Zweck, der Millionenerbin Dorothea
Rohrbeck einen Heiratsantrag zu machen, der aber von dem jungen Mädchen
abgelehnt worden sein soll. Am Morgen des 16. Februar vergnügte sich der
Angeklagte im Park des Schlosses mit Spatzenschießen. Die Waffe legte er später
auf den Speisezimmertisch und soll nunmehr dafür gesorgt haben, daß zunächst
der Direktor Bauer eine Geschäftsreise nach Löwenberg unternahm und weiterhin
die Großmutter, die Hausdame und die verschiedenen Dienstboten nach Lähn
gingen. Auch Dorothea Rohrbeck war bis gegen 12 Uhr in Lähn und begab sich nach
ihrer Heimkunft zusammen mit der kleinen Ursula Schade in ein an den Speisesaal
anstoßendes Zimmer. Als um ½ 1 Uhr die Hausdame eine Auskunft von Fräulein
Rohrbeck wünschte und sie durch ein Dienstmädchen zu sich bitten ließ, fand
dieses die beiden jungen Mädchen mit mehreren Revolverschüssen in Kopf, Hals
und Brust auf dem Fußboden liegend vor. Dorothea R o h r b e c k war bereits verschieden, während die kleine S c h a d e
nach zwei Stunden ebenfalls ihren Geist aufgab, ohne das Bewußtsein
wiedererlangt zu haben. In ihren Kleidern befand sich ein Brief an die
Großmutter, der sie darin mitteilte, daß sie zuerst ihre Kusine und dann sich
selbst erschossen habe. Weiter hieß es in dem an die 74jährige Dame gerichtete
Dame: „Du sollst dich nicht mehr über Dörthe ärgern.“ In dem Brief berichtet
Ursula auch, daß sie die ihrem Stiefvater gehörige Pistole, aus der die
tödlichen Schüsse abgegeben wurden, aus Ottenbüttel, wo sie bis zur Reise nach
Kleppelsdorf gewohnt hat, mitgebracht habe. Hinsichtlich dieses Briefes wird
von der Anklage der Vermutung Ausdruck gegeben, daß das Mädchen zu dessen
Abfassung von ihrem Stiefvater auf hypnotischem Wege beeinflußt worden sei. Auf
dem Tisch lag ein entsicherter Damenrevolver, aus dem zwei Schüsse abgegeben
worden waren. Die Ermittelungen der Hirschberger Staatsanwaltschaft führten
bald zu der Festnahme G r u p e n s
, der erklärte, seine Stieftochter
müßte mit der Waffe gespielt und dabei die Dorothea R o h r b e c k versehentlich erschossen haben. Aus
Verzweiflung über ihre Unvorsichtigkeit habe sie sich dann selbst entleibt.
Belastend für ihn erschien jedoch der Sektionsbefund an der Stieftochter, dann
aber vor allem die Auffindung einer Flasche vergifteten Cognacs, die G r u p e n
der Großmutter E c k h a r d
t zum Geschenk gemacht hatte. Daraus
ging hervor, daß G r u p e n mit der Absicht umgegangen war, nicht nur
die Schloßherrin von Kleppelsdorf, sondern auch deren Großmutter als ihre
Alleinerbin zu beseitigen, da nach deren Tod ihrer zweiten Tochter, also der
verschwundenen Ehefrau des G r u p e n
, das gesamte Vermögen zugeflossen
wäre. Nach deren Verschwinden hätten demnach die Stiefkinder Grupens bezw.
dieser selbst das alleinige Verfügungsrecht über den Millionenbesitz gehabt.
Man erwartet von den Verhandlungen, die
ungefähr 10 Tage in Anspruch nehmen werden, übrigens auch die Aufklärung des
Todes des ersten Ehemannes der Frau des Angeklagten, des Apothekenbesitzers
Schade in Perleberg, der seinerzeit auf der Jagd angeschossen wurde und verblutete,
ehe man ihn über den Täter hätte ausfragen können. - Der Doppelmord an den
beiden jungen Mädchen hatte übrigens noch ein bezeichnendes Nachspiel, da wenige
Tage nach der Beisetzung der Schloßherrin von Kleppelsdorf deren Sarg in der
Gruft von Lähn erbrochen und die Leiche beraubt wurde. - Wir werden über die
Verhandlungen berichten.
Dienstag, den 6. Dezember 1921, „Norddeutsche
Nachrichten“
Das
Kleppelsdorfer Drama.
1.
Berichtstag
Ueber
hundert Zeugen, darunter viele aus den Elbgemeinden.
H i r s c h b e r g , das friedliche Städtchen am Bober, befindet
sich infolge des Schwurgerichtsprozesses gegen den Architekten P e t e r
G r u p e n in heller Aufregung.
Trotz scharfer Winterkälte sah man am gestrigen Montag schon stundenlang vor
der festgesetzten Verhandlung das Publikum in dichten Scharen zu dem neuen
Landgerichtsgebäude pilgern. Es wickelt sich alles sehr glatt, nicht in dem in
Berlin und anderen Großstädten üblichen aufgeregten Ton ab. Man sah viele
Frauen im Zuhörerraum. Das erklärt sich aus der Tatsache, daß die eine der Ermordeten,
Dörthe Rohrbeck von Kleppelsdorf, das Schloßfräulein, in der ganzen Umgegend
bekannt war. Man ist gespannt, zu hören, durch wessen Schuld Dörthe und ihre
Kusine Ursula Schade sterben mußten. Der Angeklagte übt große suggestive Macht
auf jedermann aus. - Nach Ablauf des üblichen akademischen Viertels ertönt das
erste Klingelzeichen und der Vorsitzende begrüßt, zunächst noch in Abwesenheit
des Angeklagten, die Geschworenen. Oberlandesgerichtsrat Krinke rechnet, wie er
mitteilt, mit etwa acht- bis zehnstündiger Verhandlungsdauer. Er ermahnt die
Geschworenen, in dieser aufsehenerregenden Mordasche, die weithin bekannt und
in der Presse vielfach erörtert wurde, mit aller Gewissenhaftigkeit zu Werke zu
gehen und dem Rechte zum Siege zu verhelfen. Hierauf wird der A n g e k l a g t e , Architekt Peter Grupen, unter lebhafter
Bewegung der Zuhörer hereingeführt. Grupen ist ein großer, blonder Mann von
sehr gepflegter Erscheinung. Er trägt einen flotten Schnurrbart und erscheint
im hellen Modeanzug. Er macht einen sehr energischen und sicheren Eindruck.
Grupen wendet sich sofort von den Bänken der Zuhörer ab und blickt bei der
üblichen umständlichen Bildung der Geschworenenbank unverändert auf den Präsidenten.
Die Bank der Geschworenen setzt sich aus den verschiedenartigsten Berufskreisen
zusammen. Beim Aufruf der Zeugen wird eine Dame in dem dichten Gedränge
ohnmächtig. Einer der anwesenden Aerzte führt sie hinaus. Es sind im
ganzen w e i t ü b e r
h u n d e r t Z e u g e n , darunter eine recht große Anzahl a u s
d e n E l b g e m e i n d e n
, und etwa zwölf Sachverständige. G r u p e n
erklärt, daß er sich sehr eingehend auf die Anklage äußern werde. Für den heutigen Dienstag plant der
Vorsitzende die Vernehmung der ersten Zeugen. Insbesondere der in tiefer Trauer
erschienenen Großmutter Frau Eckert und der Erzieherin, Fräulein Zahn. Für den
Lokaltermin hat der jetzige Besitzer des Schlosses Kleppelsdorf,
Rittergutsbesitzer Pinge (richtig:
Pingel), ein Verwandter der Frau Eckert und des Angeklagten, geeignete
Räume zur Verfügung gestellt. Als der Präsident Montag mittag mit der
Vernehmung des Angeklagten beginnen will, erhebt sich Justizrat Dr. Ablaß und
lehnt Gasanstaltsbesitzer Wrobel (Hirschberg) als Sachverständigen für
Hypnotismus ab. Direktor Wrobel treibe hypnotische Studien sozusagen als
Spielerei, nicht wissenschaftlich. Er sei ausserdem befangen.
Oberlandesgerichtsrat Krinke will das später eingehend erörtern und vernimmt
zunächst kurz den Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen. Grupen gibt
an, aus Holstein zu stammen und nicht bestraft zu sein. Er ist 27 Jahre alt,
hat im Kriege den linken Arm verloren und das Eiserne Kreuz erworben. Der
Eröffnungsbeschluß legt ihm D o p p e l
m o r d v o n S t i e f t o c h t e r u n d
N i c h t e u n d S i t t l i c h k e i t s v e r b r e c h e
n a n
d e r d r e i j ä h r i g e
n (richtig:
dreizehnjährigen) S t i e f t o c h
t e r zur Last. Grupen macht seine
Angaben sehr klar. Er hat für seine große Figur einen auffallend hohen,
jugendlichen, fast unmännlichen Ton beim Sprechen.
Mittwoch, den 7. Dezember 1921, „Norddeutsche
Nachrichten“
Der
Doppelmord in Kleppelsdorf.
Hirschberg, 5. Dezember.
Kurz vor Mittag bejaht Angeklagter G r u p e n
die Frage des Vorsitzenden, des Oberlandesgerichtsrats K r i n k e
aus Breslau, ob er bereit sei, sich auf die Anklage zu erklären. Sodann
wird mit der
Vernehmung
des Angeklagten
begonnen. Mit leiser, aber sicherer Stimme
und spitzem Akzent schildert Grupen seinen Lebenslauf. Am 20. September 1894
in H a s e l d o r f bei Uetersen geboren, habe der dort die dreiklassige
Volksschule besucht. Nach vollendeter Schulzeit sei er zunächst in einem landwirtschaftlichen
Betriebe tätig gewesen und dann zu einem Maurermeister in die Lehre gegangen.
Bei seiner Gesellenprüfung sei seine Arbeit als die beste anerkannt worden. Während
seiner Ausbildungszeit habe er sich an Vergnügungen nicht beteiligt. Er habe die
besten Zeugnisse aufzuweisen. 1914 sei er als Kriegsfreiwilliger bei den
Königsulanen in Hannover eingetreten. Im Felde sei er an Typhus erkrankt und
vor Verdun habe er den linken Unterarm verloren. Nach seiner Entlassung aus dem
Lazarett habe er die staatliche Beugewerksschule in Hamburg besucht und im
Sommer praktisch gearbeitet. Auch im Maschinenbaufach habe er sich Kenntnisse
angeeignet: einige Monate sei er auf der
V u l k a n w e r f t
beschäftigt gewesen. Dort habe er freiwillig seine Entlassung genommen,
um sich dann als Bauführer in Hamburg zu betätigen.
Zweimal
verlobt.
Vors.: Es wird behauptet, daß Sie mehrmals
verlobt gewesen seien. - Angekl.: Das ist richtig. - Vors.: Die erste Verlobung
ist aufgehoben worden, von wem? - Angekl.: Von meiner Seite, weil mich die
Aeußerung meiner Braut: „Was soll ich mit dem Kriegskrüppel?“ verletzt hatte. -
Vors.: Auch Ihre zweite Verlobung ist auseinander gegangen? Und Sie sollen dem
Mädchen gedroht, sollen sogar einmal einen Drohbrief geschrieben haben? -
Angekl.: Ich habe niemals gedroht; ich habe nur geschrieben, daß ich die
Verlobungsgeschenke zurückholen möchte, sonst müßte ich gerichtlich vorgehen. -
Vors.: Sie sollen das Mädchen, nachdem es sich mit einem Anderen verlobt hatte,
mit Erschießen gedroht haben. - Angekl.: Das ist frei erfunden. - Vors.: Hüten
Sie sich etwas auszusprechen, das Ihnen dann von den Zeugen widerlegt werden
könnte. - Oberstaatsanwalt R e i f e n
r a t h : Als das Mädchen geheiratet
hatte, ist der Angeklagte nicht dann zu dem Ehemann gegangen und hat ihm in die
Hand versprochen, die Frau in Ruhe zu lassen? - Angekl.: Davon ist mir nichts
bekannt. - Vors.: Warum ist nun die zweite Verlobung aufgelöst worden? In der
Voruntersuchung haben Sie gesagt, das junge Mädchen sei viel gereist und nicht
wirtschaftlich gewesen. - Angekl.: Nein, ich war selbst schul daran. - Vors.:
Sind Sie damals nicht schon zu Frau Gertrud Schade in Beziehungen getreten? -
Angekl.: Ich lernte Frau Schade im August 1919 kennen. Veranlassung dazu hat
eine Zeitungsannonce gegeben, die ich aus Scherz hatte veröffentlichen lassen.
- Vors. zu den Geschworenen: Frau Gertrud Schade war die Tochter der Frau
Bankdirektor Eckert aus zweiter Ehe, Frau Rohrbeck die Tochter aus erster Ehe.
Frau Rohrbecks Tochter ist die verstorbene Dorothea Rohrbeck, diese also eine
Enkelin der Frau Eckert und eine Nichte der Frau Schade. Frau Schade soll ihren
Ehemann, der Apothekenbesitzer in Perleberg war, durch einen Jagdunfall
verloren haben, stand aber nicht allein, hatte vielmehr ihre beiden Kinder
Ursula und Irma, sowie eine Pflegetochter Ruth bei sich. - Angekl.: Frau Schade
wohnte in I t z e h o e . Während des Krieges hatte sie ein Verhältnis
mit einem Stabsveterinär. - Vors.: Frau Schade war 13 Jahre älter. Das wußten
Sie. Warum haben Sie sich mit ihr verlobt? Es ist doch selten, daß ein Mann von
Ihren Lebensjahren eine um 13 Jahre ältere Witwe mit 3 Kindern heiratet. -
Angekl.: Ich hatte die Ueberzeugung, daß es eine wirklich gute Frau sei; später
bin ich anderer Ansicht geworden. - Vors.: Sie sind also zur Heirat geschritten
aus Liebe, nicht aus Berechnung im Hinblick auf das vermögen der Frau Schade
oder um Ihr gesellschaftliches Ansehen zu heben? - Angekl. verneint das
letztere. Vors.: In dem Hause der Frau Schade wohnte auch deren Mutter, die
Frau Eckert? War Frau Eckert mit der Heirat einverstanden? - Die Antwort des
Angeklagten bleibt unverständlich. Der Tag der Hochzeit sei der 22. Dezember
1919 gewesen. Wir wohnten in Itzehoe im eigenen Hause, das ich einem Umbau unterzog. Der V
o r s i t z e n d e stellte fest, daß
Grupen schon als Bräutigam Generalvollmacht sowohl von Frau Schade als auch von
Frau Eckert erhalten habe. Auf Grund dieser Generalvollmacht hat er sich 17 000
Mark aus einer Hypothek abtreten lassen, das Geld aber, das den Kindern der
Frau Schade gehörte, an sich genommen. - Angekl.: Ich habe auf der Quittung ausdrücklich
vermerkt, daß ich diese Summe den Kindern zur Verfügung stellen will. Hierauf
trat die Mittagspause ein.
Das
Verschwinden der Frau des Angeklagten.
Nach Wiederaufnahme der Verhandlungen richtet
der V o r s i t z e n d e an den Angeklagten die Frage, wie sich sein
Eheleben gestaltet habe. - Angekl.: Wir haben anfangs glücklich miteinander
gelegt. Das Verhältnis trübte sich, als meine Frau mit Forderungen auf
ehelichem Gebiete kam, die ich nicht erfüllen konnte. Meine Frau beschäftigte
sich auch wenig mit dem Haushalt; sie war bestrebt, viel herumzureisen. -
Vors.: Sie haben in der Voruntersuchung gesagt, daß noch ein anderer Grund
mitgewirkt hätte, das Verhältnis nicht zum Besten zu gestalten. - Angekl.: Meine
Frau hatte mir gestanden, ein Verhältnis mit einem Fabrikbesitzer gehabt zu
haben. Dieser Mann gehörte einer Freimaurerloge an, bei der auch der
verunglückte Schade Mitglied war. Mit dem Fabrikbesitzer hatte meine Frau als
Witwe eine Reise nach Köln gemacht und dort mit ihm mehrere Tage in einem Hotel
gewohnt. Ich habe ihr dieses Verhältnis nicht besonders übel genommen. (Da der
Angeklagte schwer verständlich wird, muß er auf Anordnung des Vorsitzenden in
der Mitte des Saales Platz nehmen.) - Vors.: Was waren das für Forderungen, die
Ihre Frau an Sie stellte? - Angekl.: Meine Frau hatte stets Bier, Wein und
Liköre im Hause gehabt. Einmal hatte sie zu viel getrunken, und im Rausch
stellte sie an mich Anforderungen, die kein Mensch erfüllen kann. Da sagte sie
mir, was der Fabrikbesitzer konnte, mußt Du auch tun können. Weiter hat sie mir
Angaben gemacht über das J a g d u n g
l ü c k ihres Mannes, das gar kein
Jagdunglück gewesen sei. - Vors.: Es wird behauptet, daß auf der Jagd auch
jener Fabrikbesitzer zugegen gewesen sei. Darauf beziehen sich wohl die
Andeutungen, daß es sich nicht um einen Unglücksfall, sondern um einen
absichtlichen Mord handle. - Angekl.: Meine Frau hat, wie ich schon sagte, die
Andeutungen im Rauschzustande gemacht. - Vors.: Sie sind später mit Ihrer Frau
von Itzehoe nach Oldenbüttel gezogen. Die Anregung soll von Ihnen ausgegangen
sein. - Angekl.: Ich habe den Umzug nicht angeregt. Der Umzug war aber notwendig
geworden, weil das Wohnungsamt zur teilweisen Beschlagnahme der Räume in
Oldenbüttel schreiten wollte und es unzulässig war, daß wir über zwei Wohnungen
verfügten. - Vors.: Während Sie im Umzuge begriffen waren, traf der
erste
Besuch von Fräulein Dorothea Rohrbeck
und Fräulein Zahn ein. - Angekl.: Wir hatten
nach Kleppelsdorf unsere Verheiratung mitgeteilt, die Mitteilung ist aber kühl
aufgenommen worden. Ich wollte daher anfangs den Besuch ablehnen. - Vors.: Der
Besuch galt ja nicht Ihnen, sondern der Großmutter der Dorothea Rohrbeck, der
Frau Eckert. - Angekl.: Fräulein Zahn sagte, sie mache eine Reise zu sämtlichen
Verwandten, weil es deren Pflicht sei, ihr im Protest gegen den Vormund
Vielhack beizustehen. Der Vorsitzende
vermerkt hierzu erklärend: Der Vater der Dorothea Rohrbeck hatte im Testament
eine gewisse Summe zum Unterhalt seiner Tochter ausgesetzt, aber mit dieser
Summe konnte Fräulein Zahn wegen der Teuerungsverhältnisse, die inzwischen
eingetreten waren, nicht auskommen. Fräulein Zahn hat sich infolgedessen genötigt
gesehen, die Hilfe der Verwandten in Anspruch zu nehmen. Der Vormund hatte
Fräulein Zahn gekündigt und es war eine Anzahl Prozesse zwischen ihm und
Fräulein Zahn entstanden. Fräulein Zahn bestand darauf, daß sie im Testament
als Erzieherin der Dorothea Rohrbeck eingesetzt sei. - Angekl.: Fräulein Zahn
hat mir gesagt, daß sie sich einschränken und Schulden machen müsse. Ich habe
ihr erwidert, sie möchte sich an die Herren Pinge (richtig: Pingel) und Alfred Rohrbeck wenden, dann werde ich ihr
ebenfalls aushelfen. - Vors.: Haben Sie sich nicht gleich angeboten, aus Ihrem
überreichen Gehalt einen Zuschuß zu geben? - Angekl.: Nein. - Vors.: Sie sollen
bei der Unterredung mit Frl. Zahn geäußert haben, daß Ihre Frau krebsleidend sei.
- Angekl.: Das hat mir meine Frau selbst gesagt. Ob ich es Frl. Zahn gesagt
habe, ist mir nicht erinnerlich. - Vors.: Sind nicht auch die Briefe zur
Sprache gekommen, die Frau Eckert an das Vormundschaftsgericht in Lähn
geschrieben hat? - Angekl.: Das mag sein. - Vors.: Ihre Schwiegermutter, die
Frau Eckert hat in diesen Briefen gegen Frl. Zahn Stellung genommen, später
aber widerrufen und schließlich den Widerruf ebenfalls widerrufen. - Vors.:
Welchen Eindruck machten Frl. Dorothea Rohrbeck und Frl. Zahn auf Sie? -
Angekl.: Dörtes Eindruck (Vors.: Sagen sie ruhig Frl. Dorothea Rohrbeck.) war
gut, gegen Frl. Zahn hatte ich nichts einzuwenden. - Vors.: Wie lange haben
sich die Damen in Itzehoe aufgehalten? - Angekl.: Vier bis fünf Tage. Wir haben
dann einen Ausflug nach Oldenbüttel gemacht. - Vors.: Frl. Zahn behauptet, Sie
hätten ihr auf dem Wege nach Oldenbüttel gesagt, Sie wollten sich von Ihrer
Frau scheiden lassen und wollten sie heiraten. - Angekl.: Es ist möglich, daß
ich über das Verhältnis zu meiner Frau gesprochen habe, bestreite aber, Frl.
Zahn einen Heiratsantrag gemacht zu haben.
Grupen erzählt nun, daß er den Damen einen
Gegenbesuch mit seiner Frau in Kleppelsdorf in Aussicht gestellt habe. Er sei
aber allein dahin gefahren, weil es sich um Geldangelegenheiten handelte. Am
17. September sei er nach seiner Rückkehr mit seiner Frau und der
Schwiegermutter zum Notar nach Itzehoe gefahren. Dort habe seine Frau
Hypotheken auf seinen Namen abgetreten. Am 18. September seien sie wieder beim
Notar gewesen, wo die Gütertrennung erklärt wurde. Am 19. September, einem
Sonntage, trat die Frau die Reise nach Kleppelsdorf an. Grupen habe sie zum
Bahnhof Itzehoe gebracht, aber nicht bis zum Bahnsteig begleitet, weil er bei
den Pferden hätte bleiben müssen. Er selbst sei erstaunt gewesen, als er die
telegraphische Nachricht erhielt, daß seine Frau in Kleppelsdorf nicht
eingetroffen sei. Einige Tage später hätten die Hausangestellten auf dem Abort
einen zerrissenen Zettel gefunden, der das Konzept eines von Frau Grupen an
ihre Mutter gerichteten Abschiedsbrief darstellte. In dem Briefe hieß es, Frau
Grupen reise nach Amerika, um sich der Bühne zu widmen. - Der Vorsitzende
stellt fest, daß alle Nachforschungen nach dem Verbleiben der Frau des
Angeklagten vergeblich gewesen seien. Wenn sie noch lebe, müßte sie durch
Zeitungen Kenntnis erhalten haben von dem furchtbaren Tode ihrer Tochter
Ursula.
Schluß des ersten Verhandlungstages.
Donnerstag, den 8. Dezember 1921,
„Norddeutsche Nachrichten“
Der
Doppelmord in Kleppelsdorf.
Im weiteren Verlaufe der Verhandlung vertieft
der Vorsitzende den Abschiedsbrief der verschwundenen Frau Grupen an ihre
Mutter, Frau Eckert. Er lautet:
Ottenbüttel, 12. September 20.
Meine liebe Mutter!
Wenn Du in den Besitz dieser Zeilen gelangst,
bin ich auf dem Wege nach Amerika, den ich ja schon des öfteren in Gedanken
zurückgelegt habe, wie Du aus meinen Bemerkungen entnehmen konntest. Lange
genug habe ich die Fesseln in Deutschland getragen, und hat sich endlich mein
Künstlerblut dagegen aufgelehnt, indem ich Deutschland den Rücken kehre. Du
darfst nicht denken, daß Peter die Veranlassung zu diesem Schritt war,
respective unser Zusammenleben. Denn den Plan hatte ich schon, bevor ich Peter
kennen lernte, und waren mir nur durch die Verhältnisse und meinen Besitz die
Hände gebunden. Peter wird für die Kinder sorgen und Dir helfen. Es küßt Dich
in Liebe
Deine Tochter Trude.“
Vorsitzender zum Angeklagten: Haben Sie einen
Abschiedsbrief Ihrer Frau bekommen. - Angeklagter: Nein.
Dann wird ein Besuch Grupens mit Frl.
Rohrbeck und Frl. Zahn in Hamburg besprochen. Vors.: Auf dieser Reise haben Sie
die beiden Damen auf dem Alsterbassin gerudert? Es wird Ihnen zum Vorwurf
gemacht, daß Sie Dorothea Rohrbeck zweimal in Lebensgefahr gebracht haben. -
Angekl.: Dörte hat schon immer für eine Alsterfahrt geschwärmt. Ich habe ihr
daher den Vorschlag gemacht, nicht ins Theater zu gehen, sondern den Nachmittag
zu einer Ruderpartie zu benutzen. - Vors.: Es wird Ihnen zur Last gelegt, daß
Sie immer in die Wellen der Dampfer hineingefahren sind und dadurch das Boot in
Gefahr gebracht haben, sodaß sogar einmal vom Dampfer aus gerufen wurde:
Vorsicht! Es kommen zwei Vorfälle in Betracht, einmal war Frl. Zahn dabei. -
Angekl.: Frl. Zahn war ängstlich, während die Dörte scherzte. - Vors.: Sie
sollen einmal das Ruder weggeworfen und sich dann lang in das Boot hineingelegt
haben, sodaß Frl. Rohrbeck um Hilfe gerufen habe. - Der Angeklagte bezeichnet
den Vorfall als harmlos. Um das Ruder zu haschen, das dem Frl. Rohrbeck
entfallen war, habe er sich stark nach vorn gelegt; sich lang hinzulegen, sei
bei der Konstruktion des Bootes ganz unmöglich. - Vors.: Frl. Rohrbeck hat sich
zu einer ganzen Anzahl von Personen ausgelassen, daß der Vorgang nicht so
harmlos gewesen sei. Sie will das sichere Gefühl gehabt haben, d a ß
S i e I h r n a c h
d e m L e b e n t r a c h t e t e n . - Angekl.:
Ich kann nicht glauben, daß Frl. Rohrbeck so etwas gesagt hat. - Verteidiger
Dr. Mamroth: Haben Sie etwa das Mädchen mit seiner Angst geneckt? - Der
Angeklagte gibt dies als möglich zu. Ueberdies sei er ein guter Schwimmer, aber
die Vorgänge seien ganz ungefährlich gewesen.
Zu einem zweiten Besuch nach Hamburg hatte
Grupen die beiden Damen eingeladen. Er traf sie, wie verabredet in Berlin, fuhr
mit ihnen aber nicht nach Hamburg, sondern nach Kiel, weil Frl. Zahn in Hamburg
zu teure Einkäufe machte.
Der Vorsitzende ersucht den Angeklagten um
nähere Angaben über die angeblichen großen Ansprüche des Frl. Zahn und ersucht
ihn, sich dabei nicht in Widerspruch zu setzen mit den Aussagen, die Frl. Zahn
beeiden werde. In der Voruntersuchung habe der Angeklagte auf viele Fragen die
Antwort verweigert, auf andere Fragen erklärt, darüber erst Auskunft zu geben,
wenn er sich mit seinem Verteidiger beraten habe. - Verteidiger Dr. Ablaß
bemerkt, er habe in der Voruntersuchung dem Angeklagten gesagt, wenn er etwas
nicht genau wisse, solle er angeben, sich darüber erst später erklären zu
wollen, um sich nicht in Widersprüche zu verwickeln und dadurch einen
ungünstigen Eindruck zu machen. - Vors.: Man kann aber aus dieser Erklärung
andere Schlüsse ziehen. Welche Schlüsse die Geschworenen ziehen, unterliegt
nicht meiner Beurteilung.
Vors.: Weiß der Angeklagte nicht anzugeben,
wie groß die Ausgaben waren, die Frl. Zahn gemacht? - Staatsanwalt: Warum hat
der Angeklagte die Damen überhaupt nach Berlin eingeladen, und warum ist er
nach Kiel anstatt nach Hamburg gefahren? - Angekl.: Ich bin nach Kiel gefahren,
weil mit der Aufenthalt mit den Damen in Hamburg zu teuer geworden wäre,
außerdem wollte ich in Kiel meine kranke Mutter besuchten. - Vors.: In Hamburg
sollen Sie mit den Damen in ein Absteigequartier gegangen sein. - Angekl.: Ich
wußte nicht, daß es ein solches Quartier ist und ich glaube es auch nicht. -
Vors.: Die Damen sollen sich hier aber gar nicht wohlgefühlt haben, auch das Zimmer
gefiel ihnen nicht. Wohnte Sie übrigens in derselben Wohnung? - Angekl.: Jawohl,
aber in einem anderen Zimmer. - Vors.: Sie sollen abends weggegangen sein und
nachts an der Tür der Damen geklopft haben. - Angekl.: Ich sah noch Licht in
ihrem Zimmer und wünschte ihnen „Gute Nacht“. Dabei habe ich an die Zimmertür
geklopft. - Der Angeklagte bestreitet dann, daß er, wie man ihm zum Vorwurf
macht, in Hamburg überhaupt ein Absteigequartier gehabt habe. - Vors.: Am
anderen Morgen sollen Sie nun den Damen erklärt haben, daß Sie ihnen finanziell
nicht helfen könnten. - Angekl.: Jawohl, ich schickte Frl. Zahn eine
Visitenkarte. - Der Inhalt der Karte wird verlesen und lautet: „Liebe Berti.
Ich werde um 10 Uhr nicht hier sein können, da ich zu meinem Bruder zu einer
notwendigen Besprechung muß.“ - Vors.: Und zwei Stunden später schrieben Sie
dann einen Brief, daß Sie in der ganzen Voruntersuchung nichts darüber
geäußert, daß Sie Ihr ganzen Vermögen verloren hätten, und schickten Ihnen 200
Mark, damit sie nach Hause fahren konnten. - Der Angeklagte bejaht dies.
Nach seiner verschwundenen Frau hat Grupen
keine Ermittelungen angestellt, weil er, wie er angibt, annahm, daß sie sich
bei dem Fabrikbesitzer Schulz in Perleberg, mit dem sie ein Verhältnis hatte,
aufhielt. - Vors.: Der Frau Eckert haben Sie gesagt, Ihre Frau sei nach
Hamburg; bei Vielhack haben Sie gesagt, daß Sie mit Ihrer Frau schiedlich
friedlich auseinander gegangen seien. Einer anderen Frau haben Sie gesagt, daß
sie zu einer Freundin gefahren sei, und wieder einer anderen Frau, daß sie zur
Bühne gegangen sei. - Verteidiger Dr. Ablaß fragt, ob es richtig sei, daß der F a b r i k b e s i t z e r den ehebrecherischen Verkehr mit G r u p e n s F r a u
auch nach dem Tode ihres ersten Mannes fortgesetzt habe, und ob Frau
Grupen aus Perleberg gegangen sei, weil sie von der Gesellschaft gemieden
wurde, und ob der Fabrikbesitzer deswegen aus der Loge austreten mußte, und ob
ein Verfahren gegen den Fabrikbesitzer wegen des angeblichen Jagdunglücks des
Schade geschwebt habe. - Der Angeklagte bejaht das erstere, ob aber ein
Ermittelungsverfahren gegen den Fabrikbesitzer geschwebt hat, wisse er nicht. -
Ein Geschworener: Wie ist es möglich, daß der Angeklagte innerhalb dreier
Stunden sein ganzes Vermögen verloren hat? - Angekl.: Ich hatte einem
Geschäftsfreund großes Vertrauen entgegengebracht. - Vors.: Wir groß war der
Verlust? - Angekl.: Das weiß ich nicht genau.
Die
Doppelzüngigkeit Grupens.
Vors.: Wir kommen jetzt zu einem anderen
Kapitel. Nach dem, was Sie uns bisher erzählt, Angeklagter, haben Sie für Frl.
Zahn und Frl. Rohrbeck sehr freundschaftliche Gefühle gehegt. Hinter deren
Rücken haben Sie aber ganz anders gehandelt. Am 14. September haben Sie an V i e l h a c k geschrieben, daß Sie mit ihm in Verbindung
treten wollen. Was erzählten Sie nun dem Vormund? - Angekl.: Ich mußte
annehmen, daß die Sache mit dem Vormund nicht so schlimm sei. - Vors.: Haben
sie dem Vormund nicht auch erzählt, daß Frl. Zahn für die Erziehung der Dörte
nicht geeignet sei? - Angekl.: Jawohl, in einigen Punkten war ich auch der
Ansicht. - Vors.: Wieso? - Angekl.: Frl. Zahn erzählte dem Kinde ihre
Liebesgeschichten. - Vors.: Was war das für eine Liebesgeschichte? - Angekl.:
Sie hätte zu Rohrbeck in näheren Beziehungen gestanden. - Vors.: Es ist
richtig, daß Sie in sehr nahen Beziehungen zur Familie Rohrbeck gestanden hat,
denn sie hat sich des Kindes nach dem Tode der Mutter angenommen, und Rohrbeck
hat sie noch auf dem Sterbebett heiraten wollen. Angeklagter, Sie scheinen auch
hier den Mund recht voll genommen zu haben. - Angekl.: Ich möchte hier keine
weiteren Erklärungen abgeben. - Vors.: Sie haben weiter dem Vormund erklärt,
daß Frl. Zahn zuviel ausgebe. Sie hätten ihr bereits 3000 Mark gegen Quittung
gegeben, und nun wollte sie noch 8000 Mark haben. Eine Quittung ist aber
tatsächlich nicht vorhanden. - Der Angeklagte erklärt hierzu, daß in der Tat
eine solche Quittung nicht vorhanden sei, daß ihn aber der Vormund deshalb als
Zeugen vorschlagen wollte in einem Prozeß, der zwischen dem Vormund und Frl.
Zahn schwebte. Er habe aber gebeten, davon abzusehen, weil er erst nach
Kleppelsdorf fahren und Erkundigungen einziehen wollte. - Vors.: Auf der einen
Seite machen Sie also Geschenke, auf der anderen Seite stellen Sie sich dem Vormund
zur Verfügung. Sie haben dann dem Vormund geschrieben, daß Sie kommen wollen,
tatsächlich sind Sie aber erst am 12. Januar zu ihm gefahren und haben hier
Frl. Zahn schlecht gemacht. U. a. haben Sie erzählt, daß Frl. Rohrbeck zuviel
Zigaretten rauche usw. - Der Angeklagte erklärt hierzu, daß er es nicht für
recht gehalten habe, daß Frl. Zahn es billige, daß Dörte sich von dem
Taschengeld, daß er, Grupen, ihr gegeben, sich sofort eine Zigarettenspitze
gekauft habe.
Die
Reise nach Kleppelsdorf.
In dem Prozeß des Frl. Zahn gegen den Vormund
Vielhack sollte der Angeklagte als Zeuge vernommen werden. Er wollte sich in
dieser Sache mit dem Notar, Rechtsanwalt Dr. Pfeiffer in Hirschberg, besprechen
und deshalb auf Aufforderung des Frl. Zahn nach Kleppelsdorf kommen. Er
telegraphierte zurück, ob die Großmutter nicht vorübergehend mitkommen könne
und erhielt die Antwort: Besuch willkommen! Darauf reiste der Angeklagte mit
Frau Eckert, der Ursula und Irma Schade, sowie der Stütze Mohr nach
Kleppelsdorf. Zum besseren Verständnis für die Geschworenen wurden zwei Tafeln
aufgestellt, aus denen die Grundrisse des Schlosses aufgezeichnet waren. An
Hand dieser Zeichnungen zeigte der Angeklagte dann, daß seiner (Stütze?) im …
eine Wohnung angewiesen wurde, und zwar im sogenannten Schlafzimmer. Aus diesem
führt eine Tür in die Plättstube, daran anstoßend war das sogenannte
Amtszimmer. Der Angeklagte selbst schlief im zweiten Stock in einem anderen
Flügel. Die Räumlichkeiten im ersten Stock bestanden in einem Schlafzimmer,
einem Kinderzimmer, an das sich das sogenannte Winter-Wohnzimmer schloß. Dieses
hatte einen Ausgang nach dem Kinderzimmer und einen durch ein Schrankzimmer auf
dem Flur.
Die
Traurigkeit Ursula Schades.
Es wird festgestellt, daß U r s u l a
S c h a d e einen Brief an eine
Frau Bartels geschrieben hat. In dem Brief teilt sie mit, daß sie sich f r e u e ,
in Kleppelsdorf zu sein. Zum Schluß heißt es: „Es grüßt Sie Ihre
Ursel.“ Darüber stand das offenbar erst
später hineingeschriebene Wort: „ t r a
u r i g e “ . Der Angeklagte weiß keine
Erklärung dafür, warum Ursula geschrieben hat: „Ihre t r a u r i g e Ursel“. Dieser Brief ist aber nicht
abgeschickt worden, sondern der Angeklagte hat ihn in seine Gesäßtasche
gesteckt.
Der
Angeklagte über den Mordtag.
Ueber die Ereignisse am 14. Februar, dem
Mordtage, gibt der Angeklagte folgende Schilderung: Im Laufe des Vormittags ist
Frl. Rohrbeck mit Irma in der Stadt gewesen, wo sie gegen ½ 12 Uhr zurückkamen.
Frl. Rohrbeck ging in das Kinderspielzimmer, während der Angeklagte sich im
Nebenzimmer befand. Die Verbindungstür zwischen den beiden Zimmern stand offen.
- Der Angeklagte gibt an: Ich habe nicht gehört, daß Frl. Zahn das
Dienstmädchen Mende mit einem Auftrage zur Stadt sandte. Ich habe Mühle
gespielt mit Ursula, die aber sehr unaufmerksam dabei war, dann mit Irma.
Ursula hat dann das Zimmer verlassen und soll Frl. Rohrbeck nach unten gerufen
haben. Frl. Zahn hat sich aus dem Nebenzimmer mit mir über den Stand der
Spielpartie der Mühle unterhalten. Kurze Zeit darauf habe Frl. Zahn Irma nach
unten geschickt, um Dörte zu holen. Irma bat, erst die Mühlenpartie zu Ende
spielen zu dürfen. Ich sagte darauf zu Frl. Zahn: „Irma wird gleich gehen, wir
sind sofort fertig.“ Irma ging auch nach unten, f a n d
a b e r D ö r t e n i c h t .
Sie kam zurück und wollte einen Apfel in den Ofen werfen, konnte aber
die Tür des Ofens nicht aufbekommen. Irma ging dann nach dem Abort und warf den
Apfel dort hinein, während ich mit der Stütze Mohr weiter Mühle spielte.
Der Angeklagte gibt also zu, zeitweilig mit
Frau Eckert und Frl. Mohr a l l e i
n im Zimmer gewesen zu sein. - Angekl.:
Jawohl. Irma war zweimal kurze Zeit außerhalb des Zimmers, das zweitemal,
nachdem die Mende uns zu Tisch gerufen hatte. - Vors.: Frl. Zahn wird bekunden,
daß wiederholt die Tür geklinkt hat. - Angekl.: Ja, Irma hat zweimal das Zimmer
verlassen und ist zweimal wieder hereingekommen. - Vors.: Das kann Frl. Zahn
nicht gemeint haben. Sie selbst hatte ja das eine Mal Irma beauftragt, Frl.
Rohrbeck zu suchen. Vors.: Sind Sie nicht auf im Zimmer hin- und
hergegangen? Angekl.: Ich habe Frl. Zahn
gebeten, von den Apfelsinen, die ich im Mühlespiel verloren hatte, zwei
zurückzugeben. Bloß zu diesem Zweck ging ich
i n d a s N e b e n z i m m e r . Darauf habe ich gemeinschaftlich mit Irma
und der Mohr weitergespielt. Das Dienstmädchen Mende kam herauf und sagte: „Es
ist angerichtet.“ Als wir uns zum Essen begeben wollten, kam uns die Mende auf
der Treppen entgegen mit den Worten: „
D i e K i n d e r l i e g e n
u n t e n ! “ Der Angeklagte
will nicht gehört haben, daß Frl. Rohrbeck zu Ursula, als diese sie, die
Rohrbeck, aus dem Zimmer geholt hat, sagte: „Ursel, ich komme gleich mit.“ Er will auch das Aufstehen und Weggehen der
Rohrbeck nicht gesehen haben. - Angekl.: Nachdem die Mende uns entgegenkam mit
dem Schreckensruf, sind wir alle sofort nach unten gelaufen. Ich habe im ersten
Moment das Bedürfnis gehabt, einen Arzt herbeizurufen, deshalb lief ich zum
Telephon. Unterwegs traf ich Frl. Zahn und sagte dieser, sie solle einen Arzt
rufen lassen. Ich ging dann in das Zimmer zurück und legte Dörte auf das Bett.
Die
Sicherung der Mordwaffe.
Der Angeklagte gibt dann eine Beschreibung
des Zimmers und seiner Einrichtungsgegenstände. Daß ich aufgeregt war, ist bei
diesem Vorfall wohl verständlich. Als der Arzt kam, habe ich gebeten: „Herr
Doktor, helfen Sie Ursel zuerst.“ - Vors.: Wo lag die Ursula? - Angekl.: Sie
kauerte am Schrank. - Vors.: Haben Sie Verletzungen gesehen? - Angekl.: Ja. Von
einem der Anwesenden wurde dann gesagt:
„ D a l i e g t
d i e P i s t o l e . „ - Vors.: Haben Sie die Pistole aufgehoben? -
Angekl.: Ich glaube, daß ich sie aufgehoben und auf einen in der Nähe stehenden
Rohrplattenkoffer gelegt habe. - Vors.:
H a b e n S i e d i e
P i s t o l e g e - o d e r
e n t s i c h e r t ? - Angekl.:
Das weiß ich nicht. - Vors.: Die Pistole soll gesichert gewesen sein! -
Angekl.: Es ist möglich, daß ich die Pistole ganz mechanisch gesichert habe.
Ich kann mich auf die Vorgänge nicht mehr so genau besinnen. - Vors.: Wissen
Sie nicht mehr, ob Sie den Sicherungsflügel herumgelegt haben? - Angekl.: Das
ist möglich, denn im Krieg ist uns ja immer und immer wieder gesagt worden, daß
man die Waffe sichern soll. - Vors.: Haben Sie sofort erkannt, daß dies Ihre Waffe
war? - Angekl.: Nein, weil ich die Pistole noch nicht lange hatte.
Der Brief „an
Großmutti“.
Bei der Ursula wurde bekanntlich eine S c h a c h t e l m i t
1 9 P a t r o n e n in einer
U n t e r b i n d e t a s c h e
und ein B r i e f gefunden. Der Brief kommt zur Verlesung. Er
lautet:
Kleppelsdorf, 9.
Liebe Großmutti!
Sei
mir nicht böse, daß ich Vati den Revolver aus dem Schreibtisch genommen habe.
Ich will Dir helfen, Du sollst Dich nie mehr an Dörte ärgern. Als Vati Onkel
Wilhelm das zeigte, habe ich zugesehen, wie es gemacht wurde, da hab ich mir
ihn nachher heimlich genommen. Es grüßt Dich und Vati
Ursel.“
Die Adresse des Briefes lautete: „ A n
G r o ß m u t t i . “
Vors.: Es soll dies derselbe Brief sein, der
schon mehrere Male von der Mohr der Großmutter gegeben werden sollte.
Angeklagter, Sie sollen zu Frau Eckert gesagt haben: „ D a
s o l l e s j a
m e i n e P i s t o l e s e i n . “
- Angekl.: Ich habe am Nachmittag zu Frau Eckert gesagt: „An der ganzen
Sache bin ich schuld, weil ich die Pistole nicht eingeschlossen habe.“ Frau
Eckert sagte mir darauf: „Beruhige Dich doch,
D u w a r s t d o c h
d i e g a n z e Z e i t
b e i m i r . “ - Der Angeklagte gibt auf Befragen zu, daß
er zu Sanitätsrat Dr. Scholz gesagt hat: „Können Sie Ursel nichts mehr geben,
damit sie wenigstens aussagen kann, was sie dazu bewogen hat?“ - Vors.: Das
soll geschehen sein, n a c h d e m Ihnen der Arzt gesagt hat, daß hier alle
ärztliche Kunst vorüber sei. - Angekl.: Wenn schon ich auch wußte, daß Ursel
vielleicht nicht mehr zu retten sei, so hatte ich den Arzt doch gebeten, ob er
sie nicht doch wenigstens noch einmal zum Bewußtsein erwecken könne. - Ein
Geschworener: Wie lange Zeit mag vergangen sein, bis der Arzt gekommen ist? -
Angekl.: Das können ungefähr 20 Minuten gewesen sein. - Justizrat Ablaß: Ist
die Wunde und das Gesicht der Ursula abgewischt worden? - Angekl.: Ja, die
Schwester hat mit einem nassen Handtuch der Ursula das Gesicht abgerieben. - Vors.:
Wie ist es möglich, daß die Pistole dahin gekommen ist? - Angekl.: I c h
w e i ß n i c h t , w e r
d e n R e v o l v e r m i t
n a c h K l e p p e l s d o r f g e n o m m e n h a t .
Das Fach, in dem der Revolver in meinem Schreibtisch lag, hatte ich für
meinen Bruder offen gelassen. I c
h h a b e U r s u l a
e i n m a l b e i d i e s e m
F a c h g e s e h e n und ihr einen Verweis erteilt und sie aus
dem Zimmer gewiesen. Ich nehme an, daß sie
d e n R e v o l v e r a n
s i c h g e n o m m e n und mit nach Kleppelsdorf genommen hat. -
Auf die Frage, ob der Angeklagte, als er abgeführt wurde, Frau Eckert und Frl.
Mohr zugerufen:
„Bleibt bei Euerer
Aussage!“
erwidert er,
d a s s e i w o h l
m ö g l i c h , bestreitet aber,
ihnen zugerufen zu haben, sie sollten aussagen, er sei während der Erschießung
im Zimmer gewesen und sei während der ganzen Zeit nicht vom Tische weggegangen.
Ein Heiratsantrag?
Mit aller Entschiedenheit verneint der
Angeklagte die Frage, ob er jemals Frl. Dorothea Rohrbeck einen Heiratsantrag
gemacht, obgleich der Vorsitzende ihm vorhält, verschiedene Zeugen würden das
Gegenteil bekunden. Ueber das Temperament der Ursula Schade befragt, erklärt
Grupen, sie habe zu Schwermut geneigt.
Die Oeffentlichkeit wird alsdann
ausgeschlossen, weil die Verhandlung zu dem von Grupen an seiner Stieftochter
verübten Sittenverbrechen übergeht.
Am Mittwoch begab sich das gesamte Gericht
nach Schloß Kleppelsdorf, um die genauen Räume des Schlosses kennen zu lernen.
Einen Riß dieser Räume bringen wir in unserer heutigen Nummer.
Freitag, den 9. Dezember 1921, „Norddeutsche
Nachrichten“
Ueberraschende
Wende im Kleppelsdorfer Prozeß.
Der gestrige Tag brachte im Kleppelsdorfer
Prozeß eine überraschende Wende zu ungunsten des Angeklagten. Die jetzt
12jährige Irma Schade bekundete, daß Grupen das Zimmer im ersten Stock, das er
die ganze kritische Zeit über nicht verlassen haben will, doch verlassen habe.
Diese Aussage ist für den Angeklagten, der bisher mit einer geradezu
imponierenden Kaltblütigkeit und Ruhe den Verhandlungen folgte, bei den
stundenlangen Erörterungen am frischesten von allen war, und Nerven von Stahl
zu haben scheint, von verhängnisvoller Schwere, denn seine ganze Verteidigung
basierte auf der Behauptung, daß er während der im Erdgeschoß verübten Mordtat
das Zimmer im ersten Stock nicht verlassen habe.
Diese Behauptung konnte bisher nicht
widerlegt werden. Anscheinend unter einer Art Suggestion hatte seine Stieftochter
Irma bisher erklärt, er sei mit ihr im ersten Stock gewesen und habe das Zimmer
nicht verlassen. Ihre jetzige gegenteilige Aussage ist umso verhängnisvoller
für Grupen, als im Lokaltermin festgestellt wurde, daß man von dem Zimmer im
ersten Stock die Treppe hinunter bis zum Mordzimmer und zurück eine knappe
Minute gebraucht, Grupen sich also nur auf ganz wenige Augenblicke aus dem
Zimmer entfernen brauchte, um die beiden Mädchen zu erschießen.
Freitag, den 9. Dezember 1921, „Norddeutsche
Nachrichten“
D e r K l e p p e l s d o r f e r P r o z e ß
wird in unserer Bevölkerung mit gespanntester Aufmerksamkeit verfolgt,
da der in H a s e l d o r f geborene, unter dem Verdacht des dreifachen
Mordes stehende Angeklagte seine Lehrzeit bei dem Maurermeister H a t j e
in S ü l l d o r f durchgemacht und die F o r t b i l d u n g s s c h u l e i n
D o c k e n h u b e n besucht
hat. Herr R e k t o r G r a b k e
ist als Leumundszeuge nach Hirschberg berufen worden.
Freitag, den 9. Dezember 1921, „Norddeutsche
Nachrichten“
Der
Doppelmord in Kleppelsdorf.
Hirschberg, 7. Dezember.
In der unter Ausschluß der Oeffentlichkeit
geführten Verhandlung bestritt Grupen entschieden, das ihm zur Last gelegte
Sittlichkeitsverbrechen an seiner dreizehnjährigen Stieftochter Ursula Schade
begangen zu haben.
Grupens
Vermögensverhältnisse
werden nach Wiederherstellung der
Oeffentlichkeit erörtert. Der Angeklagte, der bekanntlich das Maurerhandwerk
gelernt hat, macht folgende Angaben: er habe damals sparsam gelebt und etwas
zurückgelegt. 19191 erhielt er das väterliche Grundstück in H a s e l d o r f zum Geschenk, wogegen er sich zur Zahlung
einer jährlichen Rente von 1000 Mark an seine Eltern verpflichtete. Auf der
Vulkanwerft hat er sich insofern gut gestanden, alt er sich die Lebensmittel
zum Teil von Hause kommen lassen konnte. Dann ist er einige Zeit in der
Bootsbauerei seines Vaters tätig gewesen. In jener Zeit sind ihm vom Reiche
9000 Mark für den im Kriege verlorenen Unterarm ausgezahlt worden. Später hat
er durch Gutachten bei Grundstücksverkäufen Nebenverdienste gehabt. Als er Frau
Schade heiratete, hatte er ungefähr 20 000 Mark Vermögen.
Vors.: Sie haben Wertpapiere Ihrer Frau
verkauft. - Angekl.: Ich habe mich dafür für berechtigt gehalten, weil meine
Frau mein Vermögen mitgenommen hat. - Vors.: Haben Sie nicht auch den B r i l l a n t s c h m u c k I h r e r
S c h w i e g e r m u t t e r
verkauft? - Der Angeklagte setzt auseinander, daß er den Schmuck bei
einem Pfandleiher in Hamburg nach seiner Meinung für 5000 Mark verpfändete; er
wollte den Schmuck wieder abholen und dann auf der Bank deponieren. - Vors.:
Nachdem Ihre Frau fort war, haben Sie auch ihr Pelzjackett und ihren
Regenmantel in Hamburg verpfändet. - Der Angeklagte bestätigt dies. -
Staatsanwalt: Ich werde auch unter Beweis stellen, daß der Angeklagte auch
die R i n g e seiner verschwundenen Frau verkauft hat. -
Auf die Frage des Vorsitzenden gibt der Angeklagte zu, das S i l b e r
seiner Frau, etwa 5-8 Kilogramm, verkauft zu haben.
In der
B e w e i s a u f n a h m e wird
als erste Zeugin
die
Erzieherin Fräulein Bertha Zahn
aufgerufen. Die 42jährige Dame erscheint in
Trauerkleidung. Sie bekundet: Im Frühjahr 1905 kam ich als Hausdame und
gleichzeitig als Erzieherin der Dorothea Rohrbeck, die 1 ¼ Jahre alt war, nach
Kleppelsdorf. Damals lebte Herr Rohrbeck noch. Dörtes Mutter war ein
Vierteljahr nach der Geburt ihres Töchterchens gestorben. Vorher war Frau
Eckert ein Jahr im Hause. Ich hatte das Gefühl, daß Frau Eckert mich nicht gern
kommen sah. 1914 erkrankte Herr Rohrbeck. Wir begleiteten ihn nach Schandau in
ein Sanatorium, wo ich seine Pflege übernahm. Als er starb, hinterließ er als
Erbin seine einzige Tochter.
Das
Erbe
bestand aus dem Rittergut Kleppelsdorf nebst
Vorwerken sowie einer Besitzung in Tempelhof. Etwa 1 300 000 Mark Barvermögen
waren vorhanden. Herr Rohrbeck hatte in seinem Testament vom März 1912
Herrn V i e l h a c k a l s
V o r m u n d seiner Tochter
eingesetzt. Das Testament erhielt auch einen Nachtrag ungefähr folgenden
Inhalts: „Ich bestimme hierdurch, daß über die Ausbildung, Erziehung und den
Aufenthalt meiner Tochter Dorothea lediglich Frl. Zahn zu bestimmen hat und
zwar im Einverständnis mit dem Vormund.“ - Die Zeugin bestätigt, daß der
verstorbene Rohrbeck ihr während seiner Krankheit einen Heiratsantrag gemacht
habe, daß es aber nicht zur Heirat gekommen sei. Mit dem Vormund Vielhack sei
sie in Differenzen gekommen. Er setzte
das
Haushaltsgeld
auf m
o n a t l i c h 1 0 0 0 M a r k
fest. Davon mußte ich sämtliche Ausgaben des Haushaltes, der Erziehung,
des Unterrichts und die Gehälter der Hausangestellten, die Kleidung, die Reisen
usw. bezahlen. Die Lehrerin bekam damals - es war im Sommer 1916 - 100 Mark
monatlich. Die Gehälter machten die Hälfte meiner sämtlichen Ausgaben aus.
Obwohl die Lebensmittelpreise stiegen, wurden meine Ausgaben auf w ö c h e n t l i c h 1 2 0
M a r k festgesetzt. Davon
brauchte ich allerdings die Gehälter nicht zu bezahlen. Vom 1. Oktober 1920 ab
erhielten wir w ö c h e n t l i c
h s o g a r n u r
1 0 0 M a r k ! - Vors.: Die Millionenerbin von Kleppelsdorf
erhielt also wöchentlich 100 Mark für den Haushalt, und es wurde von Ihnen
verlangt, davon noch die Wirtschafterin und zwei Mädchen zu bezahlen! - Frl.
Zahn: Die Gehälter machten monatlich 250 Mark aus, sodaß mir ganze 150 Mark für
den Haushalt übrig blieben. - Vors.: Wie kam der Vormund dazu, zu sagen, daß
Sie verschwenderisch gelebt hätten. - Frl. Zahn: Das weiß ich nicht. Wir hatten
den Vormund gebeten um Mittel zur Anschaffung eines Konfirmationskleides. Das
hat er zurückgewiesen. Da gingen wir aufs Vormundschaftsgericht und es wurde
mit gesagt, i c h s o l l t e
a u s d e n a l t e n
G e s e l l s c h a f t s a n z ü g e n
d e s V a t e r s e i n
K o n f i r m a t i o n s k l e i d
m a c h e n . - Vors.
(erstaunt): Aus den alten Gesellschaftsanzügen des Vaters? Wer hat Ihnen das
gesagt? Der Vormundschaftsrichter? - Frl. Zahn: Ja. Ich habe nun einen Antrag
gestellt, und mit Unterstützung des Vormundschaftsrichters haben wir
schließlich 800 Mark erhalten. Mit den 800 Mark habe ich nicht gereicht, denn
Dörte brauchte außer dem Konfirmationskleid ein Paar Stiefel und einige
Wäschestücke. Leibwäsche hatte ich ihr selbst aus Kinderbettwäsche genäht. Dann
wollten wir auch dem Geistlichen etwas geben, aber das Vormundschaftsgericht
schrieb, das sollte ich alles von dem Hausstandsgeld nehmen. Ich habe die noch
notwendigen Sachen zum Teil aus eigenen Mitteln bestritten. - Vors.: Haben Sie
sich in Ihrer Not nicht an Verwandte gewendet? - Frl. Zahn: Ja, ich hatte an
Herrn P i n g e l geschrieben. Der hat es nicht für richtig
gefunden, daß ich mir Geld borge. Aber ich wußte nicht, was ich machen sollte.
Er hat mir auch einmal Geld geschickt. - Die Frage eines Geschworenen, ob Frl.
Zahn in ihrer Not und Bedrängnis sich auch an einen ehemaligen Offizier in Lähn
gewandt habe, ihr ein Darlehen gegen Bürgschaft zu verschaffen, bejaht die
Zeugin, und fährt fort: Im Juli 1920 wollten wir eine Verwandtenreise antreten,
weil Dörte noch niemals zu ihren Verwandten gekommen war, außer zu ihrer
Großmutter in Berlin. W i r b a t e n d e n
V o r m u n d u m R e i s e g e l d . D a s
l e h n t e e r a b .
Da wandten wir uns an den jungen Herrn Pingel, der uns 2000 Mark sandte.
Am Tage vor der Beerdigung Dörtes hat sich der junge Herr Pingel, der aktiver
Offizier in Hannover war, erschossen.
In
Itzehoe und Ottenbüttel.
Wir fuhren am 27. oder 29. Juli zunächst zur
Großmutter nach Itzehoe. Wir wurden sehr herzlich, ganz gegen mein Erwarten,
aufgenommen. Am nächsten Tage entschloß sich
G r u p e n , mit uns einige
Tage nach Hamburg zu fahren, um uns die Stadt zu zeigen. Auch damit waren wir
gern einverstanden. Ich hatte den Eindruck von Grupen, daß an Geld nicht
gespart zu werden brauchte. Dörte bekam gleich am ersten Morgen in Itzehoe ein
Paar Stiefel. Ich sollte mir auch Geschenke wünschen. Als ich mir in Hamburg
eine Bluse kaufte und sie an der Kasse bezahlen wollte, bat mich Grupen, ihm
die Freude zu bereiten, die Bluse bezahlen zu dürfen. - Vors.: Hat Ihnen der
Angeklagte oder seine Frau nicht einen Gegenbesuch versprochen? - Frl. Zahn:
Ja, beide wollten im September kommen. Anfang September kam aber nur Grupen. Er
sagte, seine Frau wäre mit dem Umzug nach Ottenbüttel noch nicht fertig. In
Kleppelsdorf gab er mir 1000 Mark zur Bezahlung von zwei dringenden Rechnungen.
Später habe ich Geld in Raten von ihm erhalten, zusammen 4200 oder 4800 Mark.
Grupen wollte sich als Sommerfrischler in Kleppelsdorf niederlassen, um die
Verhältnisse der beiden Vormünder zu erkunden. Nach zwei Tagen fuhr er aber
wieder weg. Er sagte, in nächster Zeit würde seine Frau kommen. Am 20. September
erhielt ich auch die Nachricht: „ T r u
d e g e s t e r n a b g e r e i s t . “ Wir erwarteten Frau Grupen am 20.,
nachmittags 4 Uhr, in Hirschberg. Da sie aber nicht eintraf, nahmen wir an, daß
sie sich in Berlin verweilt habe und später kommen würde. Auf unsere Mitteilung
an Grupen, daß seine Frau nicht gekommen sei, erhielten wir von ihm die
telegraphische Antwort: „ K o f f e
r n o c h h i e r . “
Einige Tage später erschien Grupen wieder in Kleppelsdorf und erzählte
mir, daß seine Frau häufig von Amerika gesprochen habe und wahrscheinlich nach
Amerika gegangen sei. Er brachte Abschiedsbriefe seiner Frau zum Vorschein,
darunter ein an Dörte gerichtetes Schreiben. - Der Vorsitzende ordnet die Verlesung
des Briefes an, welcher lautet:
„Ottenbüttel, 12. 9. 1920.
Liebe Dörte!
Ich sende Dir vor meiner Abreise nach Amerika
noch einen Abschiedsgruß und wünsche Dir, daß sich Dein Leben in Zukunft sonnig
gestalten möge. Es wäre wohl das beste, ein lieber, guter Mann, der Dir mit Rat
und Tat zur Seite steht. N i m m D i r
O n k e l P e t e r a l s
g u t e s B e i s p i e l , der sehr viel verloren hat und jetzt viel
verlieren wird und dennoch alle Lebensstürme überwindet.
Die herzlichsten Grüße von Deiner
Tante Gertrud.“
Es werden dann die Abschiedsbriefe der Frau
Grupen verlesen, die in der Kassette des Angeklagten gefunden wurden. Sie
sprechen sämtlich von der Absicht der Frau, nach Amerika zu gehen. Diese
Schriftstücke sollen den Schreibsachverständigen zur Begutachtung vorgelegt
werden, ob sie von der Hand der Frau Grupen herrühren.
Die Zeugin schildert dann die Fahrt mit
Grupen und Dörte von Berlin aus nach Hamburg und die gestern eingehend
geschilderte Fahrt auf dem Alsterbassin. Sie hat zunächst den Eindruck gehabt,
daß sie der Angeklagte mit dem Rudern gegen die Dampferwellen ängstigen wollte.
Deshalb habe sie auch Dörte das zweite Mal allein mit Grupen fahren lassen.
Nach dieser zweiten Fahrt habe ihr allerdings Dörte gesagt,
daß sie
eine furchtbare Angst gehabt und Grupen
ein
ganz merkwürdiges Wesen gezeigt habe.
Aber damals sei auch Dörte noch der Ansicht
gewesen, daß Grupen diese Gefahr nicht absichtlich herbeigeführt habe. Im
November hat allerdings dann Dörte gesagt:
„Paß
auf, Grupen trachtet uns nach dem Leben.“
In Hamburg erklärte plötzlich Grupen, er
müsse nach Kiel zu seiner kranken Mutter fahren, er werde das Geld, das er den
Damen versprochen habe, mit der Post senden. Dieses Geld ist aber nie
angekommen, denn Grupen hat es, wie er auch gestern zugegeben hat, gar nicht
abgesandt. Trotzdem hat er dann noch immer behauptet, er habe den Betrag auf
der Bank erhoben und bei der Post eingezahlt, er müsse also auf der Post
verloren gegangen sein.
Wie die Zeugin weiter behauptet, sandte
Grupen am 1. November telegraphisch 500 Mark mit der Aufforderung, am nächsten
Tage nach Berlin zu kommen. Auf dem Görlitzer Bahnhof kam Grupen sehr spät an,
als die Damen schon in der Stadt Quartier suchen wollten. Er war im Auto und
nötigte die Damen fast gewaltsam s o f
o r t m i t n a c h
H a m b u r g und von dort nach I t z e h o e zu fahren, da der dortige Rechtsanwalt für
ihn eine „Vollmacht zu einem Familienrat“ ausstellen solle, was aber „nur in
ihrer Gegenwart“ geschehen könne. Auf dem Lehrter Bahnhof stiegen sie in ein
Abteil, das v e r s c h l o s s e
n war, das Grupen aber öffnete, sodaß
die drei in einem Abteil allein waren, was der Zeugin nicht gefiel. Als Grupen
mit Dörte allein reiste, hat er dasselbe getan, er wurde aber damals von dem
Schaffner aus dem Abteil gewiesen. In Hamburg erklärte Grupen, daß er in
geschäftlicher Angelegenheit n a c
h K i e l fahren müsse, und er forderte sie zur
Mitfahrt auf, damit sie sich allein in Hamburg nicht zu sehr langweilten.
Der Angeklagte blieb dabei, die Damen nach
Hamburg nur deshalb mitgenommen zu haben, weil er nun dort das Geld flüssig
machen konnte und die Damen nicht die Zusendung des Geldes durch die Post oder
die Bank gewünscht hätten.
Vors.: Der Angeklagte hat behauptet, daß er deshalb
mit Ihnen nach Kiel gefahren ist, weil ihm der Aufenthalt mit Ihnen in Hamburg
zu teuer gewesen, da Sie zu hohe Ansprüche stellten. - Die Zeugin bestreitet
dies entschieden.
Auf der Fahrt nach Kiel waren die Drei in
vergnügter Stimmung.
Frl. Zahn erzählt dann weiter: Als wir von
Kiel nach Hamburg zurückgekehrt waren,
f ü h r t e n u n s G r u p e n
i n s e i n e P r i v a t w o h n u n g , was Dörte und mir nicht gefiel, aber wir
fürchteten, daß wir die Hotelrechnung nicht würden bezahlen können, wenn wir
seiner Einladung nicht folgten. Die Pension
H a s s e l b r o o k s t r a ß e
3 7 machte auf die Damen einen
sehr befremdenden und unheimlichen Eindruck. Als Grupen dort in der Nacht nach
Hause kam, klopfte er an unsere Zimmertür; wir haben aber nicht geantwortet. Am
nächsten Morgen sandte er mir eine Visitenkarte, auf der stand, daß er zu einer
wichtigen Besprechung müsse. Später erhielt dann Dörte einen Brief von ihm, in
dem er mitteilte, daß er s e i n g a n z e s
V e r m ö g e n v e r l o r e
n habe, was sie veranlaßte, sofort nach
Kleppelsdorf zurückzukehren. Sie hätten ihn sehr bedauert, trotzdem habe Dörte
eine starke Antipathie gegen ihn gehabt, die zunahm, als sich herausstellte,
daß er als Gegenzeuge in dem Erbschaftsprozeß gegen sie ernannt sei. Grupen sei
Frl. Rohrbeck d i r e k t u n h e i m l i c h gewesen, weil sie das Gefühl gehabt, daß er
ihr n a c h d e m
L e b e n t r a c h t e t e .
Der
letzte Besuch auf Kleppelsdorf.
Frl. Zahn sagt weiter aus, daß Grupen, von
dem man dann länger nichts gehört, plötzlich sich für den 9. Februar in
Kleppelsdorf anmeldete, wider Erwarten aber auch die Großmutter, die Stütze
Mohr und die beiden Kinder Irma und Ursula mitbrachte. Da sie so zahlreich
eintrafen, wurden sie sehr kühl aufgenommen. Bis zum 14. Februar war Grupen
ständig im Hause, blieb, trotzdem viele Gäste kamen, im Hintergrunde und kam
nur auf besonderen Wunsch zum Vorschein. Er fragte gelegentlich, ob sie immer
die Türen zuschlössen. E r k ö n n e j e d e
T ü r a u f m a c h e n . D a s
A n g s t g e f ü h l g e g e
n i h n s e i
d a d u r c h b e i i h n e n
g e s t i e g e n .
Als der Angeklagte fragte, weshalb sie trotz
dieses Unbehagens 1000 Mark von ihm annahmen, erwidert die Zeugin, Grupen habe
es ihnen förmlich aufgedrängt, und man habe es schließlich genommen, weil die
vielen Gäste größere Ausgaben verursachten.
Am Mittwoch war
Lokaltermin
auf Schloß Kleppelsdorf, zu dem sich die
Teilnehmer in mehreren Automobilen begaben. Eine große Menschenmenge stürzte
mit gellenden Rufen:
„Mörder“,
„Schlagt den Halunken tot“,
auf Grupen zu und wollte die Fenster des
Wagens, in den ihn die Beamten schnell hineinzogen, zertrümmern. Auch andere
Prozessbeteiligte, Richter sowie die Pressevertreter, kamen durch die drohende
Haltung der Menschenmenge in Gefahr. Es gelang dem Polizeiinspektor Ripke nur
unter großer Mühe, die schweren Gebirgswagen in Bewegung setzen zu lassen.
Grupen selbst verhielt sie g a n z k a l t ,
als ginge ihn das alles nichts an. Bei dem Eintreffen in das Schloß
veränderte sich die Gesichtsfarbe des Angeklagten in ganz merklicher Weise.
Das im Parterre liegende
Mordzimmer,
das sogenannte Gästezimmer, wird betreten.
Die Zeuginnen Mende und Hirsch müssen die Lage demonstrieren und angeben, wie
sie die Leichen gefunden.
Der Sachverständige Dr. Peters erklärt, daß
Dorothea Rohrbeck einen Schuß in die Brust, einen zweiten ins Genick und Ursula
einen sogenannten Steckschuß über dem rechten Auge erhalten.
Die Mende hat als erste das Mordzimmer
betreten, die am Boden liegende Rohrbeck am Arm gefaßt und bei Namen gerufen.
Frl. Zahn behauptet, Dörte habe noch geatmet.
Von ganz besonderem Interesse ist die Aussage dieser Zeugin, daß die Tür die
vom Mordzimmer ins Eßzimmer führt, s t
e t s v e r s c h l o s s e n g e h a l t e n sei, die Fenster der Veranda jedoch von
innen geöffnet werden können.
Der Vorsitzende bemerkt, die Anklage nehme
an, Grupen habe vermutlich die Tür abgeschlossen,
um
seinen Opfern eine Fluch unmöglich zu machen.
Grupen greift in die im Mordzimmer geführten
Verhandlungen lebhaft ein und beantragt, daß die Entfernung zwischen der Lage
der Leichen und den aufgefundenen Patronenhülsen gemessen wird.
Das Gericht begibt sich dann ins Obergeschoß,
stellt fest, wo und an welchen Stellen sich zur Zeit der Bluttat Grupen, Frl.
Zahn, Frau Eckert und Frl. Mohr sowie die kleine Irma Schade aufhielten,
wobei d i e P e r s o n e n g e n a u
s o g e s e t z t w e r d en , wie es zur Zeit der Tat der Fall gewesen.
Auch die damals gewechselten Worte werden wiederholt und ferner die Zeit
gemessen, die der Angeklagte gebraucht haben müßte, um aus dem oberen Stock zu
dem Mordzimmer im Erdgeschoß hin und zurück zu gelangen. Auch S c h i e ß v e r s u c h e wurden im Mordzimmer noch vorgenommen.
Während einer kleinen Mittagspause wurden die
am Prozeß beteiligten Personen von dem jetzigen Besitzer des Schlosses, Herrn
Pingel, zu einer kleinen Mahlzeit eingeladen, an der auch Grupen teilnahm.
Nach dem Mittagsessen sagt der Postarbeiter
Grimmig, der seit zehn Jahren im Rohrbeckschen Hause verkehrt und mit allen
Verhältnissen vertraut war, aus, er sei am Mordtage mit der vorgefaßten Meinung
nach Schloß Kleppelsdorf gekommen, daß Grupen der Mörder sei. Er habe sich
daher auch seinen Browning mitgenommen, in der Absicht,
den
Täter auf der Stelle niederzuknallen,
wenn er etwa wagen würde, ihm
gegenüberzutreten. Wenn er nicht mit dieser vorgefaßten Meinung erschienen
wäre, hätte er Grupen nicht für den Täter gehalten, denn der Angeklagte war
auffallend ruhig. - Der Zeuge bestätigt dann noch, daß wiederholt davon
gesprochen worden sei, G r u p e n t r a c h t e d e r
D ö r t e n a c h d e m
L e b e n , und ebenfalls
darüber, daß sich die Dame vor dem Angeklagten fürchte. - Bemerkenswert ist die
Aussage Grimmigs über die F r a u E c k e r t
(Grupens Schwiegermutter), die an dem Schreckenstage in Kleppelsdorf
gewesen. Zeuge erklärt, daß diese Frau beim Anblick der beiden
niedergeschossenen Enkel von einer geradezu merkwürdigen R u h e
gewesen sei. Das
merkwürdige
Benehmen der Großmutter
ist auch dem Zeugen Oberwachtmeister Klapper
aufgefallen. Aufgefallen ist ferner, daß er Grupen dreimal bitten mußte, er
möge ihr helfen, die getötete Dorothea Rohrbeck auf das Bett zu legen. Zeuge
hat das Gefühl gehabt, als ob es die S
c h e u d e s T ä t e r s
wäre vor dem Opfer, als ob der Täter
A n g s t habe, das Opfer anzufassen.
Sonnabend, den 10. Dezember 1921,
„Norddeutsche Nachrichten“
Die
Zeugin Mohr auf Grupens Seite
Im K
l e p p e l s d o r f e r M o r d p r o
z e ß wurde am Freitag die S t ü t z e
M o h r vernommen, die am 9.
Februar mit Grupen, den beiden Kindern und der Großmutter nach Kleppelsdorf
kam. Sie stand zu Grupen in einem i n t
i m e n V e r h ä l t n i s und wurde daher zunächst nicht vereidigt.
Auf die Frage des Vorsitzenden, ob Grupen am Tage des Mordes zur kritischen Zeit
das Zimmer verlassen habe, gibt die Zeugin eine v e r n e i n e n d e A n t w o r t und bleibt auch dabei, als ihr vorgehalten
wird, daß die kleine Irmgard Rohrbeck (richtig:
Irmgard Schade!) in der gestrigen Verhandlung das Gegenteil aussagt. Sie
erklärt weiter, Grupen habe ihr gesagt, sie solle die Wahrheit aussagen, dann
werde er bald frei sein.
Dann wird der Vormund der ermordeten Dorothea
Rohrbeck, H a u p t m a n n V i e l h a c k , Charlottenburg, vernommen. Er gibt an, wie
es zu den Differenzen zwischen ihm und der Erzieherin gekommen ist, die seiner
Ansicht nach z u v i e l
G e l d verbraucht habe. Der
Vorsitzende meint, daß ihr für die Wirtschaftsführung und die Erziehung der
Dorothea Rohrbeck n i c h t g e n ü g e n d M i t t e l
zur Verfügung gestellt wurden. Was der Zeuge sonst noch vorbringt,
stellt sich als beweisloses Gerede heraus. Er gibt auch selbst zu, daß er gerne
größere Geldmittel zur Verfügung gestellt hätte, wenn nicht Fräulein Zahn die
Erziehung geleitet hätte.
Sonnabend, den 10. Dezember 1921,
„Norddeutsche Nachrichten“
Der
Doppelmord in Kleppelsdorf.
Im Laufe der Sitzung am Donnerstag ergab sich
zunächst ein heiter wirkendes Zwischenspiel dadurch, daß bekannt wurde, in wie
umfangreicher Weise sich der Angeklagte mit
H e i r a t s p l ä n e n
beschäftigt hat. Gelegentlich der Schlußvernehmung : „Was würdet Ihr
eigentlich hier in Kleppelsdorf sagen,
wenn
ich die alte Großmama heiraten würde?“
(Große Heiterkeit.) - Zeugin: Jawohl, das hat
Herr Grupen tatsächlich gesagt. - Vors.: Wann war denn das? - Zeugin: Das war,
wie ich mich genau erinnere, a m T a g e
v o r d e r T a t . -
Vors.: Wie war denn überhaupt das Verhältnis zwischen der
siebzigjährigen Frau Eckert und ihrem jugendlichen Schwiegersohn? - Zeugin: Es
war ein
besonders
zärtliches Verhältnis.
Frau Eckert sprach sich sehr oft anerkennend
über Herrn Grupen aus, und er hat sie seinerseits mehrfach auf das h e r z l i c h s t e g e s t r e i c h e l t . - Vors.: Und außer dem Plan mit der Großmama,
den Sie wohl nicht ernst genommen haben, hat er auch zu Ihnen eine Art
Heiratsantrag gemacht? - Zeugin: Einen direkten Antrag nicht, aber er sprach so
darüber weg in ähnlichem Sinne. Aber ich habe auch das nicht ernst genommen. -
Oberstaatsanwalt: Hielten sie das ganze Verhältnis zwischen Grupen und der
Großmutter für ein ungewöhnliches? - Zeugin (nach längerem Besinnen): Ich weiß
nicht, wie ich mich darauf kurz äußern soll, aber das kann ich wohl sagen, ein
solches Verhältnis zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn habe ich n o c h
n i c h t g e s e h e n . - Vors.: Der Angeklagte soll auch mal an die
kleine Ursula in Bezug auf Heiratspläne seinerseits gedacht haben. - Zeugin:
Jawohl, das ist auch richtig. (Erneute große Heiterkeit.) - Justizrat Dr.
Mamroth: Fräulein Zahn, Sie nahmen wohl aber den Ausspruch, die alte Großmama
heiraten zu wollen, die mehr als 70 Jahre alt ist, nicht ernst. - Zeugin: Nein,
das habe ich allerdings nicht ernst aufgefaßt. - Vors.: Außer diesen
Heiratsgeschichten haben auch religiöse Gespräche stattgefunden. Sie sollen
religiös sein, und an Gott glauben, Grupen dagegen nicht. - Zeugin: So genau
weiß ich das nicht, was Grupen eigentlich denkt und woran er glaubt, aber als
höchste Macht erkannte er, wie er einmal im Gespräch äußerte, n u r
d i e L i e b e an. - Vors.: War Ihnen eigentlich bekannt,
daß die kleine Ursula krank war? - Zeugin: Jawohl. Die Großmutter äußerte
übrigens: „Es ist doch sehr schön, daß Peter (der Angeklagte) das Kind selbst
behandelt.“ - Oberstaatsanwalt: Faßten Sie den Plan, die Kinder
zusammenzulassen, weil sie so gut standen? - Zeugin: Nein, nicht direkt
deshalb: ich wollte, daß Ursula, deren ganzer Zustand mir als nicht günstig
auffiel, lebhafter, freier werden sollte. Ihr Bedrücktsein sollte weichen.
Jedenfalls standen die beiden aber durchaus gut, und Ursulas Sorgen müssen
andere Ursachen, als etwa aus dem Verkehr mit Dörte herrührend, gehabt haben. -
Die
Vorgänge
am Mordtage
schildert Frl. Zahn folgendermaßen: Als
Ursula rief: „Dörte, komm doch mal runter!“ sei ihr das aufgefallen, weil das
in der ganzen Art und um diese Mittagsstunde
e t w a s u n g e w ö h n l i c
h war. Sie hat dann im Nebenzimmer
Türen hören gehen, aber keine Schritte vernommen. Da sie Dörte gebraucht habe,
so rief sie in das Nebenzimmer, wo G r
u p e n mit den übrigen Personen am
Mühlebrett saß: „Irma, sieh doch mal nach, wo Dörte ist.“ Grupen habe darauf
gerufen: „Dörte wird gleich kommen.“ Darauf erschien Irma wieder und erklärte,
sie könne Dörte nicht finden. Bald darauf kam das Dienstmädchen Mende und bat
um eine Schüssel. Ich ging daher durch das Winterwohnzimmer in den Saal. G r u p e n s a h
m i c h b e i d i e s e r
G e l e g e n h e i t d u r c h
d r i n g e n d a n , was mir sofort auffiel. Ich gab dem Mädchen
die Schüssel und arbeitete dann weiter. Bald darauf kam das Mädchen zurück und
sagte: das Essen sei fertig. Ich erteilte ihr darauf den Auftrag, Dörte zu
rufen. Gleich darauf hörte ich Schritte und Schreien. Luise rief:
„Die
Kinder liegen ja im Blut.“
Leider kam ich erst als Letzte in das
Mordzimmer, da ich verstanden hatte, sie liegen in dem entfernten Herrenzimmer und
mich dorthin begab. Als ich hinauslief, um in das richtige Zimmer zu gelangen,
kam mir G r u p e n entgegen und schrie: „ A c h
B e r t i , d i e K i n d e r ! “ - Vors.: Hat der Angeklagte, während Irma nach
unten ging, mit Ihnen gesprochen? - Zeugin: Ja, das fiel mir gerade besonders
auf, daß er s o s e h r
a n r e g e n d s p r a c h u n d
l e b h a f t w a r , da es sich doch um ganz belanglose Sachen
handelte. So fragte er mich unter anderem, ob ich wüßte, was auf Hamburgisch
„Küßchen" heißt. - Vors.: Als nun die Türen gingen, haben Sie aber nicht
gesehen, wer hinausging? - Zeugin: Nein. - Vors.: Da es außerordentlich
wesentlich ist, i n w e l c h e r R e i h e n f o l g e sich die Dinge abgespielt haben, so wiederhole
ich alle Ihre Aussagen wie folgt: Dörte wurde gerufen, dann gingen Türen, es
folgte der Ausspruch an Irma, die Dörte zu suchen, und hierauf kam das
auffallende Gespräch von Grupen. - Die Zeugin bestätigt das. -
Oberstaatsanwalt: Ist es richtig, daß Dörte zu einer Hochzeit wollte und sich
auf ihr erstes weißes Kleid bei dieser Gelegenheit freute? Dieses Kleid haben
Sie ihr dann als T o t e n k l e i
d in das Grab gegeben? - Zeugin:
Jawohl. Zeugin schildert dann
Grupens
Aufregung bei den Leichen
und seine immer wiederholte Bitte, Ursula zu
retten, damit sie erklären könne, wer der Täter sei. Sie habe schließlich G r u p e n s W e i n e n
u n d d a s d e r
G r o ß m u t t e r nicht länger
ansehen können und beide in das Nebenzimmer gehen lassen, wobei ihr Grupen die
Hände lebhaft entgegenstreckte, die sie aber nicht annahm. - Auf eine Frage des
Professors Schneidemühl, ob Ursula ein launenhaftes Kind war, meint die Zeugin,
daß dies nicht der Fall war. Sie war leicht umzustimmen, nicht vorlaut und noch
recht kindlich.
Es wurde sodann beschlossen, die B r i e f e
d e s A n g e k l a g t e n dem Geheimrat Dr. Moll-Berlin und dem
Professor Schneidemühl zur Prüfung zu überreichen, weil der Verdacht besteht,
daß der Angeklagte d i e A b s c h i e d s b r i e f e s e i n e r
F r a u v i e l l e i c h t s e l b s t
g e s c h r i e b e n haben
könnte, oder sie beeinflußt habe. Es wird bei dieser Gelegenheit bekannt, daß
Grupen im Untersuchungsgefängnis sich auch mit dem Anfertigen von G e d i c h t e n befaßt habe. - Der Angeklagte will diese
Sachen mit überreichen, was jedoch als überflüssig bezeichnet wurde.
Die
Vernehmung der elfjährigen Irmgard.
Es soll jetzt die mit großer Spannung
erwartete Vernehmung der I r m g a r
d S c h a d e folgen. Der Oberstaatsanwalt bittet, während
dieser Aussage den Angeklagten abführen zu lassen. - Justizrat Dr. Ablaß sieht
dazu keinen Grund. - Vors.: Wir haben gestern auf dem Lokaltermin gesehen, wie
Irmgard ä n g s t l i c h w e i n t e , als sie den Angeklagten sah, sodaß ich ihn
deshalb vorübergehend abtreten ließ. - Der Gerichtshof beschließt darauf, die
Vernehmung i n A b w e s e n h e i t d e s
A n g e k l a g t e n
vorzunehmen, der darauf abgeführt wird. Hierauf betritt Grupens
Stieftochter den Saal. Die Kleine macht einen sehr ungezwungenen Eindruck, und
sie tritt recht munter auf den Vorsitzenden zu, nachdem sie sich allerdings
vergewissert hatte, daß der Stiefvater nicht zugegen war. Bevor noch der Vorsitzende
in die eigentliche Verhandlung eintritt, sagt sie ziemlich l a u t
z u m R i c h t e r t i s c h hinüber:
Er kam
hinter mir her!
Vors.: Klein-Irmgard, nicht so hastig, darauf
kommen wir noch. Sage mal zunächst: Hatte euch der Stiefvater eigentlich lieb?
- Zeugin: Manchmal war er recht gut, manchmal aber schlug er uns auch. - Vors.:
Wen hatte er denn besonders lieb? - Zeugin: Die Ursel, denn sie half ihm immer
wegen seines Armes. - Vors.: Eure Mama fuhr doch eines Tages mal fort und ist dann
nicht wiedergekommen. Wie war denn eigentlich der Abschied? - Zeugin: Na so,
als wenn sie ein paar Tage fort wollte. - Vors.: Hat sie euch geküßt? - Zeugin:
Ja, sie sagte beim Kaffee: „Ich muß schnell fort.“ - Vors.: Hat denn euer
Stiefvater immer mit euch gebetet? - Zeugin: Ja, das hat er getan, und als
Mutti weg war, schlief Vater bei uns mit. (Die Zeugin gebraucht übrigens n u r
e i n m a l an dieser Stelle das
Wort „ V a t e r “ in Bezug auf den Angeklagten; im übrigen
nennt sie ihn ausschließlich „ e r “ )
- Vors.: Hast Du überhaupt einmal einen
Revolver gesehen? - Zeugin: Nein. - Vors.: Als ihr nun nach Kleppelsdorf fuhrt,
da hast du doch in der Eisenbahn auf Ursulas Schoß geschlafen. H a s t
d u d i c h d a
i r g e n d w o a n e i n e r
P a t r o n e n t a s c h e g e
d r ü c k t ? - Zeugin (nach langem
Besinnen): N e i n . (Eine nicht unbedeutende Bekundung, weil
Grupen erklärt hatte, Ursula müsse den Revolver und die Patronen heimlich in
ihren Kleidern verborgen mit nach Kleppelsdorf gebracht haben.) - Vors.: Oder
hast du mal im Schubfach in Kleppelsdorf, wo ihr eure Sachen beieinander
hattet, Patronen oder einen Revolver gesehen? - Die kleine Zeugin guckt mit
großen, fragenden Augen in den Saal und sagt dann fest: N e i n ,
n i e m a l s . - Sie schildert
dann die bekannten Vorgänge am Mordtage und meint: G r o ß m u t t i h a t ,
w ä h r e n d w i r M ü h l e
s p i e l t e n , e i n N i c k e r c h e n g e m a c h t.
Eine
Bekundung von außerordentlicher Bedeutung.
Es folgt nun eine Bekundung der Irmgard
Schade, die von außerordentlicher Bedeutung ist und im Saal die größte Erregung
hervorrief. Obwohl einige der Prozeßbeteiligten sehr nahe an das Kind
herantraten, um jedes Wort deutlich aufzunehmen und sie der Vorsitzende mit
väterlichen Worten immer wieder zur strengen Wahrheit ermahnte, blieb Irmgard
bei ihrer Behauptung, die auf folgendes hinauslief:
Der Vater habe sie von dem Zimmer, in dem Mühle gespielt
wurde (also kurz vor der Tat), zur Toilette hinausgeschickt, damit sie einen
Apfel, der schlecht war, wegwerfe. Als sie aus dem Zimmer heraustrat, „ging
er“, sagt die Zeugin frei und bestimmt, „hinter mir her“.
Im Zuhörerraum und auch auf den Bänken der
Geschworenen macht sich bei diesen Bekundungen deutlich g r o ß e
E r r e g u n g bemerkbar. Man
folgt den weiteren Erzählungen der Kleinen in atemloser Spannung. Nachdem sich
die erste Erregung etwas gelegt hat, erklärt Justizrat Dr. Mamroth: Ich stelle
fest, daß die kleine Zeugin, obwohl sie doch schon mehrfach vernommen wurde, so
auch auf Schloß Kleppelsdorf, b i s h e
r e i n e d e r a r t i g e A u s s a g e n i c h t
g e m a c h t hat. Die Erzählung
von dem Nachkommen des Vaters ist v o l
l k o m m e n n e u . - Justizrat Dr. Ablaß: Als die kleine heute
morgen in den Saal trat, rief sie instinktiv: „Er kam hinter mir her“, das ist
uns allen ja aufgefallen. Offenbar legte sie besonderen Wert darauf, dies heute
zu bekunden. - Vors.: Es ist allerdings vollkommen neu, erklärt sich vielleicht
aber daraus, daß die Kleine beim Lokaltermin auf Schloß Kleppelsdorf sich
schärfer an die damaligen Vorgänge erinnert hat. - Vors. (zur Zeugin):
Klein-Irmgard, du sagst uns doch auch die volle Wahrheit? Du weißt doch, daß es
eine große Sünde vor Gott und den Menschen ist, zu lügen! Hat dir irgend jemand
gesagt, daß du das bekunden sollst? - Die Zeugin erklärt schließlich, daß sie
sich in der Tat auf Kleppelsdorf an die damaligen Vorgänge erinnert habe, auch
schon im Sommer, als sie schon einmal da war. Sie wohnt jetzt bei Frau
Rittmeister Lux, und diese habe ich gestern gesagt: „ W e n n
d u d a s g e n a u
w e i ß t , m u ß t d u
e s a u c h s a g e n . “ - Auf alle Vorhaltungen seitens der Verteidigung
und des Oberstaatsanwalts
bleibt die Zeugin
fest bei ihrer Bekundung, wonach der
Vater ihr in dem
kritischen Augenblick gefolgt sei.
Der Gerichtshof beschließt nach längerer
Beratung, den Antrag, daß die Irmgard Schade dem Vater so gegenüber gestellt
werden soll, daß sie ihm in das zu sehen hat, abzulehnen. Eine solche Art der
Vernehmung sei in der Strafprozeßordnung nicht vorgeschrieben und nach dem
Gutachten des Geheimen Medizinalrats Dr. Moll nicht angebracht. Dagegen werde
der Gerichtshof der Anregung des Justizrats Dr. Mamroth nachgeben und die
Großeltern über die Glaubwürdigkeit des Kindes und den angeblichen Diebstahl
als Zeugen vernehmen.
Hierauf wurde Frau Rittmeister L u x ,
bei der die Kleine eine Zeitlang untergebracht war, als Zeugin
aufgerufen.
Zunächst wird der A n g e k l a g t e wieder hereingerufen. Der Vorsitzende liest
ihm die Aussage vor. Der Angeklagte folgt
m i t e i s e r n e r R u h e
und erklärt, er habe Irmgard die Tür geöffnet, sei aber n i c h t
g e f o l g t . - Irmgard bleibt
bei ihrer Bekundung, wobei sie dem Angeklagten den Rücken zudreht. Angeklagter (in Erregung): Irmgard ist schon
vor Jahren ein lügenhaftes und verstocktes Kind gewesen und hat der Großmutter
50 Mark gestohlen.
Nach der den Angeklagten Grupen belastenden
Aussage seiner Stieftochter Irmgard wurde der
V o r m u n d s c h a f t s r i c h t e r Amtsgerichtsrat Thomas als Zeuge vernommen.
Dabei kam es zwischen dem Zeugen und der Erzieherin Frl. Zahn zu einer
erregten Szene,
die durch das Eingreifen der Geschworenen ein
ungewöhnliches prozessuales Nachspiel hatte. Der Zeuge erzählt: Kurz vor der
Tat hatte der Vormund beantragt, einige alte morsche Kastanienbäume vor dem
Herrenhause niederhauen zu lassen, wogegen Frl. Dorothea Rohrbeck, die die
alten Bäume liebte, Einspruch erhob. Der Vormund bestand darauf, weil er die
Verantwortung für einen Unglücksfall nicht übernehmen konnte. Fräulein Rohrbeck
hatte am Tage vor der Mordtat die Entscheidung des Vormundschaftsgerichts
zugestellt erhalten. Als ich dann am Tage der Tat um 3 Uhr mit der Eisenbahn
aus Hirschberg in Lähn ankam, wurde ich von Sanitätsrat Dr. Scholz und anderen
abgeholt, die mich von dem Geschehenen in Kenntnis setzten. Ich eilte sofort
nach dem Herrenhause, wo mir Frl. Zahn entgegentrat. Ich fragte: „Dorothea wird
sich doch die Geschichte mit den Bäumen nicht zu Herzen genommen haben?“ Ich
zitterte an allen Gliedern, während Fräulein Zahn eine unglaubliche Ruhe
bewahrte. Ich konnte ihr keine Erregung anmerken. S i e
h a t g e l a c h t . - Hierauf ruft Frl. Zahn unter Schluchzen:
„Das ist zu viel,
Herr Vorsitzender, das ist zu viel, das kann ich nicht ertragen.“
Auf Zureden des Vorsitzenden verläßt Frl.
Zahn den Saal in tiefer Erregung. - Vors. (zum Zeugen): Wollten Sie vorher
wirklich sagen, daß Fräulein Zahn gelacht hat, oder wollten Sie nur sagen, daß
Fräulein Zahn eine bewundernswürdige Ruhe zeigte. - Zeuge: Ich wollte sagen,
daß ich nie ein Fräulein gesehen habe, die in einer solchen furchtbaren
Situation eine solche Ruhe gezeigt hat. - Vors.: So - ich habe vorher nach dem
Ton Ihrer Aussage die Empfindung gehabt, als wollten Sie an Fräulein Zahn e i n e
ü b l e K r i t i k üben. - Da erhebt sich ein Geschworener: Ich
möchte im Namen der Geschworenen eine Erklärung abgeben. (Große Bewegung im
Saale) I m N a m e n
d e r G e s c h w o r e n e
n erkläre ich, daß wir uns dem Urteil
des Herrn Vorsitzenden über die Aussage des Zeugen anschließen. - Justizrat Dr.
Ablaß: Ich bitte Herrn Oberlandesgerichtsrat, diesen Beschluß der Geschworenen
zu p r o t o k o l l i e r e n . - Oberstaatsanwalt Dr. Reifenrath: Aber meine
Herren, das ist doch kein richtiger Beschluß der Geschworenen. Im übrigen
erscheint es mir sehr zweifelhaft, ob sich die Herren Geschworenen untereinander ü b e r h a u p t v e r s t ä n d i g e n k o n n t e n , daß Herr Bankdirektor Beckert in ihrer aller
Namen eine derartige Erklärung abzugeben überhaupt in der Lage war. Mir scheint
es, daß es sich mehr u m d e n
A u s d r u c k d e r M e i n u n g der Herren handelt. - Der Gerichtshof
beschließt nach weiteren Erörterungen hierüber die Protokollierung des
Vorfalles.
Aus der
Vernehmung des Zeugen
Amtsrichters Thomas
über die amteriellen und sonstigen
Verhältnisse auf Schloß Kleppelsdorf und der Leidensgeschichte der Dorothea
Rohrbeck muß noch folgendes hervorgehoben werden: Der Zeuge war mit einigen
Unterbrechungen V o r m u n d s c h a f
t s r i c h t e r in der Angelegenheit.
In Uebereinstimmung mit dem Vormund Vielhack war er der Meinung, daß in
Kleppelsdorf unter der Leitung des Fräulein Zahn zu viel Ausgaben gemacht
wurden. Unter lebhafter Bewegung im Saale und zum größten Erstaunen auch des
Vorsitzenden gibt der Zeuge zu, er sei tatsächlich der Meinung gewesen, daß
sich aus den Sachen des verstorbenen Herrn Rohrbeck Kleider auch für seine
Tochter hätten machen lassen. - Vors.: Aber wie denken Sie sich dies
eigentlich, Herr Zeuge? - Zeuge (nach einer kurzen Pause): Ich habe daran
gedacht, daß sich vielleicht a u s s e i d e n e n S p o r t h e m d e n e i n e s
H e r r n B l u s e n f ü r
d i e K o n f i r m a t i o n s
f e i e r e i n e s j u n g e n
M ä d c h e n s herstellen
lassen. (Stürmische Heiterkeit.) Dagegen bestreitet der Zeuge, daß er jemals
der Meinung gewesen sei, daß das Konfirmationskleid selbst aus Kleidern des
Herrn Rohrbeck anzufertigen wäre. Vielmehr seien hierfür ausdrücklich 800 Mark
ausgeworfen worden. - Vors.: Was bekam der Vormund für seine Mühewaltung? -
Zeuge: Zunächst jährlich 2000 Mark und Erlaß der Reisekosten sowie 15 Mark
Tagegelder bei Reisen. Später stellte der Vormund den Antrag, seine Entschädigung
auf 4000 Mark zu erhöhen, was aber zu hoch erschien, sodaß ich die Festsetzung
auf nur 3000 Mark durchsetzte. Der Gegenvormund Bauer war schließlich Verwalter
des Gutes. - Vors.: Dann ist noch merkwürdig, daß, je größer die Teuerung
wurde, umso niedriger die Mittel, die dem Mündel bewilligt wurden. So erhielt
Fräulein Zahn im Jahre 1921-21 in der W
o c h e 1 2 0 M a r k ,
und damit sollten die beiden Damen auskommen? - Zeuge: Sie erhielten
aber auch Naturalien. Außerdem hat Herr Rohrbeck 10 000 Mark für die E r z i e h u n g seiner Tochter ausgesetzt. - Vors.: Aber
offenbar wurde doch damit die Ausgabe für die Erziehung gemeint und nicht die
gesamten Unterhaltskosten? - Zeuge: Der Vormund und ich waren der Ansicht, Herr
Rohrbeck habe damit den g e s a m t e n U n t e r h a l t gemeint.
Amtsrichter Thomas führt dann noch aus, daß
nach seiner Meinung Dörte Rohrbeck und Fräulein Zahn etwas über ihre
Verhältnisse gelebt hätten, kann das aber nicht durch bestimmte Tatsachen
belegen. Seine weitere Vernehmung gestaltet sich zu einem sehr
peinlich wirkenden
Zwiegespräch
zwischen dem Vorsitzenden und ihm, wobei der
Vorsitzende bei vielen Punkten sehr deutlich zu verstehen gibt, daß das
Verhalten des Zeugen die K r i t k g e r a d e z u h e r a u s f o r d e r e .
Es folgt die Vernehmung der Frau
Rittmeister L u x , bei der sich jetzt die kleine I r m g a r d S c h a d e
aufhält. Die Zeugin betont, daß sie das Kind keinesfalls veranlaßt habe,
auch nur ein Wort mehr oder weniger zu sagen, als die reine Wahrheit. Als
Irmgard jetzt erzählte, daß der Vater ihr kurz vor der Tat auf die Toilette
nachgekommen sei, habe sie ihr gesagt: „Dann mußt Du dies dem Herrn Richter
mitteilen.“ Ueber den Charakter des Kindes meint die Zeugin, daß die Irmgard
ein recht g u t a r t i g e s Kind sei, sie habe sie bisweilen bei kleinen
Lügen ertappt, aber niemals bei schlimmen Dingen.
Montag, den 12. Dezember 1921, „Norddeutsche
Nachrichten“
Der
Doppelmord in Kleppelsdorf.
Vernehmung
der Marie Mohr.
Die Sitzung am Freitag wird mit der
Vernehmung der Stütze M a r i e M o h r eingeleitet. Die 21 Jahre alte Zeugin wird
unter Aussetzung der Vereidigung vernommen. Vors.: Sie haben in der
Voruntersuchung gesagt, Sie glaubten alles, was der Angeklagte sage. Vor dem
Untersuchungsrichter haben Sie auch erklärt, daß Sie gar nicht wüßten, warum
alles niedergeschrieben werde, Sie hielten das für eine große
Papierverschwendung. Mit Rücksicht auf diese Aeußerungen und auf Ihr Verhältnis
zu dem Angeklagten muß ich Sie ganz besonders darauf aufmerksam machen, daß Sie
hier die reine Wahrheit zu sagen haben. - Oberstaatsanwalt Dr. Reifenrath
beantragt, währen der Vernehmung der Zeugin den Angeklagten aus dem Saal zu
entfernen. - Die Verteidiger erheben Einspruch. Sie befürchten keine
Beeinflussung der Zeugin durch den Angeklagten. - Geheimrat Dr. Moll hält die
Besorgnis einer Beeinflussung für begründet. Es handle sich um ein junges
Mädchen, das zu dem Angeklagten in sehr intimen Beziehungen gestanden habe. -
Das Gericht lehnt den Antrag des Staatsanwalts ab, es behält sich aber vor, den
Angeklagten abführen zu lassen, sobald die Befürchtung begründet erscheint.
Geheimrat Moll wird gebeten, dem Gerichtshof mitzuteilen, wann etwa dieser
Zeitpunkt eintreten sollte. - Der Vorsitzende ersucht die Zeugin, zu den Geschworenen
gewendet zu sprechen. - Frl. Mohr, die an einer Mandelentzündung erkrankt ist
und daher schwer verständlich ist, bekundet: Am 9. oder 10. Februar hat mir
Ursula einen B r i e f a n
G r o ß m u t t e r übergeben
und gesagt: „Das wird
eine große
Ueberraschung für Großmutti
sein.“ Ursula forderte aber den Brief zurück
und sagte, Großmutter solle ihn erst übermorgen erhalten. Am nächsten Tage
wollte Ursula, daß ich den Brief noch nicht abgebe, weshalb ich ihn ihr wieder
zurückgab. - Staatsanwalt: Was hatten Sie für einen Eindruck, als die Ursel
sagte: „Das soll eine Ueberraschung für Großmutter sein“? - Zeugin: Ursula
war s e h r v e r g n ü g t d a b e i . - Vors.: Hat damals der Angeklagte von dem
Brief etwas gehört? - Zeugin: Nein. - Verteidiger Dr. Ablaß: Ist die Ursula
einmal nachts an das Bett der Großmutter gegangen und hat sie dabei geweint? -
Der Staatsanwalt weist darauf hin, daß dieser Vorgang im Zusammenhang stehe mit
Dingen, die in geheimer Sitzung beraten seien. - Der Verteidiger ist damit
einverstanden. - Die Zeugin bestreitet, die Rollstube jemals verschlossen zu
haben.
Hat Grupen das Zimmer
verlassen?
Justizrat Mamroth: Ich möchte noch einmal,
weil wir hier in der Tat an einem a u ß
e r o r d e n t l i c h w i c h t i g e
n P u n k t angelangt sind, in aller Schärfe fragen (mit
erhobener Stimme): K ö n n e n S i e ,
F r ä u l e i n M o h r , u n d
w o l l e n S i e h e u t e
b e s c h w ö r e n , d a ß G r u p e n
n a c h I h r e r b e s t e n
E r i n n e r u n g d a s Z i m m e r , i n
d e m M ü h l e g e s p i e l t w u r d e ,
b i s z u m A u g e n b l i c k d e r
T a t n i c h t v e r l a s s e n h a t ?
- Zeugin: J a w o h l , d a s
k a n n i c h . - Vors.: Ist Grupen aber nicht aufgestanden
und hat er der Irma nicht die Tür zum Schrankzimmer aufgemacht? - Zeugin: N e i n . -
Vors.: Der Angeklagte hat es gestern selbst gesagt! Ist Grupen im Zimmer
hin und her gegangen? - Zeugin: N e i n
, wir haben Mühle gespielt. -
Verteidiger Dr. Mamroth: Sie haben schon in der Voruntersuchung erklärt,
jederzeit zu beschwören, daß Grupen das Zimmer nicht verlassen habe. - Ein
Beisitzer macht die Zeugin darauf aufmerksam, daß sie in ihrem heutigen Verhör
verschiedene Fragen nicht mit derselben Genauigkeit beantwortet habe, wie die,
ob Grupen das Zimmer verlassen habe. - Die Zeugin erwidert, sie habe andere
Sachen vergessen, weil sie unwichtig seien. - Vors.: Hat der Angeklagte später
nicht gesagt: „ E s i s t
g u t , d a ß w i r
a l l e g e s a g t h a b e n ,
d a ß i c h i n
m e i n e m Z i m m e r w a r ? “ -
Zeugin: Ich kann mich darauf nicht erinnern. - Vors.: Ich mache Sie
darauf aufmerksam, daß Sie in der Voruntersuchung erklärt haben, alles zu
glauben, was der Angeklagte sage. Ueberlegen Sie sich Ihre Aussagen. -
Angeklagter: Ich bitte darum, daß die Zeugin jede Nachsicht auf mich fallen
läßt. - Vors.: Das ist ganz selbstverständlich. Die Zeugin hat gar keine
Rücksicht auf Sie zu nehmen. (Zur Zeugin): Hat der Angeklagte nicht gesagt: „Es
ist doch gut, daß wir zusammen waren, da wird meine Unschuld bald an den Tag
kommen“? - Zeugin: Kann sein, daß er es gesagt hat. - Auf wiederholtes Befragen
erklärt die Zeugin: I c h w e i ß
e s n i c h t . - Vors.: Was hat Grupen zu Ihnen gesagt, als
er abgeführt wurde? - Zeugin: Ich sollte die Wahrheit sagen, dann wird sich
seine Unschuld bald herausstellen. - Vors.: Hat er nicht gesagt, daß er, wenn
Sie bekunden, daß er oben war, bald wieder frei sein werde? - Zeugin: Das weiß
ich nicht. - Vors.: Aber überlegen Sie es sich genau. Ein anderer Zeuge
bekundet diese Aeußerung. - Zeugin: Ich weiß es nicht.
Plattdeutsch.
Vors.: Was sagte Grupen zu Ihnen, als er am
nächsten Tage nach einer nochmaligen Vernehmung im Schloß nach Hirschberg
abgeführt wurde? - Zeugin: Das weiß ich nicht. - Auf wiederholtes Befragen
erklärt die Zeugin: Grupen sagte, ich solle die Wahrheit sagen, daß wir oben im
Zimmer zusammen waren. - Vors.: Als der Landjägermeister Klopsch dem
Angeklagten das weitere Sprechen verbot, hat da der Angeklagte nicht p l a t t d e u t s c h g e s p r o c h e n , und was? - Zeugin: Ich weiß es nicht. - Auf
wiederholtes Befragen des Vorsitzenden sagt die Zeugin schließlich: Der
Angeklagte wird seine Ermahnung, die Wahrheit zu sagen, wiederholt haben. -
Vors.: Da brauchte doch der Angeklagte nicht plattdeutsch zu sprechen. Hat er
wirklich das gesagt? - Zeugin: Es kann sein. - Die Zeugin muß dann die Worte:
„Sag´ die Wahrheit, dann komme ich bald heraus“ in Plattdeutsch sprechen. Sie
spricht dies aber so aus, daß alle Anwesenden die Worte verstehen, während der
Landjägermeister Klopsch die Worte des Angeklagten damals nicht verstanden hat.
- Der Angeklagte spricht die Worte plattdeutsch aus, die er damals gesagt haben
will:
„Segg de Wohrheit un
gif man tau, dat wi tunsamen verkert hebbt.“
D i e s e
W o r t e k a n n , b e s o n d e r s b e i
d e m T o n f a l l d e s
D i a l e k t e s , n i e m a n
d i m
G e r i c h t s s a a l v e r s
t e h e n . - Sachverständiger Dr.
Peters: Ich verstehe auch plattdeutsch. Diese Worte lauten: „Sag´ die Wahrheit
und gib nur zu, daß wir zusammen verkehrt haben.“ - Zeugin: Ja, das hat er
gesagt. - Vors.: Es ist doch merkwürdig, vorhin habe ich Sie so eingehend
gefragt, was der Angeklagte gesagt hat, und Sie haben immer und immer wieder
versichert, daß Sie es nicht mehr wüßten, und jetzt wissen Sie es auf einmal. -
Weiter gibt die Zeugin an, daß Frau Eckert das Gepäck für Kleppelsdorf eingepackt
hat. Sie hat nicht bemerkt, daß die Ursula etwas unter ihrer Kleidung versteckt
hatte. - Auf Befragen des Schießsachverständigen gibt die Zeugin an, daß der
Angeklagte in Ottenbüttel S c h i e ß ü
b u n g e n m i t e i n e m
R e v o l v e r angestellt hat.
- Als wieder nach einer Aussage eine Bewegung im Zuschauerraum entsteht, bittet
der Verteidiger Dr. Ablaß den Vorsitzenden, gegen solche Kundgebungen
einzuschreiten. - Vors.: Ich habe schon wiederholt solche Kundgebungen gerügt
und werde unnachsichtlich bei jeder Kundgebung des Beifalls oder Mißfallens den
Zuschauerraum räumen lassen.
Der A
n g e k l a g t e b e a n t r a g
t s e l b s t kurz vor 1 Uhr den A u s s c h l u ß d e r
O e f f e n t l i c h k e i t ,
der auch erfolgt.
*
Bemerkenswert ist noch die Aussage des
Vormundschaftsrichters T h o m a s
, eines Jagdfreundes des verstorbenen
Rohrbeck, daß der Vater Dorotheas bestimmt habe, seine Tochter solle einfach
erzogen werden. Als dem Zeugen vorgehalten wird, warum er nicht eingeschritten
sei gegen die unzulänglichen Mittel, die für die Haushaltung ausgesetzt wurden,
so unzulänglich, daß selbst der Waisenrat sich beschwerte, erwidert er, er habe
blindlings dem Vormund, dem Hauptmann a. D.
E r i c h V i e l h a c k (Berlin) vertraut. Dieser, also
der Vormund der Dörte
Rohrbeck,
gibt an, daß sein Verkehr mit Rohrbeck
lediglich jagdfreundlichen Beziehungen entsproß. Er hat sich selbst gewundert,
daß er zum Vormund ernannt worden sei. Er selbst habe Herrn Rohrbeck ersucht,
einen Nachtrag im Testament aufzunehmen, daß Frl. Zahn die Erziehung Dörtes
übernehmen sollte, so lange der Vormund glaubt, die Verantwortung dafür
übernehmen zu können. 1914 trat er die Vormundschaft an. Nach dem Testament
sollte Dörte erhalten, wenn sie sich verheiratet, 50 000 Mark, sonst bis zur
Großjährigkeit 12 000 Mark jährlich. Der Vormundschaftsrichter erhöhte diese
Summe auf 18 000 Mark, zuletzt auf 29 000 Mark, wofür der gesamte Haushalt des
Schlosses bestritten, Gärtner, Köchin, die beiden Dienstmädchen und die
Erziehung beglichen werden mußten! Mit diesem Gelde sollte Frl. Zahn auf alle
Fälle auskommen und sich nach der Decke strecken. - Vors.: In den letzten
Jahren reichte dieses Geld doch aber nicht mehr. - Zeuge: Wir haben uns alle
einschränken müssen (Bewegung im Zuschauerraum. Der Vorsitzende rügt das
Verhalten) und ich fühlte mich als Vormund nicht berechtigt, mehr zu geben,
umso mehr, als d i e Z i n s e n
n i c h t m e h r a u s r e i c h t e n . D i e
V e r h ä l t n i s s e w a r e
n n i c h t s o
g l ä n z e n d . D i e G ü t e r w a r e n
n i c h t s o e r t r a g r e i c h . Das Kapital hatte sich durch die Steuern und
das Reichsnotopfer (621 000 Mark) verringert.
Das Barkapital betrug
anderthalb Millionen.
Er hatte den Eindruck, daß Frl. Zahn schlecht
gewirtschaftet hat: sie hatte den großen Garten zur Verfügung und das Federvieh
und hätte sehr viel herauswirtschaften können. Er hatte weiter die
Ueberzeugung, daß Frl. Zahn ihm das Kind entfremden wollte. Direkt hat er über
die Seele und den Charakter des Kindes nichts erfahren können, sodaß er
sich h i n t e n h e r u m darnach erkundigen mußte. In dieser
Beziehung will er manches von der Lehrerin der Dörte erfahren haben. Darnach
soll in Kleppelsdorf s e h r s c h l e c h t g e g e s s e n worden sein, während Frl. Zahn zentnerweise
Speisen einweckte und Lebensmittel auf Vorrat kaufte. Er fand es auch für unpassend,
daß Frl. Zahn die 14jährige Dorothea
in eine Liebesaffäre
mit einem Leutnant verwickelte. Das Bild
dieses Herrn habe noch nach seinem Tode auf ihrem Schreibtisch gestanden. (Bei
diesen Ausführungen werden wieder einige Zurufe aus dem Zuhörerraum laut, sodaß
der Vorsitzende droht, den Saal räumen zu lassen, wenn sich die Störungen
wiederholen.) Der Zeuge hatte Frl. Zahn zum 1. April 1921 gekündigt und
Dorothea sollte von da ab in eine Pension. - Vors.: Warum haben Sie sich nicht
bei den anderen Leuten erkundigt? Als Vormund hätten Sie sich doch nicht
einseitig informieren lassen dürfen. - Zeuge: Ich bin immer davor gewarnt
worden, kannte auch niemanden in Lähn. - Der Vormund gibt dann Aufklärung über
die Differenzen mit Frl. Zahn, die sich daraus ergaben, daß Frl. Zahn stets
selbständig handelte und ihn nicht befragte. - Der Vorsitzende erörtert dann
die Sache der Konfirmation der Dorothea: er kam deshalb nicht, weil ihm ja die
Erziehung abgenommen war, er war lediglich Vermögensverwalter. - Sodann
berichtet der Vormund: Ich habe mich immer auf den Standpunkt gestellt, daß
Fräulein Zahn mit den 18 000 Mark jährlich auskommen müßte. - Vorsitzender: Es
war doch alles enorm teurer geworden? - Zeuge: Da muß man sich eben
einschränken (Bewegung im Zuschauerraum). Meine Ueberzeugung war, daß das Gut
allmählich aufgebraucht worden wäre, wenn man so weiter gewirtschaftet hätte.
Frl. Zahn hat übrigens zuletzt gegen 30 000 Mark bekommen, d. h. einschließlich
der Naturalien, denn sie hat allein 1919-20 über 1 300 Liter Milch und zwei
Schweine zusammen 5 Zentner. Jedenfalls h a b e n
d i e A u s g a b e n f ü r
d i e G ü t e r d i e
E i n n a h m e n w e i t ü b e r s c h r i t t e n , s o
d a ß v o m K a p i t a l g e n o m m e n w e r d e n
m u ß t e . - Der Zeuge erörtert
dann sein V e r h ä l t n i s z u
G r u p e n , der sich anbot, in
den Prozeßsachen, die zwischen ihm und Frl. Zahn schwebten, zur Verfügung
stehen zu wollen. Aus den weiteren Angaben des Zeugen, der anscheinend allen
Gerüchten Glauben schenkte, ging hervor, daß Grupen ihm dem Vormund gesagt
hatte, er hielt es für seine Pflicht als Verwandter, gegen die Erziehung des
Frl. Zahn einzuschreiten. Grupen sprach auch davon, sagt der Zeuge weiter, daß
Fräulein Zahn
Verkehrungen zu verheirateten Leuten unterhalte;
Namen wollte er aber nicht nennen. (Die
Zeugin Zahn kann sich bei diesen Ausführungen vor Erregung kaum halten und wird
von den Umsitzenden beruhigt.) Auch von
b ö s e n B ü c h e r n , die auf Kleppelsdorf gehalten wurden, hatte
Grupen gesprochen, ebenso darüber, daß er ein reicher Mann sei. Vor allem aber
habe er immer wieder die schlechte Erziehung durch Frl. Zahn hervorgehoben. -
Der Zeuge glaubt das alles, obgleich er anderseits hörte, daß Frl. Zahn
eine V e r l o b u n g z u r ü c k g e w i e s e n , um bei den Kindern zu bleiben. Der Zeuge
berichtet dann noch, daß Grupen von seiner Frau behauptet habe, sie sei mit
seiner Einwilligung fortgegangen; er habe sie außerdem als v i e h i s c h - l e i d e n s c h a f t l
i c h bezeichnet. - Der Vorsitzende
fragt den Vormund, ob er denn dem Angeklagten geglaubt habe, der seiner
gesellschaftlichen Stellung nach - er war Maurerpolier - doch nicht unbedingt
ohne weiteres glaubwürdig war. - Angeklagter:
Ich bin nicht
Maurerpolier,
denn ich habe die Staatliche Baugewerkschule
absolviert und kann, wenn ich selbständig bin, ohne weiteres den Titel
Architekt führen. - Zeuge: Grupen selbst hat sich als reicher Mann aufgespielt.
Er war dann noch einmal bei mir und erzählte mir, daß Dörte Zigaretten rauche
und tanze trotz seines Verbots.
Die Kognakflasche.
Im weiteren Verlauf der Zeugenaussage wird
festgestellt, daß das Gerücht von einem vergifteten Kognak, den Grupen seiner
Schwiegermutter geben wollte, ein Gerede war, die Flasche mit dem angeblichen
Gift in Wirklichkeit Bittermandel war.
Ein Fräulein
S e i d e l aus Berlin sagt aus,
Grupen habe sie als Privatsekretärin mit einem Monatsgehalt von 750 Mark mit
nach Hamburg nehmen wollen. - Die Schwester der Geliebten des Angeklagten, M a g d a
M o h r , weiß nichts davon, daß
Grupen allen bei ihm in Stellung befindlichen Mädchen einen Heiratsantrag
machte.
Hypnose.
In der Frage der Hypnose bekundet die
Lyzeallehrerin K i e f e r t aus Itzehoe, Ursula Schade, die im Winterhalbjahr
1920-21 bei ihr zur Schule gegangen, habe einmal geäußert, als in der Stunde
von Hypnose die Rede war: „Mutter kennt einen Mann, wenn der jemand fest
ansieht, so müßte der machen, was der Mann will. Wenn er aber die Augen
wegwendet, dann ist es vorbei.“ - Zeugin hält es bei dem fröhlichen Charakter
des Kindes für ganz unmöglich, daß dieses Kind jemand niedergeschossen, oder
auch nur die Handhabung des Revolvers kennt.
Frau Eckert als
Zeugin.
Unter großer Spannung erfolgt die Vernehmung
der 77 Jahre alten Frau A g n e s E c k e r t , der Schwiegermutter des Angeklagten und der
Großmutter der erschossenen Ursula und Dorothea. Ihre Vereidigung wird ausgesetzt.
Sie bekundet, daß Grupens Frau zunächst mit einem Herrn Schade verheiratet war,
der ä h n l i c h w i e
R o h r b e c k a u f d e r
J a g d v e r u n g l ü c k t e
, was man anfänglich mit dem
Seifenfabrikanten Schulz aus Perleberg in Verbindung brachte, der die Frau
Schade „in der Buchführung“ unterrichtet und Reisen mit ihr gemacht, obwohl sie
schon verheiratet war. Zeugin sagt weiter aus, daß Frau Schade nach dem Tod
ihres Mannes die Braut Rohrbecks wurde, der das Verlobungsverhältnis aber löste
und die andere Schwester heiratete (Anm.: das kann so zeitlich nicht passen).
Grupen hat auf die Zeugin von vornherein einen sehr guten Eindruck gemacht, und
sie hat es ihm hoch angerechnet, daß er eine Witwe mit drei Kindern heiratete.
Zu den Kindern sei er stets gut gewesen.
Das Verschwinden der
Frau Schade.
Vors.: Wir kommen jetzt zu dem Verschwinden
Ihrer Tochter. Was ereignete sich am 19. September? - Zeugin: Meine Tochter
schrieb mir an diesem Tage, sie führe nach Kleppelsdorf. - Vors.: Hat Ihre
Tochter einmal davon gesprochen, daß sie eine größere Reise unternehmen wollte?
- Zeugin: Ja, sie sagte öfter: „Deutschland gefällt mir nicht mehr, ich gehe
nach Amerika, dann hole ich euch nach.“ Ich habe das aber für Scherz gehalten.
Die Reise nach Kleppelsdorf war mir ganz unklar. Meine Tochter verabschiedete
sich auch nur ganz flüchtig, so, als ob sie nur ein paar Tage weg wollte. -
Vors.: Haben Sie keine Nachforschungen nach dem Verbleib Ihrer Tochter
angestellt? - Zeugin: Grupen sagte mir, er habe einen Detektiv damit
beauftragt. Auch erzählte er mir so viele Schlechtigkeiten von meiner Tochter,
zeigte mir solch häßliche Photographien von ihr, daß ich selbst schon gar nicht
mehr nachforschen wollte und ausrief: „Ach Gott, was ist aus meiner Tochter
geworden?“ Einmal schrieb ich, wo meine Tochter wohl sein kann. Grupen verbot
mir aber, den Brief abzuschicken, mit der Bemerkung:
„Wenn Du diesen Brief
abschickst, sind wir beide fertig.“
Grupens Februarfahrt nach Kleppelsdorf kam
der Frau Eckert überraschend. Die Koffer hat sie selbst gepackt und nicht
gesehen, daß Ursula etwa einen Revolver in der Unterbindetasche hatte. - Vors.:
Haben Sie vor der Reise gesagt: In Kleppelsdorf werde es einmal ein Ende mit
Schrecken geben? - Zeugin: Nicht, daß ich wüßte. Die Zeugin entsinnt sich
dessen nicht, auch nachdem Frl. Mohr und Frau Mohr bekunden, daß diese
Aeußerung gefallen. Weiter erklärt die Zeugin auf Befragen, Ursula sei traurig
gewesen, wenn sie nicht mit Grupen zusammen war. Ursula habe mit großer Liebe
an ihm gehangen, sie war gebannt an den Mann.
Ein Geschworener fragt nach den unzüchtigen Photographien.
Die Frage soll in nichtöffentlicher Sitzung beantwortet werden.
Die
Vorgänge am Mordtage.
Frau
E c k e r t : Am 14. Februar saß
ich im sogenannten Winterwohnzimmer und häkelte. Grupen spielte mit der Mohr
Mühle, Ursula saß auf dem Sofa und las. Dann war Ursula weg, ich habe ihr
Weggehen nicht beobachtet. Dann spielte Frl. Mohr mit der Irma, während der
Angeklagte mehrmals im Zimmer auf und ab ging. Er sprach auch mit dem im
Nebenzimmer befindlichen Frl. Zahn. Irmgard stand dann auf, um die Reste von
einem Apfel, den sie gegessen hatte, wegzubringen. Auch der Angeklagte war
aufgestanden, und ich habe angenommen, daß er vielleicht der Irma den Ofen
zeigen wollte, in den sie die Apfelreste werfen wollte.
Dann
habe ich einige Zeit den Angeklagten nicht im Zimmer gesehen, vielleicht bin
ich auch etwas eingenickt. Ich habe ihn nicht das Zimmer verlassen sehen oder
hören. Die Zeit, in der ich den Angeklagten nicht beobachtet habe, würde dann
meiner Ansicht genügen, die Tat unten zu verüben. Ursula traue ich auf keinen
Fall die Tat zu.
Ich halte es sogar für vollständig
ausgeschlossen, daß die körperlich sehr schwache Ursel, die nicht einmal eine
schwere Kanne heben konnte, die Tat überhaupt ausführen konnte. - Vors.: Aber
bei Ihren früheren Vernehmungen, besonders in Kleppelsdorf, haben Sie noch
erklärt, daß Sie beschwören könnten, der Angeklagte habe überhaupt nicht das
Zimmer oben verlassen, auch nicht auf Minuten. - Zeugin: Damals glaubte ich
noch nicht, daß die furchtbare Tat, wie ich beim Lokaltermin erfahren, in so
wenigen Minuten ausgeführt sein kann. Ich nahm an, daß es sich um eine
Viertelstunde handeln müßte. Nachträglich bin ich an der Zuverlässigkeit meiner
Wahrnehmungen in Zweifel geraten und halte jetzt die Behauptung aufrecht, d a ß
i c h G r u p e n e i n
p a a r M i n u t e n a u s
d e n A u g e n v e r l o r e n h a t t e .
Auf Antrag des Verteidigers Dr. Ablaß wird
ein von der Zeugin an Wilhelm Grupen gerichteter B r i e f
vom 15. Februar verlesen, in dem es u. a. heißt:
„Ein furchtbares Unglück kam über uns. Ursel
hat aus Peters Schreibtisch den Revolver mitgenommen und gestern nachmittag die
Dörte und sich selbst erschossen. Ist das nicht entsetzlich? Damit nicht genug,
man hat Peter verhaftet, da man der Ursel das nicht zutraut. In der Zeit des
Unglücks waren wir mit Irma oben im Wohnzimmer, was wir beide beschwören
können. Also muß sich ja seine Unschuld herausstellen.“
Die Zeugin verneint die Frage des
Verteidigers Dr. Ablaß, ob sie sich in den kritischen Momenten in einem hypnotisierten
Zustandes befunden hätte, und fügte hinzu, sie sei überhaupt nicht zu
hypnotisieren.
Der von der verschwundenen Frau Grupen
zurückgelassene Koffer, der nach einem an den Knecht Roske gerichteten Zettel schmutzige
Wäsche enthielt und nach Hamburg in eine Waschanstalt geschafft werden sollte,
ist von der Zeugin vierzehn Tage nach der Abreise der Frau Grupen geöffnet
worden. In dem Koffer befanden sich die Kleider, die sich Frau Grupen hatte umändern
lassen, sehr schönes Schuhzeug, ein alter Schmuckkasten ohne wesentlichen
Inhalt und saubere Wäsche. - Vorsitzender: Hat der Angeklagte zu Ihnen gesagt,
seine Frau habe sich nach Lübeck abgemeldet? - Zeugin: Das hat er mir erzählt.
- Vorsitzender: Ich muß eine Zwischenfrage stellen: Was ist die kleine Irma für
ein Kind? Liebt es die Wahrheit? Ist sonst mal etwas vorgekommen? - Zeugin:
Irma ist wie jedes Kind. Sie hatte mir einmal beim Staubwischen fünf Mark
entwendet und sich dafür Verschiedenes gekauft. Sie hat wegen dieser
Unredlichkeit fürchterliche Hiebe bekommen, sowohl von ihrem Vater wie von mir.
Seitdem ist nichts mehr vorgekommen. - Angeklagter: Irma hat oft gesagt, sie
habe keine Schularbeiten auf. - Zeugin: Davon ist mir nichts bekannt.
Der nächste Zeuge, Schneidermeister A u g u s t
W a r n i n g aus Hamburg, soll
u. a. Aussagen über das Verschwinden der Frau Grupen machen können.
Vorsitzender: In Hamburg wurde einmal die Leiche einer Frau angeschwemmt, die
einen schweren Schnitt durch den Hals hatte. Ein Dienstmädchen soll Ihnen
gesagt haben, daß es die Leiche kenne. - Zeuge: Ich weiß davon nichts, kenne
auch den Namen des Dienstmädchens nicht. Ich weiß nur, daß Grupen in meinem
Hause sein Absteigequartier hatte. - Vorsitzender: Wissen Sie, ob Grupen einmal
einen langen Gummischlauch in sein Absteigequartier mitgebracht haben soll und
es wird behauptet, daß er damit die Damen vergiften wollte. - Zeuge: Davon ist
mir nichts bekannt. - Der Staatsanwalt behauptet, Grupen habe noch andere
Wohnungen in Hamburg gehabt. - Angeklagter: Das bestreite ich entschieden. -
Staatsanwalt: Wir werden die Zeugen darüber hören.
Mittwoch, den 14. Dezember 1921,
„Norddeutsche Nachrichten“
Der
Doppelmord in Kleppelsdorf.
S. Hirschberg, 12. Dezember
Am 7. Verhandlungstage wird zunächst die
Zeugin Frau O b e r s t S e m m e r e k vernommen. Auch ihr hat Dörte erzählt, daß
sie bei der Alsterfahrt das Gefühl gehabt habe, daß
Grupen
ihr nach dem Leben trachte.
Sie stellt Dörte in bezug auf Ihre Erziehung
ein sehr gutes Zeugnis aus. Die Liebesgeschichte mit dem Leutnant hält sie für
eine Mädchenschwärmerei. - Rittmeister
K a r l L u x hat Versuche angestellt, um festzustellen,
ob Grupen ohne Wissen der Frau Eckert das Zimmer verlassen konnte. Er glaubt, daß
dies leicht möglich war. Ueber den Raub, der an der Leiche der Dörte begangen
worden ist, konnte er nichts in Erfahrung bringen. Der Zeuge hat die kleine
Irma zu sich genommen und hat sehr viel Freude an dem Kinde. Von der Mutter der
kleinen Irma hatte er den Eindruck, daß sie eine tüchtige Hausfrau war und sehr
an ihren Kindern hing. - Die nächste Zeugin, Frau Hotelbesitzer M e i s t e r - E r n s t aus
H a m b u r g , erzählt, daß der
Angeklagte bei ihr immer dasselbe Zimmer mit zwei Betten bestellt habe, weil es
ihm so gut gefiel. Auch habe er einmal ein Zimmer für sich und seine Nichte
bestellt, sei aber nicht eingezogen. - Dem nächsten Zeugen, Gutsverwalter S c h ü r p k e , hat der Angeklagte erzählt, daß er ein
sehr g u t e r S c h ü t z e sei. Als der Zeuge ihn fragte: „Da schießen
Sie wohl wie der Kaiser mit einem Arme?“, hat der Zeuge erwidert: „Vielleicht
noch besser!“ Auch ihm habe Dörte erzählt, daß sie sich v o r
G r u p e n f ü r c h t e . - Es folgt die Vernehmung des Zeugen Gasanstaltsdirektors W r o b e l , der auf Wunsch der Staatsanwaltschaft nach
dem Morde
zu
hypnotischen Versuchen nach Kleppelsdorf gefahren.
Er schilderte, wie er Versuche angestellt hat,
um festzustellen, ob die drei leicht zu beeinflussen seien und ob sie merken
konnten, daß der Angeklagte das Zimmer verließ. Die kleine Irma und Frau Eckert
hätten sich von dem Zeugen leicht beeinflussen lassen, die Mohr hätte ihm
Widerstand entgegengesetzt. Die Zeugin Eckert habe nach kurzer Beeinflussung
nicht mehr bemerkt, daß jemand das Zimmer verließ.
Im Gegensatz zu den neuerlichen Bekundungen
der Frau E c k e r t , wonach sie sich für nicht hypnotisierbar
hält, bekundet W r o b e l , d a ß
g e r a d e F r a u E c k e r t
s e h r l e i c h t z u
h y p n o t i s i e r e n s e i
, sie habe auch bei den versuchen in
Kleppelsdorf nicht bemerkt, daß sich jemand aus dem Zimmer entfernte. - Es
erschienen dann noch zwei Richter, Geheimrat
D u b i e l und
Landgerichtsrat P i e t s c h , von denen der eine von einem starren Blick
des Angeklagten erzählt, sodaß der das Gefühl hatte, e r
w o l l e i h m a n
d i e K e h l e , als er nach seiner Frau fragte. Der andere
Zeuge erzählt, daß er das Gefühl hatte, Grupen halte in dieser Beziehung hinter
dem Berge. Geheimrat D u b i e l will dann eingehend
den
Verlauf der Tat schildern,
wie er sich ihn vorstelle, er wird jedoch vom
Vorsitzenden darauf aufmerksam gemacht, daß das ein G u t a c h t e n und in dieser Form nicht zulässig sei. - Es
erscheint dann ein damals 16 Jahre altes
D i e n s t m ä d c h e n des
Angeklagten. Ihr hat Grupen die Ehe versprochen, schon wie seine Frau noch bei
ihm war. Die Zeugin hatte den Angeklagten gern und trat in engere Beziehungen
zu ihm. Von einem Vergehen Grupens an seiner Stieftochter oder einer anormalen
Handlung der Mutter der Ursula gegenüber weiß die Zeugin nichts anzusagen. - Zu
Beginn der Nachmittagssitzung wird nochmals über die Briefe verhandelt, die die
kleine Ursula geschrieben haben soll. Es sollen dann die Sittlichkeitssachen
zur Sprache kommen, und es wird dabei die Oeffentlichkeit ausgeschlossen. Der
Presse ist der Zutritt gestattet.
Soweit sich die Dinge bisher übersehen
lassen, werden am M i t t w o c h d i e
l e t z t e n Z e u g e n , namentlich Leumundszeugen aus Ottenbüttel,
die die Verteidigung gestellt hat, vernommen werden. Am D o n n e r s t a g sollen die
S a c h v e r s t ä n d i g e n
zu Worte kommen. Die Erörterungen werden wohl den ganzen Tag ausfüllen,
da eine Fülle schwieriger Fragen - Fern- oder Nachschuß, sexuelle Dinge,
Hypnose, Suggestion usw. - zu klären ist. Nach dem „Programm“ des Vorsitzenden,
Oberlandesgerichtsrat K r i n k e ,
ist immerhin damit zu rechnen, daß
Sonnabend
das Urteil gesprochen wird.
In den Abendstunden gab es auf der Promenade
des sonst nur stillen Städtchens helle Aufregung. Eine Dame, die in einem
Gespräch über den Prozeß verwickelt war, wurde für die verschwundene Frau des
Angeklagten gehalten und bedrängt. Es stellte sich dann heraus, daß es sich um
die Gattin eines höheren Breslauer Beamten handelte.
Donnerstag, den 15. Dezember 1921,
„Norddeutsche Nachrichten“
Der Doppelmord
in Kleppelsdorf.
Die Nachmittagssitzung gestaltete sich wieder
äußerst lebhaft. Es wurde namentlich das Verschwinden der Frau des Angeklagten
erörtert. Grupen geriet wiederholt in f
l a m m e n d e E r r e g u n g : er
s c h l u g m i t d e r
F a u s t a u f d i e
A n k l a g e b a n k .
Es kam schließlich zu einem Zusammenstoß
zwischen dem Oberstaatsanwalt und dem Dr. Reifenrath und Justizrat Dr. Ablaß,
der dem öffentlichen Ankläger vorwarf, daß in der Voruntersuchung die Formen
nicht immer gewahrt worden seien. Der diplomatischen Sicherheit des
Vorsitzenden gelang es abermals, die Herren zu beschwichtigen.
Eingangs der Nachmittagssitzung wird noch
kurze Zeit unter Ausschluß der Oeffentlichkeit verhandelt. Es werden noch einige
Mädchen vernommen, die sich durch E h e
v e r s p r e c h e n des Angeklagten
verleiten ließen, mit ihm in nähere Beziehungen zu treten. Einige dieser
Mädchen waren in ähnlicher Art, wie die kleine Ursula, erkrankt. Ueber den
Zusammenhang dieser Erkrankungen wurden gutachtliche Aeußerungen nicht
abgegeben.
Eine
i n t i m e F r e u n d i n der verschwundenen Frau G r u p e n
bekundet, daß der Angeklagte einmal zu seiner Frau gesagt habe: Durch
Scheidung gehen wir nicht auseinander,
n u r d i e W a f f e
k a n n u n s t r e n n e n .
Der Angeklagte habe damit einen Selbstmord
durch Erschießen gemeint, die Zeugin sei aber überzeugt, daß er Komödie
spielte. Das Verhältnis zwischen den Eheleuten sei überhaupt nicht so gewesen,
wie es nach außen hin schien und wie es hätte sein sollen. Hinter
verschlossenen Türen wird auch W i l h
e l m G r u p e n , der Bruder des Angeklagten, vernommen, der
einen anormalen Vorgang zwischen der Frau des Angeklagten und der Ursula
beobachtet haben will.
Die medizinischen Sachverständigen sprachen
sich in ihrem Gutachten sehr zurückhaltend über die Wahrscheinlichkeit des dem
Angeklagten zur Last gelegten Sittlichkeitsverbrechens aus. Die Möglichkeit
eines intimen Verkehrs der Ursula im Rahmen der Diagnose könne immerhin
vorliegen. Der Angeklagte erklärte sich mit dem Antrage eines Sachverständigen,
von ihm eine Blutprobe zur Feststellung einer gewissen Krankheit zu entnehmen,
einverstanden.
S p i r i t i s t
i s c h e G e r ü c h t e ü b e r
F r a u G r u p e n .
Im weiteren Verlauf der Sitzung gab der
Vorsitzende Aufklärung über den Ursprung der seit Sonnabend in der Stadt
umlaufenden Gerüchte, daß d i e v e r s c h w u n d e n e F r a u
G r u p e n s i c h i n
d e r W e s t s c h w e i z a u f h a l t e . Nach der Mitteilung des Vorsitzenden befand
sich unter den vielen Zuschriften, die bei ihm täglich eingehen, auch ein
Schreiben der Breslauer Staatsanwaltschaft, wonach sich bei ihr ein Herr
Eichler gemeldet habe, der Auskunft über den Aufenthalt der vermißten Frau
Grupen geben könne. Frau Grupen soll sich in
T u r n i (Westschweiz)
aufhalten. Auf Veranlassung der Hirschberger Staatsanwaltschaft ist Eichler in
Breslau polizeilich vernommen worden, wobei sich herausstellte, daß das Gerücht
über den Aufenthalt der Frau Grupen d a
s E r g e b n i s e i n e r
s p i r i t i s t i s c h e n S
i t z u n g ist. Der Gerichtshof hat
unter diesen Umständen davon abgesehen, Herrn Eichler als Zeugen nach Hirschberg
zu laden.
Als erster Zeuge wird Apothekenbesitzer
Schade (Berlin), der Vater des ersten Mannes der Frau Grupen, vernommen. Der
Zeuge gibt an, daß er zunächst das Gefühl hatte, Grupen sei ein rechter Mensch.
Der Angeklagte war nochmals bei ihm, als seine Frau bereits fort war.
E r e r z ä h l t e d a n n ,
d a ß „ T r u d e “ i h m
6 0 . 0
0 0 M a r k f o r t g e n o m m e n h a b e ,
und nach Amerika gegangen sei. Sein Haushalt hat etwa 50.000 Mark in 9
Monaten verschlungen; trotzdem habe er noch 80.000 Mark zur Bank gebracht.
Grupen erklärte jetzt, er habe damals lediglich gesagt, sein Grundstück wäre
jetzt 80.000 Mark mehr wert. Es war der Eindruck dieses Zeugen, daß der
Angeklagte damals andeuten wollte, seine Frau hätte nicht aus Not etwa
fortzugehen brauchen. Als dem Zeugen der Abschiedsbrief übergeben wurde, habe
er sofort geäußert:
„ D a s h a t d i e
T r u d e u n m ö g l i c h g e s c h r i e b e n “
und zwar, da der Briefstil ihrer ganzen Natur
zuwider schien. Herr Schade meint, es müsse ein ganz f a n a t i s c h e r E i n f l u ß hinter seiner Schwiegertochter gestanden
haben. Von dem hier schon erörterten kleinen Diebstahl der Irmgard hat er von
der Frau Eckert gehört. Er selbst weiß darüber nichts Näheres.
Hierauf wird die Gattin des Zeugen, Frau
Schade, vernommen. Vors.: Sie sind die Schwiegermutter der Frau Grupen?
Zeugin (nach einer Pause): Was, ich die
Schwiegermutter? Ach so, ja, ja natürlich, Sie haben ganz recht. (Heiterkeit.)
Die Zeugin schildert dann folgendes: Grupen
war sehr zurückhaltend. Von einer Amerikareise und einer Bühnenlaufbahn weiß
sie nichts. Nach dem Verschwinden der Frau Grupen telegraphierte der Angeklagte
und bestellte ihren Mann nach dem Fürstenhof in Berlin. Sie sei dann mit ihrem
Mann hingegangen. Grupen war auffallend freundlich und herzlich, reichte ihr
sofort den Arm und sprach immer wieder davon, wie gut er seine Frau behandelt
habe. Er habe im Begriff gestanden, ihr ein Reitpferd zu kaufen, und verstehe
umsoweniger ihr Verschwinden. Sie habe schließlich an eine geistige Umnachtung
geglaubt, weil Grupen so viel auf sie eingeredet habe.
Vors.: Fiel es Ihnen nicht auf, daß er nicht
zu Ihnen kam, sondern Sie in den Fürstenhof bestellte?
Zeugin: Allerdings! Ich habe ihn auch
gefragt, warum kamst Du nicht gleich, warum müssen wir uns hier treffen? Er ist
dann schließlich bei uns gewesen. Ihre Schwiegertochter, die verschwundene Frau
Grupen, habe sehr an den Kindern gehangen. Sie halte einen freiwilligen Fortgang
gar nicht für möglich. Es war schließlich der Plan der Zeugin, da ihr
auffallende Veränderungen im Verhalten der Kinder vorkamen, einmal nach dem
Rechten zu sehen. Sie bekam aber keine Antwort, als sie sich meldete.
Hierauf wird Bürovorsteher Geiß aus Itzehoe
vernommen, der im Büro des Rechtsanwalts Reinicke beschäftigt ist. Im September
1920 kam Grupen zu ihm und gab ihm einen
v e r s i e g e l t e n B r i e f
seiner Frau. Es war dies ein Brief an
Rechtsanwalt Reinicke, in dem von der Amerikareise die Rede war, und außerdem
einen Brief an einen Apotheker, wahrscheinlich Schade. An den Angeklagten war
kein Brief dabei. Grupen war außerordentlich niedergeschlagen und aufgeregt.
Von dem Inhalt der Briefe hatte er angeblich keine Kenntnis, und er, der Zeuge,
habe dem Angeklagten auch nichts mitgeteilt. Ueber den Ruf Grupens in Itzehoe
und Ottenbüttel ist ihm Ungünstiges nicht bekannt. Grupen sprach davon, er habe
in Hamburg ein Büro. Wo dies aber war und was er dort getrieben hat, weiß der
Zeuge nicht.
B e k u n d u n g
e n ü b e r e i n e n
N o t a r i a t s a k t .
Notar Paul Reinicke, Rechtsanwalt in Itzehoe,
wird durch den Angeklagten von seiner Schweigepflicht entbunden und bekundet:
Ich kannte den Angeklagten durch einige Notariatsakten. Am 17. September
erschien nachmittags Grupen mit Frau Eckert und seiner Frau. Frau Eckert und
Frau Grupen traten Hypotheken im Gesamtbetrage von 72.000 Mk. ab. Es fiel mir
auf, daß Grupen sagte, seine Frau bekäme Gegenwerte in bar. Ich dachte zunächst
an Steuerschiebungen und erklärte: Was soll denn der Unsinn? Grupen betonte
aber immer wieder, seine Frau bekomme wirklich Gegenwerte. Ich riet dann zur
Gütertrennung. Am 18. in aller Frühe kam Grupen mit seiner Frau, um die
Gütertrennung zu erledigen, wieder zu mir. Am nächsten Tage ist Frau Grupen
verschwunden. Einige Tage später kam mein Bürovorsteher und schilderte das
soeben von mit Bekundete. In dem einen Briefe der Frau Grupen stand, ihre
k ü n s t l e r i s c h e S e h n s
u c h t t r e i b e s i e
n a c h A m e r i k a ,
ihre Spur zu verfolgen, habe keinen Zweck.
Grupen machte den Eindruck eines geknickten Ehemannes. „Was soll geschehen?“
fragte er. Grupen nahm an, daß das Verhältnis seiner Frau zu dem Fabrikbesitzer
Schulz in Perleberg noch fortbestehe. Mir ging der Fall sehr nahe, und ich
sagte zu dem Angeklagten: „Es handelt sich immerhin um Ihre Frau. Was soll sie
mit 72.000 Mark bei heutiger Valuta in Amerika anfangen? Damit kommt sie ja
kaum in Deutschland fort. Lassen Sie die Frau nicht untergehen. Wenden Sie sich
zunächst an Schulz.“ Da dies dem Angeklagten wider den Strich zu gehen schien,
riet ich ihm, dies durch Bekannte tun zu lassen. Passageverkehr war damals kaum
möglich, ich riet ihm daher weiter, nach Hamburg und Bremen zu fahren, zumal ja
nur alle paar Wochen Schiffe abgingen. Nach 14 Tagen kam der Angeklagte wieder
und sagte mir, er habe dies getan, seine Frau sei aber nicht zu finden.
Schließlich kamen wir überein, die
E h e s c h e i d u n g e i n z u l
e i t e n .
Diese Klage habe ich dann auch eingereicht.
Die öffentliche Zustellung wurde bewilligt. Einen Tag später las ich aber von
dem Morde in Kleppelsdorf. Das stimmte mich natürlich bedenklich. Außerdem
erschien ein Bankdirektor bei mir, der ja auch hier als Zeuge geladen ist, und
sagte, in Ottenbüttel halte man die Sache mit dem Verschwinden der Frau Grupen
für faul. Ich habe dann das Mandat niedergelegt.
Vors. (mit erhobener Stimme): Angeklagter,
haben Sie Ihre Recherchen in Hamburg und Bremen angestellt?
Angekl.: Also, ich war in Berlin …
Vors.(unterbrechend): Antworten Sie mir doch
nicht so ausschweifend! Ich frage nochmals, waren Sie in Hamburg und Bremen um
Recherchen anzustellen?
Angekl. (mit der Faust auf die Anklagebank
schlagend): Ich werde das also jetzt erklären. Bei den Dampfergesellschaften
war ich nicht, weil die Nachricht kam, meine Frau sei nach Lübeck abgemeldet.
In dieser Beziehung habe ich also den Rat des Herrn Rechtsanwalt nicht befolgt.
Vors.: Warum nicht? Wollten Sie mit Ihrer Frau
endgültig brechen und nichts mehr mit ihr zu tun haben?
Angekl.: J a w o h l , d a s
w a r d e r G r u n d !
(Lebhafte
Bewegung.)
Rechtsanwalt Reinicke teilt noch mit, er habe
immer wieder nach den Gründen für die Amerikareise gefragt, auch Einzelheiten
des Ehelebens wissen wollen, Grupen habe aber von irgendwelchen Perversitäten
nichts erzählt.
Vors.: Ich bitte, mir den Widerspruch
aufzuklären. Wir hören, der Angeklagte spielte die Rolle des geknickten Ehemannes,
hat sogar geweint, stellt aber dann keine Recherchen bei den Schiffsgesellschaften
an.
Angekl. (wird sehr erregt): Dann bleibt der
Widerspruch eben meinetwegen bestehen!
Oberstaatsanwalt: Mich interessiert noch zu
wissen, was aus dem stattlichen Vermögen der Frau Eckert geworden ist?
Rechtsanwalt Reinicke: Mir sagte Frau Eckert,
es sei nicht mehr da.
Oberstaatsanwalt: Und wo ist es?
Vors.:
W e g ! (Große Heiterkeit.) Aber
ich wiederhole doch nur, was wir eben gehört haben.
Der Angeklagte, mit funkelnden Augen, s c h r e i t zum Staatsanwalt hinüber: I c h
h a b e n i c h t s v e r t a n
v o n d e m G e l d e !
Wenn hier immer von einem Vermögen der Frau Eckert gesprochen wird, so
setzen Sie gefälligst X = 0. Ich habe auch nie von der Generalvollmacht
Gebrauch gemacht, auch die Hypothek der Frau Eckert vom Gefängnis aus, als mir
ein veränderter Standpunkt bekannt wurde, zurückgegeben.
Es erfolgt jetzt, wie schon eingangs erwähnt,
ein Zusammenstoß zwischen Staatsanwalt und Verteidigung, als der Oberstaatsanwalt
bemerkt, daß Grupen noch vom Gefängnis aus manches an sich reißen wollte.
Amtsgerichtsrat L e m m e n
(Itzehoe): Es ist nach meiner Auffassung g a n z
a u s g e s c h l o s s e n ,
daß die Ursel, die ein sehr zartes Kind war, m i t
e i n e m R e v o l v e r u m z u g e h e n verstanden hat. Vom Hörensagen ist mir
bekannt, daß Ursula einmal geäußert hat, sie kenne einen Mann, vor dem habe sie
Angst bekommen, wenn er sie s c h a r
f a n b l i c k e . Ebenso ist mir vom Hörensagen bekannt, daß
sie damals i h r e n V a t e r
g e m e i n t hat.
Justizrat Dr. A b l a ß :
Ist Ihnen etwas von Gesprächen in Itzehoe bekannt, wonach Grupen
seine
Frau eingemauert
haben soll?
Zeuge: Man erzählt dort, Grupen habe sich auf
seinem Grundstück viel mit Mauerarbeiten beschäftigt, und es w ä r e
s e h r l e i c h t m ö g l i c h , d a ß
F r a u G r u p e n e i n g e m a u e r t worden sei. Ueber einen viel erörterten V o r f a l l m i t
e i n e m S c h r a n k ist mir folgendes bekannt geworden: Frau
Haffner erzählte, bei dem Umzug nach Itzehoe habe sie mitgeholfen. Als sie im
Zimmer war, habe sie plötzlich den S c
h r e i e i n e r w e i b l i c h e n P e r s o n
von der Straße aus gehört. Sie stürzte dann an die Tür, habe sie aber
verschlossen gefunden, vorauf sie an das Fenster eilte und dann bemerkt habe,
daß von dem vor dem Hause stehenden Möbelwagen
e i n S c h r a n k h e r u n t e r g e f a l l e n war. Durch das Herunterfallen des Schrankes
hätte Frau Grupen schwer verletzt werden können. Es sei der Frau jedenfalls,
als sie zu Hilfe eilte, aufgefallen, die Tür
v e r s c h l o s s e n zu
finden.
Unter großer Unruhe im Zuschauerraum teilt
hierauf der Vorsitzende mit, ihm sei soeben ein Schreiben zugegangen, dem er
doch nachgehen müsse. Er ließ Frl. Zahn noch einmal vortreten und fragte sie,
ob schon einmal durch ein Fenster des Schlosses
auf
Dorothea Rohrbeck geschossen
worden sei.
Frl.
Z a h n berichtet, daß im
Oktober 1919, als der Angeklagte in Kleppelsdorf war, abends um ½ 10 Uhr d u r c h
d i e o f f e n e T ü r
d e s H e r r e n z i m m e r
s g e s c h o s s e n wurde. Es handelte sich um einen Schrotschuß.
Man habe sich damals das nicht erklären können und angenommen, daß der Schuß
wohl dem Gegenvormund Bauer gelten sollte.
Vors.: Ist es richtig, daß Fräulein Dörthe
durch den Schuß verletzt wurde?
Zeugin: Die Dörthe saß nicht in dem Zimmer,
sondern zwei Zimmer davon entfernt am Klavier.
Hierauf wandte sich die Beweisaufnahme wieder
dem Verschwinden der Frau Grupen zu, und es wird der Knecht O t t o
M o s k e aus Ottenbüttel
vernommen. Er sagt aus, er habe am 19. September in Itzehoe das Gespann mit
Grupen, seiner Frau und dem Dienstmädchen Klaeschen geführt. Grupen habe ihm,
als er um ½ 12 Uhr nachts nach Hause kam, das Tor geöffnet. Am nächsten Tage
habe er den Zettel mit dem Auftrage der Frau Grupen bekommen, den im
Schlafzimmer mit der schmutzigen Wäsche stehenden Korb zur Bahn zu befördern,
Grupen sagte aber, d e r K o f f e r
s o l l e n i c h t f o r t g e b r a c h t werden. Es sei andere Beschäftigung
notwendiger.
Oberstaatsanwalt: Ich stelle also fest, daß
der Angeklagte k e i n e n
A u f t r a g gegeben hat, den
Koffer fortzubringen.
Justizrat Dr. A b l a ß :
Das konnte nicht geschehen, weil der Wagen, auf dem die Kinder zur
Schule fuhren, zu klein war und für ein anderes Gespann ein anderer Weg
vorgesehen war.
Das Dienstmädchen K l a e s c h e n schildert, daß bei der A b f a h r t d e r
E h e l e u t e n a c h I t z e h o e , also an dem Tage, an dem Frau Grupen
verschwand, b e i d e s e h r
f r ö h l i c h g e w e s e
n seien. Frau Grupen hatte einen
Zeltbahnmantel an. Nachdem ich dem Angeklagten den in der Toilette gefundenen Abschiedsbrief
gegeben hatte, fuhr er mit dem aus der Kassette genommenen Kuvert zum Notar und
bei seiner Rückkehr äußerte er:
„ M e i n e F r a
u i s t w e g ,
i c h b i n j e t z t
f r e i ! “
Die Eheleute hatten sich bisweilen auch
gestritten. Einmal habe Grupen seine Frau „Frauenzimmer“ genannt. Als die
Großmutter zu Frau Grupen äußerte, es sei ihr so ängstlich zumute, weil sie
reise, habe Frau Grupen erwidert: „Habe nur keine Bange. I c h
k o m m e b a l d w i e d e r . Du weißt ja, daß ich nicht lange ohne meinen
Mann leben kann.“ Zu seiner Frau hätte Grupen einmal in ihrer Gegenwart gesagt:
„Spukt dir Amerika schon wieder im Kopfe?“
Die Vernehmungen am Mittwoch bewegten sich in
der Hauptsache noch um das Verschwinden der Frau des Angeklagten. Verschiedene
Zeugen wurden vernommen, mit denen der Angeklagte in näheren Beziehungen gestanden
und denen der Geschenke gemacht hat. Großes Aufsehen erregte eine Zeugin, die
von Grupen eine goldene Uhr geschenkt erhielt, von der der Angeklagte selbst
zugibt, daß es d i e U h r
s e i n e r F r a u gewesen ist.
Freitag, den 16. Dezember 1921, „Norddeutsche
Nachrichten“
Der Kleppelsdorfer
Prozeß.
Am Donnerstag wurde der Bruder des
Angeklagten, W i l h e l m G r u p e n , über das Verschwinden der Frau des
Angeklagten weiter vernommen. Er erklärte, er selbst habe erst fünf Monate nach
dem Verschwinden der Frau Ermittlungen angestellt. Sein Bruder habe ihm gesagt,
die Frau sei t o t . - Der Zeuge
M a a s aus Mehlbeck bei
Ottenbüttel, ein Geschäftsfreund Grupens, sagt, Grupen habe ihm erklärt, seine
Frau sei nach A m e r i k a gegangen und habe 60.000 Mark mitgenommen. -
Der P r ä s i d e n t teilt mit, ein Kolporteur habe telegraphisch
gemeldet, er könne bekunden, daß G r u
p e n v o r d e m
T a g e d e s V e r s c h w i n d e n s s e i n e r
F r a u d i e s e g e w ü r g t . Der Kolporteur soll am Sonnabend vernommen
werden. - Es werden dann verschiedene Leumundszeugen vernommen. Der
Kunstgewerbelehrer S c h w i n g l e
r aus Hamburg bezeichnet den
Angeklagten als bescheidenen und strebsamen Menschen. Auch andere Leumundszeugen
sagen sehr günstig aus, nennen Grupen aber sehr ehrgeizig. Der
Strafanstaltsinspektor bekundet, Grupen habe sich stets ruhig und zuverlässig
benommen. - Die Verhandlungen dürften erst am
M o n t a g beendet werden, da
die Gutachten der Sachverständigen einen ganzen Tag in Anspruch nehmen werden.
Auch soll den Geschworenen ein genaues photographisches Bild über die Lage der
Leichen im Mordzimmer gegeben werden.
Freitag, den 16. Dezember 1921, „Norddeutsche
Nachrichten“
Der
Doppelmord in Kleppelsdorf.
Leidenschaftlich
in der Liebe - aber reinen Herzens.
Dr. B
ü n z aus Itzehoe: Zwischen Frau Grupen
und ihren Kindern hat ein herzliches Verhältnis geherrscht. Frau Grupen ist
eine gebildete, liebenswürdige Frau gewesen, die ihren Haushalt sehr in Ordnung
gehalten hat und selbst schwere Arbeit nicht scheute. Sie hat sogar im Garten
Bäume gefällt. Um ihre Kinder war sie sehr besorgt, besonders um die Ursel, die
ein langaufgeschossenes, mageres, blutarmes Kind war. Die Kinder hingen mit
gleicher Liebe an ihrer Mutter. Sie waren stets fröhlich und artig. Ich halte
es für ganz ausgeschlossen, daß Frau Schade ihre Kinder länger als höchstens 14
Tage hätte verlassen können.
Geheimrat
M o l l (zum Zeugen): Können Sie
aus Ihrer Erfahrung bestätigen, daß Frauen, die in ihrem Liebesleben sehr
temperamentvoll sind, doch brave Frauen und gute Mütter sein können? - Zeuge:
Das möchte ich voll unterschreiben. Eine Frau kann heftig in ihren
Liebesbeteuerungen, aber trotzdem reinen Herzens sein.
Vert. Dr.
M a m r o t h : Können Sie aus
Ihrer Erfahrung bestätigen, daß Männer zwischen 25 und 27 Jahren von gesunder
Konstitution und sinnlicher Veranlagung, vor denen sozusagen kein Mädchen
sicher ist, doch recht brave und nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft
sein können? - Zeuge: Das möchte ich nicht ohne weiteres unterschreiben. Wenn
es sich um jüngere Männer unter 25 Jahren handelt, möchte ich auch diese Frage
bejahen. Im allgemeinen sind die Männer ja polygam veranlagt.
Der Vorsitzende läßt den Direktor der
landwirtschaftlichen Schule in Perleberg,
v . T o b o l t , aufrufen. Der Zeuge gehörte zu dem
Freundeskreise des Apothekenbesitzers Schade und dessen Frau, der späteren Frau
Grupen. Als Schade auf der Jagd tödlich verunglückte, nahm sich Schulz der Frau
Schade an, führte ihr die Bücher und gewann ihr Vertrauen offenbar mehr als
erlaubt war. Mehrere Perleberger Familien brachen infolgedessen den Verkehr mit
beiden ab, und es wurde Schulz schließlich nahegelegt, aus der Loge
auszutreten.
Zeuge Heinrich S c h m i d t - Ottenbüttel: Grupen war mein
Nachbar. Er sagte mir, er könne mal mein Schwiegersohn werden. Da habe ich ihm
geantwortet: „Dazu gehört erstens die Ehescheidung von Ihrer Frau, zweitens die
Zuneigung meiner Tochter, drittens Klarheit über Ihre Gegenwart und Zukunft.“ -
Vors.: „Da haben Sie ihm die richtige Antwort gegeben.“ - Zeuge (fortfahrend):
Frau Grupen, mit der ich viel verkehrt habe, kann ich nichts Schlimmes
nachsagen. Aber auch der Angeklagte ist in Ottenbüttel gut beleumdet.
Was
Grupen für Geschäfte machte.
Frau
W o l g a r t - Hamburg, eine frühere Verlobte des Angeklagten: Grupen
hatte ein unruhiges Leben. Heute wollte er dies, morgen das. Einmal wollte er
ein Luftschaukelgeschäft errichten. Zu diesem Zweck hatte er sich mit der Uhr
in der Hand vor eine Luftschaukel gestellt, um festzustellen, wieviel der
Besitzer in zwei Minuten einnehme. Auch einen Mittagstisch wollte er anfangen.
Er kaufte alte Räder durch Zeitungsinserate und verkaufte sie wieder. Von der
Kleiderverwertungsstelle bezog er Kleider und veräußerte sie ebenfalls. Er
sagte, er wolle den Doktor mache und eine Villa kaufen. Auch ein Pferdegeschäft
hat er einmal gemacht, und als ihm sein Vater sagte, daß man dabei leicht
hereinfallen könne, antwortete er: Da müßte ich nicht Peter Grupen heißen.
Einen Revolver hatte er ja in der Schublade verwahrt. - Staatsanwalt: Wie kam
denn der Angeklagte zu den Kleidern aus der Kleiderverwertungsstelle, das muß
doch ein unlauteres Geschäft gewesen sein?
Zeugin: Unter falschen Tatsachen und m i t
S c h o k o l a d e hat er in
der Kleiderverwertungsstelle von der Verkäuferin bekommen, was man sonst nur
gegen Bezugsschein erhält. Eines Tages überraschte er mich durch die
Mitteilung, daß er sich mit Frau Schade verlobt hätte. Da habe ich ihm den Ring
zurückgegeben, und da er ihn nicht annehmen wollte, den Ring in seines Vaters
Mantel gesteckt.
Vors.: Hatte er nicht einen eigenen Mantel? -
Zeugin: Nein! Er kam im Mantel seines Vaters. Seinen eigenen Mantel hatte er im
Pfandhaus versetzt. - Staatsanwalt: Die Verlobung mit Ihnen machte er also im
Paletot seines Vaters. - Zeugin: Ja. - Vors.: Also, als Sie noch seine Verlobte
waren, teilte Ihnen Grupen mit, daß er sich mit Frau Schade verlobt habe? -
Zeugin: Ja, er sagte mir, das Verhältnis mit Frau Schade sei nicht ohne Folgen
geblieben. Er müsse die Dame heiraten. Und ich solle zurückstehen. Er wollte
monatlich eine Entschädigung für die Anschaffungen zahlen, die ich in Erwartung
der Heirat gemacht hatte, ich erhielt aber nur einmal 100 Mk. Nach einigen
Monaten telephonierte er mich an und sagte, ich solle noch zu ihm halten, denn
seine Frau sei krank und w e r d e n i c h t
l a n g e l e b e n .
Vors. (zum Angeklagten): Bestätigt es sich,
daß Sie mit Frau Schade sich verlobten, während Sie mit der Zeugin noch verlobt
waren? - Angekl.: Darüber will ich keine Angaben machen. - Vors.: Wollen Sie
nicht der Wahrheit die Ehre geben und den Grund sagen, warum Sie sich mit der
Frau Schade verlobten? - Angekl.: Im Interesse der Zeugin und im Interesse
meiner Frau gebe ich darüber keine Erklärung ab.
Der von der Verteidigung geladene Zeuge, K a r l
F r i t z l a r , soll darüber
Auskunft geben, ob Frau Eckert zu ihm gesagt habe, Grupen sei unschuldig an dem
Kleppelsdorfer Morde. Eher halte es Frau Eckert für möglich, daß ihn bei dem
Verschwinden seiner Frau eine Schuld treffe. - Zeuge: Darauf kann ich mich
nicht entsinnen.
In der Nachmittagssitzung am Mittwoch wurde
die Beweisaufnahme mir der Vernehmung des Kriminal-Oberwachtmeisters J a r g o w - Hamburg fortgesetzt. Der Zeuge
hat sich an den Nachforschungen nach Frau Grupen beteiligt und festgestellt,
daß Frau Grupen Pässe oder sonstige Auswandererpapiere nirgends ausgefertigt
worden sind. Die Auswanderung nach Nordamerika ist noch heute sehr schwierig
und auch Auswanderer nach Südamerika unterliegen einer sehr strengen Kontrolle.
Der Zeuge hält es für ausgeschlossen, daß Frau Grupen auf normale Weise nach
Amerika gekommen ist.
Zerbrochene
Ringe.
Den Verkauf der Ringe von Frau Grupen hat dem
Zeugen der Angeklagte anfangs verschwiegen, dann aber zugegeben, daß er sie
einem Goldarbeiter, von dem er 5000 Mk. geliehen hatte für 1000 Mk. Restschuld
verkauft habe. Z w e i R i n g e
w a r e n z e r b r o c h e n
, so daß der Verdacht bestand, die
Ringe wären gewaltsam vom Finger gezogen worden. Nach dieser Richtung konnten
Feststellungen nicht getroffen werden.
Kriminal-Oberwachtmeister G i e s e - Itzehoe: Die Möglichkeit, daß
Frau Grupen mit einem gefälschten Paß nach Amerika gelangt ist, kann nicht von
der Hand gewiesen werden, eine Wahrscheinlichkeit liegt aber nicht vor. Nach
dem Verschwinden der Frau Grupen hatte Zeuge zunächst Ermittlungen bei Frau
Mohr angestellt, die über den Angeklagten sehr günstig urteilte, bezüglich der
Frau aber behauptete, daß sie sittlich nicht einwandfrei sei. Der Gemeindevorsteher
von Oldenbüttel hat über beide Eheleute günstig geurteilt.
F r a u W i l
h e l m i n e K r u s e , H a s e l d o r f ,
schildert sehr lebhaft und anschaulich
in unverfälschter Hamburger Mundart, wie Grupen eine Braut gegen die andere
ausspielte. Frau Kruse sagt aus: Ich war mit Grupen verlobt und habe ihn sehr
viel mit Lebensmitteln unterstützt. Da Grupen mit einem anderen Mädchen ein
Verhältnis anknüpfte, hob ich die Verlobung auf. Als ich mit meinem jetzigen
Manne verlobt war, kam Grupen nach H a
s e l d o r f geradelt und traf mich
auf der Straße. Er fragte mich, ob ich Verkehr habe. Ich sagte, daß ich mit
Kruse, meinem jetzigen Manne, verkehrte. Da erwiderte er: „Den bekommst Du
nicht. Du machst mich unglücklich, ohne Dich kann ich nicht leben,“ zog einen
Revolver aus der Tasche und setzte ihn mir auf die Brust. Ich dachte, er wollte
mich erschießen, fiel ihm um den Hals und sagte aus Angst, daß ich wieder mit
ihm verkehren wolle. - Vors.: Warum taten Sie das, wenn er Sie so bedrohte? -
Zeugin (verlegen): Na, ich dachte, dann gibt er vielleicht etwas nach und tut
mir nichts. - Vors.: Ach so! (Heiterkeit) -
G r u p e n b e s t ä t i g
t diese Darstellung, die er mit
heiterster Miene begleitet. In das Lachen der Zuschauer stimmt er
selbstgefällig ein. - Grupen verlangte, daß wir alle Wochen zusammenkämen; er
würde für mich sorgen, ich solle nach Berlin, denn ich müßte mehr gebildet
werden. Ich verkehrte aber nicht mit ihm, denn ich hatte Angst vor ihm und
wollte auch Kruse treu bleiben. Grupen hat auch gewollt, daß ich m e i n e
A u s s t e u e r nach seiner
Wohnung schaffe, auch fragte er n a c
h m e i n e m S p a r k a s s e n b u c h . Da ich nicht mit ihm zusammenkam, schrieb er
mir einen Brief, der meinen Mann veranlaßte, der Sache ein Ende zu machen. Ich
gab Grupen seine Geschenke zurück und mein Mann legte noch 60 Mk. dazu. Grupen
besuchte uns darauf und versprach meinem Mann in die Hand, daß er von mir
lassen wolle.
Angeklagter: Ich bitte die Zeugin zu fragen,
ob es nicht richtig ist, daß ich ihr bei Stellenwechsel und zur Bestreitung
anderer Ausgaben Mittel gegeben habe.
Zeugin: Zeuge Peter K r u s e ,
der Ehemann der Zeugin, macht im Wesentlichen dieselbe Aussage. Die 60
Mk. waren für Grupens Auslagen für eine Bluse, Theater, Bahnfahrt usw. Grupen
habe ihm gesagt, seine Braut könne jeden anderen heiraten, nur ihn, den
Angeklagten, nicht.
Der S t a a t s a n w a l t stellt fest, daß der Angeklagte bisher das
Vorkommnis mit dem Revolver bestritten hat, es jetzt aber zugibt.
Dr. B
e i e r - Lähn: Am Tage nach dem Morde hat mir Frau Eckert die Mitteilung von
dem Verschwinden der Frau Grupen gemacht. Ich sagte zu Frau Eckert: „Wie
konnten Sie sich, als Sie von dem Verschwinden Ihrer Tochter erfuhren, so ohne
weiteres mit der Nachricht Ihres Schwiegersohnes zufrieden geben? Sie hätten
doch selbst Nachforschungen anstellen sollen.“ Frau Eckert erklärte mir darauf,
ihr Schwiegersohn Detektiv festgestellt, daß seine Frau auf ein Schiff gegangen
und nach Amerika gefahren sei, und daß es ihr gut gehe. Frau Eckert erzählte,
ihr Schwiegersohn hätte ihr häßliche Briefe und Photographien von seiner Frau
gezeigt, worauf sie ausgerufen habe: „Wenn das alles wahr ist, dann habe ich
keine Tochter mehr!“
Sachverständiger Prof. M o l l :
Sind es die Bilder, von denen behauptet wird, sie wären d u r c h s
S c h l ü s s e l l o c h
aufgenommen worden?
Angeklagter: Es sind die Bilder, die ich im
Schreibtisch meiner Frau gefunden habe.
Eine besondere Bewegung ruft die Vernehmung
einer weiteren jungen Holsteinerin hervor, und zwar handelt es sich um die
Aussagen der Zeugin
M a r g a r e t h e H a t j e a u s
S ü l l d o r f.
Diese hat von dem Angeklagten eine Uhr
bekommen, die der verschwundenen Frau Grupen gehört. Sie gibt an: Der
Angeklagte kam anfangs Oktober zu meinem Vater und sagte, daß seine Frau t o t
sei, und ich möchte ihm den Hausstand führen. Ich wollte anfangs nicht
hin, aber auf Ueberredung des Angeklagten bin ich doch hingefahren. Der
Angeklagte hat dann später gesagt, daß seine Frau ihn v e r l a s s e n habe, und zwar über Holland nach Amerika, wo
sie a n S y p h i l i s v e r s t o r b e n sei. Ich fragte den Angeklagten, ob eine solche
Krankheit so schnell um sich greifen könnte. Er sagte: Ja, in ein paar Tagen
kann man tot sein. Ich fragte ihn, ob er keine Todesurkunde bekommen könnte, um
Gewißheit zu haben. Er erwiderte, das ginge nicht, weil
seine
Frau unter falschem Namen gereist
sei. Auf meine Frage, woher er dies alles
wisse, erwiderte er, er hätte einen Privatdetektiv mit Nachforschungen
beauftragt.
Vorsitzender (zum Angeklagten): Was sagen
Sie d a z u ?
Angeklagter: Meine Frau hatte Beziehungen zu
einer Bekannten nach Holland, und ich habe es deshalb für möglich gehalten, daß
sie über Holland nach Amerika gefahren sei.
Vorsitzender: Wie kamen Sie darauf, daß Ihre
Frau an einer Krankheit gestorben sei?
Angeklagter: Meine Frau war bereits krank.
Verteidiger (zur Zeugin): Wie konnte Sie der
Angeklagte dazu bestimmen, daß Sie nun doch zu ihm gingen?
Zeugin: Durch diese Erzählungen über seine
Frau.
Eine
Szene von äußerster Spannung,
deren Endergebnis sich im Augenblick noch gar
nicht übersehen läßt, war die Vernehmung des
W i l h e l m G r u p e n , eines älteren Bruders des Angeklagten. Man
wird sich erinnern, daß über ihn die tollsten Gerüchte herumspuken. Hieß es
doch sogar, daß er mit Zustimmung des Angeklagten sich an das Schloß
geschlichen und d i e T a t
v e r ü b t habe. Es kommt hinzu, daß er von seinem Bruder
Generalvollmacht erhalten hat und der einzige Zeuge in dem ganzen Prozeß ist,
der bekunden will, den R e v o l v e r
, mit dem die furchtbare Tragödie vollzogen
worden ist, b e i d e r
k l e i n e n U r s u l a gesehen zu haben. Wilhelm Grupen wurde dann
auch vom Oberstaatsanwalt und dem Vorsitzenden in scharfes Kreuzverhör genommen.
Da übrigens auch diesem Zeugen ein
d ä m o n i s c h e r B l i c k
nachgesagt wird, so mußte er auf Antrag des
Justizrats Dr. Mamroth sich unmittelbar vor die Geschworenen stellen, damit die
Volksrichter ihm ihrerseits scharf in die Augen sehen konnten. - Wilhelm
Grupen, von Beruf Zimmermeister, ist von untersetzter Figur, und im Gegensatz
zu seinem angeklagten Bruder, den man wohl einen ganz hübschen Mann nennen
kann, bietet er nichts Fesselndes. Richtig ist, daß beide Brüder etwas stark
Funkeln des in ihrem Blick haben. Beiden ist das, was man den h o l s t e i n i s c h e n E i g e n s i n n nennt, Trotziges, Herrisches, eigen.
Aus der Vernehmung Wilhelm Grupens, der seine
Aussagen trotz eindringlicher Bemühungen des Vorsitzenden und des
Oberstaatsanwaltes vielfach sehr unbestimmt, stockend und sehr unklar macht,
ist folgendes bemerkenswert: Der Angeklagte habe ihm vor seiner Abreise nach
Kleppelsbüttel (Anm.: muss „Kleppelsdorf“
heißen) in Ottenbüttel
einen
Revolver zu seiner Sicherheit
übergeben, damit er das einsame Gehöft besser
überwachen könne und der Angeklagte habe ihm die Einrichtung der Waffe erklärt.
Der V
o r s i t z e n d e läßt den Revolver
dem Zeugen in die Hand geben. Die Prozeßbeteiligten treten dicht an ihn heran,
und er muß zeigen, in welcher Weise der Revolver geladen und gesichert wird. Es
stellt sich dabei heraus, daß Wilhelm Grupen zunächst mit der Waffe gar nichts
anzufangen weiß, was den Vorsitzenden schließlich zu der Bemerkung veranlaßt:
„Dann muß man sich sehr wundern, daß, wenn es einem alten Soldaten unmöglich
ist, den Revolver zu behandeln, die kleine Ursula selbst dies verstanden haben
soll.“
Der Z
e u g e erwiderte dann, daß, wenn er
sich jetzt die Waffe noch einmal genauer ansehen könne, er natürlich auch damit
umzugehen wisse.
Der Vorsitzende läßt den Angeklagten
herantreten, um dem Bruder bei der Handhabung der Waffe zu helfen. Ohne mit der
Wimper zu zucken,
tritt
Grupen auf den Bruder zu
und nimmt die Mordwaffe, mit der er die tödlichen
Schüsse abgegeben haben soll, in die Hand. Mit derselben Ruhe, die ihn auch bei
dieser, von den Zuhörern mit höchster Spannung verfolgten Szene nicht verläßt,
gibt der Angeklagte auf Befragen einem Geschworenen, der, wie er selbst,
einarmig ist, zu, daß er, wenn auch schwer, ganz allein die Waffe handhaben
kann. Er sagt wörtlich so: Wenn Sie dies, Herr Geschworener, können, will ich
auch gar nicht leugnen, daß mir das auch möglich sein kann.“
Wenn man nun diese überaus packende
Gegenüberstellung der beiden Brüder überdenkt, so fällt deutlich wieder die
besonnene, große Ruhe auf, mit der der Angeklagte hier wieder vorgeht. Diese
Ruhe ist umso unerschütterlicher, wenn es sich um die Erörterung der
Kleppelsdorfer Vorgänge handelt, wo den Angeklagten außer einer Kette von
Indizien direkt nur die Großmutter und die kleine Irmgard belasten. Nachdem
aber beide jetzt erst bekanntlich damit herausgekommen sind, daß Grupen
unmittelbar vor der Tat das Zimmer verlassen beziehungsweise v i e l l e i c h t verlassen habe, ist Grupen doch heftiger und
lange nicht so sicher, wenn Dinge erörtert werden, die mit dem V e r s c h w i n d e n s e i n e r
F r a u zusammenhängen, zumal
diese Erörterungen offenbar in der Hauptverhandlung einen viel größeren Raum
einnehmen, als es in der Voruntersuchung der Fall war.
Aus der Vernehmung Wilhelm Grupens ist noch
von Wichtigkeit, daß er in Ottenbüttel am Tage der Abreise der Familie nach
Kleppelsdorf d i e k l e i n e
U r s u l a a m S c h r e i b t i s c h s e i n e s
B r u d e r s m i t d e r
W a f f e g e s e h e n haben will.
Auf eindringliche Fragen des Vorsitzenden,
weshalb man die gefährlich Waffe habe unverschlossen liegen lassen und somit
das ganze Haus in schwere Gefahr gebracht hätte, erwiderten beide Brüder wie
aus einem Munde, daß dies allerdings ein großer Leichtsinn gewesen sei.
Sonnabend, den 17. Dezember 1921,
„Norddeutsche Nachrichten“
Schluß
der Beweisaufnahme im Kleppelsdorf Prozeß
Am Freitag wurden die Sachverständigen über
die Abschiedsbriefe der Frau Grupen weiter vernommen. Der Sachverständige ist
der festen Ueberzeugung, daß die Briefe durchaus e c h t
sind. Sie können u n m ö g l i c
h n a c h g e a h m t s e i n .
Das Gutachten über die Briefe der kleinen Ursula geht dahin, daß sie das
Kind wohl selbst geschrieben haben könne. Es bestehe aber die Möglichkeit, daß
sie diese u n t e r d e m
E i n f l u ß d e s A n g e k l a g t e n geschrieben habe und der Inhalt dem Kinde
gar nicht zum Bewußtsein gekommen ist. Der Brief könne der Ursula diktiert
worden sein. Eine suggestive Einwirkung sei auch bei dem Abschiedsbriefe der
Frau Grupen nicht von der Hand zu weisen. - Die Schieß-Sachverständigen halten
es für ausgeschlossen, daß Ursula sich selbst erschossen hat. Es müsse vielmehr
eine f r e m d e H a n d
die Waffe auf sie gerichtet haben. Der Täter habe in der Mitte des Zimmers
gestanden. Auch Dörte Rohrbeck habe z w
e i f e l l o s von f r e m d e r H a n d
die Schüsse erhalten. Der 2. Schuß sei ein sogenannter Fangschuß
gewesen, der sie getötet. A u s g e s c
h l o s s e n sei es, daß die kleine
Ursula technisch imstande gewesen sei, die komplizierte Waffe zu handhaben. -
Der A n g e k l a g t e kam mit den Schieß-Sachverständigen in große
Auseinandersetzungen und geriet in heftige Erregung. Er erklärte, er werde k ü n f t i g j e d e
A e u ß e r u n g a b l e h n e
n . Der 2. Schieß-Sachverständige
schloß sein Urteil mit der Erklärung, ein
S e l b s t m o r d der K i n d e r
i s t a u s g e s c h l o s s e
n ! Auch Geheimrat Dr. P e t e r
hat nicht den geringsten Zweifel, daß der Tod von f r e m d e r H a n d
gekommen ist. Die Annahme eines Selbstmordes hält auch Geheimrat L e s s e r
für u n h a l t b a r . Professor Dr. M o l l
erklärt, der Angeklagte übe einen großen suggestiven Einfluß aus. Eine
Hypnose brauche gar nicht in Frage zu kommen. Es könne eine sog. W a c h - S u g g e s t i o n vorliegen. Auch die Frage der sog. sexuellen
Hörigkeit komme dabei in Betracht.
Sowohl Frau Grupen als auch die kleine Ursula
hätten wahrscheinlich die Briefe unter
s u g g e s t i v e m E i n f l
u ß des Angeklagten geschrieben. Eine
Frau, die nach Amerika wolle, schreibe nicht in der Art, wie es der Abschiedsbrief
der Frau Grupen zeigt. Durch S u g g e
s t i o n oder T ä u s c h u n g e n konnte der Angeklagte diese
leidenschaftliche Frau durchaus zur Abfassung eines solchen Briefes bestimmen.
- Dann wurden noch Lichtbilder vorgeführt, an denen die Verletzungen der beiden
Mädchen im Modell gezeigt werden. - Die Verhandlung wurde auf Montag vertagt.
Der Sonnabend bleibt zur Vorbereitung der Plädoyers …Wort nicht lesbar). Der Vorsitzende erklärte, der wolle die
Verhandlungen am Montag zu Ende führen. Dann dürften sie allerdings bis in die
Nachtstunden oder frühen Morgenstunden dauern.
(Siehe auch 2. Seite).
Sonnabend, den 17. Dezember 1921,
„Norddeutsche Nachrichten“ - 2. Seite
Der
Doppelmord in Kleppelsdorf.
Grupens
Charakter.
Postbeamter Diedrich V o ß - Ottenbüttel: Der Angeklagte hat sehr
viel Telegramme bekommen und aufgegeben, er schien also viel
Geschäftsverbindungen zu haben. In unserer Ortswehr sollte er als Ehrenmitglied
aufgenommen werden, weil er Invalide ist. Der Beschluß hierüber ist aber nicht
gefaßt worden. Beim Preisschießen mit der Bolzenbüchse hat er sich erste und
zweite Preise geholt. Er war stolz darauf, ein guter Schütze zu sein. Ueber den
Ruf der Familie Mohr äußert sich der Zeuge sehr günstig. Marie Mohr gelte als
tüchtiges und fleißiges Mädchen.
Tischler Heinrich M ö l l e r
kann nichts Nachteiliges über den Angeklagten, den er schon als Lehrling
gekannt hat, aussagen. Mit 18 Jahren hat Grupen eine größere Villa gebaut. - Angeklagter:
Ich habe als Bauführer den Bau geleitet und noch dabei selbst gearbeitet.
Rektor
Hermann Grabke aus Blankenese
hat dem Angeklagten im Sommer 1913 Unterricht
gegeben, um ihn auf die Baugewerksschule vorzubereiten. Grupen hat sich sehr
gut geführt. Er war sehr strebsam, arbeitete am Tage praktisch, kam abends in
den Unterricht und erklärte wiederholt, daß ihm die Hausarbeiten nicht zu viel
wären. Er hat den Fachbildungskursus benutzt, Grupen kam mir etwas ehrgeizig
vor. Er fragte mich einmal, ob er nicht das Einjährige machen könne.
Auch Gemeindevorsteher H a r d e r t - Ottenbüttel stellt dem Angeklagten ein gutes
Leumundszeugnis aus.
Strafanstaltsinspektor T s c h e n
t k e - Hirschberg: Der Angeklagte hat sich nach seiner Einlieferung in
das Untersuchungsgefängnis ruhig und zuversichtlich benommen. Bei Gesprächen
über die Tat, der er beschuldigt wird, hat Grupen stets seine Unschuld
beteuert. Verbotene Mittel, sich mit der Außenwelt in Verbindung zu setzen, hat
er nicht angewendet. Alle Gefängnisbeamten sind mit seinem Verhalten zufrieden
gewesen. - Verteidiger Dr. A b l a ß
: Haben Sie die Ueberzeugung, daß Sie
es mit einem Menschen zu tun haben, dem die Tat zuzutrauen ist? - Zeuge: Mich
hierüber zu äußern, fühle ich mich nicht berufen. - Ein Geschworener: Haben Sie
gehört, ob der Angeklagte während der Sprechzeit mit seinem Bruder Plattdeutsch
gesprochen hat? - Zeuge: Ja, er hat Plattdeutsch gesprochen, aber in einer
Ausdrucksweise, die wir unbedingt verstehen konnten.
Gefängniswachtmeister F u r c h e - Hirschberg macht über das
Verhalten Grupens in der Untersuchungshaft die gleichen Aussagen wie der
Vorzeuge. Grupen habe sich den Beamten gegenüber zuvorkommend und bescheiden
gezeigt. Zeuge habe mit Grupen in seiner Zelle über seine Jugend und Heimat
gesprochen. Das sei Grupen manchmal so nahe gegangen, daß er weinte. -
Vorsitzender: Der Angeklagte hat geweint, tun das andere Gefangene nicht auch?
Zeuge: Ja. Wenn ich Grupen sagte, er solle, falls er sich schuldig fühle, so
vernünftig seine Schuld zugeben, beteuerte er jedesmal seine Unschuld. - Ueber
die Besuche der Brüder Grupens im Gefängnis befragt, erklärte der Zeuge, daß er
aus Menschlichkeit die Brüder über Nacht in seiner Wohnung aufgenommen habe,
weil sie schlecht Unterkommen finden konnten. - Vorsitzender (erstaunt): Den
Bruder eines unter schwerem Verdacht stehenden Untersuchungsgefangenen haben
Sie als Justizbeamter über Nacht bei sich behalten? Das ist doch recht
eigenartig! - Kennen Sie die Stütze Mohr? - Zeuge: Ich kenne sie nur von ihrem
Aufenthalt als Zeugin im Gerichtsgebäude. - Ein Geschworener: Hat irgendein
Mitglied der Familie Mohr in dem Hause, in dem Sie wohnen, Unterkunft gefunden?
- Zeuge: Nein.
Staatsanwalt: Ueber Grupens Vermögensstand
bitte ich, den Zeugen später als Sachverständigen zu hören. Nach meinen
Feststellungen betrug das Vermögen, über das der Angeklagte als
Generalbevollmächtigter seiner Schwiegermutter und seiner Frau verfügte und
einschließlich seines eigenen Vermögens, am Tage nach seiner Verhaftung 110.000
Mk. - Angeklagter: Ich werde nachweisen, daß ich über eine Viertelmillion
verfüge und nichts von meiner Frau und meiner Schwiegermutter ihren Vermögen
verschleudert habe.
Marie
Mohr
wird darauf eingehend auf Zahl und Inhalt der
auf die Reise mitgenommenen Koffer vernommen. Ihre Aussagen sind sehr leise,
oft gar nicht zu verstehen, und unsicher. In dem einen waren Lebensmittel für
die Reise und dieser Koffer ist auch geöffnet worden. Die Zeugin hat
hinausgesehen, hat aber weder Revolver noch Patronen darin gesehen, was sie,
wie sie zugibt, hätte sehen müssen, wenn sie darin gewesen wären. (Anfänglich
sagt die Zeuge auf die Frage des Vorsitzenden, sie wisse nicht, ob sie die
Waffe hätte sehen müssen, wenn sie darin gewesen wäre.)
Verteidiger Dr. A b l a ß :
Ist es richtig, daß Sie jetzt mit jemand anderen versprochen sind? -
Marie M o h r : Ja. - Die Zeugin will insbesondere nicht
wissen, wer die Koffer gepackt hat. Auch auf die Frage, wer die Koffer vom
Bahnhof nach dem Schlosse getragen und wo sie hingeschafft worden sind, gibt
die Zeugin nur unsichere Auskunft.
Oberstaatsanwalt: Sind nicht häufiger größere
Bewirtungen in Ottenbüttel vorgekommen? - Zeugin (sehr treuherzig): Ja, ja,
gewiß, das das ist öfters gewesen, einmal ging es dir ganze Nacht durch, da
trank man immer Punsch und tanzte darauf los, daß ich gar nicht schlafen
konnte.
Oberstaatsanwalt: Ich bitte, noch Herrn
Geheimrat Dubiel zu befragen, ob in der Voruntersuchung die Mohr auf ihn in
sittlicher Beziehung einen unnatürlich unbefangenen Eindruck machte.
Geh. Justizrat D u b i e l :
Die
diskreten Vorgänge in der Nacht Morde
schilderte die Zeugin so unbefangen, daß ich
fragte, ob sie denn gar k e i n S c h a m g e f ü h l habe. Die Mohr antwortete mit einem Nein.
Als ich das dann protokollieren wollte, besann sie sich eines besseren und
meinte, sie habe sich doch geschämt.
Oberstaatsanwalt: Ich will dem noch
hinzufügen, daß die Mohr dem Angeklagten so blindlings vertraute, daß sie ihm
beispielsweise auch glaubte, sie könne gar keine Kinder bekommen.
Es meldet sich noch einmal
Fräulein
Hatje aus Sülldorf
zum Wort, die bei dem Angeklagten in Stellung
war, und meint, sie habe noch etwas W i
c h t i g e s vergessen. Nach ihrer Vereidigung
erzählt die Zeugin, die Dörthe hätte, wie Grupen ihr erzählt habe, ihm
mehrfach H e i r a t s a n t r ä g
e gemacht. Grupen sei aber angeblich
nicht darauf eingegangen. Er habe ihr dies damit erklärt, daß er die Dörthe
nicht leiden könne. Ueber den Bruder Wilhelm meint die Zeugin, daß er früher
tadellos arbeitete und einen guten Ruf gehabt habe. Das sei jetzt nicht mehr so
der Fall.
Es folgen die
Gutachten
der Sachverständigen,
und zwar zuerst des Bücherrevisors S c h ä r f f . Der Sachverständige erklärt: Bis zu seiner
Verheiratung mit Frau Schade besaß der Angeklagte nichts. Ostern 1920 erfolgte
der Verkauf des väterlichen Grundstücks in Haseldorf, wodurch er 17.000 Mark
erübrigt haben soll. Das sind Kleine Beträge. Ich will die Frage, ob in der
Kassette 60.000 Mark oder 72.000 Mark oder gar nichts war, nicht selbst
entscheiden. Das überlasse ich den Herren Geschworenen.
Professor Dr. J e s e r i c h (Berlin) hat die Aufgabe, erstens einen
Brief an die „Großmutti“ zu vergleichen mit
H a n d s c h r i f t e n d e
r U r s u l a S c h a d e , um festzustellen, ob dieser Brief von ihr
herrührt oder von einem anderen, besonders von dem Angeklagte, geschrieben sein
kann. Weiter ist festzustellen, ob das Wort
„ t r a u r i g e “ in dem Brief
an frau Barthel von Ursula selbst nachträglich hinzugefügt ist. Der
Großmuttibrief ist mit Bleistift geschrieben. Vergleiche mit einem anderen
Briefe der kleinen Ursula führten zu dem Schluß: Abweichungen irgendwelcher
wesentlicher Art wurden zwischen beiden Briefen nicht gefunden. Ursulas
Handschrift weist einige charakteristische Züge auf, die man sonst bei Kindern
nicht findet. In zwei Punkten konnte auch
eine
Aehnlichkeit mit Grupens Schriftzügen
festgestellt werden. Der Sachverständige hat
trotz eingehendster Untersuchung keine Spur eines Unterschiedes in den
Unterschriften der beiden Briefe, sondern alles übereinstimmend gefunden. D e r G r o ß m u t t i b r i e f k a n n
a l s o n u r d u r c h
U r s u l a g e s c h r i e b e n s e i n .
Ob
an dem Brief an Frau Bartel bei der Unterschrift Ursels das Wort „traurige“ von
anderer Hand hinzugefügt ist, ließe sich bei so wenig Buchstaben nicht mit
Sicherheit feststellen. Festgestellt konnte werden, daß das Wort „traurige“ n a c h t r ä g l i c h zugesetzt worden ist, und zwar mit
gleichartiger Tinte und nachdem die ursprüngliche Schrift getrocknet war.
Dienstag, den 20. Dezember 1921,
„Norddeutsche Nachrichten“
Der
Staatsanwalt beantragt die Todesstrafe im Kleppelsdorfer Prozeß.
Im Kleppelsdorfer Mordprozeß wurde am Montag
noch einmal in die Verhandlung eingetreten, wobei die Aufstellung von Puppen
mit einem Kleid und einer Schürze der erschossenen Dörte im Saal sowie die
Vorführungen der Verletzungen durch Lichtbilder und die von Sachverständigen an
bereit gestellten Schädeln gezeigten Verwundungen der Verhandlung einen fast
schaurigen Hintergrund gaben. Am Ende der Beweisaufnahme, die sich zuletzt noch
einmal auf das Sittlichkeitsverbrechen erstreckte, wurde Frau E c k e r t
vereidigt.
Der Vorsitzende verliest sodann die
Schuldfrage, die auf Mord und Sittlichkeitsverbrechen an einer Minderjährigen,
die zugleich Verwandte ist, lautet. Unterfragen auf Totschlag sind nicht gestellt
worden. Die Frage auf Mord ist aber in Vorsatz (Totschlag) und Ueberlegung
(Mord) geteilt.
Die öffentlichen Ankläger und Verteidiger
machen hierzu keine Ausführungen.
Dann nimmt unter lautloser Stille
Oberstaatsanwalt Dr. Reifenrath das Wort: Der Staatsanwalt geht gleich zur Ankunft G r u p e n s in Kleppelsdorf über, der wider Erwarten so
viel Personen mitbrachte. Grupen hat ein Doppelspiel getrieben, oder, wie er
sich ausdrückte, er saß mit seinem Vorgehen in der Vormundschaftssache in einer
Zwickmühle. Schon bald nach seinem Eintreffen kam Dörte zu der Oberschwester
Kube mit der Mitteilung, sie sei sehr unruhig. Grupen döhse unstet im Hause
umher, er habe ihr einen Heiratsantrag gemacht und sich in auffallender Weise
danach erkundigt, warum das Schloß abends in allen seinen Teilen immer so fest
verschlossen sei. Zwei Tage vor der Tat erschien der Angeklagte schon sehr
unruhig, und nicht nur der Dörte, sondern auch anderen Personen gegenüber.
Warum war dieser Mann so unruhig? Und warum reiste er nicht sofort wieder ab?
Weil der schaurige Zweck seines Besuches noch nicht erledigt war. Er hatte
seine Opfer noch nicht auf der Strecke.
Der Oberstaatsanwalt beantragte gegen d e n
A n g e k l a g t e n d a s T o d e s u r t e i l .
Die Verteidiger plaidierten auf F r e i s p r e c h u n g . - Das Urteil ist heute nachmittag zu erwarten.
Dienstag, den 20. Dezember 1921,
„Norddeutsche Nachrichten“
Wedel, im Dezember.
Frau
Grupen in Wedel beerdigt?
Der Grupenprozeß wird von der hiesigen Bevölkerung
mit großer Spannung verfolgt, denn Grupen war in Wedel eine stattbekannte
Persönlichkeit. Er hat seinerzeit viel bei einer hiesigen Einwohnerin verkehrt
und hat sich auch um die Hand einer hiesigen Landwirtstochter beworben. Das ist
es aber nicht allein, was das große Interesse rechtfertigt, das man dem Prozeß
entgegenbringt. Bekanntlich ist neben der Erschießung der beiden Kinder das
unaufgeklärte Verschwinden der Frau Peter Grupens ein Hauptgegenstand der
Verhandlungen gewesen. Jedoch war es nicht möglich, irgendeine Erklärung in das
Dunkel dieser Angelegenheit zu bringen. In Wedel wollen die Gerüchte nicht
verstimmen, daß die am 31. Januar 1920 in der Wedeler Aue gefundene
Frauenleiche identisch ist mit der verschwundenen Frau Grupens. Diese Leiche
wies, wie man sich erinnern wird, eine Schnittwunde am Halse auf, auch fehlte
ein Bein. Während letztes zurückzuführen sein mag auf die Einwirkung des
Eisganges, hat der Polizeiarzt Dr. K a
r e h n k e die Schnittwunde, die nach
Ansicht der Gerichtskommission durch eine Schiffsschraube herbeigeführt wurde,
von vornherein für nicht unbedenklich gehalten und die Möglichkeit nicht von
der Hand gewiesen, daß diese v o n f r e m d e r H a n d
herbeigeführt worden ist. Die Leiche, die bereits auf dem hiesigen
Friedhof beigesetzt war, wurde denn auch wieder ausgegraben, um den Fall näher
zu untersuchen. Alle Körpermerkmale ließen darauf schließen, daß es sich
tatsächlich um die Frau Grupens handle, wurden doch auch das graue Haar und die
charakteristischen Sorgenfalten festgestellt. Die gerichtliche Kommission kam
dennoch zu der Ansicht, daß d i e L e i c h e
n i c h t i d e n t i s c h sei, und zwar ausschließlich auf die Aussage
eines Itzehoer Zahnarztes hin, der s. Zt. Frau Grupen behandelt hat, und der
aussagte, daß Frau Grupen einen Goldzahn gehabt habe, während die Leiche
keinerlei künstliche Zähne aufwies. Die Leiche wurde dann wieder der Erde übergeben.
Die Sachverständigen-Gutachten über die
Einwirkung von Suggestion und Hypnose, die vor dem Geschworenengericht gegeben
worden sind, haben jetzt d e n V e r d a c h t b e s t ä r k t , d a ß
d i e a u f d e m
F r i e d h o f i n W e d e l
r u h e n d e L e i c h e d e n n o c h d i e j e n i g e d e r
F r a u G r u p e n
s e i . War es schon der mit den
hiesigen Verhältnissen vertrauten Bevölkerung unerklärlich, daß von der Elbe
aus eine Leiche bis in die obere Aue hineintreiben könnte, so haben die
Sachverständigen-Gutachten die Vermutung verstärkt, daß das Gutachten des
Zahnarztes nicht stichhaltig sein kann. Es herrscht die Ansicht vor, daß auch
der Zahnarzt unter dem suggestiven Einfluß des Anageklagten gestanden haben
kann; ist doch vor dem Geschworenengericht nachgewiesen worden, daß der Angeklagte
auf seine Umgebung einen außergewöhnlichen suggestiven Einfluß ausübte, daß er
die Fähigkeit besessen hat, f a s
t j e d e r m a n n s k l a v i s c h i n
s e i n e n B a n n z u t
u n , daß er eine ganz seltene
Willensstärke besessen hat und über Mittel verfügt, seinen Willen auch auf
andere wirken zu lassen. Wenn es schon für einen normalen Menschen keine
Kleinigkeit gewesen ist, Frau und Schwiegermutter zu veranlassen, ihm
Generalvollmacht zu erteilen und ihm ohne jede Gegenleistung ihr ganzes Geld
abzutreten, wenn er es fertig gebracht hat, ein Mädchen nach dem anderen zu
verführen, wenn er außer seiner Frau zu gleicher Zeit drei Geliebte im Hause
hatte, so ist das - so argumentiert man - doch ein gewagtes und seltenes Stück
von Willensbeeinflussung, sodaß die Vermutung nicht von der Hand gewiesen
werden kann, a u c h d e r
Z a h n a r z t habe unter der
suggestiven Beeinflussung des Angeklagten gestanden. Jedenfalls läßt sich die
Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß man trotz des Gutachtens des
Zahnarztes mehr denn je überzeugt ist von der Identität der auf dem hiesigen
Friedhof ruhenden Leiche mit der Frau Grupen.
Mittwoch, den 21. Dezember 1921,
„Norddeutsche Nachrichten“
Das
Ende der Tragödie von Kleppelsdorf.
Der Angeklagte Peter Grupen wurde wegen
Mordes in zwei Fällen zwei Mal zum Tode
verurteilt, wegen Sittlichkeitsverbrechens zu 5 Jahren Zuchthaus und dauerndem Ehrverlust der bürgerlichen
Ehrenrechte. Er erklärte, auf jede
Revision und Begnadigung verzichten zu wollen.
Die hinreißende Beredsamkeit seines
Verteidigers, Justizrat Dr. Ablaß, eines alten Parlamentariers und erprobten
Redners, hat Grupen nicht zu retten vermocht. Die Geschworenen schlossen sich
dem Staatsanwalt an, der den Kopf des Angeklagten forderte, nachdem er das
Charakterbild Grupens in den kräftigsten Farben gemalt und daran erinnert
hatte, daß der Angeklagte noch am Mordtage sich nicht gescheut hatte, sogar zum
Tanze aufzufordern, daß er an diesem schrecklichen Tage mit allen getanzt hat,
selbst mit der alten, beinahe 80jährigen Großmutter. Der Staatsanwalt hatte
weiter gesagt: Als das Verbrechen entdeckt wurde, ist Grupen einer der ersten
im Mordzimmer. Aber, wie bei allen großen Blutverbrechen, kann auch hier der
Mörder seine Opfer nicht anfassen. Er tut das erst nach dreimaliger
Aufforderung und sichtlich unter großer Ueberwindung. Er hebt die Pistole auf,
die zur Linken der Ursula liegt, während sie auf der rechten Seite liegen
müßte. Als dann der erste Arzt erscheint, begeht Grupen die Ungeheuerlichkeit,
zu ihm zu sagen: „Kann man denn der Ursel nicht etwas eingeben, daß sie leben
bleibt und wenigstens noch berichtet, wer der Täter ist?“ Die dicken Mauern des
Mordzimmers sind dem Angeklagten das größte Verhängnis geworden. Man kann wohl
sagen, daß sich auch in diesem Fall das Wort bewahrheitet hat, daß, wenn
Menschen schweigen, die Steine reden werden.
D i e S t e i n e h a b e n
g e s p r o c h e n und uns
gesagt, daß die Patronenhülsen gar nicht anders bei einem Morde durch Grupen
fallen konnten und daß von einem Selbstmord der Ursula und einem Morde
ihrerseits an Dörthe gar keine Rede sein kann. Die Gutachten der Sachverständigen
und die Lage der Patronen sind die größten Keulenschläge, die die Anklage dem
Angeklagten zufügt. Und diese Keulenschläge zerschmetterten Grupen. Der
Angeklagte hat Blut fließen lassen, rücksichtslos, gewissenlos und so
unmenschlich, wie kaum ein anderer vor ihm. Dafür muß er schwer sühnen und ich
fordere von den Geschworenen den Kopf des Angeklagten.
Alle Gegengründe des Verteidigers blieben
wirkungslos.
Das Todesurteil gegen Grupen wurde in dem
dicht gefüllten Saale mit tiefer Bewegung aufgenommen. Nur ganz vereinzelt
konnte man Bravorufe hören, die der Vorsitzende rügte. Als ihm der Wahrspruch
verkündet wurde, zuckte Grupen etwas zusammen, fand aber bald seine Sicherheit
wieder und sprach während der Beratungen des Gerichtshofes durchaus ruhig mit
seinem Anwalt. Dann verkündete er bewegt, aber mit fester Stimme folgendes:
„Ich werde gegen das Urteil weder Revision einlegen noch um Gnade bitten. Ich
versichere noch einmal, daß ich vollkommen unschuldig bin, und hoffe bestimmt,
daß der Tag kommen wird, an dem das Verbrechen eine andere Aufklärung finden
wird. Den Herren Geschworenen nehme ich Ihre Entscheidung durchaus nicht übel.
Sie konnten nach der Form der gegen mich gerichteten Anklage kaum anders
entscheiden.“ Nach Verkündigung des Urteils wurde der Angeklagte abgeführt und
die Sitzung durch den Vorsitzenden geschlossen.
Donnerstag, den 22. Dezember 1921,
„Norddeutsche Nachrichten“
Die
Aufnahme des Urteils im Kleppelsdorfer Prozeß.
Das Urteil im Kleppelsdorfer Prozeß wird
überall lebhaft kommentiert und entspricht der Volksmeinung, die von Anfang an
gegen den Angeklagten war. Der Spruch, der mit eherner Notwendigkeit das
doppelte Todesurteil nach sich zog, soll und darf nicht im geringsten
gescholten werden. Die zwölf Männer, die ihn, wenn auch nach kurzer Beratung,
so doch nach langer Verhandlung, an der sie regsten Anteil nahmen, gefällt haben,
haben ihn zweifelsohne gefällt aus tiefster Ueberzeugung von der Schuld
Grupens, und da war es ihr Recht und ihre heilige Pflicht, das Schuldig
auszusprechen. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß, falls der Prozeß in einer
anderen Gegend verhandelt worden wäre, in einer Umgebung, die nicht so
unmittelbar unter dem Eindrucke der Tat stand, nicht durch die verschiedensten
Beziehungen mit ihren Opfern und den Hauptbelastungszeugen verknüpft war, es
ist durchaus wahrscheinlich, daß auch dann das Verfahren mit einem zweifachen
Todesurteil geendet hätte.
Und doch, und doch … Der unbefangene
Beobachter, der nur in den, allerdings sehr ausführlichen Berichten den Prozeß
verfolgt hat, ist froh, daß er die Last, eine Entscheidung treffen zu müssen,
nicht zu tragen brauchte. Es ist das ein Gefühl, das man bei jeder, nur auf
Indizien aufgebauten Anklage haben wird. Man verlangt von einem Beweise, der
einem Menschen den Kopf kostet, daß er -- um das amerikanische Wort zu
variieren -- hundertprozentig sei, und das wird ein Indizienbeweis nie sein.
Auch der in diesem Falle geführte ist es nicht. Kommt nun dazu die Tatsache,
daß in der Voruntersuchung die Stimmung des ganzen Kreises gegen den
Angeklagten voreingenommen wurde, so verstärkt sich die Befriedigung, daß man
nicht selbst die Verantwortung für den Endspruch auf sich zu nehmen hatte.
Immerhin zeigt sich, so sehr man auch rein
gefühlsmäßig an Grupens Schuld glaubt, daß sich auch die Ueberzeugung Bahn bricht.
Hier haben Indizien zu einem „Schuldig“ geführt, von denen man wünschen möchte,
daß sie noch einmal einer Nachprüfung unterzogen werden. Verstärkt wurde dieser
Eindruck durch die Art, in der Grupen in seinem S c h l u ß w o r t auf Revision und Gnade verzichtete. Wenn man
den Angeklagten das bestimmt, wenn auch dem Ernst des Augenblicks entsprechend
mit etwas bewegter Stimme sagen hörte, so konnte man sich des Gefühls nicht
erwehren, hier spricht nicht unbedingt ein Mann, der sich schuldig fühlt,
sondern vielleicht jemand, der Schluß machen will. Uebrigens muß darauf
hingewiesen werden, daß Grupen nicht o
f f i z i e l l auf Rechtsmittel
verzichtet hat. Das konnte nur geschehen,
n a c h d e m das Todesurteil
verkündet war. Man sagt sich mit Recht, wenn jemand um seinen Kopf zu kämpfen
hat, kann man ihm nicht zumuten, sich darüber innerhalb weniger Sekunden zu
entscheiden. Es kann also keine Rede davon sein, daß die erwähnte Erklärung als
offizieller Bericht protokolliert wurde und das Urteil damit schon
rechtskräftig ist, ganz abgesehen von der Tatsache, daß Justizrat Dr. Ablaß den
Angeklagten sofort unterbrach, indem er ergänzte: d a r ü b e r (nämlich über das Einlegen von
Rechtsmitteln) werden wir noch reden! Grupens Erklärung, in dem Augenblick
abgegeben, ist also lediglich sozusagen eine private Mitteilung an den
Gerichtshof über seine Pläne, die gar keine Rechtsverbindlichkeit hat. Was den
Gnadenweg betrifft, so ist der Verurteilte darauf überhaupt ohne jeden Einfluß,
denn j e d e s Todesurteil bedarf der Bestätigung, früher
durch den Landesherrn, jetzt durch das Staatsministerium. Daß es zur
Bestätigung des Urteils, also zur Vollstreckung, kommt, ist kaum anzunehmen,
denn schon unter dem alten Regime wurden Todesurteile fast nie bestätigt, wenn
die Beweisführung sich in der Hauptsache auf Indizien stützte. Es ist ferner
angenommen worden, daß Grupen auf das Vermögen von Kleppelsdorf machtgierig
lossteuerte. Er war aber gar nicht Erbe, sondern zu einem Teile Frau Eckert
(nach deren Ableben die kleine Irmgard) und andererseits die Rohrbecks. Also
nur auf Umwegen durch die Generalvollmacht, diese aber auch nur schwer, oder
Beseitigung der Frau Eckert und der Irmgard konnte Grupen zu dem vermeintlichen
Ziele gelangen. Anderes, wie sein ausschweifendes Liebesleben, wobei nicht
vergessen werden darf, daß es ihm die Schönen von Ottenbüttel offenbar nicht
sehr schwer gemacht haben, sie zu erobern, lief nur nebenher. Also Indizien,
und als ihr Fundament seien gefühlsmäßige Erwägungen, daß ein a n d e r e r als der Täter nicht in Frage komme. Da aber
ein Angeschuldigter nicht seine Unschuld zu beweisen hat, sondern ihm lückenlos
seine Schuld dargetan werden muß, hier aber sicherlich die rein gefühlsmäßige
Seite ausschlaggebend war, woraus an sich den Geschworenen kein Vorwurf gemacht
werden soll, so würde es nützlich sein, wenn das Reichsgericht, an das
Justizrat Dr. Ablaß bestimmt appelieren wird, eine erneute Prüfung des blutigen
Dramas anordnen sollte.
Sonnabend, 31. Dezember 1921, „Norddeutsche
Nachrichten“
Lokaler
Jahres-Rückblick
…
15.
März: P
e t e r G r u p e n , in Haseldorf geboren, wird unter dem
Verdacht des dreifachen Mordes verhaftet
…
20.
Dezember: Das Schwurgericht in
Hirschberg verurteilt nach 14 tägiger Verhandlung P e t e r G r u p e n
zweimal zum Tode und zu 5 Jahren Zuchthaus
Montag, den 9. Januar 1922, „Norddeutsche
Nachrichten“
Haseldorf, im Januar.
G r u p e n h a t
k e i n e R e v i s i o n e i n g e l e g t !
Aus Hirschberg wird gemeldet: Der wegen
Doppelmordes auf Schloß Kleppelsdorf vom Hirschberger Schwurgericht zum Tode
verurteilte Peter Grupen hat keine Revision eingelegt. Die Frist zur Einlegung
der Revision ist am 30. Dezember ergebnislos verstrichen. Die Strafe ist mithin
rechtskräftig geworden und würde vollzogen werden können.
Donnerstag, den 26. Januar 1922,
„Norddeutsche Nachrichten“
P e t e r G r u p e n
u n t e r d e m V e r d a c h t d e s
G a t t e n m o r d e s .
Wegen Verdachtes der Ermordung seiner Ehefrau
hat die Staatsanwaltschaft in Altona nunmehr die Voruntersuchung gegen Peter
Grupen eingeleitet, der bekanntlich in Hirschberg wegen Doppelmordes zweimal
zum Tode verurteilt ist. Dieses Urteil hat noch keine Rechtskraft erlangt, weil
Grupen beim Reichsgericht Revision angemeldet hat. Die Ehefrau Grupen
verschwand plötzlich, und sollte heimlich nach Amerika gereist sein. Die vor
längerer Zeit im Schulauer Hafen gefundene weibliche Leiche kommt als die der
Frau Grupen nicht in Frage, da diese Leiche inzwischen von den Angehörigen
identifiziert worden ist.
Freitag, den 27. Januar 1922, „Norddeutsche
Nachrichten“
Die Tragödie von Kleppelsdorf wird von der
Filmschauspielerin Martha Orlanda für den Film bearbeitet.
Sonnabend, den 28. Januar 1922, „Norddeutsche
Nachrichten“
Haseldorf, im Januar
Selbstmordversuch
des Doppelmörders Grupen.
Der in der Kleppelsdorfer Mordaffäre zweimal
zum Tode verurteilte Architekt Grupen unternahm in Gerichtsgefängnis in
Hirschberg einen Selbstmordversuch. Er versuchte sich zu erhängen, konnte aber
durch das rechtzeitige Hinzukommen der Gefängnisbeamten gerettet werden.
Montag, den 30. Januar 1922, „Norddeutsche
Nachrichten“
Haseldorf, im Januar.
D e r v e r h i n d e r t e P e t e r
G r u p e n .
Peter Grupen, der Doppelmörder von
Kleppelsdorf, hat sich im Gefängnis aufgeknüpft, und der Gefängniswärter ist
gerade noch rechtzeitig dazugekommen, um ihn abzuschneiden. Darauf wurde diese
Meldung (wörtlich) durch die Presse gejagt: Peter Grupen konnte gerettet
werden. Wozu konnte er gerettet werden? fragt die „N. H. Ztg.“. Er ist zweimal
zum Tode verurteilt und hat das Urteil soeben selbst an sich vollziehen wollen.
Aber solcher Prozeß muß ordnungsgemäß mit Henkersmahlzeit, dem Herrn
Scharfrichter mit Beil, Zinderhut und dem sonstigen Zubehör vollzogen werden.
Ein Glück also, daß Peter „gerettet“ werden konnte! Man wäre sonst in die
größte Verlegenheit gekommen. Nun wird Peter Grupen wohl noch behutsamer
konserviert werden, damit er nicht ein zweites Mal die hochnotpeinliche
Prozeßordnung in Schwierigkeiten bringt. Ob sich Peter Grupen zu dieser
„Lebensrettung“ wird gratulieren lassen? Das dürfte immerhin fraglich sein! -
Kurz nach jenem Selbstmordversuch ist Grupen übrigens in einen Hungerstreik
eingetreten, den er jedoch bald aufgab. Sein Verhalten zu den Beamten, die ihn
früher lobten, ist jetzt ein sehr übles.
Freitag, den 24. Februar 1922, „Norddeutsche
Nachrichten“
Peter
Grupen entflohen.
Aus Hirschberg kommt die sensationelle
Nachricht, daß der zweimal zum Tode verurteilte Peter Grupen, dessen Revision
vom Reichsgericht verworfen worden ist, aus dem Gefängnis entflohen und noch
nicht wieder ergriffen ist.
Sonnabend, den 25. Februar 1922,
„Norddeutsche Nachrichten“
Haseldorf, im Februar.
G r u p e n h a t
s i c h w i e d e r g e s t e l l t .
Der Kleppelsdorfer Doppelmörder, der am
Donnerstag aus dem Gefängnis in Hirschberg geflohen war, stellte sich abends im
Gefängnis selbst. - Der „Bote aus dem Riesengebirge“ meldet noch zu der Flucht
Grupens aus dem Hirschberger Gerichtsgefängnis: Grupen schläferte einen seiner
beiden Zellengenossen am Donnerstag mit Schlafpulver ein und eignete sich
dessen Zivilkleider an. Aus der Zelle, in der Grupen untergebracht war, ist
bereits früher ein Gefangener ausgebrochen, nachdem er die Querstange des
vergitterten Fensters durchsägt hatte. Diese Querstange wurde mit Hilfe zweier
Laschen repariert. Die Köpfe der Nieten, womit diese Laschen an der Querstange
angebracht waren, durchsägte Grupen und die Mitgefangenen mit einem zur Säge
umgewandelten Brotmesser und bogen daraufhin das Gitterwerk auseinander,
zwängten sich durch die Oeffnung hindurch und ließen sich dann en einem Strick
hinunter. Die beiden Gefangenen, die Grupen beim Ausbruch behilflich waren,
stellten sich Freitag früh wieder und erklärten, unter einem unbegreiflichen
Zwange gehandelt zu haben, den Grupen auf sie ausübte. Wie das zur Säge
umgewandelte Brotmesser und das Schlafpulver in den Besitz Grupens gelangte, ist
bis jetzt ungeklärt.
Montag, den 27. Februar 1922, „Norddeutsche
Nachrichten“
Haseldorf, im Februar.
W a r u m G r u p e n a u s g e b r o c h e n s e i n
w i l l .
Aus Hirschberg wird berichtet: Grupen, der zunächst
nach seiner Gestellung jede Auskunft verweigerte, erklärte später, daß er
ausgebrochen sei, um zu beweisen, daß er aus eigener Kraft seine Freiheit zu
erlangen vermochte, und zurückgekehrt sei, um seine Unschuld darzutun. Diese
Erklärung findet keinen Glauben, man ist der Ueberzeugung, daß es ihm aus
irgend einem Grunde unmöglich geworden ist, sich in Sicherheit zu bringen. Bei
seiner Rückkehr ins Gefängnis will Grupen die Mauer mit Hilfe zweier Personen
überklettert haben. Diese Personen zu nennen, lehnt Grupen ab. Es fanden
umfangreiche Nachforschungen nach Grupens Helfershelfer und auch Haussuchungen
statt, sie hatten jedoch keinerlei positives Ergebnis. Die in Berlin
verbreiteten Gerüchte, daß zwei Gefängnisbeamte in Untersuchungshaft genommen seine,
entbehren jeder Begründung. - Das Verfahren wegen Mordes an Grupens Frau kann
noch nicht gegen Grupen eröffnet werden, da von Altona aus noch keine
Mitteilung darüber nach Hirschberg gelangt ist. Dagegen wird gegen die durch
Grupens Fluchtversuch belasteten Beamten ein Verfahren eingeleitet, zu dem
Grupen als Zeuge zu erscheinen hat. Nach seiner Wiedergestellung spielt Grupen
die Rolle des Märtyrers. Er verweigert immer noch jede Auskunft über seine
Flucht und hofft auf dem Wege des in Altona anzuberaumenden Verfahrens wegen
Mordverdachts an seiner Frau eine Wiederaufnahme des Kleppelsdorfer
Doppelmordprozesses zu erreichen.
Donnerstag, den 2. März 1922, „Norddeutsche
Nachrichten“
Haseldorf, im März.
D i e
F l u c h t a f f ä r e P e t e
r G r u p e n s .
Im Laufe der Untersuchung verwickelt sich die
Fluchtaffäre Peter Grupens immer mehr. Während Grupen bisher immer behauptet
hatte, er habe sich während seiner Abwesenheit aus dem Gefängnis in einer
Privatwohnung in der Wilhelmstraße aufgehalten, tritt er jetzt mit der
Behauptung hervor, daß er das Gefängnisgrundstück gar nicht verlassen, sondern
sich vielmehr im Blitzableiterschacht im Holzhofe verborgen gehalten habe. Ob
diese Angaben nun richtig sind, läßt sich natürlich noch nicht sagen. Es ist
aber nicht zu verkennen, daß für diese Angaben verschiedenen Momente sprechen.
So war Grupen, als er sich abends stellte, ausgehungert, er hatte auch keine
Schuhe an, und die Beschaffenheit seiner Strümpfe sprach nicht dafür, daß er
den ganzen Tag ohne Fußbekleidung umhergelaufen sei. Es herrscht wohl aber kein
Zweifel, daß er die Flucht seit längerer Zeit sorgfältig vorbereitet hat. Seine
Behauptung, er habe damit eine leere Kundgebung für seine Unschuld veranstalten
wollen, ist unglaubwürdig. Uebrigens sei erwähnt, daß an Grupen sehr viele
Zuschriften von Damen ankommen. Blumen und Schokolade gehen für Grupen sehr
viel ein, werden ihm indessen nicht ausgeliefert. Die Untersuchung wegen des
Verschwindens der Frau Grupen ist noch nicht so weit vorgeschritten, daß schon
ein Termin für die Verhandlungen vor dem Altonaer Schwurgericht festgesetzt
werden konnte.
Freitag, den 3. März 1922, „Norddeutsche
Nachrichten“
Haseldorf, im März.
G r u p e n
h a t S e l b s t m o r d v e r ü b t .
Der wegen des Kleppelsdorfer Doppelmordes
zweimal zum Tode verurteilte Peter Grupen verübte in seiner Zelle Selbstmord.
Gestern nachmittag wurde er von den revidierenden Beamten am Hosenträger
hängend in der Zelle tot aufgefunden. Grupen war seit der Flucht in der vergangenen
Woche in Einzelhaft. Er hatte vor dem Selbstmorde keinerlei Anzeichen der
Erregung gezeigt und sein Mittagessen in voller Ruhe verzehrt. Um 4 Uhr
nachmittags wurde die Zelle revidiert und alles in Ordnung gefunden. Als um 4 ¾
Uhr eine weitere Revision stattfand, fand man Grupen an der Zentralheizung
erhängt vor. Sofort wurden Wiederbelebungsversuche unternommen, die erfolglos
blieben. Grupen hatte schriftliche Aufzeichnungen nicht hinterlassen und auch
zu niemandem eine Aeußerung getan, die auf sein Vorhaben schließen ließ. Grupen
hat schon einen Selbstmordversuch verübt, der aber infolge der Achtsamkeit des
Gefängnispersonals mißlang. Er scheint die Tat in einem seelischen
Zusammenbruch verübt zu haben.
Sonnabend, den 4. März 1922, „Norddeutsche
Nachrichten“
Die
Affäre Grupen.
Bei einer nicht gerade ernstgeführten
Diskussion über die Begnadigung von Schwerverbrechern hat Bismarck einmal auf
die Mühe und Anstrengungen verwiesen, die das Einfangen eines Mörders, sein
Festhalten bis zur Verurteilung und die Ueberwachung der lebenslänglichen Haft
verursachten. Die Hirschberger Gefängnisleitung muß ihre Aufgabe entweder nicht
sonderlich ernst oder nicht bemerkenswert intelligent aufgefaßt haben. Daß da
etwas faul war, beweisen die Beurlaubungen und Entlassungen mehrerer leitender
Strafanstaltsbeamter im letzten Vierteljahr. Schon der erste Selbstmordversuch
Grupens warf ein bedenkliches Schlaglicht auf die Ueberwachung im Hirschberger
Gefängnis. Man hätte annehmen müssen, daß der beliebteste Strickersatz, nämlich
der Hosenträger, dem Delinquenten abgenommen wurde. Die Gefängnisleitung wußte
einen anderen Ausweg, sie gesellte Grupen zwei Zellengenossen bei, die ihn überwachen
sollten. Die Wirkung war der gemeinsame Ausbruch aller drei, bei dem, wie das Strohtau
beweist, von außen Beihilfe geleistet wurde. Noch ist es nicht aufgeklärt, wo
sich Grupen an dem Freitag, an dem er entwichen war, aufgehalten hatte. Am
glaubhaftesten ist die Lesart, daß er sich im Holzhof des Gefängnisses
verborgen gehalten hatte und wieder zum Vorschein kam, weil der von langer Hand
vorbereitete Plan der Flucht an dem Versagen der Beihilfe, die
höchstwahrscheinlich von Gefängnisbeamten erwartet wurde, scheiterte. Nun
glaubte die neue Leitung der Strafanstalt etwas besonders Gescheites zu tun,
als sie den gefährlichen Häftling wieder in eine Isolierzelle steckte. In ihr
fand er die alte, mangelhafte Ueberwachung, sah die Rohre der Zentralheizung
und knüpfte an sie die Schlinge seines Hosenträgers. Er nahm dem Scharfrichter
die Arbeit ab und ersparte der arg blamierten Gefängnisleitung weitere Mühen.
Die Affäre Grupen wäre somit restlos
erledigt, wenn nicht dieser Selbstmord es verhinderte, daß Licht in ein anderes
dunkles Verbrechen gebracht würde, in dem sehr wahrscheinlich Grupen auch der
Mörder war. Die A l t o n a e r Strafbehörde hatte bereits die Akten aus dem
Hirschberger Prozeß gegen den Doppelmörder von Kleppelsdorf eingefordert, um
gegen Grupen wegen des geheimnisvollen
V e r s c h w i n d e n s e i n
e r E h e f r a u zu verhandeln. Grupen, der die Mittel besaß,
die beiden berühmtesten Anwälte Schlesiens für die Verteidigung in der
Kleppelsdorfer Mordaffäre zu gewinnen, hatte auch für den Prozeß in Altona
bereits einen Hirschberger Anwalt genommen, der zunächst Schritte für die
Hinausschiebung der Todesstrafe unternahm. Gleichzeitig erfolgte das Gnadengesuch
an den Justizminister, in dem Grupen wieder seine Unschuld an dem
Kleppelsdorfer Doppelmord beteuerte. Wie der Altonaer Prozeß geführt werden
sollte, war noch nicht ganz klar, weil Frau Grupen spurlos verschwunden ist.
Die bei Schulau gefundene Leiche, in der anfänglich die Vermißte vermutet
wurde, kam nach der Aussage des Zahnarztes der Frau Grupen nicht in Betracht.
Bisher ist von preußischen Gerichten noch kein Strafurteil gefällt worden, wenn
Ueberreste der ermordeten Person nicht vorhanden waren. Das Geheimnis der verschwundenen
Ehefrau nimmt Grupen mit ins Grab. Ob sein Bruder, der im Hirschberger Prozeß
auftrat, darum weiß, wie manche vermuten, bleibt die nächste Frage, die nun die
Altonaer Staatsanwaltschaft beschäftigen wird. Peter Grupen und sein neuer
Hirschberger Anwalt verkündeten in den letzten Tagen, der Altonaer Prozeß würde
neues Licht in die Kleppelsdorfer Mordaffäre bringen, es würden sich neue
Momente ergeben, die den Wahrspruch der Hirschberger Geschworenen ins Wanken
bringen könnten. Mit seinem Selbstmord hat sich Peter Grupen selbst dementiert,
und die unfähige Leitung des Hirschberger Gefängnisses hat ihr Teil dazu
beigetragen, daß der Verbleib der Ehefrau ungeklärt bleibt.
Der Schauerroman Grupen ist erledigt. Er hat
die Oeffentlichkeit über Gebühr beschäftigt und doch nicht volle Klarheit
erbracht. Ein Abschluß war schon deshalb zu ersehnen, weil gewisse Begleitumstände
des Prozesses einen moralischen Tiefstand offenbarten, dessen wir uns vor aller
Welt zu schämen hätten. Solange dieser kaltblütige Abschlächter zweier Kinder
nämlich noch nicht als Strafgefangener zu beachten war, also bis zu der
rechtskräftigen Mitteilung des Urteils und der Verwerfung der Revision in den
letztvergangenen Tagen, war er der Gegenstand entgleister Sympathien moralisch
schwachsinniger Weiber. Erst kurz vor seinem Selbstmord wurden die an Peter
Grupen gerichteten Schokoladensendungen, Blumengrüße und hysterischen Briefe
zurückgehalten. Bis dahin hatte sich das zarte Gemüt des schwachen Geschlechts
an diesem Scheusal ausrasen können. Es ist eine Unterlassungssünde, daß die
Absenderinnen nicht beim Namen aufgerufen wurden, sondern daß man nur erfährt,
wie stark Berlin W. an diesen perversen Huldigungen beteiligt war. Eine
öffentliche Anprangerung wäre doch für kommende Fälle heilsam gewesen. Kann sie
nicht noch nachgeholt werden?
Donnerstag, den 9. März 1922, „Norddeutsche
Nachrichten“
Peter
Grupens verschwundene Frau.
Der vom Schwurgericht in Hirschberg wegen
zweifachen Mordes verurteilte P e t e
r G r u p e n , der sich inzwischen erhängt hat, sollte noch
einmal vor das Schwurgericht Altona kommen, um sich wegen des Verschwindens
seiner Frau zu verantworten. Dieser Prozeß ist durch den Tod Peter Grupens
verhindert worden. Wie jetzt aus H i r
s c h b e r g gemeldet wird, hat sich
dort ein Z e u g e gemeldet, der erklärte, am 29. September
1920 habe er als diensttuender Wächter auf der Mole in N o r d e n h a m gestanden und einen a m e r i k a n i s c h e n D a m p f e r nach Südamerika auslaufen sehen. An Bord sei
ihm eine F r a u aufgefallen, auf welche g a n z
g e n a u d i e B e s c h r e i b u n g p a s s e ,
welche Frau Schade von ihrer Tochter gab.
Sonnabend, den 11. März 1922, „Norddeutsche
Nachrichten“
P e t e r
G r u p e n
wurde am Dienstag auf dem Hirschberger
Kommunalfriedhof begraben. Seine Verwandten, von denen niemand bei der
Beerdigung erschienen war, hatten sich geweigert, die Begräbniskosten zu
tragen, die deshalb von der Hirschberger Armenverwaltung übernommen werden
mußten. - Der Gefängnisinspektor Schentke in Hirschberg hat sich Donnerstag
abend in seiner Wohnung erschossen. Er gehörte zu denjenigen Gefängnisbeamten,
die Grupen im Gefängnis unerlaubte Gefälligkeiten erwiesen haben. Auf dieses
dunkle Treiben jener Beamten hat die Staatsanwaltschaft bei der Flucht Grupens
selbst hingewiesen. Allerdings war Schentke, der in einem besonderen freundschaftlichen
Verhältnis zu Grupen gestanden haben muß, schon im Januar, weil er mit einer
Strafgefangenen ein zärtliches Verhältnis angeknüpft hatte, vom Dienst
suspendiert und das Disziplinarverfahren gegen ihn eröffnet worden. Trotzdem
hat Schentke auch nachher mit Grupen die Verbindung aufrecht zu erhalten
gewußt. Grupen hat auch vor der Flucht zu Mitgefangenen geäußert, daß er sich
in die in die Nähe des Gefängnisses in der Wilhelmstraße gelegene Wohnung des
Gefängnisinspektors begeben wolle. Es unterliegt also keinem Zweifel mehr, daß
der Gefängnisinspektor bei der Beschaffung von Hilfsmitteln zu der Flucht
behilflich gewesen ist. Da gegen andere Gefängnisbeamte noch das
Disziplinarverfahren schwebt, kann über Einzelheiten aus dieser Untersuchung
vorläufig nichts mitgeteilt werden.
Mittwoch, den 22. März 1922, „Norddeutsche
Nachrichten“
D e r
G e i s t d e r F r a u
G r u p e n s o l l z i t i e r t w e r d e n .
Die Familie des Selbstmörders Grupen hat
beschlossen, die Wiederaufnahme des Prozesses zu betreiben und allen Ernstes
wird in der nächsten Woche eine spiritistische Sitzung abgehalten werden, um
den Geist der Frau Grupen, die bekanntlich nach Amerika ausgewandert sein soll,
zu zitieren und sie über ihren Aufenthaltsort zu befragen. Die Veranstalter
berufen sich darauf, daß auch in dem Prozeß der Ermordung der beiden
Heidelberger Bürgermeister die Spur durch eine Hellseherin gefunden worden sei.
- In
erster Linie Suche nach Todesanzeige für den jungen Herrn Pingel; nicht
gefunden -
Freitag,
18. Februar 1921, „Hannoverscher Kurier“, Abend-Ausgabe
Doppelmord im
Riesengebirge.
Ein s
c h w e r e s V e r b r e c h e n ist auf dem Schlosse K l ö p p e l s d o r f i m R
i e s e n g e b i r g e verübt worden.
Dort wurde die Besitzerin des Rittergutes, die elternlose 16 Jahre alte
Dorothea R o h r b e c k , in ihrem Zimmer tot aufgefunden. Sie war
durch mehrere Schüsse in Hals und Brust getötet worden. Neben ihr lag mit einer
Schußwunde über dem rechten Auge ihre 12jährige Kusine Ursula S c h a d e
aus Berlin, die vor einiger Zeit mit ihrer 9jährigen Schwester auf
Besuch gekommen war. Sie starb zwei Stunden nach Entdeckung der Tat, ohne das
Bewußtsein wiedererlangt zu haben. In ihrer Tasche fand man einen Brief an ihre
Großmutter in Berlin, in dem sie mitteilt, daß sie zuerst ihre Kusine und dann
sich selbst erschießen werde. Unter dem dringenden Verdacht der Täterschaft ist
der Architekt Peter G r u p e n aus Oldenbüttel bei Itzehoe v e r h a f t e t worden; er ist der Stiefvater der Ursula
Schade, von dem man annimmt, daß er danach trachtete, sich in den Besitz des
großen Vermögens der Dorothea Rohrbeck zu setzen. Man glaubt, daß Grupen seine
Stieftochter Ursula hypnotisiert und ihr in diesem Zustande befohlen hat, den
Abschiedsbrief an die Großmutter zu schreiben und dann die beiden Schüsse auf
ihre Kusine und schließlich auf sich selbst abzugeben. Schwer belastet
erscheint auch der Vormund der Dorothea Rohrbeck, dessen Aufenthalt nicht
ermittelt werden kann.
Mittwoch,
21. Dezember 1921, „Hannoverscher Kurier“, Morgen-Ausgabe
Todesurteil gegen
einen Doppelmörder.
Drahtmeldung.
Hirschberg,
20. Dezember
Der des
Doppelmordes angeklagte Peter G r u p e
n wurde vom hiesigen Schwurgericht
wegen M o r d e s i n
z w e i F ä l l e n zweimal
z u m T o d e und wegen Sittlichkeitsverbrechens zu fünf
Jahren Zuchthaus und dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt.
Der Angeklagte erklärte, auf jede R e v
i s i o n u n d B e g n a d i g u n g v e r z i c h t e n zu wollen.
*
Der Mordprozeß auf Kleppelsdorf hat über zwei
Wochen lang den S e n s a t i o n s h u n g e r mancher Deutschen gestillt. Mehr aber nicht.
diese Aufgabe erschien uns zu gering, als daß wir sie durch eingehende
Prozeßberichterstattung zu der unserigen hätten machen sollen. Wir haben
deshalb in einer Zeit, in der der Raum jeder einzelnen Zeile in der Zeitung für
Wichtigeres gespart werden muß, von einer solchen eingehenden Berichterstattung
über den täglichen Gang der Gerichtsverhandlung abgesehen. Bei Lichte besehen
war der Mirdprozeß von Kleppelsdorf ja auch nur ein Mordprozeß, wie sie unsere
Zeit leider nur allzu oft miterleben muß als die Ausgeburt von trüben Verhältnissen,
die der Strom der Ereignisse über das deutsche Volk mit hinweggeschwemmt hat.
Jedenfalls ist dieser Mordprozeß ganz und gar nicht mit den großen politischen
Prozessen zu vergleichen, die auch in letzter Zeit die Beachtung des deutschen
Volkes fanden und verdienten, wie dem Hölzprozeß, dem Jagowprozeß, dem Reigenprozeß
oder gar den Prozessen gegen die deutschen Kriegsbeschuldigten. Allenfalls
könnte noch der Hölzprozeß und der Reigenprozeß zu gewissen Vergleichen mit dem
Kleppelsdorfer Prozeß herausfordern, denn auch sie beide sind Zeugen für eine
Moral, gegen die die Besseren im deutschen Volke in unser Zeit einen unsäglich
schweren Kampf führen müssen. Dennoch spielte in diese beiden Prozesse soviel
des Plitischen und Kulturellen hinein, daß sie ganz anders denn ein Mordprozeß
gewertet werden mußten.
Nachdem nun das Urteil in dem Mordprozeß auf
Kleppelsdorf, der in Hirschberg seit dem 5. d. Mts. verhandelt wurde, gefällt
worden ist, sei nur kurz d i e V o r g e s c h i c h t e d i e s e s
P r o z e s s e s hier
wiedergegeben. Angeklagt war der sechsundzwanzigjährige Peter G r u p e n , und zwar angeklagt des Doppelmordes an
seiner 13jährigen Stieftochter Ursula S
c h a d e und deren 16jährige Kusine
Dorothea R o h r b e c k , der jugendlichen Besitzerin des Gutes
Kleppelsdorf. Die beiden jungen Mädchen wurden am 14. Februar 1921 mittags in
einem Zimmer des Gutes mit Kopfschüssen tot aufgefunden. Durch eine kleine
Pistole, die neben Ursula Schade lag, konnte der Anschein erweckt werden, als
hätte diese ihre Kusine und dann sich selbst erschossen. Der Verdacht fiel aber
noch an demselben Nachmittag auf Peter Grupen und führte zu dessen sofortiger
Verhaftung.
Die jetzigen Prozeßtage haben natürlich
vieles Erregende hervorgebracht. Der Angeklagte hat kalt und hartnäckig jede
Schuld bestritten. Besondere Beachtung verdienten auch die Aussagen über die
Frau des Angeklagten, die im Herbst vorigen Jahres plötzlich verschwunden ist
und sich in Amerika aufhalten soll, ohne daß bisher Bestimmtes über ihr Dasein
bekannt geworden ist. Die Verhandlungen über den Lebenswandel des Angeklagten
erforderten wiederholt ganze Tage den Ausschluß der Oeffentlichkeit. Die
Beweisführung stützte sich im wesentlichen auf Indizien und auf das Urteil der
Sachverständigen, während die Vermutung, daß hypnotische Absonderlichkeiten
zutage gefördert werden würden, unerfüllt geblieben ist.
Mittwoch,
21. Februar 1922, „Hannoverscher Kurier“, Abend-Ausgabe
Das
Todesurteil gegen Grupen.
Drahtmeldung unserer Berliner Schriftleitung.
Berlin, 21. Dezember.
Durch den
V e r z i c h t d e s D o p p e l m ö r d e r s G r u p e n
a u f R e v i s i o n , den er vor dem zuständigen Gericht -
vermutlich ohne sich über die Tragweite klar zu sein - ausgesprochen hat,
ist d a s T o d e s u r t e i l u n w i d e r r u f l i c h u n d
r e c h t s k r ä f t i g
geworden. Anders steht es mit dem Verzicht auf die G n a d e n m i t t e l , deren Anwendung v o n
G r u p e n s W i l l e n u n a b h ä n g i g i s t .
Nach der Strafprozeßordnung darf ein Todesurteil erst vollstreckt
werden, wenn das Staatsoberhaupt die Begnadigung abgelehnt hat. Es wird also in
jedem Fall geprüft, ob vom Begnadigungsrecht Gebrauch gemacht wird oder nicht.
Nach der Preußischen Verfassung übt das preußische Staatsministerium im Namen
des Volkes das Begnadigungsrecht aus. Für diese Ausübung gelten die Grundsätze
des alten preußischen Staates, nämlich, daß in keinem Fall eine Todesstrafe
vollstreckt wird, wo nicht ein völlig lückenloser, jeden Justizirrtum
ausschließender Beweis vorliegt.
- Nicht
weiter durchgesehen! -
Achtung:
Der Anfang der Berichterstattung ist voller Fehler!
Mittwoch, 16. Februar 1921, “Vossische Zeitung”
Morgen-Ausgabe
Der
Raubmord auf Schloß Kleppelsdorf.
Vor einigen Tagen wurde die 16jährige
Besitzerin des Schlosses Kleppelsdorf bei Lähn im Riesengebirge, Dorothea R o h r b e c k , in ihrem Zimmer erschossen aufgefunden. Neben
ihr lag ihre zu Besuch auf dem Schlosse weilende Cousine Ursula S c h a d e
aus Berlin mit einer schweren Schußverletzung über dem Auge. Das
zwölfjährige Mädchen hatte in seiner Tasche einen Brief an seine Großmutter in
Berlin, in dem es schreibt, daß es seine Cousine Rohrbeck und sich selbst
erschießen werde. Die Polizei stand diesem Briefe ungläubig gegenüber. Unter
dem dringenden Verdachte der Täterschaft wurde jetzt der auf dem Schlosse
weilende Onkel der Besitzerin, Peter Grupen aus Berlin, verhaftet.
Mittwoch, 16. Februar 1921, “Vossische
Zeitung” Abend-Ausgabe
Der
Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.
Der mysteriöse Doppelmord auf Schloß
Kleppelsdorf bei Lähn in Schlesien, bei dem die 16jährige Schloßherrin
Dorothea R o h r b e c k sowie ihre Berliner Kusine Ursula S c h a d e
von einem unbekannten Täter umgebracht wurden, ist bisher noch nicht
geklärt worden. Auch beim Berliner Polizeipräsidium ist, obgleich der wegen
Mordverdachts verhaftete Stiefvater der Ursula Schade, der Grundstücksspekulant
Peter Gruppe aus Berlin-Tempelhof stammt, über die dunkle Tat nichts bekannt.
Wie wir von anderer Seite erfahren, leugnet G., mit der Tat in irgendeinem
Zusammenhang zu stehen. Es wird vermutet, daß der Täter einen Selbstmord der
beiden jungen Mädchen dadurch vorzutäuschen suchte, daß er der 12jährigen
Ursula Schade einen gefälschten Brief an ihre Berliner Verwandten, in dem sie
schreibt, daß sie sich und ihre Kusine erschießen wolle, in die Tasche steckte.
Die beiden jungen Mädchen lebten mit einer zahlreichen Dienerschaft allein auf
dem Schlosse, da Dorothea Rohrbeck Waise und alleinige Besitzerin des
Rittergutes Kleppelsdorf sowie zweier anderer großer Güter war. Der verhaftete
Stiefvater G. hatte in Berlin viel Geld durch Grundstücksspekulationen verdient.
Er war in zweiter Ehe mit der Frau des verstorbenen Apothekers Schade in Berlin
verheiratet. Frau G. verließ jedoch ihren Mann nach kurzer Zeit und lebt jetzt
in Amerika.
Donnerstag, 17. Februar 1921, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe, 1. Beilage
Der
Mord auf Schloß Kleppelsdorf.
Drahtmeldung unseres Sonderberichterstatters.
Lähn, 16. Februar.
Das Verbrechen an der 16 Jahre alten
Rittergutsbesitzerin Dorothea R o h r b
e c k und ihrer 12 Jahre alten Base
Ursula S c h a d e , die beide am Montag Mittag auf ihrem S c h l o s s e K l e p p e l s d o r f erschossen aufgefunden wurden, befindet sich
durch die Verhaftung des 41 Jahre alten Architekten Peter G r u p e n
aus Oldenbüttel bei Itzehoe vor der völligen Aufklärung. Es steht fest,
daß der noch immer leugnende Verbrecher seit zwei Jahren ununterbrochen nur das
eine Ziel vor Augen gehabt hat, alle Erben der Rohrbeckschen Güter und des
Rohrbeckschen Vermögens zu beseitigen, um sich selbst in den Besitz des
Eigentums zu begeben.
Der Hirschberger Staatsanwalt ist heute mit
mehreren Kriminalbeamten, dem Obduktionsarzt und Photographen in Schloß
Kleppelsdorf eingetroffen, um nach den ersten Voruntersuchungen die weiteren
Nachforschungen selbst zu leiten. Das Schloß Kleppelsdorf ist ein
villenartiges, zweistöckiges Gebäude in der Nähe des Städtchens L ä h n
an der Bober, 17 Kilometer von Hirschberg entfernt. Es ist von Scheunen
und Bauernhäusern auf der einen Seite und von einem großen Park auf der anderen
Seite umgeben, so daß es völlig abseits liegt. Es gehört seit Jahrzehnten der
begüterten Rittergutsbesitzersfamilie Rohrbeck, die außerdem noch Güter in
Gießhübel und Kuttenberg ihr eigen nannte. Frau Rohrbeck, geborene Eckhardt,
war bei der Geburt ihrer Tochter Dorothea im Jahre 1905 gestorben. Ihr Ehemann
verschied während des Krieges. So wurde Dorothea Rohrbeck im Jahre 1919 bereits
als 14jährige Vollwaise die Alleinerbin der gesamten Güter und des ganzen
Vermögens ihrer Familie. Als Aufsichtsdame und Gesellschafterin engagierte sie
sich ein junges Fräulein. Das Gut wird von einem alten, bewährten und bejahrten
Direktor geleitet.
Vor acht Tagen erhielt sie den Besuch ihrer
beiden Cousinen, der zwölfjährigen Ursula Schade und der neun Jahre alten Irma
Schade, die mit ihrem Stiefvater, dem Architekten Peter Grupen aus Oldenbüttel,
auf dem Schloß ankamen. In ihrer Begleitung befand sich auch die gemeinsame
Großmutter der beiden Schades und der Dorothea Rohrbeck, eine Frau Eckhardt.
Mit seiner Frau lebte Grupen, der selbst unter großen Mühen mit dunklen Schiebergeschäften
seinen Lebensunterhalt verdienen konnte, längst nicht mehr zusammen. Aus
Briefen, die man bei der ermordeten jugendlichen Gutsbesitzerin vorfand, ergab
sich, daß Grupen die 16jährige Dorothea mit
H e i r a t s a n t r ä g e n v
e r f o l g t hatte, aber stets von dem
Mädchen abgewiesen worden war. Weitere Briefe, die man bei ihm beschlagnahmt
hat, wiesen auf eine Spur zu seinen Helfershelfern und Mitwissern in der Nähe
von Berlin. Um sich nun nach den hartnäckigen Abweisungen des jungen Mädchens
doch in den Besitz der Güter und des Vermögens zu bringen, hat Grupen aller
Wahrscheinlichkeit nach den Mord und Selbstmord inszeniert. Allerdings ist man
von der Ansicht der ersten Tage abgekommen, wonach Grupen den beiden Kindern im
Esszimmer aufgelauert und sie dort selbst erschossen hat. Man neigt jetzt zu
der Annahme, daß der Architekt, ein einarmiger Mann mit einer romanhaft
bewegten Vergangenheit, seine Stieftochter durch Hypnose zur Niederschrift des
vorgefundenen Abschiedsbriefes an die Großmutter Eckhardt gezwungen und dem
Mädchen ferner mit Hilfe seiner hypnotischen Macht befohlen hat, daß es erst
die Base und dann sich selber erschießen solle. Denn es ist nicht denkbar, daß
ein zwölf Jahre altes kleines Mädchen bei klarem Bewußtsein ohne die geringste
Veranlassung und mit bewundernswerter Sicherheit zunächst ihre zwölf Schritte
von ihr entfernt stehende Cousine erschossen und dann noch einen Schuß in ihre
eigene Schläfe abgedrückt hat. Es steht fest, daß das Kind kurz vorher noch mit
einem Gutsangestellten über einen in den nächsten Tagen beabsichtigen Ausflug
geplaudert hatte. Sachverständige der Hypnose und Telepathie sind bereits zur
Begutachtung aufgefordert worden.
Die V
e r n e h m u n g der Hausangestellten
hat ergeben, daß der Architekt Grupen die Bedienung zu der fraglichen Zeit aus
der Küche nahe dem Mordzimmer mit Aufträgen fortgelockt hat. Darum nimmt es
nicht wunder, daß niemand der zahlreichen Mitbewohner des Schlosses die
abgefeuerten Schüsse vernommen hat. Am Tage des Mordes um 12 Uhr mittags war
Dorothea wie immer zur Post gegangen, um dort Briefschaften abzuholen. Auf dem
Heimwege hat sich ihr die jüngere Cousine angeschlossen und ist mit ihr in den
Vorraum des Eßzimmers gegangen, wo kurz darauf ein Mädchen die ältere tot und
die jüngere sterbend auf dem Fußboden liegend auffand. Grupen bleibt bei seiner
ersten Behauptung, wonach er mit dem Verbrechen in k e i n e r l e i Beziehung steht. Nach seinen Angaben habe er
am Montag in aller Frühe mit seinem Revolver im Park Spatzen geschossen, er
habe die Waffe aber nach Abgabe von drei Schüssen wieder gesichert und sie auf
dem Speisezimmertisch niedergelegt. Dort habe er sie vergessen. Sein Stiefkind
- die Kinder stammen aus der Ehe mit dem Apothekersohn Schade aus Berlin,
Großgörschenstraße - müsse dann wohl den Revolver gefunden haben und aus Spaß
auf ihre Cousine Dorothea gezielt und losgedrückt haben. Als sich die Waffe
entlud und Dorothea tot umgefallen war, müsse sie, die kleine Schade, nach den
Kombinationen des Architekten aus Furcht vor der Toten und vor dem
angerichteten Unheil einen Abschiedsbrief an die Großmutter geschrieben und
dann sich selbst das Leben genommen haben. Diese Erklärung ist
nachgewiesenermaßen f a l s c h . Als eine Hausuntersuchung unter anderem
belastenden Material eine F l a s c h
e K o g n a k im Zimmer der Großmutter Eckhardt zutage
brachte, die ihr von ihrem Schwiegersohn Grupen geschenkt worden war, deren
Inhalt aber, wie festgestellt wurde, v
e r g i f t e t war, schritt man zur
sofortigen Verhaftung des 41 Jahre alten Architekten, weil er in dem dringenden
Verdacht steht, allen Erben der Rohrbeckschen Güter und Vermögen nach dem Leben
getrachtet zu haben und an dem Tode der Nichte und Stieftochter Schuld zu
haben.
Der verhaftete Architekt wurde gestern nach
dem Hirschberger Gefängnis gebracht. Auf dem Wege vom Mordhaus zum Bahnhof Lähn
versuchten ihn die Einwohner zu lynchen. Die Polizeibeamten hatten die
allergrößte Mühe, um den Gefangenen lebend aus dem Bereich der Steinwürfe der
überaus erregten Menge zu schaffen. Die Erbitterung der ganzen Bevölkerung der
Gegend, die in Scharen nach Lähn kommen, ist um so größer, als die kleine
Dorothea Rohrbeck ein überall beliebtes, bescheidenes, bildhübsches Mädchen
war, das in aller Stille der notleidenden Bevölkerung viel
Wohltätigkeitsspenden zukommen ließ. Man nannte die Getötete im ganzen Bezirke
nur die schöne Dorothea.
Donnerstag, 17. Februar 1921, “Vossische
Zeitung” Abend-Ausgabe
Der
Mord auf Schloß Kleppelsdorf.
Drahtmeldung unseres
Sonderberichtserstatters.
Lähn, 17. Februar.
Die entsetzliche Bluttat auf Schloß
Kleppelsdorf harrt noch immer ihrer völligen Aufklärung. Nach dem Ergebnis de
Obduktion der Leichen der beiden ermordeten Mädchen neigt man zu der Annahme,
daß die tödlichen Schüsse von der 12 Jahre alten Ursula S c h a d e
abgegeben worden sind.
Die Staatsanwaltschaft, die die Untersuchung
weiterführt, scheint der Ansicht zu sein, daß der unter dem dringenden Verdacht
der Täterschaft verhaftete Architekt Peter Grupen aus Oldenbüttel bei Itzehoe
seine Stieftochter Ursula h y p n o t i
s i e r t und ihr in diesem
Zustande b e f o h l e n hat, den aufgefundenen Abschiedsbrief an
ihre Großmutter zu schreiben, und dann die beiden Schüsse auf ihre Kusine
abzugeben und sich dann selbst zu erschießen.
Der Vormund der erschossenen Dorothea
Rohrbeck, dessen Aufenthalt von der Staatsanwaltschaft noch nicht ermittelt
werden konnte, der sich aber vermutlich auf einem Rittergut in der Nähe Berlins
aufhält, wird von der Staatsbehörde gesucht, da Briefschaften bei dem
Architekten gefunden wurden, die ihn schwer belasten. Die Kriminalpolizei von
Itzehoe ist heute früh von der Hirschberger Staatsanwaltschaft aufgefordert
worden, in der Wohnung des verhafteten Architekten in Oldenbüttel eine
Durchsuchung vorzunehmen. Die Nachforschungen der Staatsanwaltschaft nach der
Vergangenheit Grupens sind noch nicht beendet, da noch immer romantischere
Einzelheiten aus seinem Vorleben bekannt werden. Grupen hat ein besonders
bewegtes Leben hinter sich, das ihn auch mehrere Male vor die Gerichte brachte.
In den acht Tagen seines Besuches auf dem Schloß Kleppelsdorf lebte er
absichtlich so zurückgezogen, daß ihn selbst die Gutsarbeiter nie gesehen haben.
In der Gegend um Schloß Kleppelsdorf war das
Gerücht verbreitet, daß auch der Gutsverwalter, Direktor B a u e r ,
ein alter bewährter Beamter, verhaftet worden sei. Es hat sich herausgestellt,
daß Bauer in keine Verbindung mit dem Mord zu bringen ist. Bauer mußte nach
Hirschberg fahren, um dort in einem Prozeß als Zeuge aufzutreten. Vor einigen
Wochen war dem Rittergut von einer bewaffneten Bande Vieh gestohlen worden.
Dabei kam es zu einem nächtlichen Feuergefecht mit den überraschten Dieben.
Diese Viehräuber stehen heute vor Gericht. Die Reise nach Hirschberg ließ aber
bei der überaus erregten Bevölkerung die Vermutung aufkommen, als wenn der
nicht sonderlich im Dorf beliebte Gutsverwalter wegen des Mordes festgehalten
worden sei.
Die beiden Leichen der jungen Mädchen sind
gestern abend zur Bestattung freigegeben worden. Die noch mit der überlebenden
sieben Jahre alten Irma auf dem Schloß wohnende Großmutter, Frau Eckard aus
Oldenbüttel, kommt jetzt als Erbin des gesamten Vermögens und der drei Güter in
Frage. Die alte Frau, die völlig gebrochen ist, beabsichtigt, das gesamte
Besitztum zu verkaufen. Frau Eckart ist die Mutter der von ihrem Manne in
Scheidung lebenden Frau Grupen, verw. Schade, und der bei der Geburt der jetzt
ermordeten Tochter Dorothea gestorbenen Rittergutsbesitzerin Frau Rohrbeck.
Freitag, 18. Februar 1921, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Der
Mord in Kleppelsdorf.
Wie uns aus
B r e s l a u gedrahtet wird, wird
die Untersuchung über den Kleppelsdorfer Mord von dem Untersuchungsrichter,
Landgerichtsrat D u b i e l fortgesetzt. Gestern Nachmittag fand auf dem
Kirchhof in L ä h n die Sektion der Leichen der beiden Mädchen
statt. Nach dem bisherigen Ergebnis kann die von vornherein unwahrscheinliche
Annahme, die kleine Schade habe zuerst ihre Kusine und dann sich selbst
erschossen, als w i d e r l e g t gelten. Ebenso hat sich der bei ihr
gefundene Brief als o f f e n b a r
e F ä l s c h u n g herausgestellt. Der verhaftete P e t e r
G r u p e n leugnete bei der
heutigen Vernehmung im Hirschberger Gefängnis noch jede Mitschuld an der Tat.
Dienstag, 22. Februar 1921, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Der
Doppelmord auf Schloß Kleppelsdorf.
Zu der Kleppelsdorfer Mordaffäre wird uns aus
Breslau gedrahtet, daß nach dem Ergebnis der Untersuchung als ausgeschlossen
bezeichnet werden muß, daß außer Grupen noch irgend eine andere Person an der
Ausführung des Mordes beteiligt war. Die bei der kleinen Schade festgestellte
Erkrankung ist, wie festgestellt wurde, auf Grupen zurückzuführen. Ueber
Grupens Vorleben herrscht noch immer völliges Dunkel. Sehr eingehend wird nach
seiner Frau, die nach seiner Angabe nach Amerika ausgewandert sein soll, geforscht.
Auf das Schloß brachte Grupen außer seiner Schwiegermutter und den beiden
Stiefkindern noch ein Kindermädchen mit, das seine Geliebte ist. Das Mädchen
kann oder will aber nichts über seine Tat aussagen.
Freitag, 2. Dezember 1921, “Vossische Zeitung”
Morgen-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf
Die Ermordung der Gutsbesitzerin Rohrbeck.
Eines der seltsamsten, an Rätseln aller Art
überreichen Verbrechen wird in den nächsten Tagen das Schwurgericht der
schlesischen Stadt Hirschberg beschäftigen. Angeklagt ist der 27jährige
Architekt Peter G r u p e n , die 16jährige Besitzerin des Schlosses
Kleppelsdorf, D ö r t h e R o h r b e c k , und ihre 13jährige Kusine U r s u l a
S c h a d e , letztere seine
eigene Stieftochter, ermordet zu haben. Ein außerordentlicher Apparat an Zeugen
und Sachverständigen ist aufgeboten, um Peter Grupen der Tat zu überführen. In
der ganzen Gegend des Riesengebirges, wo die 16jährige Schlossbesitzerin und
Millionärin eine sehr bekannte Persönlichkeit war, sieht man mit großer
Spannung dem Prozesse entgegen, der das Dunkel aufklären soll, das über dem
Tode der beiden genannten jungen Mädchen liegt. Dem S a c h v e r h a l t , der der Anklage zugrunde liegt, ist
folgendes zu entnehmen:
Am 14. Februar wurden im Schlosse
Kleppelsdorf die Schloßherrin Dörthe Rohrbeck und ihre Kusine Ursula Schade
erschossen aufgefunden. Dieses letztere junge Mädchen weilte mit ihrer
Großmutter, Frau Eckert, die zugleich die Großmutter Dörthe Rohrbecks ist, mit
ihrer jüngeren Schwester Irmgard und mit ihrem Stiefvater Peter Grupen zu
Besuch auf Schloß Kleppelsdorf. An dem genannten Tage vormittags befanden sich
die beiden Mädchen, deren Großmutter, der Angeklagte, Peter Grupen, die
Erzieherin des Fräuleins Dörthe Rohrbeck, Fräulein Zahn, und die Wirtschafterin
Fräulein Mohr in zwei nebeneinander liegenden, durch eine geöffnete Tür
verbundenen Zimmern des Schlosses zusammen. Die Frauen beschäftigten sich mit
Handarbeiten, während Peter Grupen mit den Kindern Mühle spielte. Dann rief
Ursula Schade ihre Kusine Dörthe aus dem Zimmer, und beide Mädchen begaben sich
in ein anderes, im Schloß gelegenes Zimmer. Sie waren etwa 20 Minuten abwesend,
als das Dienstmädchen zum Essen rief. Die in den beiden Wohnzimmern
zurückgebliebenen Personen begaben sich nach dem Eßzimmer, das im oberen
Stockwerk des Schlosses lag, und gaben dem Dienstmädchen den Auftrag, auch
Dörthe und Ursula zu Tisch zu rufen.
Als sich die Gesellschaft auf dem Weg nach
dem Eßzimmer befand, warf sich ihnen das Dienstmädchen mit der
Schreckensnachricht entgegen, daß die beiden Mädchen „unten im Blute lägen“.
Peter Grupen eilte nach dem Parterrezimmer. Dörthe war, als er das Zimmer
betrat, schon tot, Ursula lebte noch, sie blutete aus einer Kopfwunde. Ein
rasch herbeigerufener Arzt konnte durch eine Kamphereinspritzung den Puls der
Bewußtlosen noch ein wenig beleben, bald darauf aber war auch Ursula gestorben.
Neben ihrer Leiche lag ein Revolver, aus dem zwei Schüsse abgegeben waren. Es
lag mithin zunächst nahe, daß Ursula zuerst Dörthe und dann sich selbst
erschossen habe. Doch wurde Peter Grupen bald darauf unter dem Verdacht, die
beiden Mädchen ermordet zu haben, verhaftet, obwohl zunächst alle genannten
Personen erklärt hatten, daß er im Laufe des Vormittags und insbesondere in der
Zeit, in der der Mord begangen sein mußte, das Zimmer n i c h t
verlassen habe. Das Motiv für den Mord sollte sein, daß durch den Tod
der Dörthe Rohrbeck, deren Großmutter, die 74 Jahre alte Frau Eckert, die Erbin
des mehrere Millionen betragenden Vermögens geworden wäre. Diese alte Frau soll
ganz unter dem Einflusse des Angeklagten stehen, der daher hoffen konnte, s e l b s t
in absehbarer Zeit der E r b
e des großen Vermögens z u
w e r d e n .
Der Angeklagte bestreitet mit größter
Entschiedenheit, die Tat begangen zu haben und gibt der Vermutung Raum, daß
Ursula, die er hysterisch und psychopathisch nennt, zuerst die Kusine und dann
sich selbst erschossen habe. Das exaltierte Mädchen soll dies getan haben, weil
Dörthe mit der von Ursula sehr geliebten Großmutter auf schlechtem Fuße stand
und die Großmutter sich deshalb sehr grämte. Bei Ursulas Leiche wurde ein Brief
an die Großmutter gefunden, in dem es heißt: „Du sollst dich nimmer an Dörthe
ärgern.“ Außerdem teilte Ursula in diesem Briefe mit, daß sie den Revolver aus
dem Schreibtisch des Vaters genommen habe. Erwiesen ist, daß der Angeklagte
Grupen diesen Revolver, bevor er, einige Tage vor dem Drama in Kleppelsdorf,
von seinem in der Nähe von Hamburg gelegenen kleinen Landgute Ottenbüttel nach
Schloß Kleppelsdorf hatte, weil in der letzten Zeit in der Umgegend vielfach
Einbrüche vorgekommen waren. Er hat auch in Gegenwart Ursulas dem Bruder die
Handhabung des Revolvers gezeigt und die Waffe in eine unverschlossene Schublade
gelegt. Wie der Bruder Grupens angibt, hat er kurze Zeit darauf Ursula bei der
Schublade angetroffen und ihr ausdrücklich verboten, den Revolver anzurühren.
Als er dann aber am Abend nach der Abreise Grupens mit Ursula sich den Revolver
holen wollte, war dieser verschwunden.
Ursprünglich war auch die Vermutung
aufgestellt worden, daß Grupen durch H
y p n o s e die 13jährige Ursula
veranlaßt habe, erst Dörthe, und dann sich selbst zu erschießen. Die A n k l a g e hat aber diesen Gesichtspunkt f a l l e n
lassen, da sich kein Anhaltspunkt dafür ergeben hat, daß der Angeklagte
sich jemals mit hypnotischen Experimenten oder Versuchen befaßt habe. Zu der
Verhandlung sind außer den sachverständigen Aerzten, die sich insbesondere
darüber auszulassen haben werden, ob die Art der geistigen Verfassung Ursulas
eine Möglichkeit des Selbstmordes zulasse oder ausschließe, auch
Sachverständige über den Gebrauch des Revolvers und etwa 70 Zeugen geladen. Im
Laufe der Verhandlungen dürfte das gesamte Schwurgericht sich nach Schloß
Kleppelsdorf zu einem Lokaltermin begeben.
Peter Grupen ist ein 27jähriger stattlicher
junger Mann, der im Felde den linken Arm verloren hat. Er hatte ursprünglich
das Maurerhandwerk erlernt, war eine Zeitlang Maurerpolier, besuchte aber dann
die Baugewerkschule in Eckernförde. Bei Ausbruch des Krieges trat er in das
Heer ein und wurde 1916, nachdem er durch einen Granatsplitter den linken Arm
verloren hatte, entlassen. Nachher war er eine Zeitlang Zeichner auf den
Vulkanwerken in Hamburg, heiratete dann die verwitwete Frau Schade und zog mit
ihr zunächst nach Itzehoe und erwarb später das Grundstück in Ottenbüttel. Er
ist seit acht Monaten in Haft. Der Prozeß dürfte acht bis zehn Tage dauern.
Montag, 5. Dezember 1921, “Vossische Zeitung”
Abend-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf
Drahtmeldung der „Vossischen Zeitung“
Hirschberg, 5. Dezember
Der Schwurgerichtssaal in Hirschberg, in dem
heute der Prozeß gegen Peter Grupen begonnen hat, der des Doppelmordes an den beiden
jungen Mädchen Dörte Rohrbeck und Ursula Schade auf Schloß Kleppelsdorf
angeklagt ist, ist ein freundlicher, heller Raum, in den hohe Glasfenster das
volle Licht eines sonnigen Wintertages senden. Hell fällt dieses Licht auf
Peter Grupen, den Angeklagten. Ein hochgewachsener, junger Mann mit blondem
Haar, kleinem blonden Schnurrbart und breiten Schultern. Doch reicht der linke
Aermel seines leichten sommerlichen Touristenanzuges nur bis zum Ellbogen.
Grupen hat dem Arm im Kriege verloren. Trotzdem macht seine Gestalt einen
besonderen Eindruck gedrungener Kraft. Die gleiche Stärke ist auch auf dem vollen
Gesicht zu lesen, dem es jedoch an Geistigkeit nicht fehlt. Besonders die
Augen, die mit gespannter Aufmerksamkeit allen einleitenden Vorgängen der Schwurgerichtsverhandlung
folgen, haben einen nicht gewöhnlichen Ausdruck durchdringenden Scharfblicks.
Seine Erscheinung hat nichts von einer ausgesprochenen Sinnlichkeit. Seine
Stimme zeigt einen hohen Tenor von fast weiblicher Klangfarbe. An gewinnenden Formen
fehlt es dem Angeklagten augenscheinlich nicht. Das sieht man schon an der
leichten, höflichen Verbeugung gegen das Publikum, mit der er den Saal betritt,
an der vornehmen, verbindlichen Art, wie er sich mit seinen Verteidigern
unterhält.
Bald darauf ist der Saal dicht gefüllt. Der
Andrang zu dem Prozesse, der die ganze Bevölkerung Schlesiens in Atem hält, ist
außerordentlich. Eine ganze Schar von Polizeikräften ist zu Absperrungsmaßnahmen
aufgeboten. Dann strömen an die 100 Zeugen in den Saal, wobei sich noch vor
Beginn der Verhandlung eine aufregende Episode abspielt. Eine Zeugin sinkt an
Herzkrämpfen nieder und muß aus dem Saal getragen werden. Die Zeugen sind fast
vollzählig erschienen, vor allem die ehemaligen Hausgenossen des ermordeten
Schlossfräuleins von Kleppelsdorf, die Großmutter Frau Bankdirektor Eckert,
eine magere, weißhaarige Dame, die Erzieherin des Fräulein Rohrbeck, Fräulein
Zahn, in tiefe Trauer gekleidet, und die Bonne der Ursula Schade und ihrer
Schwester Fräulein Mohr, der die Anklage Beziehungen zu Grupen vorwirft.
Der Aufruf der Zeugen dauert eine volle halbe
Stunde. Es sind auch zahlreiche Aerzte und Sachverständige geladen, darunter
Geheimrat Lesser-Breslau, Chemiker Jeserich und der Psychiatiker Dr. Moll aus
Berlin, ferner eine Anzahl waffenkundiger Sachverständiger. Nach dem Aufruf der
Zeugen verkündet der Vorsitzende den Plan für die Verhandlung. Danach wird der
heutige Tag mit dem Verhör des Angeklagten ausgefüllt sein. Am Mittwoch wird in
Kleppelsdorf der in diesem Prozeß besonders wichtige Augenscheintermin
stattfinden. Verteidiger Ablaß lehnt den Sachverständigen Gasanstaltsdirektor
Wrobel, der für Hypnose bestellt ist, ab, da er bei seinem Gutachten vollständig
unter dem Einfluß der Staatsanwaltschaft gestanden hat.
Dienstag, 6. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Die
Vernehmung des Angeklagten.
Der erste Tag des großen Hirschberger
Prozesses hat bloß einen Teil des breit angelegten Verhörs mit dem Angeklagten
Peter Grupen gebracht. Noch hat er allein das Wort, und man muß sagen, er hat
es bisher nicht ohne Geschick gebraucht. Er ist ein äußerst beherrschter
Mensch, der sich zweifellos der Situation, in der er sich befindet, voll bewußt
ist. Der Vorsitzende hat bei diesem Verhör den Weg eingeschlagen, daß zunächst
Klarheit über die Vorbedingungen geschaffen werden soll, unter denen Peter
Grupen, wenn er den Mord begangen hat, in Kleppelsdorf zur Tat geschritten
wäre. Zunächst nimmt einen breiten Raum das Verschwinden der Frau Grupen ein.
Obwohl Briefe von der Handschrift der Frau existieren, in denen sie von ihren
Angehörigen Abschied nimmt, um angeblich nach Amerika zu gehen, sind doch
verschiedene Umstände, unter denen sie ihr Heim verlassen hat, sehr bedenklich
und der Aufklärung bedürftig. Ein weiteres Moment, das zur Aufklärung der Tat
in Kleppelsdorf dienen soll, ist die Betrachtung der Beziehungen zwischen Peter
Grupen und den Bewohnern von Kleppelsdorf, der jungen Dörte Rohrbeck und ihrer
Erzieherin Frl. Zahn; mit dieser letzteren scheint er sich in letzter Zeit sehr
schlecht gestanden zu haben. Er beschuldigte sie einer besonderen
Verschwendungssucht und einer sehr geringen Eignung zur Erziehung eines jungen
Mädchens. Heute dürfte die Gegenüberstellung mit dieser Zeugin, die in den
Prozeß eine große Rolle spielt, erfolgen und man erwartet heftige Zusammenstöße
zwischen ihr und dem Angeklagten.
Hirschberg, 5. Dezember
Bei der Vernehmung des Angeklagten Peter
Grupen kam gestern zunächst die Ehe mit Frau Trude, verw. Schade zur Sprache.
Vors.: Wie gestaltete sich diese Ehe?
Angekl.: Wir waren zunächst sehr glücklich miteinander; doch hatte meine Frau
eine unwiderstehliche Neigung zum Reisen und hatte auch weniger Interesse für
den Haushalt. Auch besaß sie leider die Gewohnheit, gegen Abend Wein und Likör
zu trinken, die sie in dieser Menge nicht vertrug. In einem dieser Fälle, als
meine Frau berauscht war, machte sie mir Geständnisse über ein Verhältnis, das
sie mit einem Herrn Schulz in Perleberg schon zu Lebzeiten des Herrn Schade,
dessen Logenbruder er war, und auch nach seinem Tode noch gehabt hat.
Vors.: Sie soll sich auch über den Tod ihres
ersten Gatten, der auf der Jagd verunglückte, geäußert haben, wenigstens
behaupten Sie das? Angekl.: Sie machte Aeußerungen, aus denen ich glaube
schließen zu können, daß dieser Tod kein zufälliger war. Vors.: Wollen Sie
damit sagen, daß Schade einem Morde zu Opfer gefallen ist? Angekl.: Ich möchte
das nicht gerade sagen, aber die Aeußerungen meiner Frau ließen mich Aehnliches
vermuten. Vors.: Sie sind dann von Itzehoe nach Ottenbüttel gezogen. Auf Ihre
Veranlassung? Angekl.: Wir zogen nach Ottenbüttel, weil uns das Wohnungsamt
unser Haus größtenteils beschlagnahmt hatte. Vors.: Im Juli traf Dorothea
Rohrbeck mit ihrer Erzieherin Frl. Zahn bei Ihnen ein. Was war der Zweck dieser
Reise? Angekl.: Frl. Dörthe Rohrbeck hat sich aus sich selbst heraus zum Besuch
bei uns angemeldet. Die Großmutter war anfangs dagegen, doch ließ sie es
geschehen.
Die Kleppelsdorfer Schloßherrin und ihre
Erzieherin kamen dann, wie der Angeklagte weiter erzählt, in Ottenbüttel an und
da erfuhr man den Zweck der Reise. Frl. Dörthe und ihre Erzieherin standen im
Streit mit dem Vormund der Erbin Vielhack, der sie äußerst knapp hielt. Ihre
Reise hatte den Zweck, in einem Prozeß, den Frl. Zahn, die im Testament des
verstorbenen Rohrbeck als Erzieherin Dörthes eingesetzt und der durch den
Vormund gekündigt war, gegen den Vormund angestrengt hatte, die übrigen
Verwandten aus ihre Seite zu bringen.
Vors.: Frl. Zahn erzählt, Sie hätten ihr
damals gesagt, Sie wollten sich von Ihrer Frau scheiden lassen und sie heiraten.
Angekl.: Das habe ich ihr nicht gesagt, doch ist es möglich, daß die Spannung
mit meiner Frau dabei zum Ausdruck gekommen ist. Vors.: Nun sagen Sie, welchen
Eindruck Frl. Dorothea Rohrbeck und Frl. Zahn auf Sie gemacht haben? Angekl.:
Frl. Dorothea Rohrbeck machte einen guten Eindruck, dagegen war der Eindruck,
den Frl. Zahn machte, ein solcher, daß mir ihr gegenüber Vorsicht am Platze
erschien.
Vors.: Sie machten dann einen Gegenbesuch in
Kleppelsdorf? Angekl.: Ja, am 6. September. Vors.: Aber nicht mit Ihrer Frau,
das ist doch sonderbar! Angekl.: Ich fuhr nicht zu Besuchszwecken nach
Kleppelsdorf, sondern um den Damen materielle Hilfe zu bringen, damit sie ihre
dringendsten Schulden bezahlen konnten. Ich brachte ihnen etwas über
zweitausend Mark mit.
Vors.: Hatten Sie nicht den Besuch Ihrer Frau
in Kleppelsdorf in Aussicht gestellt? Angekl.: Ja, sie wollte weiteres Geld dahin
mitbringen. Ich bin dann aber nach Hause gefahren. Ich muß erwähnen, daß meine
Frau schon früher einmal geäußert hatte, daß sie nach Amerika wolle. Vors.: Das
ist doch merkwürdig, daß eine Frau nach sechsmonatiger Ehe schon von ihrem Mann
und ihren Kindern weg will. Angekl.: Wir haben das damals für einen Scherz
gehalten.
Der Vorsitzende stellt fest, daß am 17.
September der Angeklagte mit seiner Frau bei einem Notar in Itzehoe war. Dort
überschrieb seine Frau auf den Mann eine Hypothek im Betrage von 52 000 M. Der
Angeklagte meint, daß seine Frau schon damals die Absicht hatte. ihn für das
Geld zu entschädigen, das sie dann bei ihrer angeblichen Flucht nach Amerika
mitgenommen hatte.
Vors.: Am 18. September, also am nächsten
Tage, fuhren Sie zu demselben Notar, wo Sie die Gütertrennung verlangten?
Angekl.: Die Gütertrennung wurde von meiner Frau gewünscht. --- Am 19.
September, sagt der Vorsitzende weiter, sind Sie mit Ihrer Frau und zwei
Dienstmädchen in einem Wagen nach Itzehoe gefahren. Seit diesem Tage hat
bekanntlich niemand mehr Ihre Frau gesehen. Wie war sie an diesem Tage
angezogen? Angekl.: Ich weiß nur, daß sie einen grünen Hut und einen Pelzkragen
hatte. Vors.: Den Pelzkragen hat sie im Wagen liegen lassen, was allgemeine
verwundern mußte, da die Frau daran gewöhnt war, den Pelz zu tragen.
Der Angeklagte erzählt, daß ihm auf dem Wege
zum Bahnhof, von wo Frau Grupen nach Kleppelsdorf fahren wollte, nichts im
Benehmen der Frau aufgefallen sei. Auf dem Wege setzte Grupen die beiden
Dienstmädchen in der Stadt ab und sei dann zum Bahnhof weitergefahren. Auf der
Fahrt übergab die Frau einem der Mädchen einen Brief an den Knecht, der den
Auftrag erhielt, einen Wäschekoffer nach Hamburg zu bringen. - Vors.: Sie sind
also zum Bahnhof gekommen. Mit welchem Zug ist Ihre Frau weggefahren? -
Angekl.: Ich vermute mit dem nächsten Zuge. Ich selbst konnte nicht auf den
Bahnsteig gehen, da ich die Pferde nicht allein lassen konnte. Grupen
behauptet, er sei vom Bahnhof geradewegs nach Hause gefahren. De Vorsitzende
findet es auffallend, daß de Angeklagte die beiden Mädchen, denen er
versprochen hatte, sie auf dem Rückwege mitzunehmen, und ebenso den Knecht, der
gerade Urlaub nach der Stadt hatte, dort sitzen gelassen hat, obwohl sie 8km.
laufen mußten, um in später Nacht nach Hause zu kommen. Grupen wird wiederholt
gefragt, warum er die Leute nicht mitgenommen habe, obwohl er doch zu der von
ihm berichteten Zeit vom Bahnhof abgefahren sein will. Er sagt immer nur, daß
er fürchtete, sich doch allzu sehr zu verspäten.
Der Vorsitzende bringt dann einen zweiten,
ziemlich merkwürdigen Vorfall zur Sprache. Grupen besaß eine eiserne Kassette,
zu der der Schlüssel fehlte. Er ließ eines der Mädchen rufen, das die Kassette
in die Höhe halten mußte, worauf er durch einen Schlag gegen den Boden die
Kassette öffnete. Wie er behauptet, war kein Geld darin, sondern nur ein Kuvert
mit mehreren Schriftstücken und kleinen Rechnungen. Er erklärt, er hätte vordem
in der Kassette eine Summe von ungefähr 60 000 M. gehabt, die die Frau
mitgenommen hätte.
Staatsanw.: Warum haben Sie den Koffer mit
den Kleidern und der Wäsche, den die Frau in Ottenbüttel zurückgelassen hatte,
erst 14 Tage nach der Abreise der Frau nach Kleppelsdorf geschickt? Angekl.:
Einmal wollte ich selbst nach Kleppelsdorf fahren, da konnte ich ihn mitnehmen,
und dann wußte ich nicht, daß meine Frau, wenn sie bemerkte, daß ihr Koffer
fehle, von der Reise darüber verfügen würde. Vors.: Sie telegraphierten aber
nach Kleppelsdorf „Koffer noch hier“. Was hat das für einen Zweck gehabt?
Angekl.: Ich nahm an, daß meine Frau zu dieser Zeit schon längst in
Kleppelsdorf sei. - Die Unterhaltung über den Koffer und über die Frage, warum
der Angeklagte ihn nicht weggeschickt habe, wird im weiteren Verlauf sehr
erregt. Grupen weiß allerlei Gründe anzuführen, so daß der Wagen, mit dem die
Kinder täglich zur Schule fuhren, zu klein war, um auch den Koffer mitzunehmen,
und daß ein Lastwagen erforderlich
gewesen wäre, für den die Pferde nicht zu haben waren. Der Vorsitzende erklärt
schließlich, über diese Frage später die Zeugen vernehmen zu wollen.
Grupen veranlaßte nunmehr Dörte Rohrbeck, mit
ihm nach Itzehoe zu fahren. Vors.: Sie fuhren über Berlin? Wo sind Sie dort
abgestiegen? Angekl.: Im christlichen Hospiz. Ich wollte auch dabei, daß Dörte
ihren Vormund besuchte. Ich sagte, ich würde selbst zu ihm gehen. Das tat ich
auch. Als ich ins Hospiz zurückkam, war Dörte nicht da. Sie war mit einer
Freundin ausgegangen und kam erst später zurück. Vors.: Jedenfalls scheinen Sie
Frl. Rohrbeck auf dieser Reise starke Antipathien eingeflößt zu haben, denn sie
telegraphierte sofort nach der Ankunft in Ottenbüttel an Frl. Zahn, sie möge
sofort kommen, da sie sich sehr unglücklich fühle. Tatsächlich kam auch Frl.
nach Itzehoe, von wo sie mit Grupen und Dörte nach Hamburg fuhr. Hier machte er
mit ihnen unter anderem eine Kahnfahrt auf der Alster und es wird dabei
erzählt, er habe die Damen bei dem Kahnfahren wiederholt in Lebensgefahr
gebracht, indem er sie in die Strömung der großen Dampfer hineinbrachte.
Einmal habe er sich auch plötzlich auf den
Boden des Kahnes niederfallen lassen, so daß Dörte um Hilfe rief. Der
Angeklagte sucht diese kleinen Abenteuer als Scherze auszulegen. Eine Gefahr
habe für ein so großes Boot auf der Alster überhaupt nicht bestanden. Von
Hamburg fuhr er mit den Damen nach Kiel. Auf die Frage des Staatsanwalts, warum
er denn nicht in Hamburg geblieben sei und kostspielige überflüssige Reisen
unternommen hätte, erklärt Grupen, diese Reisen seien viel billiger gewesen,
als ein Aufenthalt in Hamburg, wo die beiden Damen, namentlich Frl. Zahn, durch
sehr große kostspielige Wünsche ihm außerordentliche Kosten verursachten.
Vors.: Sie sind dann mit den Damen zu einer
Frau Barry gegangen, wie man durch Auskunft der Polizei erfahren hat, ein
übelberüchtigtes Absteigequartier. Angekl.: Das habe ich nicht gewußt. Ich
hatte auf telephonische Erkundigung kein Zimmer in einem Hotel bekommen. Vors.:
Sie haben auch in der Nacht an die Tür der Damen geklopft, und jedenfalls haben
sie diese sehr gefürchtet. Angekl.: Ich wollte mich nur, da ich am Abend
fortgegangen war, nach dem Befinden der Damen erkundigen. Ich klopfte an, aber
ich erhielt keine Antwort. Staatsanw.: War das Ihr einziges Absteigequartier in
Hamburg? Angekl.: Ich hatte überhaupt kein Absteigequartier. Staatsanw.: Wir
werden ja Zeugen darüber hören.
Der Angeklagte wird dann gefragt, was er
getan habe, um den Aufenthalt seiner Frau zu erfahren. Er sagt, er sei nach
Berlin gereist, um sich mit dem Schwager seiner Frau, einem Herrn Schade, zu
beraten.
Es kommt nun ein Schritt zur Erörterung, der
ihn in den Verdacht einer gewissen Doppelrolle bringt. Während er Dörte
Rohrbeck und Frl. Zahn gegen ihren Vormund immer unterstützt hatte, wandte er
sich jetzt, ehe er zum letzten Mal nach Kleppelsdorf ging, selbst an den
Vormund, indem er diesem sagte, daß Dörte Rohrbeck bei Frl. Zahn in schlechten
Händen sei. Er behauptet, daß er dies nur aus Pflichtgefühl als Verwandter
getan habe, da tatsächlich die Erziehung Dörte Rohrbecks bei Frl. Zahn in sehr
schlechten Händen gelegen habe. Sie habe sie nur zum Zigarettenrauchen und zum
Lesen schlechter Romane angehalten. Die Erörterung ergab, daß offenbar zwischen
Grupen und Frl. Zahn ein Gefühl gegenseitigen Hasses geherrscht hat.
Am 8. Februar kam Grupen, der seinen und den
Besuch der Großmutter in Kleppelsdorf angekündigt hatte, auch mit den beiden
Kindern Ursula und Irma sowie der Gouvernante Fräulein Mohr nach Schlosse.
Vors.: Der Empfang war wohl etwas kühl, denn die Damen hatten ja auf so großen
Besuch nicht gerechnet. Angekl.: Ja, indessen hatte ich nicht die Absicht,
länger als zwei bis drei Tage zu bleiben. Nur die Kinder sollten bleiben, bis
eine Wohnung gefunden wäre, da ich meine Besitzung in Ottenbüttel verkauft
hatte.
Darauf wird die Verhandlung auf heute
vertagt.
Dienstag, 6. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Abend-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Die
Ereignisse am Mordtage.
Drahtmeldung der „Vossischen Zeitung“.
Hirschberg, 6. Dezember.
Das Verhör mit dem Angeklagten Grupen ist
nunmehr bis zum Schlußakt von Kleppelsdorf gediehen. Ueber die Ankunft auf dem
Schloß erzählt der Angeklagte noch: „Als wir ankamen, mußten wir so lange
draußen warten, ehe man uns ein Zimmer anwies, daß Frau Eckert und auch Ursula
sehr ärgerlich wurden. Frau Eckert wurde so erregt, daß sie sagte: Ich werde
das der Kleppelsdorfer Gesellschaft schon abgewöhnen. Hier in Kleppelsdorf wird es noch einmal ein Ende mit
Schrecken nehmen. Das hat mir neulich erst der Vormund gesagt.“
Zum besseren Verständnis für die Geschworenen
werden zwei Tafeln im Saale aufgestellt, auf denen die Grundrisse der
Schloßräume aufgezeichnet sind. An der Hand dieser Zeichnungen zeigt der
Angeklagte, wo die einzelnen Familienmitglieder gewohnt haben.
Vorsitzender: „Wie vertrieben Sie sich in
Kleppelsdorf die Zeit?“ Angeklagter: „Ich habe zumeist gelesen. Dabei hielt ich
mich gewöhnlich in den Räumen des ersten Stockes auf. Diese Räume bestanden aus
einem Schlafzimmer, einem Kinderzimmer und einem sogenannten Winterwohnzimmer.
Dieses hatte noch einen Ausgang durch das sogenannte Schrankzimmer auf den
Flur."
Es kommen nun die Ereignisse am Mordtage
selbst zur Erörterung. Darüber erzählt Grupen: Im Laufe des Vormittags ist
Fräulein Rohrbeck mit Irma in der Stadt gewesen, von wo sie um ½ 12 Uhr
zurückgekommen sind. Fräulein Rohrbeck ging in das Kinderspielzimmer, während
Grupen sich im Nebenzimmer befand. Die Verbindungstür zwischen beiden Zimmer
stand offen. „Ich habe nicht gehört,“ sagt der Angeklagte, „daß Fräulein Zahn
das Dienstmädchen Mende mit einem Brief zur Stadt geschickt hat, wie sie sagt.
Ich habe mit Ursula, die aber sehr unaufmerksam war, Mühle gespielt, dann mit
Irma. Ursula hat dann das Zimmer verlassen. Fräulein Zahn hat sich sodann mit
mir aus dem Nebenzimmer über den Stand des Mühlenspiels unterhalten. Kurze Zeit
darauf hat Fräulein Zahn Irma nach unten geschickt, um Dörte zu holen. Irma
wollte erst die Partie zu Ende spielen. Ich selbst sagte, Irma wird sofort
gehen, ich bin gleich fertig. Irma ging auch dann nach unten, fand aber Dörte
nicht. Sie kam zurück und wollte dann einen Apfel in den Ofen werfen, konnte
aber die Tür des Ofens nicht aufbekommen. Irma ging dann mit dem Apfel in den
Abort und warf ihn hinein, während ich mit der Stütze Mohr Mühle spielte.“
Vorsitzender: Sind Sie nicht auch im Zimmer
hin und her gegangen? Angeklagter: Ich habe Fräulein Zahn gebeten, von den
Apfelsinen, die ich im Mühlespiel verloren hatte, zwei zurückzugeben. Nur zu
diesem Zweck ging ich in das Wohnzimmer. Darauf habe ich mit Irma und Frl. Mohr
weitergespielt. Das Dienstmädchen Mende kam dann nach oben und sagte: „Es ist
angerichtet!“ Sowie wir uns zum Essen begeben wollten, kam uns die Mende auf
der Treppe entgegen mit den Worten:
„ D i e K i n d e r
l i e g e n u n t e n . “
Der Angeklagte will nicht gehört haben, daß
Fräulein Rohrbeck zu Ursula, als sie diese aus dem Zimmer geholt hatte, sagte:
„Ursula, ich komme gleich.“ Er will auch das Aufstehen und Weggehen Frl.
Rohrbecks nicht gesehen haben. In höchster Erregung ruft der Angeklagte: „Der
Anklagevertreter glaubt, daß vor diesen Vorgängen das Unglück schon passiert
ist, und jetzt behauptet er das Gegenteil.“
Der Angeklagte fährt dann in seiner Erzählung
fort: „Nachdem die Mende uns mit dem Schreckensruf entgegengekommen war, sind
wir alle sofort nach unten gelaufen. Ich habe im ersten Moment das Bedürfnis
gehabt, einen Arzt herbeizurufen, deshalb lief ich zum Telephon. Unterwegs traf
ich Frl. Zahn und sagte dieser, sie solle einen Arzt rufen. Ich ging dann ins
Zimmer zurück und legte Dörte aufs Bett.“
Vorsitzender: Sie sollen damals sehr erregt
gewesen sein. Angekl.: Daß ich erregt war, ist wohl sehr verständlich. Als der
Arzt kam, sagte ich zu ihm: Herr Doktor, helfen Sie Ursel zuerst. Vors.: Wo lag
die Ursula? Angekl.: Sie kauerte am Schrank. Vors.: Haben Sie Verletzungen
gesehen? Angekl.: Ja, ich sah sie. Von einem der Anwesenden wurde dann gesagt:
Da liegt die Pistole. Vors.: Haben Sie die Pistole aufgehoben? Angekl.: Ich glaube,
daß ich sie aufgehoben und daß ich sie auf den in der Nähe stehenden
Rohrplattenkoffer gelegt habe.
Vorsitzender: Haben Sie die Pistole gesichert
oder entsichert? Angekl.: Das weiß ich nicht. Vors.: Die Pistole soll gesichert
gewesen sein. Angekl.: Das ist möglich. Ich kann mich an diese Vorgänge so
genau nicht mehr erinnern. Vors.: Wissen Sie nicht mehr, ob Sie den
Sicherungsflügel herumgelegt haben? Angekl.: Es ist möglich, denn man hat uns
im Felde immer und immer wieder gesagt, daß man die Waffen sicher soll, so daß
das zur Gewohnheit wurde. Vors.: Haben Sie sofort erkannt, daß es Ihre Waffe
war? Angekl.: Nein, weil ich die Pistole noch nicht lange hatte.
G r u p
e n s P i s t o l e .
Bei Ursula wurde eine Schachtel mit 19
Patronen und ein Brief gefunden, der lautete: Kleppelsdorf, 19. (Anmerkung: muss „9.“ heißen) Liebe
Großmutti! Sei mir nicht böse, daß ich Vati den Revolver aus dem Schreibtisch genommen
habe. Ich will Dir helfen, Du sollst Dich nie mehr über Dörte ärgern. Als Vati
Onkel Wilhelm das zeigte, habe ich das gesehen und ihn mitgenommen. Die Adresse
lautete: An Großmutti. Vors.: Das soll dieser Brief sein, der schon mehrere
Male von der Mohr der Großmutter gegeben werden sollte? Angekl.: Jawohl.
Vorsitzender: „Sie sollen dann zur Frau
Eckert gesagt haben: Das soll ja meine Pistole sein.“ Angeklagter: „Ich habe am
Nachmittag zu Frau Eckert gesagt, an der ganzen Sache bin ich schuld, weil ich
die Pistole nicht eingeschlossen habe. Frau Eckert sagte mir darauf: Beruhige
Dich, Du warst doch die ganze Zeit bei mir.“ Grupen gibt auf Befragen zu, daß
er zu dem Arzt Dr. Scholz gesagt habe: Können Sie Ursel nichts mehr geben,
damit sie wenigstens aussagen kann, was sie dazu bewogen hat? Vorsitzender:
„Das soll aber geschehen sein, nachdem Ihnen der Arzt gesagt hatte, daß hier
alle ärztliche Kunst vergebens sei.“ Angeklagter: „Wenn ich auch wußte, daß
Ursel vielleicht nicht mehr zu retten sei, so hatte ich den Arzt doch gebeten,
ob er sie nicht wenigstens noch einmal zum Bewußtsein bringen könnte.“
Ein Geschworener: Wie lange Zeit mag
vergangen sein, bis der Arzt gekommen ist? Angeklagter: Das können ungefähr 20
Minuten gewesen sein. Vorsitzender: Wie ist es möglich, daß die Pistole dahin
gekommen ist? Angeklagter: Ich habe mir den Revolver gekauft, weil meine alte
Pistole kaputt war. Ich habe die Pistole im Schreibtisch in Ottenbüttel
aufbewahrt und habe sie meinem Bruder übergeben, der mich während meiner
Abwesenheit vertreten sollte. Ich weiß nicht, wer den Revolver mit nach
Kleppelsdorf genommen hat. Das Fach, in dem der Revolver lag, habe ich für
meinen Bruder offen gelassen. Ich habe Ursula einmal bei diesem Fach gesehen,
ihr einen Verweis erteilt und sie aus dem Zimmer gewiesen. Ich nehme an, daß
sie den Revolver an sich genommen und mit nach Kleppelsdorf gebracht hat.
Vorsitzender: Wie kann sie den Revolver
transportiert haben? Angeklagter: Ich weiß es nicht. Ich vermute, daß sie ihn
im Mantel getragen hat und schließe das daraus, daß sie sich in der Eisenbahn
nicht hinlegen wollte. Die Frage eines Sachverständigen, ob die Waffe geladen
war, als er sie dem Bruder übergab, bejaht der Angeklagte.
Vorsitzender: Sie sollen zu Frau Eckert
unmittelbar nach der Tat gesagt haben: „Weißt Du auch, daß Du die Erbin von
Kleppelsdorf bist?“ Wie kamen Sie dazu, in diesem Augenblick daran zu denken?
Angeklagter: Ich habe diese Aeußerung nicht getan. Erst am Abend kam das
Gespräch u. a. auf die Erbschaft. Vorsitzender: Waren Sie mit den
Erbschaftsverhältnissen vertraut? Angeklagter: Ich nahm allerdings an, daß die
Großmutter eine Miterbin sei. Der Vorsitzende stellt fest, daß der
Untersuchungsrichter, Amtsrichter Thomas, gesagt habe, der Angeklagte sei am
Bette der sterbenden Ursula gesessen und habe „gejammert“. Der Angeklagte weist
dieses Wort sehr erregt zurück. Ich habe nicht gejammert, sagt er, sondern ich
habe bis zum Einschlafen Ursulas an ihrem Bette gesessen und habe geweint, denn
ich habe mit tatsächlich die Schuld an ihrem Tode gegeben, da ich den Revolver
offen liegengelassen hatte.“
Grupen erzählt dann weiter: Nachdem ich am
Abend vernommen worden war, wurde ich nach Mitternacht wieder nach oben gerufen
und für verhaftet erklärt. Ich sagte: Wie ist diese Verhaftung möglich, da drei
Zeugen da sind, die aussagen, daß ich im Zimmer war? Darauf hat der
Untersuchungsrichter die drei Personen wieder nach oben kommen lassen. Ich
stand auf dem Flur und ich sagte bei dieser Gelegenheit zur Großmutter: Man hat
mich verhaftet, worauf sie sagte: Das ist doch nicht möglich, Du bist doch ganz
unschuldig. Vorsitzender: Beim Abführen durch den Untersuchungsrichter haben
Sie gesagt: Wenn Ihr aussagt, daß ihr wißt, ich war oben, so bin ich morgen wieder
frei. Angeklagter: Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt: Meine
Unschuld wird sich in einigen Tagen sicherlich herausstellen, Ihr wißt doch
selbst, daß ich oben gewesen bin. Vorsitzender: Sie sollen beim endgültigen
Abschied aber doch wieder gesagt haben: Bleibt bei Eurer Aussage! Angeklagter:
Das ist möglich, da ich ja tatsächlich oben gewesen war.
Vorsitzender: Wie kommt es, daß Sie zu dem
Fräulein Mohr, das Ihnen verboten war, mit den Hausgenossen zu reden,
Plattdeutsch etwas gesprochen haben. Was haben Sie denn gesagt? Angeklagter:
Wenn ich mich recht erinnere, habe ich ihr gesagt, sie solle auch angeben, daß
wir Beziehungen zueinander gehabt hatten. Ich wollte nämlich vollkommene
Klarheit schaffen. Vorsitzender: Warum aber Plattdeutsch? Angeklagter: Das war
gar keine Absicht. Ich bin es gewohnt, mit den Hausgenossen plattdeutsch zu
sprechen.
D e
r H e i r a t s a n t r a g a n
D ö r t e R o h r b e c k .
Der Vorsitzende fragt nun den Angeklagten, ob
er jemals der Dörte Rohrbeck einen Heiratsantrag gemacht habe. Der Angeklagte
verneint das. Vorsitzender: Aber Fräulein Rohrbeck hat es wiederholt erzählt
und auch geschrieben. Angeklagter: Wenn Dörte Rohrbeck das geschrieben hat, so
bitte ich die Zeugen zu befragen, wo diese Briefe sind. Der Vorsitzende
erklärt, daß Fräulein Rohrbeck sowohl Fräulein Zahn als auch einer
Oberschwester und einem Arzt Dr. Beyer erzählt habe, daß ihr Grupen einen
Heiratsantrag gemacht habe. Angeklagter: „Jedenfalls habe ich ihr einen
feststehenden Heiratsantrag nicht gemacht.“ Vorsitzender: Was heißt
feststehend? Sie wollen sagen, es sei möglich, daß Sie irgend so etwas nur
angedeutet haben? Angeklagter: Das wäre möglich.
Auf nähere Fragen des Sachverständigen, Geh.
Sanitätsrats Lesser über die Gemütsveranlagung von Ursula Schade sagt der
Angeklagte, daß sie schon als 12jähriges Mädchen an Schwermut gelitten habe,
also schon ein Jahr vor der Tat. Diese Zustände waren später sogar noch
heftiger aufgetreten. Vors.: Den vermutlichen Grund werde ich Ihnen dann sagen,
nach Ausschluß der Oeffentlichkeit.
Das sehr kühle Verhältnis zwischen Dörte
Rohrbeck und ihrer Großmutter erklärt der Angeklagte mit dem Einfluß des
Fräulein Zahn und dem aufgeregten Temperament der alten Frau. Die Großmutter
hätte überhaupt kein rechtes Verhältnis zu den Kleppelsdorfern gehabt; sie war
ihnen vollkommen entfremdet. Staatsanwalt: Ist es richtig, daß es Ursula in
Kleppelsdorf so gut gefallen habe, daß am Abend vor dem Mord davon gesprochen
wurde, daß Ursula in Kleppelsdorf bleiben und dort zur Schuler gehen sollte?
Angekl.: Es wurde gesagt, daß Ursula in Kleppelsdorf bleiben könne. Fräulein
Zahn sagte dies aus dem Grunde, weil dann ein Mitglied der Familie auf dem Gute
geblieben wäre, so daß man kaum hätte den Haushalt auflösen können.
Vert. J.-R. Ablaß: Haben Sie sich jemals mit
Hypnose beschäftigt? Angekl.: Nein. -
Vors.: Sind Sie ein guter Schütze? - Angekl.: Vor meiner Militärzeit
kannte ich kein Gewehr. Ich habe später in Itzehoe einen Revolver gehabt. Man
kann aber annehmen, daß ich ein verhältnismäßig guter Schütze bin. - Vors.: Sie
sollen sogar Preise bekommen haben. - Angekl.: Ja, ich habe tatsächlich einmal
bei einem Schützenverein zwei Preise bekommen.
Es soll nunmehr über die Frage des
Sittlichkeitsverbrechens gesprochen werden. - Auf Antrag des Staatsanwalts wird
vom Gerichtshof die Oeffentlichkeit ausgeschlossen. Obwohl der Staatsanwalt das
Verbleiben der Presse im Saal beantragt hatte, entscheidet sich der Gerichtshof
doch für den vollständigen Ausschluß der Oeffentlichkeit.
Mittwoch, 7. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Die
Aussagen der Erzieherin.
Hirschberg, 6. Dezember.
Nach Wiederherstellung der Oeffentlichkeit
und Erörterung einiger unwesentlicher Dinge, wie die Verpfändung von Ringen
usw., wird in die Beweisaufnahme eingetreten und unter allgemeiner Spannung die
Erzieherin des Frl. Dörte Rohrbeck, Frl.
Z a h n , in den Saal gerufen.
Sie ist in tiefe Trauer gekleidet und eine hübsche, elegante Frau von offenbar
sehr guten Manieren.
Vorsitzender: Erzählen Sie uns, Frl. Zahn,
wann Sie nach Kleppelsdorf kamen und die Erziehung Dörte Rohrbecks übernommen
und geleitet haben. In sehr gewählter Sprache erzählt die Zeugin:
Im Frühjahr 1905 kam ich als Hausdame und
Erzieherin nach Kleppelsdorf. Dörte war damals anderthalb Jahre alt. Vor mir
war die Großmutter, Frau Eckert, ein Jahr im Hause gewesen, nachdem Frau
Rohrbeck kurze Zeit nach der Geburt des Kindes gestorben war. Frau Eckert
verblieb nur noch eine Woche im Hause. Ich hatte das Gefühl, daß mich Frau
Eckert nicht gern sah. Ich leitete den Haushalt, bis Dörte zur Schule ging.
Dann kam eine Lehrerin ins Haus. 1914 wurde Herr Rohrbeck schwer krank. ich
übernahm die Pflege, er starb aber einige Monate später in einem Sanatorium in
Berlin. Er hinterließ ein bedeutendes Vermögen, nämlich das Gut Kleppelsdorf
mit den kleineren Gütern Tempelhof und Gießhübel im Werte von damals 1 ½ Millionen
Mark. In einem Testament, das von R. 1912 aufgesetzt worden war, hatte er Herrn
Vielhack zum Vormund eingesetzt, und in einem Nachtrag zum Testament bestimmt,
daß die Ausbildung und Erziehung Dörtes lediglich mir übertragen werden sollte.
Es kommen dann die Streitigkeiten zwischen
Frl. Zahn und dem Vormund zur Sprache. Dieser hatte seit 1916 für den Haushalt,
die Erziehung, das Personal und die Kleidung monatlich 1000 M. festgesetzt. Die
Gehälter allein machten nicht weniger als die Hälfte aus. Ueberdies war Dörte
Rohrbeck nicht ganz gesund und sollte viel Fettstoffe bekommen. Das Geld
reichte daher nicht aus. Nun stiegen die Lebensmittel von Tag zu Tag. Da setzte
der Vormund am 1. April 1919 fest, daß alle diese Ausgaben wöchentlich nur 120
M. betragen sollten, und zwar für Haushalt, Erziehung und Kleidung, während
einige Dienstboten auf das Gutskonto übernommen wurden. Am 1. Oktober 1920
wurde die Summe auf wöchentlich bloß 100 M. herabgesetzt, erzählt Frl. Zahn
weiter, da mir Verschwendung vorgeworfen wurde. Die Gehälter der Mädchen allein
machten 250 M., die übrigen Gehälter 200 M., so daß nur 150 M. verblieben.
Vorsitzender: Es kam dann zu einem Konflikt
mit dem Vormund? - Zeugin: Ja, der Vormund kündigte mir, das Landgericht
erklärte aber die Kündigung auf Grund des Testaments für ungültig, da ich nicht
die Angestellte des Vormundes war.
Vorsitzender: Wie entstanden Ihre Beziehungen
zur Familie Grupen?
Zeugin: Dörte wurde Ostern 1920 konfirmiert.
Ich hatte die Verwandten gebeten, zur Konfirmation zu kommen. Sie kamen aber
nicht. Ich hatte auch den Vormund gebeten, das Geld für die Konfirmation,
Kleider usw. zu geben. Das hat er zurückgewiesen. Ich ging zum Gericht, dort
wurde mir gesagt, ob ich denn nicht das Konfirmationskleid für Dörte aus alten
Gesellschaftsanzügen des verstorbenen Herrn Rohrbeck machen könnte (Bewegung im
Publikum). Ich erklärte, ich könnte das nicht. Schließlich wurde der Vormund
auf meine Vorstellungen zur Zahlung von 800 M. für diese Kosten verhalten.
Vorsitzender: Haben Sie da ausgereicht?
Zeugin: Ich kaufte für das Geld Kleider, Stiefel und einige Wäschestücke.
Leibwäsche hatte ich ja selbst aus der Kinderwäsche gearbeitet. Dann wollten
wir dem Geistlichen das übliche Geschenk machen. Wie sollte ich das alles
bestreiten? So mußte ich das Notwendigste aus anderen Mitteln besorgen. Da wir
kein Geld hatten, beschlossen wir, uns an die Verwandten zu wenden.
Die Zeugin erzählt weiter, wie sie erst lange
Zeit brauchte, ehe sie die 3000 M., die der Vormund für eine Verwandtenreise
nicht geben wollte, aufbrachte.
Vorsitzender: Hat er nicht einmal über seine
Frau mit Ihnen gesprochen?
Zeugin: Einmal fragte er mich, ob ich wüßte,
daß seine Frau krank sei. Er sagte, sie wäre krebskrank. Wenn er das gewußt
hätte, hätte er sie nicht geheiratet. Es wurde auch sehr viel von der
Wirtschaft in Kleppelsdorf gesprochen. Wir wussten, daß der Vormund sich mit
dem Gedanken trug, Kleppelsdorf zu verkaufen. Da Dörte ihre Heimat sehr liebte,
so fragte sie natürlich, was da zu tun wäre. Ich dachte an einen Familienrat,
der uns gegen den Vormund helfen sollte.
Vorsitzender: Wie sah denn Frau Grupen aus?
Zeugin: Frau Grupen war eine sehr elegante Frau, indessen schien es mir, als ob
sie in ihrem Aeußeren nicht mehr so sorgsam wie früher war. Auch wunderte ich
mich, daß Frau Grupen auf dem einsamen Gütchen, das am Ende des Dorfes lag,
sich wohlfühlen sollte.
Vorsitzender: Hat Ihnen Grupen nicht manches
erzählt? Zeugin: Er sagte einmal, daß er bedauere, mich nicht früher kennen
gelernt zu haben. Vorsitzender: Was wollte er damit sagen? Zeugin: Vielleicht
wollte er sein Gefallen an mir damit ausdrücken. Vorsitzender: Hat er Ihnen
gesagt, Sie sollten seine Frau werden? Zeugin: Ja, doch weiß ich nicht, ob das
damals oder erst später war. Er hat auch erzählt, daß er in Amerika einen
reichen Onkel besitze, den er besuchen müsse. Es wäre schön, sagte er, wenn wir
mit ihm nach Amerika gingen.
Vorsitzender zu
Grupen: Haben Sie einen Onkel in Amerika? Angeklagter: Ja, er heißt Joseph
Polk. Fräulein Zahn hat mich übrigens mißverstanden. Beim Anblick eines
vorüberfahrenden Dampfers sagte ich damals, es wäre schön, nach Amerika zu
fahren. Einen weiteren Vorschlag habe ich nicht gemacht.
Die Kleppelsdorfer
haben - nach Fräulein Zahn - von Grupen in verschiedenen Zahlungen im ganzen
4200 M. erhalten. Die Zeugin gibt dann noch an, daß sie Frau Grupen vergeblich zu
Besuch auf dem Gute erwartete, bis ihr Mann selbst kam und erzählte, seien Frau
sei nach Amerika gegangen. Er wisse, daß sie sich einen Auslandspaß besorgt
habe. Er brachte noch mehrere Briefe mit an Dörte, an einen Verwandten namens
Schade und an andere Personen.
Es werden nun diese
Briefe der Frau Grupen, die sie an verschiedenen Personen geschrieben hat,
verlesen. Sie sind alle in demselben, in seiner Art charakteristischen Stil
gehalten. In einem der Briefe heißt es, daß ihr den Gedanken der Trennung das
Bewußtsein erleichtert habe, daß ihr Mann später doch bestrebt sei, allen
Menschen, die sie liebe, das Leben so angenehm wie möglich zu machen. In einem
zweiten Briefe heißt es: Du wirst wohl staunen, wenn Du erfährst, daß ich nach
Amerika fahre. Ich werde hoffentlich Gelegenheit haben, Euch vor der Reise noch
einmal zu schreiben.
In einem dritten
Brief an eine Verwandte endlich schreibt sie: Ich fahre jetzt zur Abwechslung
einmal nach Amerika, das war schon lange mein Wunsch, ich tue das, weil ich der
Sorge um Mann und Kinder enthoben bin, da ich das Gut verkauft habe und Peter
den Kindern sicher ein guter Vater sein wird.
Die Frage eines
Geschworenen führt endlich zu einer merkwürdigen E n t d e c k u n g : Der Geschworene fragt: Ist festgestellt, daß
Frau Grupen die Schreiberin dieser Briefe ist? Unter großer Bewegung des
Publikums erklärt der Vorsitzende: Das ist nicht festgestellt. Ein S a c h v e r s t ä n d i g e r darüber ist wenigstens n i c h t
v e r n o m m e n worden. Es wurden
bloß Schriftsachverständige über die Briefe der Ursula Schade vernommen. Ich
will übrigens im Laufe des Verfahrens Sachverständige darüber vernehmen.
Mittwoch, 7. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Abend-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf
Das
Tagebuch der Dörthe Rohrbeck.
Hirschberg, 7. Dezember.
Im weiteren Verlaufe des Verhörs der
Erzieherin Fräulein Z a h n kommt die Rede auf den Aufenthalt Grupens in
Kleppelsdorf, wo er von dem Verschwinden seiner Frau erzählte. Grupen habe
dieses Verschwinden sehr gefaßt aufgenommen und Fräulein Zahn nur gebeten, ihm
Dörthe nach Ottenbüttel mitzugeben, damit die Großmutter einen Trost für die
verschwundene Tochter habe. Bei diesem Besuch äußerte Grupen den Wunsch, den
Gewehrschrank des verstorbenen Rohrbeck zu sehen. Ein besonders gutes
Jagdgewehr betrachtete er mit großem Interesse und sagte dabei: „Ich versichere
Dir, daß diese Waffe noch einmal mir gehören wird.“ Angeklagter: Es hat sich
damals um den Abgabezwang für Waffen gehandelt.
Vorsitzender: Sie sind von Dörthe, als sie
mit Grupen fort war, gerufen worden, weil Dörthe sich fürchtete. Zeugin: Ich
fuhr eigentlich nur hin, damit Dörthe nicht allein nach Hause fahre. An die
Furcht glaube ich nicht.
Fräulein Zahnerzählt nun, was bisher unbekannt
war, daß sie vor kurzer Zeit in den Büchern Dörthes eine Art Tagebuchzettel
gefunden hat. Dieser Zettel kommt zur Verlesung. Es heißt darin: „Nun wollen
sie mir Berti (Fräulein Zahn) nehmen, was habe ich noch? Soll ich jetzt ganz
allein sein? Ich lasse sie mir nicht nehmen. Eben erreicht in wahnsinniger …“
Hier folgt eine Reihe von Strichen, dann das Datum: 29. September. - Ein
anderer Zettel lautet: „Altona 1.10. Berti kommt, Gott lob, nun sind wir alle
zusammen.“
Es wird dann nochmals ausführlich die
Kahnfahrt auf der Alster und die Reise nach Kiel besprochen. Dörthe kam erst am
11., als Grupen für den Vormund Partei ergriffen hatte, auf den Zusammenhang
und sagte: „Paß auf, er trachtet mir nach dem Leben.“ Auf der Fahrt nach Kiel,
obwohl diese in guter Weise verging, hatte die Zeugin wegen der merkwürdigen
Umstände zum ersten Mal die Empfindung: „Grupen ist gegen uns.“ Vorsitzender:
Wie hat sich Dörthe über Grupen geäußert? Zeugin: Er war ihr entschieden
unsympathisch. Angeklagter: Ich werde nachweisen, daß sie eine Karte
geschrieben hat, in der sie sich besonders sympathisch über ihren Onkel Grupen
ausgesprochen hat.
In den letzten Tagen in Kleppelsdorf war
Grupen fast immer zu Hause. Er ging nicht einmal spazieren. Als ihn Fräulein
Zahn fragte, sagte er: „Man wird mich für das Verschwinden meiner Frau
verantwortlich machen.“ Wenn Besuch kam, trat er immer in den Hintergrund des
Zimmers, ließ sich ungern vorstellen und ging aus dem Zimmer.
Der heutige Tag ist dem lokalen Augenschein
auf Schloß Kleppelsdorf gewidmet. Um 9 ½ Uhr Vormittag begaben sich der
Gerichtshof, der Angeklagte, einige Zeugen und Sachverständige sowie die
Vertreter der Presse nach Kleppelsdorf.
Donnerstag, 8. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Lokaltermin
in Schloß Kleppelsdorf.
Das
Geheimnis des Tatortes.
Von unserem P. S.-Sonderberichterstatter.
Hirschberg, 7. Dezember.
Nach zwei Sitzungstagen sind die Beteiligten
eines Prozesses Mitglieder einer sonderbaren, nur durch geistige Fäden
verbundenen Familie. Richter, Geschworene, der Angeklagte Zeugen und
Sachverständige sind wie die Figuren eines Schachbrettes mitten in der
Entwicklung des Spiels voneinander abhängig geworden. Nichts vollzieht sich
natürlicher als die Betrachtung einer solchen Familie in zwei Autoomnibussen,
und friedlich sitzen einige Richter, Sachverständige, Leute der Presse mit den
Angeklagten und seinen ihn bewachenden Polizisten zusammen. Man spricht nicht
mit ihm, aber wir beobachten ihn in seiner merkwürdigen, nach keiner Seite ausdeutbaren
Ruhe. Das frische, gesunde Gesicht, der hübsche, jugendlich energische Mund und
die beiden scharfen, wachsamen Augen - alles trotzt von Leben und
Geistesgegenwart und ist dennoch so gebändigt von einem Willen, dem es
vielleicht nicht schwer wird, festzubleiben. Denn die Nerven dieses Mannes -
schuldig oder nicht - sind eisern. Im zweiten Wagen folgen die Geschworenen,
die übrigen Richter, die Staatsanwälte und einige Zeugen, darunter die noch
heute eigentümlich schöne, tiefe Trauer tragende Hauptzeugin, Fräulein Zahn,
klug und beherrscht wie der Angeklagte, dann die greise Großmutter, Frau
Eckert, und Irmgard, die letzte Enkelin, ein blondes, heute etwas verängstigtes
Kind.
Die Wagen rollen durch die hügelige, schöne
freie Landschaft, die im Sommer sehr lieblich sein muß, heute im grauen
Dezembertag nur feine zeichnerische Reize aufweist. Nach einer Stunde ist das
Städtchen Lähn erreicht, an dessen Rande unmittelbar das „Schloß“ liegt - ein
einfacher, anderthalbstöckiger Bau, der diesen Namen wohl nur den
umfangreichen, um den Hof liegenden Wirtschaftsgebäuden und dem hübschen Park
verdankt. Ein paar Dutzend Dorfbewohner erwarten die Gäste - dem Angeklagten
wird das Wort „Mörder“ nachgerufen - wir treten in das Haus.
Der Schauplatz dieser sonderbaren, bis heute
noch nicht aufgeklärten Tat ist trivial genug, und gerade das Alltägliche macht
ihn in Verbindung mit einer Eiseskälte schaurig. Noch wird das verschlossene
Mordzimmer nicht betreten; man begibt sich ihn den mit Rehgeweihen
ausgestatteten Speisesaal des ersten Stocks, wo durch Tische und Stühle das
Szenarium des Gerichtssaals hergestellt ist. Die Gerichtspersonen ziehen ihre
schwarzen Talare über Pelze und Wintermäntel. Kurz konstituiert sich die
Sitzung und man begibt sich wieder in das Erdgeschoß, zunächst in das
„Wintereßzimmer", das heute anders als früher mit hübschen
Biedermeiermöbeln ausgestattet ist und in dem zur Stunde der Tat der
Mittagstisch gedeckt stand. Nun wird das Mordzimmer aufgeschlossen, das vom
Tage der Tat bis heute unaufgeräumt geblieben ist. Es ist ein mit einfachen
Schlafzimmermöbeln ausgestatteter Raum, zwei Betten, zwei Schränke, eine Waschkommode
und ein Toilettentisch sind das einfache Mobiliar von hellem Holz. Noch liegen
wirr durcheinander die Kissen auf den Betten, auf die man die jungen Leichen
gelegt hatte, noch zeigt der Teppich große schwarze Flecke, die Blutlachen,
noch ist der Stuhl umgestürzt.
Mit
bewunderungswürdiger Ruhe hält der Vorsitzende auch in diesem enge Raume, wo
Geschworene, Zeugen, Leute der Presse, der Angeklagte, Staatsanwälte wirr
durcheinander stehen, die Leitung in der Hand, in steter Sorge, daß durch
keinen Formfehler ein Revisionsgrund gegeben werde, und so ist er in jedem
Gemach besorgt, ob auch einige Leute aus dem Publikum anwesend seien. Zunächst
wird durch die Dienstmädchen Mende und Hirschdargestellt, wie die Körper
gelegen haben. Es ergeben sich kleine Abweichungen, die aber der medizinische
Sachverständige Medizinalrat Dr. Peters dadurch aufklärt, daß er sagt, daß es
wohl möglich sei, daß sich Dörte Rohrbeck im Todeskampf bewegt habe.
Das Hauptinteresse
wird nach, als es sich um die Frage handelt, wo die Patronenhülsen gefunden
sind. Die Situation ist merkwürdig und für die Beweisversuche des Staatsanwalts
ist hier der Schlüsselpunkt gegeben: Das Mordzimmer ist etwa sechs Meter lang
und vier Meter breit. Die beiden einzigen Türen, die in dieses Zimmer führen, befinden
sich an den beiden Schmalseiten. Etwa in der Mitte des Zimmers, der Länge nach,
doch nah am Fenster, steht ein Tisch, nicht weit davon der umgestürzte Stuhl,
neben dem Dörte liegend aufgefunden wurde. Ursulas Körper lag am äußersten Ende
des Zimmers, direkt an der Tür, die sonst offen stand, in der Stunde der Tat,
wie fast zweifellos feststeht, aber geschlossen war. Drei Schüsse wurden
abgegeben, drei Patronen wurden gefunden, aber alle drei in dem
entgegengesetzten Teile des Zimmers, in der Nähe jener anderen Tür, von der der
Mörder, nach Annahme der Staatsanwaltschaft, aus geschossen haben muß. die
Entfernung von Ursulas Körper bis zum Fundort der Patronen wird gemessen: Etwa
fünf Meter 66 Zentimeter. Kann die Patronenhülse so weit gesprungen sein?
Nun begibt sich das
Gericht in die Räume des oberen Stocks und es wird versucht, die Familienszene
zu rekonstruieren, die sich hier in der Stunde der Tat abgespielt hat. Es ist
in der Tat ein Regieversuch von merkwürdigem Stimmungsgehalt. Die Szene spielt
in zwei Zimmern, die dazwischen liegende Tür ist halb offen. In dem kleinen,
sogenannten Kinderspielzimmer, nimmt Fräulein Zahn wie damals an einem kleinen
Tische Platz, wo sie mit Dörte rechnete. Im anderen Zimmer, in einer
rückwärtigen, gemütlichen Ecke, setzt sich der Angeklagte auf das Sofa, wo er
mit der kleinen Irma Mühle spielte, wobei ihr das Kinderfräulein Mohr half.
Auch die Großmutter soll sich auf den Sessel setzen, wo sie damals bei ihrer
Handarbeit saß - da geht eine Bewegung durch den Raum. Die kleine Zeugin Irma
fängt an zu weinen - der Staatsanwalt bittet darum, den Angeklagten in seiner
Stellung durch eine andere Person zu ersetzen. Auch die Großmutter bittet
darum, und der Angeklagte steht schnell auf, seine eigentümlich helle Stimme
flackert nicht, als er sagt: „Auch mir wäre es sehr angenehm, aufstehen zu
dürfen.“ Immerhin dem Wortlaut nach eine geäußerte Empfindung dieses
unerschütterlich ruhigen Menschen. Ein Polizeibeamter nimmt die Stellung des
Angeklagten ein, und nun wird die behaglich harmlose Familienszene, die sich
hier abspielte, kurz bevor und während ein Stockwerk tiefer zwei Kinder
gewaltsamen Todes starben, dem Wortlaut nach wiederholt. Die Stimme der toten
Ursula ruft von außen in das Kinderspielzimmer hinein: „Dörtel, komm doch mal
runter - “ und es wird festgestellt, daß der Angeklagte von seinem Platz sehr
gut sehen konnte, wie Dörtel sich erhob und das Zimmer verließ. Und die Stimme
Fräulein Zahns erklingt so ruhig und sicher wie in jener Stunde: „Irma, sieh
doch mal nach, wo Dörte ist …“ und Irma geht den Weg hinaus und kommt wieder
zurück, während die Herren des Gerichts mit der Uhr in der Hand die Zeit des
Entferntseins messen. Noch eine andere Zeitmessung wird vorgenommen: der Weg
vom Wohnzimmer hinab zum Mordzimmer und zurück: 59 Sekunden. Die Szene des
Mordes selbst wird nach ihrer Zeitdauer nicht rekonstruiert. „Wie lange man
braucht, um zwei Menschen umzubringen, kann ich nicht feststellen,“ sagt der
Vorsitzende.
Damit ist der
eigentliche Lokaltermin beendet; es ist 2 ½ Uhr - sämtliche Parteien sind etwas
schwach vor Hunger und Kälte. Der Vorsitzende verkündet, daß der gegenwärtige Besitzer
des Hauses allen Anwesenden einen Teller Suppe anbietet - ein Mehr war
angeboten, aber abgelehnt worden. Man nimmt dankend an und begibt sich zurück
in den unteren Stock, in jenes hübsche Biedermeierzimmer, dicht neben dem
Zimmer der Tat. Die Suppe wird gereicht.
Nach einer halben
Stunde findet man sich im Gerichtsraum wieder zusammen, wo im Zeugenverhör die
Feststellungen des Lokaltermins zunächst wiederholt werden. Neue Tatsachen hat
der Lokaltermin nicht gefördert, aber sinnlich wahrnehmbar ist die Szene
geworden, sonderbar belebt und kontrolliert durch Berta Zahn, die hohe,
schlanke, ernste Frau, die vielleicht allein durch Dorotheas Tod in eine tiefe
seelische Erschütterung geraten ist, und die nun in eigentümlich strenger
Feierlichkeit als eine tragisch Handelnde erscheint, mit ihrem geraden, kühnen
Profil, den hellgrauen sprechenden Augen in dem bleichen, harten, von dunklem
Haar umrahmten Gesicht.
Noch immer ist das
Rätsel ungelöst: Konnte die dreizehnjährige Ursula wirklich die Schüsse mit der
schwierig zu handhabenden Browningpistole abfeuern? Hat sich der Angeklagte aus
jenem Vorzimmer, wo er mit Irma Mühle spielte, wirklich nicht für Augenblicke
entfernt? Weder die Großmutter, noch das Kinderfräulein haben sich auf diesen
wichtigsten Umstand besinnen können. Ein psychologisches Experiment hat man in
der Voruntersuchung gemacht: Da war für den Angeklagten eine andere Person zum
Mühlespiel eingetreten und hatte sich während des Spiels für einige Minuten
entfernt. Als man die Großmutter und das Kinderfräulein nach einigen Tagen
fragte, konnte sich keine der beiden an die Entfernung dieser Person erinnern!
Das Experiment war gelungen als ein Beweis für - Möglichkeiten.
Donnerstag, 8. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Das
Drama von Kleppelsdorf.
Die heute erscheinende Nummer der „Berliner Illustrirten“ bringt Bilder zu dem
großen Prozeß in Hirschberg; Aufnahmen von
Schloß Kleppelsdorf mit seinen Bewohnern, der ermordeten jugendlichen
Schloßherrin Dörthe Rohrbeck und der verschwundenen Frau Grupen mit Ursula
Schade.
Donnerstag, 8. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Abend-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Drahtbericht der
„Vossischen Zeitung“.
Hirschberg, 8.
Dezember.
Gestern Nachmittag
wurde in dem Gerichtszimmer des Schlosses von Kleppelsdorf die Zeugenvernehmung
fortgesetzt, während in dem Mordzimmer stundenlange Schießversuche de Sachverständigen
stattfanden. In der weiteren Zeugenvernehmung sagte die Zeugin Mende über ihre
Wahrnehmungen vom Eintreffen Grupens an bis zum Mordtage aus, daß der Empfang
kühl gewesen sei und daß Grupen bei seiner Anwesenheit fast immer im Zimmer
war, gelesen oder Mühle gespielt hat. Die kleine Ursel war bei Tisch meist
traurig und aß sehr wenig, während sie draußen häufig lustig war und im Garten
herumtollte. Von einer Verstimmung der Ursula gegen Dorothea Rohrbeck hat die
Zeugin nichts gemerkt, auch nichts von einem Revolver oder Patronen.
Vorsitzender: War der
Angeklagte nach dem Auffinden der Leiche sehr aufgeregt? Zeugin: Ja, er sagte
gleich zur Großmutter: Da werde wohl ich die Schuld bekommen. Dann setzte er
sich aufs Sofa. Verteidiger Dr. Ablaß: Diese Aeußerung ist neu. Ich bitte die
Zeugin zu fragen, warum sie früher nie etwas davon gesagt hat.
Auf eingehende
Ermahnung gibt sie die Möglichkeit zu, nicht mehr genau zu wissen, ob diese
Worte vor oder nach Verlesung des Briefes an die Großmutter gefallen seien. Der
Zeugin ist aufgefallen, daß als sie Grupen zu der Vernehmung durch den
Amtsrichter rufen wollte, die Tür im Eßzimmer, wo sich Grupen und Frau Eckert
befanden, verschlossen war und auch auf Klopfen nicht gleich geöffnet wurde.
Sie will hinter der Tür Papiergeräusche gehört haben.
„ D a b i n i c h
a l s o d o c h s c h u l d i g . “
Zeuge Sanitätsrat Dr.
Scholz macht Angaben über seine Wahrnehmungen bei seinem Erscheinen im
Schlosse, in dem er etwa acht Minuten nach der Tat eingetroffen war. Er hörte,
daß Grupen nach Verlesung des Briefes sagte: Da bin ich also doch schuldig. Die
Großmutter beruhigte ihn, was dem Zeugen auffiel, da sie im Anblick ihrer erschossenen
Enkel den Schwiegersohn tröstete. Der Zeuge bestätigt, daß Grupen ihn gebeten
habe, der Ursel etwas zu geben, damit sie sagen könne, wer es gewesen sei.
Vorsitzender: Ist
Ihnen das aufgefallen? - Zeuge: Ja. - Wie Dr. Scholz weiter bekundet, hat er
sofort gesagt, hier liegt ein Mord vor. Kann mit niemand Aufschluß geben? Er
hat dann Fräulein Zahn gefragt, was sie darüber denke. Diese sagte ihm: Ach
Gott, es gibt so böse Menschen im Hause! Von diesem Augenblick an, sagt der
Zeuge, hatte ich den Angeklagten in Verdacht.
Zeuge Postverwalter
Grimmig: Ich verkehre seit zehn Jahren im Rohrbeckschen Hause und war in alle
Verhältnisse eingeweiht. Ich bin mit der vorgefaßten Meinung am Mordtage in das
Haus gekommen, daß der Angeklagte Grupen der Mörder ist. Ich habe mir meinen
Browning in die Tasche gesteckt, mit der Absicht, den Täter niederzuschießen,
wenn er mir entgegen getreten wäre. Dann hatte ich Grupen nicht für den Täter
gehalten, denn er war ruhig. Dagegen konnte ich mir das Verhalten der Frau
Eckert nicht erklären, die beim Anblick der beiden niedergeschossenen Enkel so
ruhig war.
Vorsitzender: War
Ihnen bekannt, daß der Angeklagte dem Fräulein Zahn und dem Fräulein Rohrbeck
unsympathisch war?
Der Zeuge bejaht
dies, ebenso die andere Frage, ob davon gesprochen worden sei, daß Grupen der
Dörthe nach dem Leben getrachtet hat und daß sich die Damen vor ihm fürchteten.
Zeuge Justizoberwachtmeister
Klapper aus Lähn ist auf Wunsch des Zeugen Grimmig mit ihm nach dem Schloß
gegangen. Grimmig zeigte ihm dort den Revolver. Auf die Frage des Zeugen, wem
die Waffe gehöre, hat der Angeklagte gesagt: Die Waffe gehört mir! Ich bin an
allem schuld. Warum habe ich sie nicht in den Schreibtisch eingeschlossen? Dem
Zeugen fiel auch das merkwürdige Benehmen der Großmutter auf, die den
Angeklagten am Aermel streichelte und sagte: Aber Peter, wie kannst Du das
sagen. Du kannst doch nichts dafür.
G r u p e n s V e
r h a l t e n i m M o r d z i m m e r .
Die Zeugin Zahn wird
darüber befragt, wie sich der Angeklagte im Mordzimmer verhielt.
Zeugin: Er war sehr
aufgeregt und hat geweint. Ich konnte nur nicht begreifen, daß ich erst dreimal
habe Grupen bitten müssen, er möge mir helfen, Dörthe auf das Bett zu legen.
Das machte auf mich einen merkwürdigen Eindruck, und ich hatte das Gefühl, daß
der Täter sein Opfer wohl nicht anfassen wollte.
Angeklagter: Hat die
Zeugin nicht zu Fräulein Hirsch gesagt, ich solle bei Dörthe nicht mithelfen?
Zeugin: Das habe ich
nicht gesagt. Ich hatte den Eindruck, es wäre Grupen unangenehm, bei Dörthe zu
sein, denn er kam nicht ein einziges Mal zur Leiche.
Sanitätsrat Dr.
Scholz gibt dann noch Auskunft, wie die Wunde der Ursula behandelt worden ist.
Es wurde der Verwundeten ein Umschlag auf den Kopf gelegt; daß die Wunde
abgewaschen worden wäre, hat er nicht gesehen. Er hat es auch der
Krankenschwester verboten. Wenn an der Wunde Pulverschleim gewesen wäre, hätte
er ihn sehen müssen.
Bei der Abfahrt der
Prozeßbeteiligten aus Kleppelsdorf nahm die Menge wieder eine drohende Haltung
gegen den Angeklagten an. Man drängte gegen das Auto und wurden abermals viele
Verwünschungen gegen ihn laut.
Freitag, 9. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Eine
belastende Aussage.
Drahtmeldung unseres
Sonderberichterstatters.
Hirschberg, 8.
Dezember.
In der fortgesetzten
Vernehmung schildert die Zeugin Fräulein Zahn die Vorgänge am Tage vor der tat,
der ein Sonntag war. Nach Tisch hatte Fräulein Zahn mit Dörte sich zur Ruhe ins
Kinderzimmer zurückgezogen. Dabei fiel es ihnen auf, daß in dem benachbarten
Wohnzimmer die Ofentüre oft geöffnet und geschlossen wurde. Der weitere
Nachmittag verlief harmlos und heiter. Dörte spielte Klavier und es wurde
gesungen. Nur Ursula stand scheu beiseite und war nicht zu bewegen, an dem
Gesang teilzunehmen. Sie war so bedrückt, daß Dörte äußerte: Ich glaube, sie
hat eine Sorge.
Vorsitzender: Wußten
Sie, daß Ursula (geschlechtlich) erkrankt und in Behandlung war? Fräulein Zahn:
Bei dem letzten Besuch in Hamburg sprach Grupen von Furunkeln. Ich wusste aber
nicht, um was es sich handelt. Dann aber sprach auch die Großmutter davon und
zwar deutlicher in Anwesenheit Dörtes, was dieser offensichtlich unangenehm
war. Die Großmutter äußerte dabei, es sei doch sehr lieb, daß Peter die
Behandlung selbst vornehme.
Ueber die Stunde während
der Tat wird ein langes Kreuzverhör angestellt, das aber Neues nicht bringt.
In der
Nachmittagssitzung wird Oberschwester Emma
K u b e aus Lähn vernommen, die
Dörte von der Geburt her kannte und eine besondere Vertraute Dörtes war. Sie
hat seit 20 Jahren die Ereignisse in Kleppelsdorf verfolgt und hat auch an dem
Engagement Fräulein Zahns mitgewirkt. Sie habe es für ihre Pflicht gehalten,
das Wohlergehen Dörtes nach dem Tode des Vaters zu beobachten. Sie habe sogar
immer ein bißchen spioniert, um zu sehen, ob Dörte gut versorgt sei, und sie
müsse sagen, daß Fräulein Zahn in mustergültiger Weise Dörte versorgt habe. Der
Vater Dorotheas habe sehr viel von Fräulein Zahn gehalten und auch gelegentlich
geäußert, daß er sie ganz gerne heiraten würde. Dorothea hat Fräulein Zahn sehr
geliebt und ihr einmal gesagt: Wenn ich mal majorenn bin, bekommt Fräulein Zahn
von mir das Gut Tempelhof. Das Verhältnis zwischen Dorothea und der Großmutter
sei immer ein kühleres gewesen, was vielleicht darauf zurückzuführen sei, daß
Herr Rohrbeck für seine Schwiegermutter keine großen Sympathien hatte. Aber
Dörte sei ein viel zu zartfühlendes und gutes Kind gewesen, als daß sie die
Großmutter je verletzt hätte.
Besonders dramatisch
gestaltete sich die Erzählung der Oberschwester von den letzten Besuchen
Dörthes. Schon nach der Hamburger Reise hatte Dörthe erzählt, wie unheimlich
ihr das Verhalten Grupens auf der Alsterfahrt war. Dörthe habe das deutliche
Gefühl gehabt, daß Grupen ihr nach dem Leben trachtete. Insbesondere ängstigte
sie sich vor seinen Heiratsanträgen. Dörthe sei auch zu ihr gekommen, als
plötzlich Grupen mit der Großmutter und den Kindern eingetroffen wäre. Dörthe
sei sehr erregt gewesen und sie selbst äußerte die größte Angst um Dörthe. Sie
solle sich jeden Abend einschließen. Dörthe hatte den Wunsch, sich einen
Revolver zu kaufen. Als Dörthe wegging, drehte sie sich noch einmal in der Tür
nach ihr um und sagte: „Ach, Du liegst so geborgen, mich gruselt, wenn ich in
mein Haus gehe.“ Als dann zwei Tage später der Zeugin die Nachricht von dem
Unglück überbracht wurde, habe sie sofort gesagt: „Das ist kein Unglück -
Dörthe ist ermordet worden.“
Zur eigentlichen
Sensation des Tages gestaltet sich die Vernehmung der fast zwölfjährigen I r m g a r d . Auf Beschluß des Gerichts wird der
Angeklagte während der Vernehmung abgeführt, weil befürchtet wird, daß Irmgard
sich vor ihm fürchtet. Gleich zu beginn der Vernehmung erklärt Irmgard, sie
müsse noch etwas aussagen, was sie bisher vergessen habe, In der Stunde vor der
Tat, als sie einen schlechten Apfel auf die Toilette tragen wollte, sei der
Stiefvater hinter ihr her gekommen. - Es entsteht sofort eine große Bewegung im
Saal, weil hier zum ersten Mal bekundet wird, daß der Angeklagte in der
kritischen Stunde das Wohnzimmer verlassen hat. Der Vorsitzende geht aber
zunächst nicht auf diesen Punkt ein, sondern läßt sich von Irmgard die Vorgänge
in der Reihenfolge erzählen. Die gutmütige, gewinnende Art des Vorsitzenden
läßt nun Irmgard, die einen durchaus intelligenten Eindruck macht, frei und
bestimmt ihre Aussage machen. Insbesondere bekundet sie, daß sie niemals in den
Händen ihrer Schwester einen Revolver gesehen habe und auch nicht wußte, ob
Ursula je geschossen hat. Am Vormittage des Mordtages habe sie mit Dörthe Post
und Apfelsinen geholt und Ursel sei ihnen auf der Treppe mit dem Vorwurf
entgegengekommen: „Wo bleibt Ihr denn so lange mit den Apfelsinen?“
Ursula hatte beim
Mühlespielen eine Apfelsine gewonnen, die sie nun haben wollte. Ursula sei in
guter Laune gewesen. Dann sei sie in das Zimmer getreten und habe nun auch
Mühle gespielt. Die Großmutter habe dabeigesessen und war wohl etwas
eingeschlummert. Nach einer Weile sei sie von Fräulein Zahn aufgefordert
worden, Dörthe zu suchen. Sie habe dies auch getan, war auch unten im Eßzimmer,
habe sie aber nicht gefunden. Dann sei sie zurückgekommen. Nach einer Weile
habe sie einen Apfel essen wollen. Der sei schlecht gewesen. Der Stiefvater
habe am Ofen gestanden und wollte den Apfel in den Ofen werfen, die Ofentür war
aber zum Öffnen zu heiß. Dann habe der Stiefvater ihr gesagt, sie solle den
Apfel auf die Toilette tragen. „Dabei“
- fährt sie wörtlich fort - „ging er
hinter mir her und folgte mir ins Schrankzimmer, Als ich von der Toilette kam,
sah ich ihn noch im Schrankzimmer. Wann er in das Wohnzimmer zurückkam, weiß
ich nicht.“
Verteidiger Dr.
Mamroth: Diese Aussage macht Irmgard zum ersten Male und hat sie in keiner
früheren Vernehmung gesagt.
Vorsitzender: Sie ist
vielleicht nicht so eingehend danach gefragt worden. (Zu Irmgard): Höre, kleine
Irma, Du mußt uns aber die volle Wahrheit sagen. Wann ist Dir denn das alles
eingefallen? Oder hat Dir jemand gesagt, Du sollst das aussagen? Zeugin
(energisch): Nein . es ist mir im Sommer eingefallen. Auf wiederholtes Fragen
erklärt die Zeugin: Ich habe das schon im Sommer der Tante Erna Lux erzählt,
und sie hat mir gesagt, ich solle es nicht vergessen, heute zu sagen. Auf
weitere Vorhaltungen bleibt Irmgard bei ihrer Aussage.
Der Angeklagte wird
hereingerufen. Der Vorsitzende liest ihm die Aussage vor. Der Angeklagte folgt
mit eiserner Ruhe und erklärt, er habe Irmgard die Tür geöffnet, sei aber nicht
Irmgard gefolgt. Irmgard bleibt bei ihrer Bekundung, wobei sie dem Angeklagten
den Rücken zudreht.
Angeklagter (in
Erregung): Irmgard ist schon vor Jahren ein lügenhaftes und verstocktes Kind
gewesen und hat der Großmutter 50 Mark gestohlen, die Tat erst nach einigen
Tagen eingestanden.
Verteidiger Dr. Ablaß
stellt nun den Antrag, das Gericht möge veranlassen, daß die Zeugin ihre
Bekundung dem Angeklagten Aug´ in Auge wiederhole. Geheimrat Moll erklärt als
Sachverständiger das größte Bedenken gegen eine solche Gegenüberstellung. Der
Staatsanwalt bittet um Ablehnung des Antrages, da die Strafprozessordnung eine derartige
Anforderung nicht stelle. Während dieser Gespräche bricht die kleine Irmgard in
lebhaftes Weinen aus. Der Gerichtshof zieht sich zur Beratung zurück und
verkündet, der Antrag der Verteidigung sei abgelehnt worden, da die
Strafprozeßordnung zwar die Gegenüberstellung nicht verbiete, aber auch nicht
anordne. Die Verteidigung beantragt Beweisführung für die Lügenhaftigkeit der
Zeugin.
Freitag, 9. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Abend-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Die
Geschworenen gegen den Vormundschaftsrichter.
Drahtmeldung unseres
Sonderberichterstatters.
P. S. Hirschberg, 9.
Dezember.
Die durch die
Vernehmung der kleinen Irmgard Schade gestern hervorgerufene Ueberhitzung der
Prozeßatmosphäre wird zunächst wieder etwas gemildert durch die Aussage der
Frau Rittmeister Erna L u x , die zugunsten ihrer kleinen Nichte aussagt.
Sie habe das Kind jetzt in Pflege genommen und habe über keine Lügenhaftigkeit
zu klagen. Die Angabe, daß Grupen hinter der Kleinen hergegangen und in das
Schrankzimmer gefolgt sei, habe ihr Irmgard vor einigen Wochen gemacht, als die
Ladung zum Prozeß eingegangen war. Sie habe darauf Irmgard gesagt, sie müsse
das im Prozeß auch angeben.
Eben soll die zweite
Teilnehmerin jener kritischen Szene
Fräulein M o h r , vernommen werden, als - wie gewöhnlich in
der Abendstunde - das elektrische Licht ausgeht. Lampen werden gebracht, und in
dem kaum notdürftig erhellten Saale will man eine so wichtige Zeugin nicht
vernehmen.
D e r V o r m u n
d s c h a f t s r i c h t e r a l
s Z e u g e .
So wird als weiterer
Zeuge der Amtsgerichtsrat T h o m a
s aufgerufen, der als Vorsteher des
Amtsgerichtes Lähn der Vormundschaftsrichter für Dorothea Rohrbeck war. Kaum
betritt der kleine, noch jugendliche Herr den Raum, so ist die Luft wieder
„dick“. Der Herr Amtsgerichtsrat mit dem blanken, nach hinten hochaufstrebenden
Schädel, unter dem das Gesicht wie zusammengedrückt wirkt, findet eine
Atmosphäre der lebhaftesten Antipathie. So wenig er mit der Tat in Beziehungen
steht, so gilt er doch allgemein als in gewissem Sinne moralisch verantwortlich
für die Verhältnisse, die die Tat ermöglichten. Denn ohne die Engherzigkeit des
Vormundes, sagt man, hätte sich weder Fräulein Zahn noch Dorothea diesem Grupen
anvertraut, der ihnen in ausgesprochener Notlage als einziger mit Geldmitteln
zu Hilfe kam, und was der in Tempelhof wohnende Vormund engherzig vorschrieb,
hat der in unmittelbarer Nachbarschaft wohnende Vormundschaftsrichter stets gebilligt, ohne sich - was so leicht
gewesen wäre - an Ort und Stelle von den Verhältnissen zu überzeugen.
Er muß das in seiner
Vernehmung zugeben, wie er auch keinen Widerspruch erhebt, als Frl. Zahn ihm
öfter vorhält, daß die Einkünfte der jungen Schloßherrin, die ein Vermögen von
mehr als drei Millionen besaß, von anfangs 26 000 Mark (einschließlich der
Gehälter und Naturalverpflegung) auf 1000 Mrk. monatlich und später auf 120
Mark, ja hundert Mark wöchentlich (ausschließlich der Gehälter und Naturalverpflegung)
reduziert wurden. Als Fräulein Zahn anläßlich der Konfirmation bei ihm einen
Zuschuß beantragte, gab er ihr den Rat, die Kleider für Dörthe aus den alten
Anzügen des Vaters machen zu lassen und die seidenen Hemden des Verstorbenen zu
Blusen zu verarbeiten, was ein Lachen der Entrüstung im Saale hervorruft.
Vors.: Der Vormund
hat dann Frl. Zahn wiederholt gekündigt, obwohl in dem Testament stand, daß
diese die Erziehung des Fräuleins bis zu ihrer Mündigkeit leiten soll. Glaubten
denn der Vormund und Sie, daß Sie hierzu ein Recht hatten? - Zeuge: Das war
jedenfalls die Ansicht des Vormundes und meine auch. - Vors.: Ihre Ansicht,
aber die oberen Gerichte waren jedenfalls anderer Ansicht. (Heiterkeit, die der
Vorsitzende rügt.) Weshalb wollte der Vormund Fräulein Zahn entlassen? - Zeuge:
Er war der Ansicht, daß ihm Fräulein Zahn das Mündel entfremdete. - Vors.: Aber
der Vormund hatte doch gar keine persönlichen Beziehungen zu Fräulein Rohrbeck.
Er war doch nur ein früherer Jagdgast des Herrn Rohrbeck.
D i e „ G e s c h
i c h t e m i t d e n
d u m m e n B ä u m e n “ .
Aber die Situation
spitzt sich weiter zu, als der Zeuge erzählt: Kurz vor der Tat hatte der
Vormund beantragt, einige alte morsche Kastanienbäume vor dem Herrenhause niederhauen
zu lassen, wogegen Fräulein Dorothea Rohrbeck, die die alten Bäume liebte,
Einspruch erhob. Der Vormund bestand darauf, weil er die Verantwortung für
einen Unglücksfall nicht übernehmen konnte. Fräulein Rohrbeck hatte am Tage vor
der Mordtat die Entscheidung des Vormundschaftsgerichts zugestellt erhalten.
Als ich dann, sagt Zeuge, am Tage der Tat um 3 Uhr mit der Eisenbahn aus
Hirschberg in Lähn ankam, wurde ich von Sanitätsrat Dr. Scholz und anderen
abgeholt, die mich von dem Geschehenen unterrichteten. Ich eilte sofort zu dem
Herrenhause, wo mir Fräulein Zahn entgegentrat. Ich fragte: Dörthe wird sich
doch die Geschichte mit den dummen Bäumen nicht zu Herzen genommen haben? Ich
zitterte an allen Gliedern, während Fräulein Zahn eine unglaubliche Ruhe
bewahrte. Ich konnte ihr keine Erregung anmerken. Sie hat gelacht.
In diesem Augenblick
geht eine allgemeine heftige Bewegung durch den ganzen Saal. Man sieht im
Halbdämmer des Lampenlichts die schwarze Gestalt des Fräuleins Zahn sich
erheben. Unter Schluchzen ruft sie aus: „Das ist zuviel, Herr Vorsitzender, das
ist zuviel, das kann ich nicht ertragen!“
Auf Zureden des
Vorsitzenden verläßt Fräulein Zahn in tiefer Erregung den Saal.
Ein Geschworener
stellt die Frage: „Wie konnte der Zeuge glauben, Fräulein Dörthe habe sich
wegen der Kastanienbäume das Leben genommen, wo er doch über den Tatbestand
schon halbwegs unterrichtet war?“
Zeuge: Ich gebe zu,
daß der Gedanke nicht sehr geistreiche war - er kam mir aber -
Verteidiger Dr. A b l a ß :
Ich bedaure, daß Fräulein Zahn im Augenblick nicht anwesend ist, aber
ich muß darauf zurückkommen, daß Fräulein Zahn von der Vormundschaft wegen
ihres „taktlosen Verhaltens“ Vorwürfe gemacht worden sind. Der Ausdruck stammt
nicht von mir. Er steht in den Akten.
Zeuge: Ich habe die
Worte gebraucht. Ich hatte sie bei einem Zwischenfall angewandt, der sich
nachher als ein Mißverständnis herausstellte. Taktlos fand ich es andererseits,
daß Fräulein Zahn das Mündel über die vielfachen Differenzen, die zwischen Fräulein
Zahn und den Vormündern bestanden, unterrichtete.
Vorsitzender (mit
erhobenem Ton): Erlauben Sie, Herr Amtsgerichtsrat, Fräulein Zahn war die
Vertraute Dorotheas. Mit wem sollte sie sich den aussprechen? Außerdem machte
sie doch ihre Schritte bei den Vormündern im Interesse Dorotheas. Wollten Sie
vorher wirklich sagen, daß Fräulein Zahn gelacht hat, oder wollten Sie nur
sagen, daß Fräulein Zahn eine bewunderungswürdige Ruhe gezeigt hat?
Zeuge (zögert): Ich wollte
sagen, daß ich nie eine Frau gesehen habe, die in einer solchen furchtbaren
Situation eine solche Ruhe gezeigt hätte.
Vorsitzender: So -
ich habe vorher nach dem Ton Ihrer Aussage die Empfindung gehabt, als wollten
Sie an Fräulein Zahn eine üble Kritik üben.
E i n e E r k l ä
r u n g d e r G e s c h w o r e n e n .
Da geschieht das
Außerordentliche: Ein Geschworener erhebt sich: Ich möchte im Namen der
Geschworenen eine Erklärung abgegeben (große Bewegung im Saale): Im Namen der Geschworenen
erkläre ich, daß wir uns dem Urteil des Herrn Vorsitzenden über die Aussage des
Zeugen anschließen.
Kaum hat der
Geschworene ausgeredet, so hat man das Gefühl, daß ein prozessuales Unglück
passiert: Der Vorsitzende, sichtlich verlegen, will das Wort weiter an den
Zeugen richten, da fällt ihm der Verteidiger Dr. Ablaß ins Wort: Ich stellen
den Antrag, die Erklärung des Geschworenen zu Protokoll zu nehmen.
Der ganze Saal
begreift: War die Erklärung des Geschworenen zulässig? Ist ein Revisionsgrund
gegeben?
Der Präsident erhebt
sich. Man sieht ihm an, welche Verantwortung in diesem Augenblick auf ihm
liegt. Der Staatsanwalt, sonst oft ein Gegner des Vorsitzenden, sucht zwischen
ihm und der Verteidigung zu vermitteln, die darauf besteht, daß die Erklärung
zu Protokoll gegeben wird.
Der Gerichtshof
erhebt sich, zieht sich zur Beratung zurück und hinterläßt den Saal in
fieberhafter Aufregung.
Nach langer Beratung
treten die Herren wieder ein. Der Vorsitzende richtet noch einmal das Wort an
den Zeugen: Sie wollten, Herr Zeuge, nur ausdrücken, daß Sie eine Frau in einer
so schweren Lage nie in so vollkommener Ruhe gesehen haben? Zeuge: Ja.
Vors.: Gut! Das
Gericht hat zu Protokoll genommen: Einer der Geschworenen gibt eine Erklärung
ab, die besagt, daß man auf der Geschworenenbank die Aussage des Zeugen als
eine Kritik an dem Verhalten des Fräuleins Zahn angesehen habe. Der Zeuge hat
wiederholt ausgesprochen, daß eine solche Kritik nicht in seiner Absicht lag.
Die Geschworenen wurden nochmals von dieser Absicht des Zeugen unterrichtet.“
Damit ist wohl das
Mißverständnis aufgehoben.
Man atmet auf in dem
Gefühl, der Vorsitzende habe die Situation geschickt gerettet. Eine kurze,
belanglose Zeugenvernehmung des Amtsvorstehers beschließt den aufregenden Akt.
Sonnabend, 10. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Fortsetzung
der Beweisaufnahme.
P. S. Hirschberg, 9.
Dezember.
Der heutige Vormittag
war der Vernehmung der Zeugin Martha M
o h r gewidmet, die im Dezember zu dem
Angeklagten als Stütze nach Ottenbüttel gekommen war und zu ihm in intimen
Beziehungen stand, auch die Nacht vor der Tat mit ihm verbrachte. Der
Staatsanwalt beantragt, von einem Gutachten Molls unterstützt, die Entfernung des
Angeklagten während der Vernehmung, da die Gefahr der Beeinflussung bestehe.
Der Antrag wird abgelehnt. Die Vernehmung dieser neben der Schwiegermutter Frau
Eckert wichtigsten Zeugin ergibt das Bild einer intellektuell beschränkten
Person. Ihr Gedächtnis ist schwach, sie gerät oft in Widersprüche und erinnert
sich erst nach wiederholten Vorhalten auf gewisse Einzelheiten. Nur an einem
Punkt hält sie merkwürdigerweise sehr fest: daß der Angeklagte sich in der
kritischen Stunde nicht aus dem Wohnzimmer entfernt habe. Es ist um so
auffallender, als gerade in diesem Punkte vom Staatsanwalt eine Beeinflussung
durch den Angeklagten angenommen wird.
Die Zeugin wird
zunächst über die getötete Ursula befragt. Einen Revolver hat sie nie in
Ursulas Händen gesehen. Ueber Frau Eckert sagt die Zeugin, Frau Eckert habe mal
geäußert, Dorothea sei genauso verschwenderisch wir Fräulein Zahn, habe sich
auch sonst gelegentlich über Dörthes mangelnde Liebe und über den kühlen
Empfang beklagt. Frau Eckert hat auch gesagt, Herr Vielhack (der Vormund) hat
recht gehabt, wenn er in einem Brief schrieb, die zwei Kleppelsdorfer würden
ein Ende mit Schrecken nehmen, anders verdienten sie es nicht.
Vorsitzender: Fanden
Sie diese Aeußerung nicht übertrieben - für den schlechten Empfang einer
Großmutter gleich ein Ende mit Schrecken? Zeugin: Ich verstand die Aeußerung
damals nicht. Vorsitzender: Hat Ihnen die kleine Ursula einen Brief an die
Großmutter gegeben? Zeugin: Ja, aber am Abend kam sie und sagte, ich soll ihn
erst am übernächsten Tage abgegeben. - Vorsitzender: Haben Sie dann das getan?
- Zeugin: Nein, sie kam am Abend wieder und sagte, ich solle ihn erst am
übernächsten Tage geben. Ich habe sie dann gefragt, warum sie ihn nicht selbst
abgebe. Sie war ganz vergnügt und sagte, es sei eine Ueberraschung für
Großmutter. Nach drei Tagen gab ich ihr den Brief zurück. Vorsitzender: Hat der
Angeklagte was von dem Brief gewußt? Zeugin: Er hat den Brief in meiner
Handtasche gesehen; ich sagte ihm, es sei ein Brief Ursulas, eine Ueberraschung
für die Großmutter. Der Angeklagte hat den Brief sich nicht angesehen.
Vorsitzender (den Brief zeigend): Ist dieser Brief, der bei Ursula gefunden
wurde, derselbe - wie der, den Ursula Ihnen gegeben hat? Zeugin: Ja. - Die
Besprechung der Vorgänge in der Nacht vor dem Mordtage, die der Angeklagte mit
der Zeugin und Ursula verbrachte, wird bis zur Wiederausschließung der
Oeffentlichkeit vertagt.
Das Gespräch wendet
sich jetzt dem Tage der Tat zu. Martha Mohr schildert zunächst die Vorgänge am
Tage in der bekannten Weise. Ursula verließ, ohne ein Wort zu sagen und ohne
vom Angeklagten aufgefordert zu sein, das Zimmer. Daß Ursula Dörthe
herausgerufen hat, hat sie nicht bemerkt. Dann haben wir Mühle gespielt,
Irmgard und ich gegen Grupen. Später haben wir Aepfel gegessen. Irmgard sollte
die Ueberreste in die Toilette werfen. Vorsitzender: Ist der Angeklagte hinter
ihr hergegangen? - Zeugin: Nein. - Vorsitzender: Hat er ihr die Tür geöffnet? -
Zeugin: Nein. Er saß und spielte mit mir. - Vorsitzender: Aber der Angeklagte
sagt doch selbst, daß er Irmgard die Tür geöffnet hat. - Zeugin: Davon weiß ich
nichts. Irma brachte den verfaulten Apfel zurück, weil er zu groß für das Abflußrohr
war. Darauf stand der Angeklagte auf und warf den Apfel in den Ofen.
Vorsitzender: Das ist
vollkommen neu. Ist der Angeklagte im Zimmer auf und ab gegangen? - Zeugin:
Nein. - Staatsanwalt: Hat der Angeklagte nicht auch das Nebenzimmer betreten? -
Zeugin: Nein. - Staatsanwalt: Aber hat der Angeklagte nicht Apfelsinen ins
Nebenzimmer gebracht? - Zeugin: Das kann sein. - Staatsanwalt: Dann muß er doch
mal vom Spiel aufgestanden sein. - Verteidiger Dr. Ablaß: Hat Grupen während
dieser Stunde das Zimmer verlassen? - Zeugin: Nein. - Vorsitzender: Können Sie
das, was Sie bisher immer behauptet haben, auch heute beschwören. - Zeugin: Ja.
Dr. Moll: Haben Sie
eine Unterhaltung von dem Angeklagten mit Frl. Zahn gehört? - Zeugin: Nein. -
Sachverständiger: Erinnern Sie sich, daß der Angeklagte Frl. Zahn gefragt hat,
was auf plattdeutsch „Küßchen“ heißt? - Zeugin: Ja. (Bewegung.)
Vorsitzender: Zeugin:
Sie müssen hier die volle Wahrheit sagen. Sie haben in der Voruntersuchung
gesagt: Sie glauben alles, was Grupen sagt. Sie müssen hier die volle Wahrheit
sagen. Hat der Angeklagte nach der Auffindung der Leichen nicht gesagt: „Es war
gut, daß wir oben zusammen waren?“ - Zeugin: Nein. - Vors.: Eine andere Zeugin
kann es aber bestätigen. - Zeugin (zögernd): Es kann sein. - Vors.: Nach der
Tat, als Sie mit dem Angeklagten und Frau Eckert zusammen waren, wurde da von
der Erbschaft gesprochen? - Zeugin: Nein. - Vors.: Als der Angeklagte abgeführt
wurde, hat er nicht gesagt: „Wenn Ihr aussagt, daß ich oben war, wird meine
Unschuld bald herauskommen.“? - Zeugin: Nein, ich soll vor allen Dingen die
Wahrheit sagen, dann werde sich seine Unschuld schon herausstellen.
Vorsitzender: Zeugin,
überlegen Sie sich genau: Als der Angeklagte nach Hirschberg geschafft wurde,
hat man da geweint? - Zeugin: Ja. - Vors.: Hat der Angeklagte mit Ihnen
gesprochen? - Zeugin: Nein. - Vors.: Aber erinnern Sie sich nicht, daß der
Landjäger die Unterhaltung verbot? - Zeugin: Nein. - Vors.: Hat er nicht etwas
plattdeutsch zu Ihnen gesagt? - Zeugin (zögernd): Ja - es ist möglich, daß er
da gesagt hat, ich solle bei der Wahrheit bleiben. - Vors.: Wie heißt denn das
auf plattdeutsch? - Zeugin: Bliew bi die Wahrheit, dann wird sich meine
Unschuld schon herausstellen. - Vors.: Das hätte der Landjäger und die
Großmutter auch verstanden, die ausdrücklich sagen, sie hätten es nicht verstanden.
Staatsanwalt: Hat
sich die Frau Eckert über die Erbschaft geäußert? Zeugin: Ja, Frau Eckert hat
gesagt, sie sei jetzt Millionenerbin. Vorsitzender: Ist noch mehr über die
Erbschaft gesprochen worden? Zeugin: Ich habe nicht alles gehört. Vorsitzender:
Zeugin, ich habe Sie doch schon vorhin gefragt, ob Sie etwas über das
Erbschaftsgespräch wüßten, und Sie haben geantwortet: Nein. - Zeugin: schweigt.
- Der Staatsanwalt fragt den Angeklagten, was er damals plattdeutsch gesagt
habe. - Der Angeklagte sagt etwas, was vollständig unverständlich bleibt.
Als Zeuge wird der
Vormund Dörthes, V i e l h a c k , ein stattlicher Herr von 65 Jahren,
aufgerufen. Die Beziehungen zwischen dem Zeugen und Dörthes Vater waren nur
jagdfreundlicher Natur. Ich selbst war sehr überrascht, daß Rohrbeck mich zum
Vormund seiner Tochter gemacht hatte. Ich erfuhr es erst von Fräulein Zahn, als
ich von ihr zu dem kranken Herrn Rohrbeck gerufen wurde. Ich wußte, Herr
Rohrbeck wünschte nicht, daß seine Tochter von seinen Verwandten erzogen würde,
insbesondere nicht von seiner Schwägerin Frau Schade (der späteren Frau des
Angeklagten). Vor dem Besuch bat mich Fräulein Zahn, ich möchte bei Herrn
Rohrbeck dafür sprechen, daß sie testamentarisch zur Erzieherin seiner Tochter
bestellt würde. Ich selbst erkannte, daß es für mich praktisch war, wenn
Fräulein Zahn die Erziehung behielte. In diesem Sinne sprach ich kurz vor dem
Tode mit Rohrbeck, der einen entsprechenden Nachsatz in dem Testament machte.
Der Zeuge gibt nun in militärischem Tone die Einzelheiten der
Wirtschaftsführung an. Fräulein Zahn sei mit dem Gelde nichts ausgekommen.
Vorsitzender: Es ist
doch aber alles so viel teurer geworden. - Zeuge: Wir müssen uns alle
einschränken. Ich habe dann den Eindruck gehabt, daß es für Dörthe besser war,
in eine Pension zu gehen. - Vorsitzender: Aber Fräulein Zahn war doch
testamentarisch zur Erzieherin bestellt worden? - Zeuge: Ich hatte den
Eindruck, daß Fräulein Zahn mir Dörthe fernhielt. Sie hielt es nicht für nötig,
Dörthe meiner Frau vorzustellen. - Vorsitzender: Die Unterlassung der
Vorstellung konnte doch kein Grund sein, Fräulein Zahn zu kündigen.
Zeuge: Ich habe auch
sonst Ungünstiges über Fräulein Zahn gehört. Da ich direkt keine Nachricht
bekam, verständigte ich mich mit einem Fräulein Christians, das ein Vierteljahr
Lehrerin in Kleppelsdorf war. Sie hat mir gesagt, daß bei einem gemeinsamen
Spaziergang das Kind hinterher gegangen sei, und als Fräulein Christians das
rügte, habe Fräulein Zahn gesagt: „Lassen Sie doch - das Kind grübeln.“ -
Vorsitzender: Und das machen Sie Fräulein Zahn zum Vorwurf! Das ist doch
Klatsch. Was haben Sie weiter erfahren? - Zeuge: Dörthe Rohrbeck hat über den
Tod des Leutnants Matthäi geweint - sie soll sogar mit ihm verlobt gewesen
sein, und das war mir ein Beweis g e g
e n die Erziehung des Fräuleins Zahn.
Denn sie hätte es nicht zulassen dürfen, daß ein Kind einer so
leidenschaftlichen Mutter, das eine so leidenschaftliche Tante hatte, sich
verlobt.
Sonnabend, 10. Dezember 1921, “Vossische Zeitung”
Abend-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Vernehmung
der Großmutter, Frau Eckert.
Drahtmeldung unseres
Sonderberichterstatters.
P. S. Hirschberg, 10.
Dezember.
Vor der für den
Prozeß so entscheidenden Vernehmung der Großmutter Eckert, die heute
stattfinden soll, gab es gestern Abend wie zum Aufatmen noch einige
Zeugenaussagen, über die zu lachen erlaubt war. Fräulein S e i d e l
aus Berlin, die Altersgefährtin Dorotheas, steht hübsch und schlank vor
dem Richter. Sie hat, während Dörthe sich mit Grupen in Berlin aufhielt, Dörthe
Gesellschaft geleistet. Ein bißchen sehr fein und geziert im Ton: und dann gingen
wir zu Dressel. Wir setzten uns in die Mitte des Restaurants. Plötzlich stand
der Angeklagte auf und sagte, er habe seine Frau vorbeigehen sehen. Er gab uns
150 Mark und ging weg.
Vorsitzender: Und was
machten Sie? Zeugin: Der Wein war eben eingegossen und wir hatten das Essen
bestellt. Dann zahlten wir. Die Rechnung betrug 156 M. Ich hatte noch 6 Mark
bei mir, und so konnten wir kein Trinkgeld geben. Rechtsanwalt Mamroth (vor
sich hin): Rebbich. Vorsitzender: Der Angeklagte wollte Sie auch als Sekretärin
engagieren. Zeugin: Ja, als Privatsekretärin für 750 Mark monatlich nach
Hamburg. Vorsitzender (schüttelt den Kopf): Es ist doch sehr merkwürdig, daß er
Sie engagieren wollte . . . Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten. Aber Sie
sind doch ein junges Mädchen, und er kannte doch gar nicht Ihre Fähigkeiten.
Zeugin (sehr selbstbewußt): Ich habe die Handelsschule absolviert, kann Französisch,
Deutsch, Englisch, Schreibmaschine, Stenographie, Handelskorrespondenz,
einfache Buchführung, doppelte Buchführung, amerikanische Buchführung (das
Publikum bricht in helles Lachen aus). Vorsitzender (vergnügt lächelnd): Das
genügt.
Es kommen die Schwester
und Mutter der Martha Mohr, die die Geliebte des Angeklagten war, vor den
Richtertisch. Beide geben ein sehr günstiges Zeugnis für den Angeklagten ab.
Frau Mohr sagt, ihr Mann hätte nur ungern die Tochter zu Grupen in den Dienst
gegeben, weil sie es eigentlich nicht nötig hatten. Vorsitzender: Hätten Sie
denn Ihre Tochter dem Grupen, von dem Sie so viel halten, auch zur Frau
gegeben? Frau Mohr (mit dem Selbstbewußtsein einer niedersächsischen Bäuerin):
Nee, für die hatte ick schon wat anderst.
Der Bruder des
verstorbenen Herrn R o h r b e c k wird nun als Zeuge vernommen. Dörthe war bei
ihm zu Besuch, als sie zum ersten Male von Itzehoe zurückkam. Sie hatte neue
Stiefel an und erzählte von Grupen: Der neue Onkel sei sehr gut, er habe ihr
gleich ein Paar Stiefel gekauft. Vorsitzender: Was haben Sie darauf erwidert?
Zeuge: Das ist ein sehr netter Onkel. Vorsitzender: Das sagen Sie in ironischem
Tone. Hätten Sie Dörthe nicht auch ein Paar neue Stiefel gekauft? Zeuge: I wo,
Dörthe war doch viel reicher als ich.
Der Vorsitzende fragt
den Angeklagten, warum er in Kleppelsdorf geblieben sei, wo er doch gemerkt
habe, daß der Empfang so kühl war. Warum sind Sie nicht abgereist? Angeklagter
(in Erregung geratend): Aber ich war doch zu Besuch. Vorsitzender: Aber
erlauben Sie, Sie haben sich doch selbst angemeldet. Wollten Sie denn warten,
bis Sie rausgeschmissen werden? Angeklagter (mit erhobener Stimme): Ich wollte,
ich wäre rausgeschmissen worden, dann säße ich heute nicht auf der Anklagebank.
(Bewegung.)
Zum Schluß des
gestrigen Abends wurde eine Lehrerin der getöteten Ursula vernommen, bei der
diese von Ostern bis Michaelis 1920 in der Schule war. Sie hat Ursula immer als
ein sehr nettes, zartes und gefügiges Kind kennengelernt. Nach der Mordtat sei
ihr von Mitschülerinnen erzählt worden, daß Ursula einmal nach der Schule, in
der von Hypnotisieren die Rede war, gesagt hatte, ihre Mutter kenne einen Mann,
der einen so scharfen Blick habe, daß man alles tun müsse, was er wolle. Eine
Adresse dieses Mannes hat Ursula nicht angegeben. Die Angaben der Mädchen über
diesen Ausspruch sind ganz bestimmt, aber sie konnten des näheren nicht
nachgeprüft werden. Die Lehrerin hält es für völlig ausgeschlossen, daß Ursula
die Tat begangen haben kann.
Große Heiterkeit
erweckte eine Zeugin, die sich freiwillig vor dem Untersuchungsrichter gemeldet
hatte und die klein, dick und puterrot vor Gericht erschien. Da sie absolut
nichts auszusagen wußte, bat sie schließlich den Vorsitzenden, ihr zu sagen,
was sie denn in der Voruntersuchung angegeben habe. Als der Vorsitzende ihrem
Gedächtnis nachhalf, begann sie immer mit: Man hat mir erzählt - ich hörte -
man sagt -. Vorsitzender: Sie dürfen hier nicht sagen, was man Ihnen erzählt
hat, sondern Sie sollen sagen, was Sie aus eigener Kenntnis wissen oder gesehen
haben. Die Zeugin schweigt. Vorsitzender: Wissen Sie denn gar nichts aus
eigener Kenntnis? Zeugin: Nein! Vorsitzender: Dann danken wir Ihnen, daß Sie
erschienen sind. Wir können Sie, glaube ich, definitiv entlassen. Und (mit einem
Rundblick auf den bewilligenden Staatsanwalt und die Verteidiger) ruft er ihr
nach: Und Sie brauchen nicht wiederzukommen; was im Saale stürmische Heiterkeit
erregte.
*
Der heutige sechste
Verhandlungstag beginnt mit der Erklärung des Vorsitzenden, daß am Montag
vermutlich während des ganzen Tages die Oeffentlichkeit ausgeschlossen werden
würde. Dann erfolgt die Vernehmung der Großmutter, Frau E c k e r t , einer kleinen, mageren Greisin von 75 Jahren,
die ihre Aussagen klar und deutlich macht.
Vorsitzender: Sind
Sie die Schwiegermutter des Angeklagten? Zeugin: Ja, leider. Vorsitzender: Sie
brauchen nicht auszusagen, wenn Sie nicht wollen. Zeugin: Ich will aussagen.
Nachdem Fräulein Zahn ins Haus gekommen war, ist mir die Liebe Dörthes entfremdet
worden. Ich habe um ihre Liebe geworben, aber Fräulein Zahn hat Dörthe mehr
ihren eigenen Verwandten zugeführt. Vorsitzender: Wie standen Sie denn mit
Ihrer zweiten Tochter, der späteren Frau Grupen? Zeugin: Zuerst ganz gut. Nach
dem Tode des ersten Mannes hatte sie ein Verhältnis mit dem Seifenfabrikanten
Schulz aus Perleberg. Vorsitzender: Hatte sie nicht schon vor dem Tode ein
Verhältnis mit ihm? Zeugin: Ich weiß nichts davon. Später zog sie nach Berlin,
sie verlobte sich mit dem Staatsveterinär Reske, dessen Tochter aus erster Ehe
sie sofort zu sich nahm. Der Reske wollte sich in Bosdorf eine Villa kaufen,
wozu ich das Geld gegeben habe, und ich habe ein daneben liegendes Bauernhaus
für mich gekauft.
Vorsitzender: Haben Sie
nicht Ihr ganzes Vermögen Ihrer Tochter geben wollen? Zeugin: Ja. Aber Grupen
sagte, es sei nicht zulässig. Vorsitzender: Dann starb Reske? Zeugin: Ja, nach
vier Jahren und ich verkaufte die Grundstücke in Bosdorf und kaufte ein
Grundstück in Itzehoe. Vorsitzender: Ihre Tochter hat doch den Angeklagten
durch eine Heiratsannonce kennen gelernt? Zeugin: Ja, ich habe das aber nicht
gewußt. Vorsitzender: Ist Ihnen das nicht aufgefallen, daß der Angeklagte viel
jünger war als Ihre Tochter? Zeugin: Das ist mir nicht so aufgefallen. Vorsitzender:
Aber war es nicht auffallend, daß er eine Frau mit drei Kindern heiratete?
Zeugin: Das wurde ihm hoch angerechnet. Vorsitzender: Wie gefiel Ihnen der
Angeklagte? Zeugin: Er war sehr nett. Ich zog zu ihm in den oberen Stock des
Hauses. Das Verhältnis war zuerst sehr gut, später gab es Differenzen.
Vorsitzender: Wie war das Verhältnis zu den Kindern, wie war die kleine Ursula?
Zeugin: Ganz gut. Ursel war damals ein vergnügtes und normales Kind. Viel
ausgesprochen hat sie sich nicht. Aber sie war gut und gefällig. Der Verlust
des Vaters hat sie sehr mitgenommen.
Vorsitzender: Nach
einer Weile kamen Frl. Zahn und Dörthe nach Itzehoe zu Besuch. - Zeugin: Ja,
auf einer Familienreise. Ich war sehr erfreut, aber sie wollten am nächsten Tag
nach Hamburg, um sich zu amüsieren. - Vorsitzender: Sie haben damals einen
Brief an das Vormundschaftsgericht gerichtet, indem Sie sich ungünstig über die
Erziehung von Frl. Zahn äußerten. - Zeugin: Ja, ich habe das tun sollen. Der
Angeklagte hat mir das aufgetragen. - Vorsitzender: Aber Sie haben diese
Beschwerde später widerrufen. - Zeugin: Ja.
Rechtsanwalt Ablaß:
Haben Sie nun diesen Widerruf gegen Ihre Ueberzeugung auf Veranlassung des
Angeklagten gemacht? - Zeugin: Ja, es ist mir nachher eingefallen, daß es
unrecht war, und ich habe es bitter bereut.
Vorsitzender: Später
hat der Angeklagte einen Gegenbesuch in Kleppelsdorf gemacht. Zeugin: Es
handelte sich nicht um einen Gegenbesuch, er hatte Geld dorthin gebracht.
Vorsitzender: Dann
kam er zurück. Ich komme nun zum Verschwinden Ihrer Tochter. Was geschah denn
nun, nach seiner Rückkehr, beim Notar? Zeugin: Ich konnte doch nicht die
Papiere, die ich hatte, selbst verwalten, und hatte ihm Generalvollmacht
gegeben. Nun wollte Grupen, daß ich, wie meine Tochter es auch tat, meine
Hypothek auf die Perleberger Apotheke auf sie übertragen. Vorsitzender: Warum
taten Sie denn das? Zeugin: Ja, das war doch eben meine Dummheit. Zwei Tage
später erklärte meine Tochter persönlich, sie wolle nach Kleppelsdorf. Ich verstand
das gar nicht, weil die Kinder doch nicht in Ordnung waren. Sie verabschiedete
sich dann gar nicht, als ob sie auf eine lange Reise gehen wollte, auch von den
Kindern nicht sehr herzlich. Sie nahm nur einen Handkoffer mit, ihre Kleider
waren auch nicht für eine weite Reise.
Vorsitzender: Der
Angeklagte begleitete Ihre Tochter, und dann kam er zurück. Zeugin: Er sagte,
in dem Koffer sei Wäsche, die nach Hamburg geschickt werden solle. Aber meine
Tochter schickte die Wäsche immer nach Neumünster. Ich telephonierte und
telegraphierte nach Kleppelsdorf, wo ich zu meinem Schrecken hörte, daß meine
Tochter gar nicht angekommen sei. Dann fuhr der Angeklagte nach Kleppelsdorf.
Vorsitzender: Sie wußten doch nicht, daß Ihre Tochter angeblich nach Amerika
gegangen sei. Zeugin: Nein.
Vorsitzender (zum
Angeklagten): Aber Sie hatten doch die Abschiedsbriefe Ihrer Frau schon
gelesen. Angeklagter: Ja, ich wollte eben Dorothea als Trost für die Großmutter
haben, wenn ich ihr die Abreise ihrer Tochter mitteilte.
Vorsitzender: Dann
kam er mit Dorothea zurück? Zeugin: Ja, und dann las er mir die Abschiedsbriefe
vor und ich glaubte wirklich, daß meine Tochter nach Amerika gegangen sei.
Vorsitzender: Haben Sie denn nichts getan, um Ihre Tochter zu suchen? Zeugin:
Der Angeklagte hat mir gesagt, er habe einen Hamburger Detektiv beauftragt. Der
habe gemeldet, meine Tochter sei mit einem reichen Herrn durchgegangen und es
gehe ihr sehr gut. Außerdem erzählte er mir sehr Schlechtes über meine Tochter.
Vorsitzender: Nun
kommt die gemeinsame Reise nach Kleppelsdorf. Zeugin: Ich reiste erst nicht
gerne, mitten im Winter, aber der Angeklagte überredete mich. Ich richtete mich
auf acht Tage ein. Unterwegs sagte er mir: „Wir können ja sagen, wir kommen,
weil wir von Ottenbüttel wegziehen.“ Vorsitzender: War die Möglichkeit
vorhanden, daß Ursel den Revolver mitgenommen hat? Zeugin: Nein. Ich habe sie
nie mit einer Waffe gesehen; sie konnte meines Wissens auch nicht schießen.
Vorsitzender: Aber haben Sie den Revolver bei dem Angeklagten gesehen? Zeugin:
Ja, er lag in der offenen Schreibtischschublade. Der Angeklagte hatte ihn kurz
vorher angeblich für seinen Bruder gekauft.
Vorsitzender: Haben
Sie einmal geäußert, es werde in Kleppelsdorf ein Ende mit Schrecken nehmen?
Zeugin: Ich besinne mich nicht. - Ein Geschworener: Ich bitte den Angeklagten
nach dem Namen des Detektivs zu befragen, bei dem er Schritte unternommen hat.
Angeklagter: Ich habe keinen Detektiv beauftrag. Ich habe das nur so gesagt, um
meine Schwiegermutter zu beruhigen.
Sonntag, 11. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Wichtige
Aussagen der Zeugin Frau Eckert.
Drahtmeldung unseres
Sonderberichterstatters.
P. S. Hirschberg, 10.
Dezember.
In der weiteren
Vernehmung der Frau E c k e r t , der Großmutter der getöteten Kinder,
entspinnt sich eine wichtige Debatte über den Brief, den Ursula an eine Frau
Bartels in Itzehoe geschrieben hat. Ursula hatte den Brief ursprünglich auf
Veranlassung der Großmutter verfaßt, weinte aber später, als sie den Brief noch
einmal schreiben sollte. Das Konzept des Briefes ist später in der Hosentasche
des Angeklagten gefunden worden; die Staatsanwaltschaft nimmt an, daß der
Angeklagte den Brief noch einmal schreiben ließ, um für die Fälschung des
Abschiedsbriefes an „Großmutti“ ein Modell zu haben. Der Angeklagte hatte
bisher immer gesagt, Ursula habe auf Anordnung der G r o ß m u t t e r den Brief noch einmal geschrieben. Dies bestreitet
heute Frau Eckert aufs entschiedenste. Ursula habe geweint, weil sie den Brief
noch einmal schreiben mußte. Aber wer das angeordnet hat, weiß Frau Eckert
nicht. Ueber das Verhältnis Ursulas zu dem Angeklagten sagt sie: „Sie liebte
ihn sehr, sie war sehr anhänglich an ihn geworden, half ihm beim An- und
Ausziehen und war sonderbar traurig, wenn er nicht anwesend war. Frau Eckert
schildert dann die Vorgänge in der kritischen Stunde zunächst in der bekannten
Weise.
Vorsitzender: Haben
sie bemerkt, daß Irmgard mit den Apfelresten das Zimmer verlassen hat? Zeugin:
Nein, ich habe nur gesehen, daß sie die Apfelreste in den Ofen geworfen hat,
oder mir war doch so. Vorsitzender: Daß Irmgard aus dem Zimmer gegangen ist,
wissen Sie nicht? Zeugin: Nein, das habe ich nicht bemerkt. (Bewegung im
Publikum, weil ja Irmgard und der Angeklagte selbst angeben, daß Irmgard das
Zimmer verlassen hat, und man erstaunt darüber ist, daß die Großmutter das
nicht bemerkt haben soll.)
Vorsitzender: Waren
Sie vielleicht ein bißchen eingeschlafen? Zeugin: Das ist wohl möglich. Ich saß
da und häkelte, und dabei schläft man ja wohl mal ein, wenn man ein alter
Mensch ist. Vorsitzender: Und wo war der Angeklagte? Zeugin: Er ging im Zimmer
auf und ab. Während dieser Zeit, weiß ich, haben Irmgard und Martha Mühle
gespielt. Dann glaubte ich, daß er Irmgard sagte, wohin sie die Apfelreste
werfen sollte. Jedenfalls habe ich ihn dann eine Weile nicht gesehen. Nachher saß er wieder auf
seinem Stuhl. Vorsitzender: Kann er sich auch aus dem Zimmer entfernt haben? Zeugin:
Ich habe es nicht gesehen, aber ich weiß genau, daß ich ihn für eine Weile aus
den Augen verloren habe.
Vorsitzender: Wie
lange kann er abwesend gewesen sein? Zeugin: Einige Minuten kann es gewesen
sein. Ich weiß nur, daß inzwischen Irmgard und Fräulein Mohr zusammen Mühle
spielten. Nachher saß er wieder da. Vorsitzender: Glauben Sie, daß die Zeit
ausreichte, um bis zu dem Mordzimmer zu gelangen und vor dort zurückzukommen?
Zeugin: Nachdem die Versuche neulich in Kleppelsdorf gemacht worden sind, und
man festgestellt hat, daß zu dem Wege nur 59 Sekunden gebraucht werden, habe
ich das Gefühl gehabt: ein paar Minuten kann er weg gewesen sein. (Bewegung.)
Vorsitzender: Wie Sie
nun nach der Tat den Brief von Ursula in die Hand bekommen haben, was haben Sie
gedacht? Zeugin: Ich war ganz sprachlos. Zuerst glaubte ich das, was in dem
Brief stand, und hielt Ursula für die Mörderin. Aber ich bin dann zu der festen
Ueberzeugung gekommen, daß es Ursula gar nicht gewesen sein kann. Sie war ja
viel zu schwach, sie konnte keine Wasserkanne aufheben. Vorsitzender: Hat nicht
der Angeklagte nachher gesagt, es sei seine Waffe? Zeugin: Ja. Vorsitzender:
Haben Sie ihn dann getröstet? Zeugin: Er warf sich über die Ursel und rief:
„Mach´ doch die Augen auf und sage, wer es gewesen ist!“ - Und da habe ich ihn
vielleicht getröstet und gesagt: „Aber Du bist doch unschuldig!“
Verteidiger Mamroth
hält der Zeugin vor, daß sie am Tage nach dem Mord bei ihrer Vernehmung
angegeben habe, daß sie beschwören könne, Grupen habe am Vormittag das Zimmer
nicht verlassen. Zeugin: Ja, ich war auch überzeugt. Aber jetzt glaube ich, daß
ich mich damals einer Täuschung hingegeben habe. Es wird ein Brief verlesen,
den Frau Eckert am nächsten Tage an den Bruder Grupens geschrieben hat, worin
sie ihm von dem Unglück Miteilung machte und ihn zugleich um etwas Geld bat. In
dem Brief schrieb sie: „Zum Glück war Peter (Grupen) die ganze Zeit bei uns
oben, also muß sich doch seine Unschuld herausstellen.“ Es wird aber
festgestellt, daß Frau Eckert bereits Ende Februar in einer Vernehmung von der
Möglichkeit einer Entfernung des Angeklagten gesprochen hat.
Vorsitzender: Hat der
Angeklagte, als er weggeführt wurde, gesagt: Bleibt bei Eurer Aussage! Zeugin:
Er hat gesagt: Wenn Ihr bei Eurer Aussage bleibt, bin ich morgen wieder frei.
Dann wird versucht,
die Vermögensverhältnisse des Angeklagten klarzumachen. Zeugin: Ich habe nicht
darüber nachgedacht, wie er Geld verdiente. Angeblich hatte er einen Kompagnon,
mit dem er Baugeschäfte machte. Im übrigen hatte er Verfügung über unser
Vermögen. Einmal hat er meine Brillantbrosche nach Hamburg mit meiner Erlaubnis
mitgenommen, sie zu verkaufen. Er tat das nicht. Später behauptete er, meine
Tochter hätte die Brillanten mit nach Amerika genommen. In Wirklichkeit waren
die Schmuckstücke in Hamburg versetzt worden. Außerdem soll meine Tochter
70.000 Mark mit nach Amerika genommen haben. Als ich in Sorge um meine Zukunft
war, sagte er mir, er habe schon eine Viertel Million Mark vermögen, und er
habe ein Testament zugunsten von mir und meinen Enkelkindern gemacht.
Staatsanwalt: Hat der
Angeklagte je ein Testament gemacht? Angeklagter: Ja, zugunsten meiner Frau und
meiner Kinder.
Die weitere
Vernehmung der Zeugin Eckert wird Montag unter Ausschluß der Oeffentlichkeit
fortgesetzt werden.
Mit dieser Vernehmung
ist der Gipfelpunkte des Prozesses überschritten. Indes wird es vermutlich
Freitag oder Sonnabend werden, bevor das Urteil gesprochen werden wird.
Montag, 12. Dezember 1921, “Vossische Zeitung”
Abend-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Drahtbericht der
„Vossischen Zeitung“.
P. S. Hirschberg, 12.
Dezember.
Bei der heute
fortgesetzten Zeugenvernehmung bekundet Frau Oberst S e m m e r a c k , daß Dörthe das Muster eines wohlerzogenen
Mädchens war. Die Neigung zu dem gefallenen Leutnant Matthai war lediglich eine
Mädchenschwärmerei.
Rittmeister L u x
berichtet von dem psychologischen Experiment, das er mit Frau Eckert
nach dem Morde angestellt hat. Während Frau Eckert in dem gewohnte Stuhl im
Wohnzimmer genau wie am Tage des Mordes halb häkelte, halb nickte, entfernte er
sich aus dem Zimmer. Er brauchte zu dem Wege ins Mordzimmer 50 Sekunden. Seine
Abwesenheit war von Frau Eckert nicht bemerkt worden. Von Frau Grupen gewann er
aus persönlicher Beobachtung den Eindruck, daß sie an ihren Kindern sehr hing.
Dem
Gutsverwalter S c h ü p k e hat der Angeklagte drei Tage vor der Tat
erklärt, er interessiere sich für Schießsport und sei ein ausgezeichneter
Schütze. Auf die Frage: Dann schieße er wohl wie der Kaiser mit einem Arm?
hatte Grupen geantwortet: „Vielleicht noch besser.“
Gasanstaltsdirektor W r o b e l
aus Hirschberg, der von der Staatsanwaltschaft zu hypnotischen
Experimenten an den Prozeßbeteiligten herangezogen war, als Sachverständiger zu
Beginn der Verhandlung aber abgelehnt wurde, bekundet als Zeuge, daß Frau
Eckert und Irmgard leicht zu beeinflussen waren.
Dienstag, 12. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Drahtmeldung unseres
Sonderberichterstatters.
P. S. Hirschberg, 12.
Dezember.
Heute morgen
flüsterte man sich zu, es sei ein Telegramm aus der Schweiz eingetroffen; Frau
Grupen lebe dort als eine internationale Kokotte und versorge mit den
Ueberflüssen ihrer Einkünfte - dank der Valuta - ihren Gatten. Man stürzte zum
Staatsanwalt, der lächelnd zugab, ein Telegramm dieses Inhalts erhalten zu
haben - aber der Absender habe ausdrücklich bemerkt, er habe seine Kenntnis aus
spiritistischen Kreisen. Uebrigens laufen stündlich massenhaft Schreiben der
konfusesten Art beim Gericht ein. Der Vorsitzende sagte mit heiterer
Verzweiflung: „Die Irrsinnigen fangen schon an, Briefe an uns zu schreiben.“
Ein Telegramm läuft ein: „Kann nach der Handschrift männliches und weibliches
Geschlecht unterscheiden.“
*
Ein prachtvolles
Quartett: Der Vorsitzende, der Staatsanwalt und die beiden Verteidiger.
Dieser Vorsitzende
verdient besonders den Dank aller. Er war bisher Staatsanwalt, es ist die erste
große Verhandlung, die er in seinem Leben leitet und man sagt, er stünde vor
einer großen Beförderung. Es wäre ihm zu wünschen, daß sie ihn nach Berlin
führte. Denn dieser Oberlandesgerichtsrat ist nicht nur Jurist, er ist ein
Mensch. Dem bleichen, scharfen und eckig geschnittenen Gesicht merkt man nicht
sogleich die große geistige Beweglichkeit, die schmiegsame, auf feinster
Seelenkenntnis beruhende Fähigkeit an, Menschen zu behandeln. Es ist ein Genuß,
ihn mit Kindern sprechen zu hören; aber aus seiner langen Staatsanwaltpraxis
hat er sich auch eine Waffe mitgebracht: eine Ironie von tödlicher Wirkung. Und
dennoch - als er sie mit so unfehlbarem Geschick gegen den Vormund Dörthes
anwendete, - da steckte doch eben Herz und nichts als das dahinter: lebendigstes
Gefühl für das arme, liebliche Opfer, von dem mir heute einer, der Dörthe gut
kannte, sagte: Ich bin ein geschworener Junggeselle, aber die hätte ich
geheiratet …
Auch der
Staatsanwalt, er ist ja eigentlich schon Oberstaatsanwalt in Köln, ist der
liebenswürdigste Vertreter seines Faches. Sogar die kleinen Zwischenfälle
zwischen ihm und dem Vorsitzenden haben aufgehört und im Verein mit den beiden
Meistern der Kriminalverteidigung Ablaß und Mamroth ist ein stilles und
höfliches Strafkammerspiel mit dem Ziele der Wahrheitsermittlung geworden.
Was nicht hindert,
daß die Zeugen anfangen, langweilig zu werden. Nur der Gasanstaltsdirektor
Wrobel brachte seinem Beruf gemäß einige humoristische Glanzlichter auf. Er ist
der gesellschaftliche Hypnotiseur von Hirschberg und hat mit den Beteiligten
allerhand Versuche angestellt. Er hat das Unglück, daß Geheimrat Moll im Saal
sitzt, der mit einigen wissenschaftlichen Fragen dieses Licht Hirschbergs
ausdrehte. Hoffentlich widmet sich der Herr Wrobel in Zukunft mehr seiner
Gasanstalt, was um so wichtiger ist, als das elektrische Licht sowie jeden
Abend um ½ 7 Uhr versagt.
*
In der weiteren
Verhandlung wendet sich die Beweisaufnahme unter Ausschluß der Oeffentlichkeit
dem angeblichen Sittlichkeitsverbrechen an Grupens Stieftochter Ursula zu.
Hierüber wird zunächst Frau E c k e r
t vernommen. Die Ursula klagte eines
Tages über Schmerzen, der Angeklagte erzählte ihr davon und fuhr mit dem Kinde
zu einem Arzt. Grupen gab als Ursache des Leidens eine harmlose Angelegenheit
an. Ein Gehilfe des Angeklagten behandelte dann das Kind unter Grupens Leitung.
Frau Eckert hat das damals als lobenswert empfunden, weil niemand anders da
war.
Die kleine Ruth R e s k e ,
jetzt in Berlin-Zehlendorf bei den Großeltern, eine Pflegetochter der
Frau Grupen, berichtet, daß die Frau des Angeklagten einmal von Amerika sprach
und zu ihrem Mann sagte: „Wenn Du artig bist, nehme ich Dich mit.“ Ruth,
offenbar ein sehr gewecktes Kind, erklärt heute, daß sie diese Aeußerung für
Scherz gehalten habe.
Es erscheint dann ein
damals ein sechzehn Jahre altes Dienstmädchen des Angeklagten. Ihr hat Grupen
die Ehe versprochen, als seine Frau noch da war. Die Zeugin hatte den
Angeklagten gern und trat in nähere Beziehungen zu ihm. Von einem Vergehen
Grupens an seiner Stieftochter oder einer anormalen Handlung der Mutter der
Ursula gegenüber weiß die Zeugin nichts.
Landgerichtsrat P i e t s c h , der einen Teil der Voruntersuchung führte,
suchte aufzuklären, in welcher Weise der Angeklagte sich in seinen bisherigen
Angaben über die Auffindung des Revolvers widersprochen hat. Und noch etwas
bekundet er: „Ich fragte den Angeklagten, wo seine Frau sei. - Darauf erwiderte
er zunächst nichts, sondern sah mich starr und eigentümlich an. Als ich ihm
sagte, eine Auskunft über seine Frau würde ihm nur nutzen, antwortete er: „Ich
kann und werde über meine Frau erst in der Hauptverhandlung Auskunft geben. Ich
fürchte, ich würde dann meiner Frau und andere Persönlichkeiten Ungelegenheiten
bereiten.“ Ich hatte den bestimmten Eindruck, daß er Angeklagte mir mit Bezug
auf seine Frau etwas verheimliche.“
Zu einem
interessanten Ergebnis führte die Vernehmung des Geheimrats D u b i e l , der die Voruntersuchung geführt hatte. In
der Hauptverhandlung hatte der Angeklagte bisher stets bestritten, Ursula zur
Wiederholung des Schreibens an Frau Bartel veranlaßt zu haben. In der
Voruntersuchung hatte dies Grupen aber bereits zugegeben, was man ihm aber,
weil es die Strafprozeßordnung verbietet, nicht vorhalten konnte. Auf die
Aussage Dubiels hin bequemte sich Grupen nun doch zu sagen: „Ich habe immer
gesagt, daß ich die Ursula v e r a n l
a ß t h a b e , den Brief noch einmal zu schreiben, a u f g e f o r d e r t habe ich sie nicht.
Dienstag, 13. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Abend-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Drahtmeldung unseres
Sonderberichterstatters.
P. S. Hirschberg, 13.
Dezember.
Gestern wurden noch
einige Mädchen vernommen, die sich durch Eheversprechungen des Angeklagten
verleiten ließen, mit ihm in nähere Beziehungen zu treten. Eines dieser Mädchen
war in ähnlicher Weise erkrankt, wie der Angeklagte und die kleine Ursula.
Ueber den Zusammenhang dieser Erkrankungen wurden gutachterliche Aeußerungen
nicht abgegeben.
Heute wurde zunächst
in nichtöffentlicher Sitzung weiterverhandelt. Eine intime Freundin der Frau
Grupen bekundet, daß der Angeklagte einmal zu seiner Frau gesagt habe: „Durch
Scheidung gehen wir nicht auseinander, nur die Waffe kann uns trennen!“ Der
Angeklagte habe damit einen Selbstmord durch Erschießen gemeint; die Zeugin sei
aber fest überzeugt, daß er Komödie spielte. Das Verhältnis zwischen den
Eheleuten sei überhaupt nicht so gewesen, wie es nach außen hin schien und wie
es hätte sein sollen. - Hinter verschlossenen Türen wird dann auch Wilhelm G r u p e n , der Bruder des Angeklagten, vernommen, der
einen anormalen Vorgang zwischen der Frau des Angeklagten und der Ursula
beobachtet haben will.
Mittwoch, 14. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Drahtmeldung unseres
Sonderberichterstatters.
P. S. Hirschberg, 13.
Dezember.
Zwei halbe Tage war
die Oeffentlichkeit ausgeschlossen. Nun wurde sie bei ungeheurem Andrang des
Publikums wiederhergestellt. Heute kommt die Zeugengruppe zur Vernehmung, die etwas
von dem Verschwinden der Frau Grupen wissen wollte.
Als erster Zeuge
tritt der Vater des ersten Mannes der Frau Grupen, Apothekenbesitzer Schade aus
Berlin, auf. Er hat den Angeklagten, der sich ihm gegenüber als reichen Mann
aufspielte, zweimal gesehen. Die Abschiedsbriefe der Frau Grupen habe er immer
für falsch gehalten. Ihm gegenüber habe sie nie von ihrer Auswanderungslust
nach Amerika gesprochen. Ein Verhältnis seiner Schwiegertochter mit einem
anderen Manne zu Lebzeiten seines Sohnes habe nicht bestanden. Sie hat ihre
Kinder sehr zärtlich geliebt. Er hat sich gesagt, es müsse ein fanatischer Einfluß
seine Schwiegertochter zur Abreise veranlaßt haben.
Es folgt die Frau des
Vorzeugen. Auch Frau Schade war von der plötzlichen Abreise ihrer
Schwiegertochter vollkommen überrascht. Sie habe diese Abreise umso weniger
verstanden, als Frau Grupen ihre Kinder sehr liebte.
Verteidiger Dr.
Mamroth: Hat nicht Ihre Tochter einmal geschrieben, Peters Liebe zu den Kindern
sei rührend? Zeugin: Ja. Verteidiger Dr. Mamroth: Haben Sie den Eindruck
gehabt, Frau Grupen habe in geistiger Umnachtung gehandelt? Zeugin: Nein. Ich
habe bloß zum Trost an Frau Eckert geschrieben, Trude sei nach jahrelangem
mühevollem Leben wohl auf die Idee gekommen, von allen diesen Dingen mal
freizukommen. Anders sei es nicht zu verstehen! Ich habe mich dann sehr
gewundert, daß meine Tochter die Muffe nicht mitgenommen hat, an der sie sehr
hing. Ich sah dann später die Muffe bei Marie Mohr, der ich sie weggenommen
habe.
Notar Rheineck aus
Itzehoe, der frühere Rechtsbeistand des Angeklagten, fragte zunächst, ob ihn
der Angeklagte von seiner Schweigepflicht als Rechtsanwalt entbinde. Angeklagter
bejaht.
Zeuge: Am 17. September 1920 kam der Angeklagte mit Frau Eckert und seiner Frau zu mir. Die Damen übertrugen zwei Hypotheken im Betrage von 72.000 M. auf den Angeklagten. Mir fiel das gleich auf - ich dachte an eine Steuerschiebung - und sagte: Was ist das für ein Unsinn, zumal er sagte, er gebe seiner Frau den vollen Gegenwert. Es hatte ja keinen Zweck, die Hypotheken gegen Bezahlung abzutreten. Da sie die notwendigen Papiere nicht bei sich hatten, sollten sie am nächsten Tage wiederkommen. Das war der 18. September. Wir machten dann auch die Gütertrennung, und am nächsten Tage war die Frau verschwunden. Ich erfuhr es erst einige Tage später, als Grupen die Abschiedsbriefe in mein Büro brachte. Merkwürdigerweise war, wie mir auffiel, kein Brief an den Angeklagten dabei.
Grupen machte auf
mich den Eindruck eines geknickten Ehemannes, und ich redete ihm zu, daß er
sofort die Verfolgung seiner Frau aufnehme. Nach etwa 14 Tagen kam er zu mir
zurück und sagte, er habe alles getan, was ich ihm geraten hätte. Es sei alles
vergebens gewesen. Auf seinen Wunsch leitete ich dann die vorbereitenden
Schritte zur Ehescheidung ein. Als ich dann die Sache vom Mord in Kleppelsdorf
hörte, habe ich das Mandat niedergelegt und Anzeige vom Verschwinden der Frau
an die Staatsanwaltschaft erstattet.
Vorsitzender:
Angeklagter, haben Sie die Ratschläge des Zeugen befolgt? - Angeklagter: Ich
war in Berlin. - Vorsitzender: Ich frage, ob Sie in Hamburg, wie es Ihnen der
Zeuge geraten hat, bei den Dampfergesellschaften … - Angeklagter: Ich war in
Berlin. Der Zeuge hatte mir auch gesagt, ich solle mich nach der Abreise des
Schulz erkundigen, der doch vielleicht mit meiner Frau durchgegangen sei. Ich
habe dann Frau Schade gefragt -
Vorsitzender: Frau
Schade, hat der Angeklagte Sie nach Schulz gefragt? Frau Schade: Er hat mich
nur gefragt, ob der Schulz damals allein mit meinem Sohne auf der Jagd war, als
er verunglückte.
Vorsitzender: Was
haben Sie sonst noch unternommen, um Ihre Frau zu finden? Angeklagter: Ich habe
Herrn Rechtsanwalt Rheineck gebeten, von der Polizei Erkundigungen einzuziehen.
Zeuge Rheineck: Ich habe bei der Polizei telephonisch angefragt und den
Bescheid bekommen, daß sie nach Lübeck abgemeldet sei.
Vorsitzender: Und was
haben Sie sonst getan, um Ihre Frau zu finden? Angeklagter: Schweigt.
Vorsitzender: Wollen Sie denn nun von Ihrer Frau nichts mehr wissen?
Angeklagter: Nein. -
Verteidiger Dr.
Mamroth stellt fest, daß der Angeklagte von den anempfohlenen Maßnahmen nur
unterlassen habe, die Schifffahrtsgesellschaften zu befragen. Die Aussprache
mit den Berliner Verwandten habe der Zeuge anempfohlen und der Angeklagte
befolgt.
Vorsitzender: Der
Herr Zeuge hat uns geschildert, daß Sie vollkommen geknickt waren - Zeuge: Helle
Tränen hat er geweint. Vorsitzender (fortfahrend): Und hier vor Gericht sagten
Sie eben, daß Sie von ihrer Frau nichts mehr wissen sollten. Das ist doch ein
Widerspruch -
Angeklagter
(trotzig): Dann ist das eben ein Widerspruch. - Vorsitzender: Ich mache Sie
darauf aufmerksam, daß die Geschworenen aus diesem Widerspruch Schlüsse ziehen
können. Angeklagter (nervös): Man weiß eben nicht, was das für eine Frau war -
und ich wünsche keinem -
Staatsanwalt: Ist
Ihnen bekannt, daß der Angeklagte vom Gefängnis aus noch immer mit der
Generalvollmacht über das Vermögen der Frau Eckert verfügt? Angeklagter: Dann
muß man x gleich u setzen, sonst stimmt´s nicht. Staatsanwalt: Das Vermögen der
Frau Eckert soll doch 109.000 M. betragen haben. Wo ist das Geld? Angeklagter:
Weg! (Heiterkeit.)
Angeklagter: Frau
Eckert hat nichts gehabt. Die 109.000 M. in Wertpapieren gehörten meiner Frau
und nicht Frau Eckert. Ueber dieses Geld hat meine Frau zum größten Teil
verfügt oder es ausgegeben. Vorsitzender: Der Angeklagte hat diesen Standpunkt
allerdings immer eingenommen.
Mittwoch, 14. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Abend-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Das
Verschwinden der Frau Grupen.
P. S. Hirschberg, 14.
Dezember.
Die Vernehmung der
Zeugen, die etwas zum Verschwinden der Frau Grupen mitteilen sollen, wird
fortgesetzt. Der Bankier Goldacker, der auch einige Geldgeschäfte für den
Angeklagten und seine Frau besorgt hat, erzählt: Der Angeklagte besuchte mich
in großer Aufregung und erzählte mir, seine Frau sei verschwunden. Er kam
gerade von einer Reise und sagte, er habe in Berlin und Hamburg nach ihr
gesucht. Vorsitzender: Auch in Hamburg? Zeuge: Er sagte es mir. Vorsitzender:
Hat er Ihnen gesagt, die Frau sei nach Amerika gefahren? Zeuge: Nein.
Amtsgerichtsrat
Lämme-Itzehoe weiß sehr viel außerordentliche Sachen vom Hörensagen: Der
Angeklagte habe den Versuch gemacht, seine Frau einzumauern, und ein anderes
Mal sie beim Umzuge durch Umwerfen eines Schrankes zu töten. Er hat ferner
gehört, daß Ursula vor einem Manne Angst hatte und dieser Mann sei vielleicht
Grupen gewesen. - Da der Zeuge alles nur gehört hat und nichts selbst gesehen
hat, darf er sich zurückziehen.
Nach einer kurzen
Lüftungspause kommt es zu einer kleinen Sensation. Der Vorsitzende ruft
Frl. Z a h n vor.
Vorsitzender: Frl.
Zahn! Unter den vielen unsinnigen Einsendungen, die hier einlaufen, ist eine,
die eine Rückfrage erfordert. Wissen Sie etwas davon, daß schon früher einmal
durch das offene Fenster auf Fräulein Dorothea geschossen worden ist? Zeugin:
Ja, ich erinnere mich. Es war im O k t
o b e r 1919. Da wurde mit Schrot in
das Herrenzimmer geschossen. Wir haben aber nicht geglaubt, daß der Schuß Dorothea
galt, sondern dem Inspektor Bauer. Vorsitzender: Ist es wahr, daß damals Dörthe
an der Nase verletzt wurde? Zeugin: Nein, Dörthe war gar nicht im Zimmer, auch
sonst wurde niemand verletzt.
Die kleine Sensation
stirbt im allgemeinen Achselzucken. Dann kommt das Personal des Grupenschen
Hauses zur Vernehmung: ein junger Knecht und zwei Mägde. Sie schildern die
Abreise der Frau Grupen in der bekannten Weise. Zwischen dem Ehepaar habe es
manchmal Differenzen gegeben. Zu den Kindern seien beide gut gewesen. Die eine
Magd, Fräulein Kläschen, ein 16jähriges Mädchen, hat die Fahrt im Wagen nach
Itzehoe mitgemacht.
Zeugin: Beim Abschied
hat Frau Eckert gesagt: Ach Trude, bleibe nicht lange weg, mir ist so bange.
Darauf hat Frau Grupen geantwortet: Ich komme ja bald wieder, du weißt, ich
kann ohne ihn nicht leben. Dann fuhren wir weg, und beide Ehegatten waren sehr
vergnügt. In Itzehoe, wo ich eine Evangelisationsversammlung besuchte, setzte er mich vor dem betreffenden
Hause ab und fuhr mit seiner Frau zum Bahnhof weiter. Nachher sollte ich ihn in
einem Wirtshaus erwarten, um mit ihm nach Hause zurückzufahren. Er kam aber
nicht, und da traf ich mich mit dem Knecht und der anderen Magd, und wir gingen
zusammen nach Hause.
Vorsitzender: Wer
öffnete Ihnen die Haustür? Zeugin: Ich weiß nicht. Vorsitzender: Der Knecht
behauptet, Herr Grupen habe Ihnen selbst aufgemacht. Zeugin: Ich weiß nicht.
Ein Geschworener:
Konnte denn der Angeklagte mit der einen Hand das Pferd vom Wagen selbst
abschirren? Angeklagter: Jawohl, das kann ich.
Die Zeugin Kläschen war
es auch, die auf der Toilette am Tage vor der Abreise der Frau Grupen das
Konzept des Abschiedsbriefes gefunden hatte. Auch war sie zugegen, als der
Angeklagte die Stahlkassette der Frau Grupen einige Tage nach ihrer Abreise
öffnete. Grupen hatte beim Oeffnen von Stahlkassetten eine besondere Technik.
Er ließ sie von seinen Leuten in die Höhe halten und stieß mit dem Fuß dagegen,
so daß sie aufsprang. Er soll, wie die Zeugin bei ihrer ersten Vernehmung
sagte, in etwas theatralischer Weise darüber erschrocken sein, daß in der Kassette
nichts war außer dem Paket Abschiedsbriefe, während 60.000 M. anscheinend
fehlten. Jetzt vor Gericht erinnert sich die Zeugin nicht mehr an die posierte
Haltung des Angeklagten.
Zum Schluß des Tages
äußert sich Dr. B u e n z , der Hausarzt der Frau Grupen während ihres
zweijährigen Aufenthaltes in Rostock. Buenz stellt Frau Grupen ein
ausgezeichnetes Zeugnis aus. Sie sei eine sehr besorgte, eher zu ängstliche
Mutter gewesen, und er könne sich absolut nicht vorstellen, daß die Frau auch
bei einem ernsteren Zerwürfnis mit ihrem Manne sich länger als vierzehn Tage
von ihren Kindern trennen könne. Frau Grupen sei außerdem eine ausgezeichnete
Hausfrau gewesen, die niemals sich gescheut hat, mit Hand anzulegen, sie habe
auch grobe Arbeit verrichtet, besonders im Garten. Während ihres ganzen
Aufenthaltes in Rostock sei ihr Ruf völlig makellos gewesen.
Geheimrat Dr. M o l l :
„Ist es dem Herrn Zeugen auf Grund seiner langjährigen Praxis bekannt,
daß es Frauen gibt, die leidenschaftlich veranlagt, vielleicht sogar bis zu
einem Grade, der andere Leute verletzt, trotzdem ausgezeichnete Menschen,
Hausfrauen und Mütter sind? - Zeuge Dr. Buenz: Jawohl, das gibt es.
Verteidiger Dr. M a m r o t h : Ist es dem Herrn Zeugen auf Grund seiner
langjährigen Praxis bekannt, daß es Menschen gibt, die Ausgezeichnetes im
Berufe leisten und auch sonst nichts in ihrem Charakter zu Schulden kommen
lassen, die aber im Alter von 20 bis 27 Jahren jedem jungen Mädchen, das ihnen
in die Nähe kommt, gefährlich werden? Sanitätsrat Dr. B u e n z :
„Ich möchte die Grenze nur vom 20. bis 25. Jahre ziehen, aber ich gebe
zu - der Mann ist im allgemeinen polygam veranlagt.“
Donnerstag, 15. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Das Drama
auf Schloß Kleppelsdorf.
Aus
Grupens Vergangenheit.
P. S. Hirschberg, 14.
Dezember.
Die Geschichte Peter
Grupens dröselt sich auf wie ein Stück von Ibsen. Man begann mit der
Katastrophe, dann verhandelte man über das Schicksal der Frau - und nun geht es
langsam in die Jugendgeschichte dieses Menschen hinein, der mit
unerschütterlichem Gleichmut der Verhandlung beiwohnt und sich eigentlich
selten an ihr beteiligt; für manche der Situationen, die ihm vorgeführt werden,
hat er ein diskretes Lächeln - als mache es ihm Spaß, zu wissen, worüber eine
Welt sich den Kopf zerbricht. Jetzt tritt aber noch eine weitere Persönlichkeit
in den Mittelpunkt: Wilhelm Grupen.
Unter den ersten
Zeugen des heutigen Tages erscheint Herr
B o o s , der Bruder der alten
Frau Eckert: Nach dem Verschwinden seiner Nichte kamen uns allmählich Zweifel,
daß Frau Grupen wirklich nach Amerika gegangen sei. Ich riet deshalb meiner
Schwester, sie solle sich in Hamburg bei einem Detektiv und bei den
Schiffsgesellschaften erkundigen. Sie schrieb zurück: Peter macht das alles!
Dann bekam ich einen Brief von meiner Schwester, die mir sagte, sie möchte sich
mal mit uns aussprechen. Den Brief hatte meine Schwester heimlich zur Post gebracht,
weil Grupen ihre ganze Post kontrollierte.
Staatsanwalt: Der
Bruder des Angeklagten, Wilhelm Grupen, hat, wie Sie früher gesagt haben, auf
Sie einen schlechten Eindruck gemacht. - Zeuge: Ja. Er schien mir hinterlistig
und spionierte, als ich mich später am Wohnort Grupens aufhielt, immer hinter
uns her. Es war ja das ein subjektiver Eindruck, aber dieser Mann war uns unheimlich
und verdächtig.
Vorsitzender: Haben
Sie denn Anhaltspunkte gehabt? - Zeuge: Wir haben uns gesagt, das Verschwinden
der Frau Grupen könne nicht die Tat eines einzelnen Mannes sein, und glaubten
an die Möglichkeit, daß Wilhelm seinem Bruder bei der Beiseiteschaffung
geholfen habe oder, daß er etwas davon wisse.
Die Dienstmagd
Gniewakowski sagt aus: Der Angeklagte hat schon vor dem Verschwinden der Frau
dem Kinderfräulein Charlotte Müller die Ehe versprochen. Das war zu gleicher
Zeit, als er der 16jährigen Magd Kläschen auch die Ehe versprochen hatte. Da
ist es zu einer Auseinandersetzung zwischen Grupen, der Kläschen und der
Müller. Am Ende fiel die Müller dem Grupen um den Hals und sagte: „Ich will ihn
haben!“
Vorsitzender:
Angeklagter, haben Sie eine Frage?
Angeklagter (stolz):
Ich habe auf das Gerede nichts zu erwidern. Zwei Freundinnen der Verschwundenen
treten auf: Frau Zahntechniker Stubbe hat das Verhältnis der Eheleute Grupen beobachtet.
Frau Grupen sei sehr nervös gewesen, wohl infolge der vielen Umzüge. Frau
Grupen arbeitet dabei wie ein Mann. Sie hat sich über den Umzug nach
Ottenbüttel sehr gewundert, da das Haus unschön, kahl und öde war. Auch Frau
Grupen habe sich so ähnlich geäußert.
Frau Diestel: Ich bin
eine Freundin der Frau Grupen und hatte das Gefühl, daß Grupen es darauf
anlegte, seine Frau zu reizen. Von ihrer Absicht, nach Amerika zu gehen, hat
sie nie etwas gesagt. Sie hat sich Kleider neu machen lassen, um im Winter an
Gesellschaften in Itzehoe teilzunehmen. Der Angeklagte war mir von Anfang an
sehr unsympathisch.
Frau Drechshäuser,
die vor Jahren Grupens Zimmermädchen war, eröffnet den Reigen der Zeugen, die
von seiner Jugend erzählte. Grupen hat vor seiner Ehe nichts besessen und die
Absicht geäußert, sich reich zu verheiraten.
Die Zimmerwirtin gibt
das Wort an eine junge Frau ab, die einmal mit Grupen richtig verlobt war. Die
blonde freundliche Holsteinerin war nach dem Kriege Hilfsbriefträgerin gewesen.
Grupen hatte sie Briefe gebracht, und da hat er ihr Herz gewonnen. Lange aber
hatte das nicht gedauert: Da erklärte er ihr unter Tränen: Er muß sich
anderweitig verloben. Ein Verhältnis mit einer anderen Frau sei nicht ohne
Folgen geblieben, sie müsse er nun heiraten. Aber wie zum Trost sagte er: Meine
Frau habe ich doch nicht lange. Du kannst ja zu uns als Kindermädchen kommen,
was sie indessen nicht tat. Grupen sei ein sehr unruhiger Geist gewesen, er
habe jeden Augenblick einen anderen Plan gehabt. Einmal wollte er eine
Luftschaukel kaufen, dann kaufte er alte Fahrräder und Anzüge, die er aufarbeiten
ließ und nachträglich weiter verkaufte. Er bezog damals
Erwerbslosenunterstützung. Er verstand es, sich durch Bezugsscheine Anzüge zu
verschaffen, die er verkaufte.
Vorsitzender:
Angeklagter, bezogen Sie Erwerbslosenunterstützung? - Angeklagter: Ja! -
Vorsitzender: Was sagen Sie dazu, was die Zeugin behauptet, Sie hätten gesagt:
Die Frau habe ich doch nicht lange? - Angeklagter: Im Interesse der Zeugin wie
meiner Frau lehne ich jede Antwort ab.
Ueber die wichtige
Abmeldung der Frau Grupen aus Itzehoe sagt Kriminal-Oberwachtmeister Giese aus,
daß Frau Grupen am 20. September abgemeldet worden sei. Ob eine persönliche Abmeldung
stattfand, konnte nicht festgestellt werden. - Vorsitzender: Welche weiteren
Erkundigungen haben Sie festgestellt? - Zeuge: Ich war bei der Familie Mohr,
die durchweg Gutes über Grupen aussagte, während sie von Frau Grupen aussagte,
sie sei mannstoll. Dann war ich beim Gemeindevorsteher, der sich ebenfalls
günstig über Grupen äußerte.
Als nächste Zeugin
trat eine neue ehemalige Braut auf, schlank, hochgewachsen, mit leuchtendem
blondem Haar. Sie hat inzwischen anderweitig geheiratet; in ihrem singenden
hübschen Dialekt erzählt sie ihre Leidensgeschichte.
Zeugin: Als meine
Verlobung mit Grupen schon aufgehoben war, traf ich ihn eines Abends einmal,
und als ich ihm sagte, daß ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, weil
ich meinem neuen Bräutigam treu sein, da hat er einen Revolver gezogen und ihn
mir auf die Brust gesetzt und gesagt: Ich kann ohne Dir nicht leben. Da bin ich
ihm um den Hals gefallen und habe ihm versprochen, mich jede Woche mit ihm zu
treffen. Aber ich bin nicht hingegangen. Als er dann wieder schrieb, bin ich
mit meinem Verlobten zu ihm gegangen. Er hat ihm die Geschenke und noch 60 Mark
gegeben, und dann hat Grupen die Geschenke seiner nächsten Braut geschenkt.
Frau Dr. B e y e r ,
eine Fräulein Zahn und Dorothea Rohrbeck befreundete Dame, erzählt: Als
ich am 15. Februar in das Haus kam, fiel mir auf, daß Frau Eckert immerzu
Grupen bedauerte. Es hieß immer: der arme Peter! Als ich fragte: Aber Frau
Eckert, Dorothea! da sagte Frau Eckert: Ach, Dorothea, die hat mich doch nie
gemocht! Erst als ich die Vermutung äußerte, daß Grupen vielleicht auch am
Verschwinden von Frau Grupen schuld sei, sagte Frau Eckert: Wenn ich erfahre,
daß meine Tochter tot ist, lasse ich den Täter fallen. Später, am Abend, als
man zu Tisch ging, fragte Frau Eckert, ob die Herren vom Gericht auch bei Tisch
seien. Als ich bejahte, sagte Frau Eckert: Da muß ich aufpassen, daß ich mir
nichts merken lasse. An die kleine Irma habe ich öfters die Frage gerichtet, ob
Peter Grupen wirklich nicht aus dem Zimmer gegangen sei. Dann kam Marie Mohr
der kleinen Irma zuvor und sagte: „Herr Grupen ist nicht aus dem Zimmer
gegangen.“
Vorsitzender: Hat
Fräulein Dorothea sich über die Reise des Grupen zur Großmutter geäußert?
Zeugin: Ja. Dorothea sagte, sie sei sehr verwundert gewesen, daß die Großmutter
über das Befinden von Frau Grupen nicht sehr traurig gewesen sei. Zuerst habe
sie und Grupen ein bißchen geweint. Dann aber waren sie ganz vergnügt. Und
Dorothea sagte schließlich: „Mir kommt die ganze Geschichte vor wie ein
Theater.“
Eine besondere
Bewegung ruft die Aussage einer jungen Holsteinerin hervor, der Tochter von
Grupens Lehrherrn, die nach dem Verschwinden der Frau Grupen in Grupens Haus
als Stütze kam.
Vorsitzender: Der
Angeklagte hat Ihnen mal eine goldene Uhr geschenkt? Zeugin: Ja. Vorsitzender:
Wissen Sie, ob das die Uhr von der verschwundenen Frau Grupen war? Zeugin: Das
weiß ich nicht. Vorsitzender: Wo ist denn die Uhr jetzt? Zeugin: Ich habe sie
noch zu Hause.
Angeklagter (sehr
tief errötend): Darüber kann ich eine Erklärung abgeben: Es ist die Uhr meiner
Frau.
Staatsanwalt: Das
sagen Sie heute z u m e r s t e n
M a l e aus! Angekl.: Meine Frau
hatte mehrere Uhren. - Es entspinnt sich darüber eine längere Debatte, in deren
Verlauf die alte Frau E c k e r t in den Saal gerufen wird und aussagt: Meine
Tochter hatte meines Wissens nur e i n
e goldene Armbanduhr, die sie auf
Reisen wohl immer trug, ob auch am Tage der Abreise, kann ich nicht sagen.
Es folgt eine längere
Auseinandersetzung über die Ringe und Wertsachen der Frau Grupen, die später
versetzt bei Pfandleihern aufgefunden wurden. Insbesondere verdichtete sich das
Interesse um den Mantel und den Pelzkragen, den Frau Grupen mit auf dem Wagen
hatte, den aber Frau Grupen angeblich darin zurückgelassen hat. Der Angeklagte
behauptete zuerst, die Gegenstände in seinen Schrank getan zu haben, zieht aber
dann die Aussage halb zurück. Vorsitzender: Angeklagter, Sie müssen die
Wahrheit sagen. Sie können auch die Aussage ablehnen; wenn Sie aber
widersprechende Angaben machen, müssen Sie darauf gefaßt sein, daß die
entsprechenden Schlüsse gezogen werden.
Donnerstag, 15. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Abend-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Der
Bruder des Angeklagten als Zeuge.
P. S. Hirschberg, 15.
Dezember.
Grupens Bräute
erfüllen den ernsten Raum des Gerichts mit dem eigentümlichen Gesinge
holsteinischen Tonfalles. Diesen blonden, schüchternen Frauen glaubt man es
kaum, daß sie mit Peter Grupen etwas zu tun gehabt haben, am wenigsten der
letzten, die zu Worte kommt. Ein reizendes zierliches Geschöpf mit besonders
feinen und zartgeschnittenen Zügen! Ihr Vater war Grupens Lehrmeister.
Zeugin: Als er nach
dem Verschwinden seiner Frau uns besuchte, sagte mir mein Vater, seine Frau sei
tot. Ich müsse ihm den Haushalt führen. Mir sagte er dann später, seine Frau
habe ihn verlassen, sei über Holland nach Amerika gegangen und dort, wie er von
einem Detektiv erfahren habe, an Syphilis gestorben.
Vorsitzender:
Angeklagter! Das ist ja ganz neu, daß Ihre Frau über Holland fuhr! Wer ist denn
der Detektiv? - Angeklagter: (schweigt). - Zeugin: Später, als er mit Frl. Zahn
und Dorothea Rohrbeck in Hamburg gewesen war, kam er zurück und erzählte mir,
die beiden Damen hätten den Versuch gemacht, ihn zu vergiften, indem sie Gift
in eine Weinflasche schütteten.
Vorsitzender (zum
Angeklagten): Was sagen Sie dazu? - Angeklagter (lächelnd): Wir haben wohl
einen etwas starken Wein getrunken. Vorsitzender: Den Wein haben doch aber S i e
bestellt, S i e haben die beiden Damen traktiert!
Als nächster Zeuge
kommt der Pfandleihbesitzer Lang aus Itzehoe zur Vernehmung. Zeuge: Am 5. März
1920 kam der Angeklagte zum ersten Male mit Schmucksachen zu mir, die ich mit
6000 Mark belieh. Später kam er mit einem Regenmantel, einem Pelzjackett und im
Dezember mit 7900 Gramm Silber. - Vorsitzender: Angeklagter! Sie haben damals
Ihrer Schwiegermutter gegenüber behauptet, Ihre Frau habe ihre Schmucksachen
mitgenommen. Angeklagter: Ich bin bei dem Zeugen gewesen und habe ihm gesagt,
ich hätte die Pfandscheine verloren, er müsse die Brillanten sperren. - Zeuge:
Das ist nicht wahr. - Vorsitzender: Wo sind denn die Pfandscheine geblieben? -
Angeklagter: Kurz vor der Reise nach Kleppelsdorf habe ich die drei Pfandscheine
meinem Bruder gegeben, der sie später der Staatsanwaltschaft auslieferte.
Nunmehr wird der
Bruder des Angeklagten Wilhelm Grupen hervorgerufen. Man erwartet ihn mit
besonderem Interesse, da der Bruder der Frau Eckert von einer Möglichkeit der
Mitschuld Wilhelm Grupens an dem Verschwinden von Frau Grupen gesprochen hat.
Vorsitzender: Wollen Sie aussagen? Sie brauchen es nicht. - Zeuge: Ich will. -
Vorsitzender: Hat Ihr Bruder vor seiner Verheiratung Vermögen gehabt, oder
haben Sie ihn unterstützt?
Zeuge: Meine Frau hat
ihm mit Lebensmitteln ausgeholfen. - Vorsitzender: Hat Ihr Bruder Ihnen nicht
aus dem Gefängnis eine Hypothek im Werte von 78.000 Mark zediert? - Zeuge: Ja.
- Vorsitzender: Ja, warum hat Ihnen denn Ihr Bru- (die vorherige Zeile wird hier wiederholt, mindestens eine Textzeile
scheint zu fehlen) - Vorsitzender: Ihr Bruder hat Ihnen im November 1920 Generalvollmacht
erteilt. Haben Sie mit der Generalvollmacht Geschäfte gemacht? - Zeuge: Nein.
Vorsitzender: Haben
Sie mit der Generalvollmacht einmal Geld von der Bank geholt? - Zeuge: Ja.
Das Gespräch über die
Geldangelegenheiten wird hier abgebrochen und man wendet sich den Kleppelsdorfer
Tagen zu. Vorsitzender: War die Waffe, die Ihnen Ihr Bruder zurückließ,
geladen? - Zeuge (verwirrt und verlegen): Ich kenne mich überhaupt nicht mit
der Waffe aus. - Vorsitzender: Sie wußten mit der Waffe nicht Bescheid, aber
die kleine Ursula soll damit so Bescheid gewußt haben, daß sie den Mord
begangen hat.
Die Waffe wird
nunmehr dem Zeugen übergeben, nachdem der Polizeiinspektor den Rahmen
herausgenommen hat. Vorsitzender: Ist das die Waffe, die Ihnen Ihr Bruder gezeigt
hat? - Zeuge (verwirrt): Es ist ja gar kein Patronenrahmen darin. -
Vorsitzender: Ja, Sie scheinen also mit Waffe gut Bescheid zu wissen. Die
Unterhaltung über die Waffe dauert sehr lange, bis schließlich aus Handgriffen,
die der Zeuge macht, hervorgeht, daß er mit der Waffe ganz genau Bescheid
gewußt hat.
Es werden dann noch
Versuche mit dem Revolver angestellt, aus denen hervorgeht, daß der Angeklagte
den Revolver mit einer Hand sichern und entsichern kann. Er selbst sagt: „Ich
hätte vielleicht den Revolver auch allein laden und spannen können, aber mein
Bruder hat mir dabei geholfen.“
Um 9 ½ Uhr wird die
Sitzung vertagt.
Freitag, 16. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
P. S. Hirschberg, 15.
Dezember.
Am Donnerstag morgen
wurde das Verhör des Zeugen Wilhelm Grupen fortgesetzt. Er sagt aus, daß
zwischen den Geschwistern keine Abmachungen darüber bestanden, wie der Erlös
des elterlichen Hauses verteilt werden sollte.
Staatsanwalt: Wie
kommt es, daß Sie in der Voruntersuchung das Gegenteil gesagt haben? Sie haben
gesagt, Ihr Bruder habe Ihnen 5000 Mark versprochen. - Zeuge: Das muß ein Mißverständnis
gewesen sein. - Angeklagter: Ich bitte meinem Bruder vorzuhalten, daß ich ihm
doch 5000 Mark versprochen hatte. - Man geht über diesen Widerspruch hinweg.
Vorsitzender: Wissen
Sie etwas von dem Verschwinden Ihrer Schwägerin? - Zeuge: Nein. Erst nach den
Kleppelsdorfer Ereignissen habe ich mich bei den Hamburger Behörden erkundigt,
aber nichts erfahren. Vorsitzender: Das ist doch 5 Monate nach dem Verschwinden
gewesen? - Ein Geschworener: Wo haben Sie die Nachricht von den Kleppelsdorfer
Ereignissen erhalten? - Zeuge: In Ottenbüttel durch den Nachbar Hinrich
Schmidt.
Widersprechende
Aussagen.
Ein Sachverständiger
bittet, den Zeugen zu fragen, ob es wahr ist, daß der Zeuge mehrmals in
Ottenbüttel mit den Kindern Ursula, Irmgard und Ruth in demselben Zimmer
geschlafen hat.
Zeuge: Ja - ich habe,
weil kein Platz war, mehrfach auf dem Sofa im Kinderzimmer geschlafen.
Auf Antrag des
Staatsanwaltes wird die kleine Irmgard wieder in den Saal gerufen, die aussagt,
daß Wilhelm Grupen im Bett dicht neben dem anderen Bett, in dem die Kinder
lagen, geschlafen hat, während Ursula auf dem Sofa schlief. Auch die wieder
hervorgerufene Zeugin Hatje bestätigt das.
Vors.: Zeuge Wilhelm
Grupen, wie erklären Sie sich diesen Widerspruch? Zeuge: Vielleicht habe ich
mal im Bett geschlafen.
Vorsitzender: Sie
haben das vorhin auf das entschiedenste bestritten. Verteidiger Dr. Mamroth: Es
ist doch durchaus denkbar, daß man nach anderthalb Jahren nicht mehr genau
weiß, ob man im Bett oder auf dem Sofa geschlafen hat. Es ist doch ein
nebensächlicher Umstand.
Vorsitzender: Der
Umstand ist unwesentlich, aber der Widerspruch ist nicht nebensächlich für die
Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeugen.
Heinrich Grupen, der
ältere Bruder des Angeklagten, dem Aussehen nach das sympathischste Mitglied
der Familie, wird hineingerufen. Vorsitzender: Haben Sie Ihrem Bruder
nahgestanden, oder mit Ihrem Bruder Geschäfte gemacht?
Zeuge: Ich wohne in
Kiel, bin Schiffsführer und habe wenig Verkehr mit ihm. Vorsitzender: Hat Ihr
Bruder Ihnen etwas vom Verschwinden seiner Frau erzählt? Zeuge: Ich bin meines
Wissens seitdem nie mit ihm zusammengekommen.
Mit Hinrich Maas
tritt einer der interessantesten Zeugen des Prozesses in den Saal. Ein starker,
hochgewachsener, holsteinischer Bauer, ein Mann von einigen vierzig Jahren. Auf
den breiten Schultern sitzt ein Kopf, der wie aus Stein gehauen, niemals auch
nur die mindeste innere Bewegung verrät. Die festen Wangen und der scharfgezeichnete
Mund sind bartlos. Dünne Adlernase springt scharf nach vorn. Nur in den großen,
harten, blauen Augen ist ein heißes, schwer zu deutendes Leben. Knapp und
vorsichtig sind seine Antworten. Meistens stößt er ein langgezogenes „Jach“
oder „Noon“ aus, das Heiterkeit, aber auch größte Aufmerksamkeit hervorruft.
Mit ihm hat Grupen die meisten seiner Geschäfte abgewickelt, und von größtem
Interesse ist es, daß Grupen und er bereits im Dezember daran dachten, das Gut
Kleppelsdorf zu kaufen. Zunächst wird über den Erwerb des Grundstückes von
Ottenbüttel gesprochen, was nicht ohne einige Widersprüche abläuft.
Vorsitzender: Haben
Sie sonst noch Geschäfte mit dem Angeklagten gemacht? Zeuge: Nein.
Vorsitzender: Haben Sie nicht mal etwas davon gesprochen, daß Sie das Gut
Kleppelsdorf kaufen wollten? Zeuge: Ich habe nicht mit dem Angeklagten, sondern
mit Frau Eckert in der Weihnachtszeit davon gesprochen. Sie hat mir erzählt,
daß das Gut schlecht verwaltet würde, und daß die Besitzerin ein junges Mädchen
sei. Vorsitzender: Haben Sie nicht auch mit dem Angeklagten darüber gesprochen?
Zeuge: Nein.
Staatsanwalt: Sie
haben aber anderen Zeugen gesagt, Sie hätten mit Grupen eine große Sache vor.
Sie wollten mit ihm Kleppelsdorf kaufen. Zeuge: Ich wollte nicht kaufen,
sondern nur vermitteln. Vorsitzender: Wie konnten sie aber vorhaben, den
Verkauf zu vermitteln, wenn Sie ihn gar nicht gesprochen haben? Zeuge: Kaufen
kann ich nicht sagen. Vorsitzender: Aber über die Vermittlung müssen Sie doch
mit ihm gesprochen haben? Zeuge: Ich habe wohl mal gesagt, ich möchte
Kleppelsdorf ansehen. Staatsanwalt: Angeklagter, wie kommen sie auf die Idee,
Kleppelsdorf verkaufen zu wollen, wo doch niemals in Kleppelsdorf selbst davon
die Rede war, daß das Gut verkauft werden sollte? Angeklagter: Das Gut warf
doch nichts ab, und der Vormund hatte doch selbst gesagt, daß das gut verkauft
werden müsse, wenn so weiter gewirtschaftet werde.
Nach längerer Debatte
beschließt das Gericht, zwei neue, vom Staatsanwalt gestellte Zeugen zu
vernehmen.
Johannes Wittmak,
Lehrer aus Mehlbek, Im Wirtshaus hat mir der Zeuge Maß gesagt, daß er bald mal
nach der Lausitz fahren wolle, wo er in einer großen Sache zu tun habe.
Vorsitzender: Weiter wissen Sie nichts? Hat er den Namen des Gutes Kleppelsdorf
genannt oder den Namen des Angeklagten? Zeuge: Nein, ich weiß nur, daß der
Zeuge in der Zeit mit dem Angeklagten verkehrt hat. Sonst kann ich nichts
aussagen. Johannes Wich, Landmann und Kaufmann aus Mehlbek: Ungefähr vor einem
hat Maß gesagt: Wir wollen nächstens nach der Lausitz fahren, um ein Gut zu
kaufen. Vorsitzender: Wer ist wir? Zeuge: Ich nehme an, daß das Maß und Grupen
waren, und als jetzt der Mordprozeß losging und Maß mir erzählte, daß er auch
nach Hirschberg fahre, habe ich ihn gefragt, ob Kleppelsdorf das Gut sein, daß
er damals kaufen sollte. Und da sagte er: Ja.
Hierauf werden
mehrere Zeugen, darunter ein Rektor, die dem Angeklagten günstige Zeugnisse
ausstellten, vernommen. Insbesondere rühmt der Rektor, der ihm
Nachhilfeunterricht während seiner Lehrlingszeit gab, seinen Fleiß und
Lerneifer. Allerdings sei Grupen offenbar etwas ehrgeizig gewesen. Aber er habe
in seiner ganzen freien Zeit gearbeitet, und sein größter Ehrgeiz sei gewesen,
doch noch einmal sein Einjährigenzeugnis zu erwerben. - Eine sehr lange Zeit
nimmt die Erörterung über einen Hauskauf in Altona in Anspruch, an dem der
Angeklagte beteiligt war.
Der Vorsitzende teilt
mit, ein Kolporteur habe telegraphisch
mitgeteilt, er könne bekunden, daß Grupen kurz vor seiner Abreise seiner Frau
diese gewürgt habe. Das Gericht beschließt, den Kolporteur bis Sonnabend zu laden.
- Lange wurde über die Vermögensverhältnisse des Angeklagten verhandelt, der
nach seiner eigenen Angabe am Tage der Verhaftung über eine Viertelmillion
verfügte. Es folgen einige Gefängnisbeamte, die über das Verhalten des
Angeklagten ein günstiges Zeugnis ausstellten. - Frau Eckert wird auf Wunsch
des Staatsanwaltes noch einmal aufgerufen, um den Entwicklungsgang der kleinen
Ursula zu erzählen. Sie wiederholt zurzeit Bekanntes. Zeugin Marie Mohr wird
wieder über das Reisegepäck noch einmal vernommen.
Der Staatsanwalt
bittet, den Untersuchungsrichter darüber zu befragen, ob Marie Mohr auf ihn
nicht in sittlicher Beziehung einen unnatürlich unbefangenen Eindruck gemacht
hat. Der Untersuchungsrichter fragte: Haben Sie denn überhaupt kein
Schamgefühl? Darauf sagt sie: Nein. Später sagte sie dann jedoch: Ich habe mich
geschämt.
Freitag, 16. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Abend-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Beginn
der Plaidoyers am Montag.
P. S. Hirschberg, 16.
Dezember.
Die lange Dauer des
Prozesses macht sich bei fast allen Beteiligten fühlbar. Der Staatsanwalt, der
aus Rücksicht auf die ungeheuren Kosten darauf gedrungen hatte, daß eine Anzahl
von Zeugen nach ihren Aussagen definitiv entlassen wurde, kommt oft in die
Lage, sich einen entlassenen Zeugen wieder herbeizuwünschen. Meist hat er Glück
und die Leute sitzen noch im Gerichtssaal oder wenigstens im Hotel. Eine Zeugin
erlebte auf diese Weise die Sensation, dreimal schwören zu müssen. Erst hatte
sie den Voreid geschworen und sollte endgültig entlassen werden. Dann hatte man
sie wieder vorgerufen. Da man aber vergessen hatte, sie vor der Vernehmung auf
den bereits geleisteten Eid zu verpflichten, so mußte sich nach ihrer zweiten
Vernehmung den Nacheid leisten. Das dritte Mal vorgerufen, leistete sie
nochmals den Voreid. Die Bemühungen des Vorsitzenden, jeden Revisionsanlaß zu
vermeiden, machen oft lange juristische Erörterungen notwendig, bei denen sich
die Gemüter erhitzen. Die Stimmung ist aber namentlich deshalb gereizt, weil
der Wunsch aller, die Verhandlung in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag zu
Ende zu führen, nicht in Erfüllung gehen wird. Der Staatsanwalt beansprucht
einen vollen Tag zur Vorbereitung seines Plädoyers. Bis jetzt ist wenigstens
folgendes bekannt: Beginn der Plädoyers Montag vormittag, Urteil vielleicht in
der Nacht zum Dienstag.
Der gestrige Abend
brachte nur Verlesungen kommissarischer Vernehmungen, die zum Teil belanglos
sind. Eine Zeugin spricht sich sehr heftig gegen die Verschwendung der Frau
Grupen aus, der zum Vorwurf gemacht wird, sie hätte den Sohn ihres verstorbenen
Verlobten Reske finanzielle geschädigt. Dann beginnt die Vernehmung des
Sachverständigen, Bücherrevisors Scherf aus Brieg. Er weist auf die völlig
ungeordnete oder vielmehr nicht existierende Buchführung des Angeklagte hin und
sucht nachzuweisen, daß er zur Zeit des Mordes über keine Flüssigen Mittel verfügte.
Dann sprach Dr. Jeserich-Berlin in seiner behaglich-humoristischen Weise über
die von ihm angestellten Schriftvergleiche. Den Brief Ursulas „An Großmutti“
bezeichnet er als zweifellos von der Hand Ursulas herrührend. Der Zusatz des
Wortes „traurige“ in dem Brief Ursels an Frau Bartels ist, wie Jeserich
ausführt, zweifellos nachträglich hinzugefügt; ob von der Hand Ursels, läßt er
dahingestellt. Auch hier gibt es zwischen dem Vorsitzenden und dem
Sachverständigen ein nervöses Geplänkel. Der einzig Ruhige im Saal ist der
Angeklagte - stets klug, kühl, schlagfertig und beherrscht.
Samstag, 17. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Das Drama
auf Schloß Kleppelsdorf.
Die
Aussagen der Sachverständigen.
P. S. Hirschberg, 16.
Dezember.
Nach dem
Sachverständigen Dr. Jeserich nimmt Professor
S c h n e i d e m ü h l das
Wort, der einst als pathologischer Anatom Universitätslehrer war und sich seit
Jahrzehnten mit Schriftvergleichen und Graphologie beschäftigt. Der alte Herr,
der schon während der Verhandlungen durch leise und nicht immer ganz klare
Fragen die Geduld der Beteiligten auf die Probe gestellt hatte, beginnt mit
einer langatmigen und selbstgefälligen Einleitung über seinen Werdegang. Nach
etwa dreiviertelstündigem Vortrag spricht er auch aus, daß Frau Grupen die
Abschiedsbriefe geschrieben hat. Endlich wendet er sich der Frage zu, ob Ursels
Brief an Großmutti im Zustand suggestiver Beeinflussung geschrieben sei. Er
kommt zu dem Ergebnis, daß der Inhalt des Briefes dem Kinde nicht zu Bewußtsein
gekommen sein kann. Der Brief der Frau Grupen erschien ihm nach dem graphischen
Bilde zunächst als ein Geschäftsbrief. Die Briefe, die sonst Frau Grupen
schrieb, seien richtige Familien- und Privatbriefe gewesen, während die sechs
an demselben Tage geschriebenen Abschiedsbriefe durchaus den Charakter von
Geschäftsbriefen haben. Frühere Privatbriefe tragen durchaus die Spuren
seelischer Kämpfe, die in den sechs Abschiedsbriefen vollkommen fehlen,
obgleich sie in einer Frau, die im Begriff ist, Vaterland, Mann und Kinder zu
verlassen, infolge der seelischen Bewegungen zur Stunde des Abschieds vor sich
gegangen sein müssen. Er kommt zu dem Schluß, daß auch diese Briefe unter
äußerer Beeinflussung geschrieben worden sind.
Verteidiger Dr.
Mamroth: Glauben Sie nicht, daß, wenn die Frau diese Briefe wider Willen
geschrieben hat, die innere Hemmung gegen den Inhalt der Briefe eine so starke
gewesen sein muß, daß die Hemmung erkennbar Veränderungen in der Handschrift
hervorgerufen haben müsse?
Sachverständiger:
Möglich, daß die Frau Grupen diese Briefe ganz harmlos geschrieben hat,
vielleicht hat man sie diese Briefe zum Scherz schreiben lassen. Jedenfalls war
die innere Erregung ausgeschaltet. Der Sachverständige hat bei anderen Briefen
der Frau Grupen Spuren einer Erregung festgestellt. Wie erklärt er, daß diese
Spuren vorhanden sind, obgleich diese Briefe dem Inhalt nach harmlos und in
behaglicher Stimmung geschrieben sind? Sachverständiger: Die Spuren der
Erregung sind noch lange nach dem Gefühlsanlaß in der Handlung auch harmloser
Briefe festzustellen.
Staatsanwalt: Glauben
Sie, daß diese Briefe in einem Zustand der Hypnose geschrieben sind? Sachverständiger:
Das kann ich nicht sagen. Sollte der Sachverständige Moll in seinem Gutachten
zu dem Resultat kommen, daß sich Frau Grupen unter suggestiver Beeinflussung
des Angeklagten befunden hat, so würde das für mich die vollkommene Erklärung
dafür sein, daß diese Briefe nicht ohne Merkmale innerer Bewegung geschrieben
sind.
Verteidiger Dr.
Ablaß: Wenn nun aber die Kennzeichen für eine innere Bewegung fehlen, von denen
Sie vermuten, daß sie normalerweise da sein müßten, daß sie sich in einer a n d e r e n , Ihnen fremden Seelenstimmung befunden hat,
die Sie nicht vermuten und die trotzdem ganz normal ist? Sachverständiger gibt
diese Möglichkeit zu.
Schießsachverständiger
Büchsenmeister W a l t e r ist zu dem Schluß gekommen, daß Ursula
unmöglich Selbstmord begangen haben könne, da sonst die gefundenen Patronenhülsen in einem anderen Teil des
Zimmers gelegen haben müßten. Auch die Durchschlagskraft, die die Kugel gehabt
hat, läßt annehmen, daß der Täter in der Mitte des Zimmers gestanden hat, wahrscheinlich
hat er zuerst auf Dorothea den von unten nach oben laufenden Schuß abgegeben.
Der zweite Schuß galt der Ursula, die in den Hintergrund des Zimmers geflüchtet
war. Der dritte Schuß war wahrscheinlich ein sogenannter Fangschuß, der auf die
schon am Boden liegende Ursula (muss
heißen: Dorothea) aus einer Entfernung von etwa 30 Zentimetern abgegeben wurde.
Auf jeden Fall aber also sind die Schüsse von
d r i t t e r Hand abgegeben
worden.
Es entspinnt sich
zwischen dem Sachverständigen und dem Angeklagten, der in der Mitte des Saales
vor der Tafel steht, eine sehr heftige Debatte. Der Angeklagte verteidigt sich
mit großer Lebhaftigkeit und Sachverständnis. Der Sachverständige bleibt dabei,
er hält es für ausgeschlossen, daß die kleine Ursula die Schüsse abgegeben hat.
Sachverständiger
Medizinalrat Dr. P e t e r s , Löwenberg, der die Sektion vorgenommen hat,
sagt aus, daß alle drei Schüsse aus mehr als 15 Zentimeter Entfernung abgegeben
worden seien. Damit sei die Möglichkeit eines Selbstmordes der Ursula von
vornherein ausgeschlossen. Der Saal wird verdunkelt, und mit Hilfe eines
Projektionsapparates sieht man die Photographien, die von den Leichen gemacht
worden sind. Das Kleid der getöteten Dörthe, ein rotes Sommerkleidchen, ist auf
eine Puppe gesteckt, an der Dr. Peters zu demonstrieren sucht, wie der erste
Schuß Dorothea getroffen hat.
Geheimrat Prof. Dr.
Lesser-Breslau bekundet, es bestehe auch für ihn kein Zweifel an der Tatsache,
daß die Schüsse von fremder Hand erfolgt sind.
Geheimrat Moll über die Hypnose.
Geh. Sanitätsrat
Dr. M o l l geht in seinem Gutachten von der Hypnose
aus, unter welchem Namen eine ganze Reihe von Zuständen zusammengefaßt werden,
bei denen Störungen der willkürlichen Bewegungen bewirkt werden. In der
Mehrzahl der Fälle findet eine Störung des Bewußtseins nicht statt. Dies
geschieht erst in einem zweiten tieferen Zustand, dem somnambulen.
Wachsuggestion ist etwas ganz anderes. Wenn man einem jungen Mädchen sagt: „Sie
werden ja ganz rot“, und es errötet darauf, so ist das Wachsuggestion, die mit
Hypnose nichts zu tun hat. Es gibt aber Persönlichkeiten, die auf ihre Umgebung
einen außerordentlich starken suggestiven Einfluß ausüben, wie Napoleon. Daß im
Falle dieses Mordes Hypnose eine Rolle spielt, ist nicht ganz ausgeschlossen,
aber nicht wahrscheinlich. Es sind nur ganz vage Anhaltspunkte dafür vorhanden.
Ganz anders mit der Suggestion. Ein Einfluß, der ohne logische Begründung sich
auswirkt, ist hier zweifellos vorhanden. Es ist keine Kleinigkeit für einen
Mann, kurz nach der Heirat Frau und Schwiegermutter zu veranlassen, ihr ganzes
Vermögen ihm zu überschreiben. Besonders zeigt sich in sexueller Beziehung, wie
wir sehen, daß der Angeklagte alle Mädchen, die in seine Nähe kamen, verführte.
Besonders stark ist die Suggestionskraft des Menschen, wenn die Suggestion sich
mit Erotik kreuzt. Ich halte es für möglich, daß insbesondere das Verhältnis zu
Ursula ein solcher Fall ist, den wir als sexuelle Hörigkeit bezeichnen. Der
Verdacht ist für mich ein sehr großer, weil, wie mir gesagt wurde, die Ursel
vollkommen im Banne des Vaters stand und ihm sklavisch ergeben war.
Ob Ursel unter
hypnotischen Einflüssen an Großmutti geschrieben hat, ist nicht bewiesen. Aber
der Brief ist gar kein Abschiedsbrief, es steht nichts darin von Selbstmord.
Hier liegt allerdings die Annahme mehr als nahe, daß der Angeklagte den Brief
diktierte oder vorschrieb, und zwar einfach, um eine Entlastung für sein
Verbrechen vorzubereiten. Der Brief ist außerdem für Ursel sicher
unverständlich gewesen, und es war nicht schwer, ein dreizehnjähriges Mädchen
dazu zu bewegen, einen ihr ganz unverständlichen Brief zu schreiben. Daß der
Angeklagte die Zeuginnen, wie Frau Eckert, die Marie Mohr, Irmgard, suggestiv
beeinflußt hat, ist klar. Ich bezweifle nicht den Wahrheitswillen der Zeugen,
aber, was haben wir von ihren Zeugenaussagen zu halten? Charakteristisch ist
die Aenderung in der Aussage der Frau Eckert, die erst später sagte: „Wenn der
Weg zum Mordzimmer hin und zurück nur eine Minute dauert, kann Grupen wohl
abwesend gewesen sein.“ Frau Eckert hat eben nicht ihre Wahrnehmungen
mitgeteilt, sondern das, was sie geschlossen hat. Die Wahrnehmungsfähigkeit
wird auch von den Richtern meistens überschätzt. Fräulein Marie Mohr indessen
glaubt sich auch heute zu erinnern, daß der Angeklagte das Zimmer nicht
verlassen hat. Die Worte: „Bleib´ bei der Wahrheit!“ sind aber eine spezifische
charakteristische Suggestion. Sie hat selbst gesagt: „Ich glaube alles, was
Grupen mir gesagt hat.“ Aber da ist das Merkwürdige: Sie hat eine Reihe von
Vorgängen nicht wahrgenommen und sich erst auf unsere Vorhaltung daran
erinnert. Grupen selbst hat zugegeben, daß er Irmgard zur Tür begleitet hat.
Fräulein Mohr hat es nicht gemerkt. Zu der Frage aber, ob Ursel die Täterin
sein kann: Ursel ist ein normales Kind gewesen, und wer die Tragödie der
geheimen Sitzung miterlebt hat, der weiß, warum dieses Kind zur Zeit betrübt
und verstimmt war. Es lag keine psychische Erkrankung vor. Sie war weder
geisteskrank, noch hysterisch, noch melancholisch. Es besteht kein Anlaß, zu
glauben, daß dieses Kind die schreckliche Tat ausgeführt und sich selbst
erschossen hat. Auch für das angeblich perverse Verhältnis zwischen Mutter und
Tochter ist gar kein Anlaß vorhanden.
Die gestrige
Nachmittagssitzung nahm ein unerwartet rasches Ende, da weder die Verteidigung
noch der Angeklagte selbst zu den Gutachten der Sachverständigen irgendwie
Stellung nahm. Die Verteidigung hat damit offenbar ihre Praxis grundsätzlich
geändert. Der Anstoß hierzu mag allerdings von dem Angeklagten selbst
ausgegangen sein, der nach der heftigen Kontroverse mit dem
Schießsachverständigen, die mitten im Saale stattfand, plötzlich sagte: „Ich
habe nichts mehr zu erklären“, und der darauf auf die Anklagebank zurückkehrte.
Erst zum Schluß gab es noch ein Geplänkel zwischen der Verteidigung und dem
Staatsanwalt. Beide hatten die Verlesung zweier Artikel beantragt, die beweisen
sollten, daß die Gegenpartei Versuche der Stimmungsmache unternommen hätten.
Nach langen Ausführungen beschloß das Gericht die Verlesung der beiden Artikel,
wie sich der Vorsitzende ausdrückt, um zu beweisen, daß - die beiden Artikel
erschienen sind. Am Ende erschien noch der letzte Zeuge, ein Zeitungskolporteur
aus Itzehoe, der aussagte, daß er einmal einen Streit zwischen dem Ehepaar
Grupen beobachtet hätte. Damit war das Programm des Tages erschöpft. Der
heutige Sonnabend ist als Vorbereitungstag für die Plädoyers verhandlungsfrei.
Dienstag, 20. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Die
Plaidoyers.
P. S. Hirschberg, 19.
Dezember.
Nach Schluß der
Beweisaufnahme begann der Staatsanwalt sein Plaidoyer. Bei der Darstellung der
Tat betont er besonders die Lage des Revolvers neben der sterbenden Ursula. Die
Waffe lag nämlich zur L i n k e n Ursulas. Der Staatsanwalt ist ferner der
Ansicht, daß der Angeklagte unwillkürlich als alter Soldat die Waffe
unmittelbar nach der Tat sicherte, einer jener Fehler, die fast alle Verbrecher
begehen. Völlig unsinnig und unmöglich erscheint es ihm, daß Ursula sich das
Schächtelchen mit den 19 Ersatzpatronen selbst in die Unterbindetasche gesteckt
habe. Der Angeklagte habe zweifellos diese Patronen in Ursulas Tasche gesteckt,
um sich selbst zu entlasten. Wesentlich neu in der Darstellung des
Staatsanwaltes ist es, daß er die Annahme fallen läßt, Grupen habe die Tat
begangen, als er nach Irmgard das Zimmer verließ. Diese Zeitspanne erscheint
dem Staatsanwalt zu kurz, eher glaubt er, daß die Tat schon am vorhergehenden
Teil des Vormittags ausgeführt worden ist.
Den Grund für die Tat
und die Handlungsweise des Angeklagten sieht der Staatsanwalt in dem Streben
nach Macht und Reichtum. Zuerst hatte er - durch Heiratsanträge - den Versuch gemacht,
Dörthes Millionen an sich zu bringen. Als das mißlungen war, führte er den
wohldurchdachten Plan aus. In nichtöffentlicher Sitzung begründet der Staatsanwalt
seine Anschauung, daß der Angeklagte mit Ursula intimen Verkehr gehabt und sich
daher eines Sittlichkeitsverbrechens schuldig gemacht hat. Am Ende seiner
Ausführungen bittet der Staatsanwalt die Geschworenen, den Angeklagten im Sinne
der Anklage sowohl des Doppelmordes als auch des Sittlichkeitsverbrechens für
schuldig zu befinden.
Viereinhalb Stunden
lang sprach der Staatsanwalt, eintönig die Indizien aneinanderreihend. Ihm
folgte der Verteidiger Justizrat A b l
a ß , der mit großer Eindringlichkeit
spricht. Als er die Anklageschrift gelesen, habe er sich gesagt, daß er noch
nie eine schwächer begründete Anklage gesehen habe. Aber die Suggestion habe
den Angeklagten zum Mörder gestempelt, und bevor noch das Urteil gefällt sei,
war das Vorurteil gesprochen. Der Verteidiger klagt den Untersuchungsrichter
an, daß er zuerst seine Ueberzeugung von der Schuld des Angeklagten ausgesprochen
habe. Von den Geschworenen erhoffe er das ehrliche Bestreben, abseits von der
öffentlichen Meinung die Wahrheit zu suchen.
Der Verteidiger
schildert nun den Kleppelsdorfer und den Personenkreis um die Frau Grupen. Er
beleuchtet deren Charakter, insbesondere die Aussage der Eltern ihres Verlobten
Rappke, die Frau Grupen beschuldigen, sich an dem Erbteil der kleinen Ruth
vergriffen zu haben. In nicht öffentlicher Sitzung führt er Tatsachen an, die
es ihm glaublich erscheinen lassen, daß die Frau an der Zerrüttung des
Ehelebens die Schuld trug. Die Staatsanwaltschaft hat im Falle der angeblichen
Ermordung der Frau Grupen keine Anklage erhoben. Aber dieser Fall war ihr gut genug,
um aus dem Verdacht Beweise für die Kleppelsdorfer Tat abzuleiten. Es ist vor
der Abreise der Frau Grupen ein Entwurf zu dem Abschiedsbrief von einem
Dienstmädchen gefunden worden. Was wäre geschehen, wenn die Finderin das Papier
sofort zu Frau Eckert gebracht hätte? Frau Eckert hätte ihre Tochter von der
Flucht zurückgehalten - und die ganze sogenannte Mordtat wäre ungeschehen
geblieben.
Ablaß stellte der
These des Staatsanwalts und der Sachverständigen seine eigene entgegen. Er
zerpflückt die einzelnen Verdachtsmomente aus den Wochen vor dem Kleppelsdorfer
Mord. Ablaß erkennt die Bedeutung des Geheimrats Moll vollkommen an, er genieße
seinen hohen Ruf mit Recht; aber er habe eine psychologische Theorie
aufgestellt, die den angeklagten unzweifelhaft belaste.
„Ich weiß, meine
Herren Geschworenen“, so erklärt er, „daß das Gutachten Molls auf Sie einen
sehr tiefen Eindruck gemacht hat. Aber prüfen Sie sich, ob eine solche Theorie
ausreicht, um ein Urteil darauf aufzubauen. In einem Punkte mache ich mir
allerdings die Ansicht Molls zu eigen. Ich glaube nicht, daß die ganze
Gesellschaft, die sich in dem Wohnzimmer befand, zur Zeit des Mordes
hypnotisiert gewesen ist. Wie aber kommt es, daß Irma Schade sich 14 Tage vor
dem Prozeß daran erinnert, daß Grupen ihr aus dem Wohnzimmer gefolgt sei,
nachdem sie monatelang fest behauptet hat, der Angeklagte sei nicht aus dem
Zimmer gegangen. Da glaube ich wahrhaftig an eine Suggestion.“
„Die kleine Irma
Schade hat soviel vom Hinausgehen Grupens gehört - bis sie sich erinnerte.
Aber, meine Herren Geschworenen, ist das eine Grundlage, auf die Sie ein
Todesurteil aufbauen können?“
„Nur eine Hülse ist
unmittelbar nach der Tat gefunden worden, die beiden anderen sind zwar sind
zwei volle Tage nach der Tat gesucht und aufgefunden worden! Wie viele Personen
sind in diesen zwei Tagen in dem Zimmer aus- und eingegangen! Sind aber diese
Hülsen verschoben worden, dann sind alle Gutachten der Schießsachverständigen
hinfällig.
Warum aber hat der
Angeklagte den Mord begangen? H a
t der Angeklagte Kleppelsdorf? Nein,
das Gut fiel an Frau Eckert und die Rohrbeckschen Erben. Man sagt, er hätte
auch Frau Eckert in Hörigkeit gehabt, deren Generalvollmacht er besaß, aber was
hätte er von dieser Hälfte, über die er vielleicht eine Macht hätte, wo doch
die andere Hälfte den Rohrbeckschen Erben gehörte und wo zu jeder Verfügung die
Zustimmung der Rohrbeckschen Erben erforderlich war.“
Justizrat Ablaß
erörtert dann die Möglichkeit, daß Ursel die Täterin war. Die Schüsse müssen in
einer Entfernung von mehr als 15 Zentimeter abgegeben sein, da unter 15
Zentimeter sich Verbrennungserscheinungen zeigen.
Nach mehr als
fünfstündiger Rede schloß Justizrat Ablaß sein Plaidoyer mit den Worten:
„Glauben Sie, daß es mir leicht fällt, an die Schuld dieses armen Kindes zu
glauben? Aber warum soll es mir leicht fallen, an die Schuld des Mannes zu
glauben, der hinter mir sitzt? Das Mädchen war körperlich und sittlich
zerrüttet und wir haben oft gehört, wie traurig es über seinen Zustand war.“
Mit erhobener Stimme zu den Geschworenen: „Lassen Sie sich bei allen Ihren
Entschlüssen nur von Ihrem Gewissen leiten.“
Dienstag, 20. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Abend-Ausgabe
Todesurteil
gegen Grupen.
Drahtmeldung der „Vossischen Zeitung“.
Hirschberg, 20. Dezember.
Nach
eineinhalbstündiger Beratung verkündete heute mittag Obmann der Geschworenen
das Ergebnis: Sämtliche Schuldfragen werden bejaht. Nach diesem Wahrspruch ist
die Verurteilung Grupens zum Tode nicht zweifelhaft.
(Siehe Beilage.)
Dienstag, 20. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Abend-Ausgabe
Das
Drama auf Schloß Kleppelsdorf.
Drahtbericht unseres Sonderberichterstatters.
P. S. Hirschberg, 20.
Dezember.
Fünf Stunden hat der
Justizrat Ablaß gesprochen, fünf Stunden mit seiner großen wohltönenden Stimme
den Raum gefüllt zu einem Plaidoyer, das zweifellos zu den großartigsten seiner
Art gehört. Und wenn er auch vielleicht nicht die Meinung derer beeinflußte,
die von der Schuld des Angeklagten zu tief überzeugt sind, - auch diese
Ueberzeugten müssen sich nach diesem Appell noch einmal die Frage vorlegen, ob
es auf Grund des Beweismaterials möglich sei, die Schuldfragen zu bejahen.
Es war ¼ 11 Uhr, als
Justizrat M a m r o t h das Wort ergriff. Er kämpfte in erster Linie
gegen die „Volksstimme“ und führte als Beispiel den ernsthaften Amtsrichter aus
Itzehoe an, der herkam, um zu erzählen, seine Frau habe gesagt, sie habe
gehört, daß Grupen versucht habe, seine Frau einzumauern. Von diesen Redereien
dürften die Geschworenen sich nicht beeinflussen lassen und es sei zweifellos,
daß eine ganze Reihe von Beweisversuchen auf solche Gerüchte und Redereien sich
stützen. Im übrigen seien einige zugespitzte Ausführungen Mamroths wiedergegeben.
„Das Plädoyer des
Staatsanwalts lasse ich gern gelten als eine Rechtfertigung der Anklage. Die
Staatsanwaltschaft hat ihre Pflicht erfüllt, wenn sie auf Grund hinreichenden
Verdachtes ihre Anklage erhebt. Aber für das Urteil genügt weder der
hinreichende, noch der dringende Verdacht. Hier bedarf es der B e w e i s e .
Wenn Sie, meine
Herren Geschworenen, keinen sympathischen Eindruck von dem Angeklagten bekommen
haben, so müssen Sie doppelt vorsichtig bei der Erwägung Ihres Urteils sein.
Es sind im ganzen
doch so viele ungünstige Dinge über das Vorleben der Frau Grupen bekannt
geworden, daß man schließlich auch glauben kann, sie habe jenes Ungeheuerliche
getan, was der Bruder Grupens durch die Tür gesehen zu haben behauptet. Wenn
das aber wahr ist, so war ihr Eheleben so zerrüttet, daß es für sie notwendig
war, das Haus zu verlassen und ihr Glück wo anders zu versuchen. Und wenn sie
bis heute nichts von sich hat hören lassen, so wissen wir ja nicht, ob sie noch
lebt oder ob sie nicht unter ihr bisheriges Leben einen Strich gezogen hat. Ich
habe alle Hochachtung vor dem Sachverständigen, Professor Dr. Schneidemühl. Als
ich aber Herrn Schneidemühl fragte, wie es komme, daß ein Brief der Frau
Grupen, der inhaltlich durchaus harmlos und behaglich war, jene so oft in dem
Prozeß erwähnten Wellenlinien zeige, die ein erregtes Gemüt verraten sollen, so
antwortete mir Professor Schneidemühl, ja, das käme nicht darauf an, dann sei
es eben unwahrscheinlich, daß die Gemütserregung früher gewesen sei; denn
solche Dinge zeigten sich in der Handschrift oft noch Wochen später. Mir
scheint, mit der Graphologie kann man alles beweisen.
Herr Geheimrat Moll
hat die Aufgabe, hier über Hypnose zu reden. Er hat die ganze Beweisaufnahme
unter der Flagge der Psychologie der Zeugenaussagen aufgerollt. Ich bin gewiß
der Ansicht, daß Herr Geheimrat Moll ein scharfsinniger und interessanter
Sachverständiger ist, aber ich halte seinen Ausflug in das staatsanwaltliche
Gebiet für mißglückt.
Der Angeklagte war
ein Emporkömmling. Er fühlte sich geschmeichelt, und es war sein Ehrgeiz, in
dieser guten Familie eine familienhafte Rolle zu spielen.
Der Staatsanwalt hat
in einer drastischen Weise ausgeführt, daß Dörthe von Ahnungen erfüllt war und
das Unglück herankommen sah. Der Staatsanwalt meint, daß Leute, die ein
schweres Schicksal haben, dies immer voraussehen. Wieso hat die kleine Ursula
gar nichts geahnt?
Der Sachverständige
Dr. Kuznizki hat heute gesagt: Wir Aerzte sind Menschen und können irren. Der
Sachverständige Dr. Meyer hat von diesem Recht reichlich Gebraucht gemacht. Ein
anderer Sachverständiger hat gesagt, ü
b e r z e u g t sei er nicht, aber für
wahrscheinlich halte er die Uebertragung der Krankheit von Grupen auf Ursula …“
Staatsanwalt
(unterbrechend): Ich bitte den Verteidiger, darauf hinzuweisen, daß der
Sachverständige von h o h e r Wahrscheinlichkeit gesprochen hat. -
Vorsitzender: Ich erinnere mich ebenfalls, daß der Sachverständige sich so
ausgedrückt hat.
Verteidiger Dr.
Mamroth: Selbst, wenn das der Fall ist, so ist das kein Grund, mein Plädoyer zu
unterbrechen.
Vorsitzender: Es ist
die Pflicht des Vorsitzenden, materielle Ungenauigkeiten zu korrigieren.
Verteidiger: Ich bin
mir der größten Gewissenhaftigkeit bewußt, es muß aber mein gutes Recht sein,
die Beweisaufnahme anders zu werten als Sie.
Nach diese, kleinen
Zwischenfall spricht Mamroth ungehindert weiter. Es wird später und immer
später. Auf den Geschworenenbänken nickt einer der Herren nach dem anderen ein.
Auch der Vorsitzende schließt für Sekunden die Augen, und am Ende fallen sogar
dem Angeklagten die Augen zu, natürlich nur für Momente.
In dieser
sechzehnstündigen Verhandlung hat der Angeklagte vollkommen regungslos auf
seinem Stuhl gesessen und nicht durch die kleinste Bewegung irgendeine
Teilnahme gezeigt. Erst um 2 Uhr nachts, als Mamroth zu Ende war, wandte sich
Grupen an seinen Verteidiger und schüttelte ihm herzlich und offensichtlich
gerührt die Hand.
Dann wurde die
Verhandlung auf heute vormittag 9 ½ Uhr vertagt. Das Urteil ist wahrscheinlich
im Laufe des heutigen Tages zu erwarten.
Mittwoch, 21. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Das
Hirschberger Urteil.
Von Paul Schlesinger.
Sonderberichterstatter der „Vossischen
Zeitung“.
Hirschberg, 20.
Dezember. Das Urteil gegen Peter Grupen lautete auf zweimalige Todesstrafe,
fünf Jahre Zuchthaus und dauernden Ehrverlust. Der Angeklagte erklärt, er
verzichte auf Revision.
Das Urteil ist
gefällt, die Hirschberger Bevölkerung, die Mehrzahl der Prozeßbeteiligten ist
zufrieden. Es besteht kein Zweifel, daß dieser Spruch ein Wahrspruch ist.
Dennoch hinterläßt er eine Beklemmung bei denen, die ein Gefühl für die Größe
der von den Geschworenen auf sich genommenen Verantwortung haben. Es war ein
Indizienbeweis, der sich in einem ganz wesentlichen Punkte auf die
unbeschworene Aussage eines Kindes und auf die unter Eid abgeänderte Aussage
einer Greisin stützte. Man darf annehmen, daß die Geschworenen sich ihrer
Verantwortung bewußt waren; nicht jedem wird der Spruch leicht geworden sein.
Zum Ende einige Worte
über die Person Grupens, wie sie sich während des Prozesses dem Auge bot.
Man hat von den
Opfern wie von den Ueberlebenden dieser Tragödie seelische Porträts entworfen,
die um so mühevollere Kunstübungen darstellen, als die verschiedensten Hände an
jedem einzelnen mitgearbeitet haben. Daß daran freilich durchweg Meisterhände
beteiligt gewesen sein, kann man nicht behaupten. Aber hätte selbst die Linienführung
des Staatsanwalts die große Sicherheit wie die der beiden weisen und klugen,
das Menschliche von innen her begreifenden Wisser und Kenner Ablaß und Mamroth
gehabt - die Bilder müßten verwirrt und verwirrend ausfallen, weil die
Kunstübung nicht rein und zwecklos war, sondern nach beiden Seiten höchst
entgegengesetzten Zielen zustrebte.
Am schlechtesten
kamen dabei der Angeklagte und seine verschwundene Frau weg. Der Staatsanwalt
malte dieses Doppelporträt so, daß er einen Schurken neben eine Madonna setzte,
und die Verteidiger verwandelten die Madonna zu einem Frauenzimmer, den
Schurken zu einem reinen Toren.
In einem waren
freilich Staatsanwalt und Verteidiger auf der rechten Spur oder auf den rechten
Spuren. Peter Grupen ist nicht, wie die meisten Menschen, eine Mischung von
Gutem und Bösem, ein Einheitswesen, in dem die widersprechendsten Eigenschaften
gewissermaßen eine chemische Verbindung eingegangen sind. Er hat nicht die
Fehler oder Tugenden des Durchschnittsmenschen. Bei ihm besteht vielmehr eine
reinliche Scheidung. Er ist primitiv bis zum 24. Lebensjahr, jedenfalls war er
es. Es bestand nun die Frage, welche von den beiden in ihm ruhenden
Möglichkeiten er entwickelte. Er entwickelte
b e i d e . Deshalb sehen wir
auf der Anklagebank nicht den Mörder und den Unhold, sondern den braven, den
tüchtigen, begabten und hoffnungsvollen Absolventen der Baugewerkschule, dessen
Betragen als Angeklagter genau so untadelig ist, wie seine einstigen Lehrer es
schildern.
Denken wir uns die
grauenvolle Tat hinweg, wäre es möglich, ohne Verdacht oder Schuld auf dieser
Bank zu sitzen - so haben wir den idealen Angeklagten vor uns, der klug und
taktvoll, bescheiden und schweigsam mit vollendetem Anstand die Stelle
ausfüllt, auf die ihn das Schicksal gestellt hat. Diesen Prozeß absolviert er
wie die Baugewerkschule: Betragen, Fleiß, Aufmerksamkeit lobenswert; nur mit
der etwas peinlichen Bemerkung: Er wird zum Tode verurteilt.
Wie aber kam es? Ein
Verteidiger sprach das Wort „Emporkömmling“ aus. Man ist versucht, es zu
erweitern: Ein nach oben Entgleister, und man darf hinzusetzen: Wäre nur „oben“
wirklich ein „Oben“ gewesen! Der aus bäuerlichem Kreis stammende
Handwerklehrling wollte adlig werden; er begnügte sich mit dem Aufstieg ins
Bürgerliche.
Frau Schade, geborene
Eckert, - sicher eine Entgleiste nach unten. Nicht der Klatsch über ihre
Mannstollheit ist das Entscheidende, nur die Tatsache, daß diese gute und
ordnungsliebende, bürgerliche Hausfrau zu einem gefährlichen Zeitpunkt ihres
Lebens einen Mann liebte und heiratete, der ganz offensichtlich unter dem
Niveau ihres bisherigen
Verkehrs stand. Die kleine Dörthe merkte sehr bald, daß der neue Onkel nicht in
den Kreis paßte. Frau Trude Schade war in einer Verfassung, da ihr jeder recht
war. Und während die Frau nach unten glitt, stieg der Mann. Wohin?
Es sind durch
Vermittlung oder Heiratsannoncen viel glückliche Ehen zustande gekommen. Und
wer weiß, wohin sich später Grupen entwickelt hätte, wenn etwa diese Ehe eine
Einheirat in ein gut gehendes, solide geführtes Geschäft gewesen wäre. Ein
rüstiger Schwiegervater, tüchtige Schwäger hätten seinen Ehrgeiz vermutlich
wach gehalten. An der Seite einer jungen, von natürlicher Lebensfrische
erfüllten Frau hätte er vielleicht die Gefahr seines starken Trieblebens
überwunden. Er wäre wohl der Normalmensch geworden, der durch Hemmungen aller
Art gezwungen wird, diese rohe motorische Triebe vor das Vehikel seiner Talente
zu spannen.
Peter Grupen, der von
den leitenden Männern seiner Jugend so gelobt wird, hatte das Unglück, in eine
Weiberwirtschaft zu geraten. Und diese Frauen hatten das große Unglück, daß er
zu ihnen kam. In der näheren Umgebung kein einziger Mann, nicht einmal ein
Jüngling oder Knabe. Mit Frau Trude übernahm er drei Mädchen und eine
Großmutter. Die nächsten Verwandten sitzen in Kleppelsdorf: ein Backfisch mit
einer Erzieherin. Das ist das Menschenmaterial, das sich dem Peter Grupen bei
seinem Eintritt ins Bürgerliche Darbot. Sehr in Erinnerung befand sich nur der
Schwiegervater seiner Frau aus erster Ehe, und in noch weiterem, auch
gesellschaftlichem Abstand der Vormund Dörthes. Nichts ist charakteristischer
für Grupen, als die Tatsache, daß er, der sich zu diesem Vormund begeben hatte,
um die Rechte Dörthes zu verfechten, sofort umfiel, als er einem wirklichen
Mann gegenüberstand. Und das ist der alte Hauptmann Vielhack, so viel man sonst
gegen ihn auf dem Herzen haben mag.
Diese bürgerliche
Weiberwirtschaft war eben deshalb so gefährlich für Grupen, weil er in diesem
Kreise keines Menschen gewahr wurde, der wirklich arbeitete. Diese Frauen
lebten sämtlich von ihren Renten, und der Emporkömmling war in eine Atmosphäre
des Behagens versetzt, der Lässigkeit des mühelosen Dahinlebens. Das kitzelte
zunächst seine Sinne und brachte seine Sexualität auf einen Punkt, der
schwerlich genau fixiert werden kann. Indessen, er versank nicht in die
wollüstigen Dämmerzustände des Orientalen. Dieser holsteinische Junge war von
einem Tätigkeitsdrang erfüllt, für den ihm jede Anleitung fehlte. Auf
kleinbürgerliche Weise hätte er, der die Ausbildung eines Maurerpoliers hatte,
sich vielleicht forthelfen können - man muß jedoch bedenken, sein Gewerbe liegt
danieder. Er war kein Kleinbürger mehr, und die tätige Phantasie ließ ihn
plötzlich jenen anderen Weg einschlagen, den nach Kleppelsdorf.
Die Parade seiner
Bräute im Gerichtssaal hatte zunächst den Eindruck erweckt, daß dieser Mann ein
ungeheuerlicher Don Juan war. Die Vernehmung ergab, daß es sich bei den sechs
Fällen, die sich über zwei Jahre verteilen, meist um ganz vorübergehende und
flüchtige Liebesgenüsse handelte. So furchtbar das Verbrechen an Ursel ist - es
wird hierdurch in irgendeinem Sinne erklärlich. Eine erotische Atmosphäre war
geschaffen, der sich niemand entziehen konnte, weder Greisin noch Kind, wenn
auch nur dieses sein Opfer wurde. Das andere Opfer aber war diejenige, fast
einzige, deren Instinkte diesem Manne widerstrebten. Es ist nicht ganz mit
Unrecht von der Verteidigung gesagt worden: Soll Kleppelsdorf wirklich sein
Ziel gewesen sein? Dörthe ist tot - h a
t Grupen Kleppelsdorf? Sehr sicher war
ihm die Beute der Tat nicht. Selbst auf dem Umwege über die Großmutter wäre es
ihm schwer geworden, in den Genuß seines Raubes zu kommen. Wenn man behauptet,
er hätte nachher gewiß die Großmutter und die kleine Irmgard beiseite geschafft
- man könnte mit demselben Recht sagen, er hätte eine von beiden oder beide
hintereinander geheiratet! Es gehört vielleicht wenig Phantasie dazu,
anzunehmen, daß dieser Mann ein menschliches Wesen wirklich gehabt hat, das
einzige, das ihm seelisch und körperlich widerstand, Dörthe. Nicht Ursel haßte
diese Cousine, um sie, wie die Verteidigung künstlich konstruiert, zu töten.
Peter haßte sie, und seinen ihm selbst möglicherweise unbekannte Haß verpflanzte
er auf Ursel bis zu dem Grade, daß sie vielleicht wirklich feindliche
Aeußerungen gegen Dörthe tat und den Abschiedsbrief mit eigener Hand schrieb,
von dem sie wohl nicht wußte, was er letzten Endes bedeutete, der aber ihrer
Verstellungswelt durchaus verständlich war.
Denn Dörthe war die
Personifikation jener anderen Welt, von der Peter Grupen als Kind geträumt
hatte. Dörthe trug nicht das Wörtchen „von“, aber sie war Herrin eines
Rittergutes, bewohnte ein Haus, das man Schloß nannte, und sie war heiter,
schön, zur Vornehmheit von ihrem Vater bestimmt, und vor diesem Ziel stand
Peter Grupen, der Kriegskrüppel, der Prolet, machtlos. Hier fand der
Aktionsradius seiner Sexualität eine unüberwindliche Schranke. Er spürte den
Widerwillen, den sicheren Instinkt des Mädchens, das vielleicht, bei aller
Harmlosigkeit des Backfischalters, fast die einzige fein organisierte Frau war,
der Grupen je begegnete, und die er gerade deshalb zerstören mußte, um sie
indirekt zu beerben. Aber das Ziel der Erbschaft wird erst besonders erklärlich
durch den Haß. Er mußte zerstören, und er räumte tüchtig auf und schickte die
von ihm verdorbene, ihm auf seinem weiteren Wege hinderliche Ursel gleich mit
auf die große Reise.
Doch einer Frau war
er allerdings begegnet, einer besonderen, die ihn glücklich gemacht hätte, wenn
er imstande gewesen wäre, sein Glück im heimatlichen Umkreis zu erkennen. Sie
liebte ihn nicht und gab sich ihm doch, weil man da oben im Holsteinischen
nicht so viel davon hermacht, ein Mädchen, das, wie er, dem heimatlichen Umkreise
in gewissem Sinne entwachsen war, eine kluge Lernerin, die alle möglichen
Ausbildungsschulen absolviert hat und dennoch heute nichts weiter ist als
Wirtschafterin auf einem Gut.
Er wußte nicht, wer
ihm begegnet war, er erkannte nicht, daß dieses sehr schöne und eigentümliche
Menschenkind von adligerem Schlage war als alle Schades, Eckerts und Rohrbecks,
nahm es hin, weil es so lieblich war, ließ es gehen, ohne Gram.
Und sie war adlig,
unberührt von allem, was geschah, sie hatte ihr stolzes, reiches Lächeln, als
sie, blond und zierlich, mit dem blauen, klugen Auge, wieder und wieder vor
Gericht erschien, wo ein bißchen väterliche Verliebtheit von allen Seiten auf
sie niederströmte - war es ein Wunder, daß auch Peter Grupen lächelte?
Vielleicht tat er es nicht, weil er sie mal geliebt hatte, aber sie waren mal
zwei Kinder, die miteinander spielten und von denen keines dachte, daß Kinder
gemordet werden können.
(Siehe auch 1.
Beilage.)
Mittwoch, 21. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Das
Todesurteil gegen Grupen.
Hirschberg, 20.
Dezember. Im Kleppelsdorfer Mordprozeß sprachen die Geschworenen in der vierten
Nachmittagsstunde den Angeklagten Peter Grupen des Mordes in zwei Fällen und
des Sittlichkeitsverbrechens in Tateinheit schuldig. Das Urteil des
Gerichtshofes lautete zweimal zum Tode und zu fünf Jahren Zuchthaus sowie
dauernden Ehrverlust. Der Angeklagte erklärte in seinem Schlußwort auf Revision
und Gnadenmittel zu verzichten. (Im größten Teil der gestrigen Abendausgabe
bereits veröffentlicht.)
Grupens letztes Wort.
Drahtmeldung unsere
Sonderberichterstatters.
Nach
eineinhalbstündiger Beratung kehrten die Geschworenen in den Saal zurück und
verkündeten das Ergebnis ihrer Beratung mit Bejahung sämtlicher Schuldfragen.
Dann wurde der Angeklagte hereingeführt. Er war bleich und sichtlich nervös,
beherrschte sich aber vollkommen. Zum letzten Wort verstattet, erhob er sich
und sprach mit seiner hellen, fast nicht zitternden Stimme:
„Ich verzichte von
vornherein auf jedes Rechtsmittel, Revision und Gnade. Ich halte Ihren Spruch
für einen Fehlspruch, den ich Ihnen nicht übel nehme, weil ich einsehe, daß Sie
bei der Form, in der die Anklage gestellt wurde, zu diesem Spruch kommen
mußten. Aber ich erkläre, daß ich unschuldig bin, und ich hoffe bestimmt, daß
im Laufe der Zeit eine Aufklärung kommen wird.“
Der Gerichtshof zog
sich zur Beratung zurück und verkündete das Urteil. Zweimal zum Tode, 5 Jahre
Zuchthaus, Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Der Angeklagte wurde
abgeführt. Mit einem Dank an die Geschworenen schloß der Vorsitzende die
Sitzung. Das Publikum brach in lebhafte Beifallsrufe aus, wurde aber vom
Vorsitzenden streng zurückgewiesen.
Der Verzicht auf Rechtsmittel ist endgültig.
(Von unserem
juristischen Mitarbeiter.)
Von all den
überraschenden Wendungen, an denen der Kleppelsdorfer Prozeß reich genug war,
ist dieser Schluß sicher der überraschendste. Wohl niemand, der die energische
Verteidigung des Angeklagten verfolgt hat, hätte geglaubt, daß er dem Urteil
gegenüber so schnell die Waffen strecken würde. Soll man darin ein verspätetes
Schuldbekenntnis sehen? Ohne Zweifel hat der Angeklagte nicht aus einem
augenblicklichen Impuls heraus gehandelt. Denn, über die Tragweite seiner
Erklärung ist er sich gewiß nicht im unklaren gewesen. Der Verzicht auf
Rechtsmittel ist endgültig. Er ist dem zuständigen Gericht gegenüber erklärt
und damit unwiderruflich. Das Todesurteil ist somit rechtskräftig. Anders steht
es mit Grupens Verzicht auf Gnadenmittel. Die Ausübung der Gnade ist von seinem
Willen unabhängig. Ein Todesurteil darf nach der ausdrücklichen Vorschrift der
GPO. nicht vollstreckt werden. bevor das Staatsoberhaupt die Begnadigung
abgelehnt hat. Es ist also in jedem Fall vorher zu prüfen, ob von dem
Gnadenrechte Gebrauch gemacht werden oder dem Rechte freier Lauf gelassen
werden soll. Das Begnadigungsrecht liegt nach Art. 584 der neuen preußischen
Verfassung in den Händen des Staatsministeriums, das es namens des Volkes
ausübt. Ihm wird es daher obliegen, zu prüfen, ob der Beweis gegen Grupen so
lückenlos geführt ist, daß ein Justizirrtum für ausgeschlossen gelten kann.
Donnerstag, 22. Dezember 1921, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Die
Rechtskraft des Hirschberger Urteils.
Die Ausführungen
unseres juristischen Mitarbeiters im gestrigen Morgenblatt über die bindende
Kraft des vom Angeklagten Grupen ausgesprochenen Verzichts gingen von der
Voraussetzung aus, daß er diesen Verzicht auf Rechtsmittel, wie die erste
Meldung lautete, nach dem U r t e i
l des Gerichtshofes ausgesprochen habe.
Wenn er ihn aber, wie die genauere Darstellung zu ergeben scheint, n a c h
d e m W a h r s p r u c h der Geschworenen und v o r
dem Urteil erklärt hat, kann ihm bindende Kraft nicht beigemessen
werden.
Sonnabend, 28. Januar 1922, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Peter
Grupens Selbstmordversuch.
Drahtmeldung der „Vossischen Zeitung“.
Hirschberg, 27.
Januar.
Ueber den schon
gemeldeten Selbstmordversuch Peter Grupens (Anm.:
nicht gefunden) erfahren wir noch folgende Einzelheiten: Bald nach seiner
Verurteilung zum Tode war Grupen sehr niedergeschlagen. Er erholte sich aber
dann wieder und trug seine alte zuversichtliche Miene zur Schau. Vor etwa zwei
Wochen fiel eines Tages den Gefängnisbeamten auf, daß es in der Zelle von Grupen
sehr ruhig war. Durch das Beobachtungsfenster sah er, daß Grupen Maßnahmen
traf, sich zu erhängen. Die Beamten wollten jetzt rasch die Zellentür öffnen,
doch leistete diese starken Widerstand. Grupen hatte auf irgendeine Weise die
Tür versperrt, obwohl innen kein Riegel war. Die Tür wurde gewaltsam erbrochen,
und man kam eben noch zurecht, um den Selbstmord zu verhindern. Daraufhin wurde
Grupen, der bis dahin in Einzelhaft war, in eine Gemeinschaftszelle gebracht.
In der ersten Zeit
nach diesem Vorfall ist Grupen auch, allerdings nicht sehr lange, in den H u n g e r s t r e i k getreten. Er verweigerte die
Nahrungsaufnahme, besann sich aber bald eines Besseren. Im übrigen hat sein Verhältnis
zu den Gefängnisbeamten, die zum Teil in der Schwurgerichtsverhandlung ein
gutes Zeugnis über ihn ablegten, eine starke Trübung erfahren, er bereitet den
Beamten allerhand Schwierigkeiten und hat besonders einen Beamten gewisser
Pflichtwidrigkeiten beschuldigt. Darüber schwebt zur Zeit eine Untersuchung.
Freitag, 24. Februar 1922, “Vossische
Zeitung” Abend-Ausgabe
Peter
Grupen entflohen.
Mit
zwei Komplizen.
Der wegen Raubmordes
zum Tode verurteilte Architekt Peter Grupen ist in der vergangenen Nacht aus dem
Gerichtsgefängnis in Hirschberg i. Schles. entflohen. Mit seinem Zellengenossen
hat der einarmige Mörder sich an einem Strohseil herabgelassen und ist
entkommen, während die beiden Komplizen sich nach einigen Stunden am
Gefängnisportal wieder meldeten. Von seiten der Staatsanwaltschaft sind alle
Hebel in Bewegung gesetzt worden, um des flüchtigen Mörders habhaft zu werden,
der wohl versuchen wird, über die nahegelegene Grenze nach Böhmen zu entkommen.
Grupen war im
Gerichtsgefängnis in Hirschberg in der zweiten Etage in einer Zelle
untergebracht. Er hatte vor kurzer Zeit einen Selbstmordversuch verübt, indem
er sich erhängen wollte. Er wurde jedoch rechtzeitig entdeckt, so daß es beim
Versuch geblieben ist. Daraufhin hatte man die Zelle gewechselt und ihn mit
zwei anderen Gefangenen zusammengelegt. Mit diesen Mitgefangenen hat nun Grupen
die Flucht vorbereitet und ausgeführt. Vor einigen Tagen ist vom Reichsgericht
die gegen das Urteil des Schwurgerichts eingelegte Revision verworfen worden,
und das Schicksal Grupens war abhängig von dem Ausfall des Gnadengesuches, das
an den Reichspräsidenten bereits gerichtet ist. Grupen hat außerdem noch ein
Strafverfahren zu erwarten, das ihm den Mord an seiner Frau, die, wie im
Hirschberger Prozeß bekundet wurde, spurlos verschwunden ist, zur Last legte.
Er hat den Ausgang dieses Verfahrens im Gefängnis nicht abwarten wollen,
sondern scheint planmäßig seine Flucht vorbereitet zu haben, zu der ich
zweifellos von außen Hilfe gebracht sein muß. Grupen oder einer seiner Zellengenossen
hat sich in den Besitz von feinen Sägen gesetzt, mit deren Hilfe es gelang, das
schwere Gitter vor dem Zellenfenster zu durchschneiden. Außerdem haben sich die
Gefangenen ein Strohseil angefertigt, und nachdem gegen Mitternacht die
Durchsägung des Gitters vollendet war und die hindernden Eisenstäbe
ausgebrochen werden konnten, haben sich Grupen und seine Komplizen an dem Strohseil
an der Außenseite des Gefängnisses herabgelassen. Sie kamen auf das Dach eines
Vorbaues, der unmittelbar an die Gefängnismauer angrenzt, die auf die
Bergstraße hinausführt. Von dem Vorbau aus ist es ein Leichtes gewesen, die
Straße zu erreichen.
Die Flucht ist gegen
Mitternacht erfolgt; in den frühen Morgenstunden meldeten sich die beiden
Zellengenossen wieder am Gefängnistor und brachten die erste Nachricht von dem
gelungenen Ausbruch Grupens. Die beiden anderen Gefangenen waren in
bürgerlicher Kleidung, Grupen selbst trug den Gefängnisanzug. Es wird nun angenommen,
daß Grupen Helfer gehabt hat, die auf ihn in der Nähe des Gefängnisses gewartet
haben und die ihn mit Kleidung versahen, so daß er unauffällig weitergehen
konnte. Das Gefängnis liegt in dem neuen Stadtviertel von Hirschberg am
Kavalierberge, wo sich sonst nur Villen befinden. Die Straßen sind in der Nacht
völlig menschenleer, und auch der Wachdienst wird in der Nacht kein allzu
großer gewesen sein. So ist es Grupen wohl möglich gewesen, in die
naheliegenden Wälder zu entkommen, und unschwer hat er das nur wenige Kilometer
entfernte Gebirge erreicht, wo ihn die Riesenforsten aufgenommen haben, und von
wo es ihm ein Leichtes sein muß, die an den Hirschberger Kreis anschließende
Grenze nach Böhmen zu überschreiten.
Auf die Meldung von
der Flucht sind seitens der Gefängnisverwaltung sofort alle Hebel in Bewegung
gesetzt worden, um des flüchtigen Mörders habhaft zu werden. Die Polizei wurde
aufgeboten, die Kriminalpolizei erschien mit den Spürhunden, die zwar die Spur
aufnahmen, aber bald versagten, weil das nasse Wetter und der einsetzende Regen
die Witterung fortgenommen hatte.
Die schlechtreparierte Ausbrecherzelle.
Eigener Drahtbericht.
Hirschberg, 24.
Februar.
Die Untersuchung, die
im Laufe des Vormittags von der Staatsanwaltschaft eingeleitet worden ist, hat
mit der Vernehmung der beiden Mitgefangenen Grupens begonnen. Die beiden Gefangenen
sagen aus, daß sie unter einem unbegreiflichen Zwange Grupens gehandelt haben,
als sie sich zur Flucht mit ihm bereden ließen. Aus der Zelle, in der Grupen
inhaftiert war, ist schon vor einiger Zeit ein Gefangener entflohen. Er hat
damals eine Eisenstange durchsägt und die Mittelstange entfernt. In einer
unentschuldbaren Leichtfertigkeit hat die Gefängnisverwaltung diese entfernte
Eisenstange nicht erneuern lassen, sondern nur das Gitter durch zwei Laschen
repariert. Diese beiden Laschen sind von Grupen und seinen Komplizen durchsägt
worden, und zwar, wie sich jetzt herausgestellt hat, mit einem zu einer Säge
umgestalteten Brotmesser. Als die Laschen durchgesägt waren, haben die drei
Zellengenossen mit aller ihrer Kraft die Eisengitter nach außen gebogen, und
zwar gelang ihnen das so weit, daß schließlich die Oeffnung zum
Sichdurchzwängen ausreichte. Dann ist aus den drei Bettlaken ein Strick gedreht
worden, an dem sie sich zuerst auf ein Dach herabließen, von dem sie mit dem
Strohseil nach einer anderen Seite des Gefängnishofes kamen, wo die hohe
Gefängnismauer nicht mehr
hinreichte, sondern wo nur ein Zaun das Gefängnisgrundstück zum Garten
abschloß. Grupen ist, wie sich jetzt herausstellt, in Reserve-Zivilkleidern der
Gefangenen entkommen. Wie das Brotmesser in die Zelle gelangen konnte, ist noch
nicht festgestellt. Auch ist nicht ermittelt, wieso die Gefangenen zu dem
starken Strohseil kommen konnten. Das Seil ist wahrscheinlich im Gefängnis
selbst angefertigt worden, was verständlich ist, weil ein Teil der Gefangenen
mit dem Flechten von Strohseilen beschäftigt wird. Trotzdem die Landjägerei des
gesamten Kreises und auch die zur Verfügung stehenden Grenzbeamten schon im
Laufe des Morgens von der Flucht benachrichtigt wurden, ist es bisher nicht
möglich gewesen, eine Spur des entschwundenen Verbrechers von dem Augenblick
des Ueberschreitens der Straße an zu entdecken.
Peter Grupens Flucht.
Dreimal hat sich der
Bautechniker Peter G r u p e n in seiner Weise zu dem Urteil geäußert, das
die Hirschberger Geschworenen am 20. Dezember vorigen Jahres über ihn wegen der
Ermordung der sechzehnjährigen Gutsherrin von Kleppelsdorf, Dorothea Rohrbeck,
und seiner Stieftochter, Ursula Schade, über ihn fällten. Er verzichtete spontan
auf die Einlegung aller Rechtsmittel - man weiß nicht, war es Absicht oder
Unkenntnis, daß er dies in einem Augenblick tat, wo dieser Verzicht keine
Rechtsgültigkeit hatte: bevor nämlich der Gerichtshof selbst ihn zweimal zum
Tode und überdies wegen Sittlichkeitsverbrechens zu fünf Jahren Zuchthaus
verurteilt hatte. Das ermöglichte den Verteidigern die Einlegung der Revision
beim Reichsgericht. Während dieses Revisionsverfahren noch schwebte, geschah
die zweite „Aeußerung“ Peter Grupens: er versuchte, sich das Leben zu nehmen,
wurde aber rechtzeitig daran verhindert. In diesen Tagen hat nun das
Reichsgericht die Revision verworfen, und Peter Grupen antwortet nunmehr mit
der Flucht.
Selbstbeherrschung,
körperliche Zähigkeit, unerschütterliche Nervenruhe, Kombinationsgabe und
verschlagenste Klugheit waren die Eigenschaften, die Peter Grupen in der
vierzehntätigen Verhandlung zur Schau getragen hat. Daß er trotz Verlustes des
linken Armes von größter Geschicklichkeit war, wußte man. Trotzdem ist natürlich
die Fluchte des Einarmigen ein technisches Kunststück ersten Ranges gewesen.
Die Vermutung, daß er
bei der Flucht von außen her Hilfe bekommen hat, liegt besonders nahe, wenn man
sich an
eine Episode des Prozesses
erinnert. Es war eine
Sensation für sich, als plötzlich ein Geschworener die Frage stellte, ob es
wahr sei, daß die beiden Brüder Grupens während des Aufenthaltes, den sie
gelegentlich der Voruntersuchung in Hirschberg nehmen mußten, bei dem
Gefangenenwärter sich einlogierten, der Peter Grupen zu bewachen hatte. Der
Gefangenenwärter mußte diese Frage in der Hauptverhandlung vollinhaltlich
bejahen: d i e B r ü d e r
G r u p e n h a b e n b e i
i h m g e w o h n t u n d
g e g e s s e n ; er hat
selbstverständlich für diese Dienste Bezahlung genommen.
Diese Tatsache setzt
eine gewisse Naivität der Auffassung der Beamtenpflichten voraus, ist aber
vielleicht nicht nur für diesen einen Gefängnisbeamten charakteristisch. Denn
was dem fragenden Geschworenen bekannt war, wußte die halbe Stadt, und es ist
nur zu bezeichnend, daß die Justizbehörden selbst, wenigstens bis zur
Hauptverhandlung, in dieser Sache nichts getan haben. Die Flucht Grupens
scheint zu beweisen, daß auch seitdem keine Musterung gehalten worden ist.
Die freundlichsten
Beziehungen der Brüder Grupens zu dem Gefängniswärter ermöglichten auf jeden
Fall eine genaue Abstimmung der Aussagen im Prozeß selbst. Der ältere Bruder
steht ja der Tat vermutlich ziemlich fern. Dagegen sind gegen W i l h e l m G r u p e n
erhebliche Verdachtsmomente vorhanden. Vor allen Dingen machte er vor
Gericht einen überaus ungünstigen Eindruck, und in seiner Heimat gilt er, wenn
nicht als Mitwisser, so doch als Nutznießer der Grupenschen Taten.
Nach seiner eigenen
Aussage war Peter Grupen zur Zeit der Tat durchaus nicht vermögenslos. Das
ermöglichte ihm, sich des Beistandes der beiden ersten Verteidiger Schlesiens
zu versichern. Man hat beobachtet, daß Wilhelm Grupen nach Peters Verhaftung in
viel bessere Lebensumstände gekommen ist, und die Frage, wer diese Flucht
finanziert hat, ist vermutlich unschwer zu beantworten.
Wie weit Peter Grupen
auf seiner Flucht kommen wird, ist natürlich eine ganz andere Frage. Bei seiner
Verschlagenheit kann man allerdings annehmen, daß er nicht nur an den ersten
Tag gedacht hat, sondern daß der Flucht ein weitausschauender Plan zugrunde
lag. Seine Prothese, die er sonst zu tragen pflegte, im Gerichtssaale aber
nicht angelegt hatte, wird ihm wohl mit der Zivilkleidung wieder zugeführt worden
sein. Aber auch so wird es Grupen nicht ganz leicht fallen, unbemerkt auf weite
Reisen zu gehen. Die Flucht über das nahe Riesengebirge nach Böhmen ist ja
wahrscheinlich. Doch kann sich Grupen auch gesagt haben, daß er gerade in der
Tschechoslowakei viel rascher seinen Verfolgern in die Hände fallen muß, als
vielleicht in Deutschland, wo er sich in Schlupfwinkel viel länger zu halten
vermag - wenn er nicht etwa vorzieht, an irgendeinem abgelegenen Punkte
freiwillig aus dem Leben zu scheiden, mit der heimlich-unheimlichen
Verlustigung, seine Verfolger noch lange nach seinem Tode in Aufregung zu
erhalten. Der kühnen Entschlossenheit, seinem Hang zu originellen Ideen ist ein
solcher Ausweg durchaus zuzutrauen.
P. S.
Sonnabend, 25. Februar 1922, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Grupen
stellt sich selbst.
Drahtmeldung unseres Berichterstatters.
Hirschberg, 24. Februar.
Grupen
hat sich am Abend selbst wieder im Gefängnis gestellt. Nähere Einzelheiten
fehlen noch.
Zu der Flucht Grupens ist noch zu melden:
In der Zellen, in der Grupen nach seinem
Selbstmordversuch untergebracht war, befanden sich noch drei Strafgefangene,
die aber nur noch kurze Strafen zu verbüßen hatten. Die Zelle liegt im zweiten
Stock des nach mordernsten Grundsätzen erbauten Gerichtsgefängnisses. Wie
bereits erwähnt, hatte schon früher ein Gefangener in dieser Zelle den Querstab
des Gitterwerks durchsägt und war glücklich entkommen. Man hatte nun den
Querstab nicht durch einen neuen ersetzt, sondern durch zwei Laschen
zusammengeflickt. Ungefähr 2 Meter unter dieser Zelle aber, in einer seitlichen
Entfernung von einem reichlichen Meter, ist das Dach des Vorhauses, in dem sich
Bureauräume und eine Beamtenwohnung befinden. Am Freitag früh, als um 6 Uhr die
auswärts wohnenden Gefängnisbeamten ihren Dienst antreten wollten, fanden sie
vor der Gefängnistür die beiden Gefangenen
B o h n und V o i g t l ä n d e r . Sie erzählten, daß sie mit Grupen die Flucht
in der Nacht ausgeführt hätten, dann aber zurückgekehrt seien, weil sie doch
nur noch geringe Zeit zu verbüßen hätten. Der vierte Gefangene, der mit in der
Zelle war, Bulleck, erklärte, von der ganzen Sache nichts gewußt zu haben. A u f
e i n e m Z e t t e l , der bei ihm lag, e n t s c h u l d i g t e s i c h
G r u p e n i n h ö f l i c h e m T o n ,
d a ß e r i h m
S c h l a f p u l v e r g e g e
b e n habe. Das sei aber nötig gewesen,
weil Bulleck sonst das Vorhaben vereitelt hätte. Nach den Angaben der beiden
zurückgekehrten Flüchtlinge hat sich die Flucht folgendermaßen abgespielt:
Sie haben die Laschen des Gitterwerks mit
einem zur Säge umgewandelten Brotmesser abgesägt. Damit hatte das Gitterwerk
seinen Halt verloren und konnte leicht mit einem Bettbrett durchstoßen werden.
Das Bettbrett wurde hinausgestreckt in der Richtung auf das Dach des Vorhauses
und im Innern der Zelle befestigt. An das Ende des Brettes wurde ein aus
Bettlaken und Bettüchern zusammengedrehter Strick gebunden. An dem Strick
ließen sich zunächst Bohn und Voigtländer und zuletzt Grupen hinab. Auf dem
Dach des Vorhauses gingen sie weiter zum Vorderteil des Gebäudes, auf dem sich
ein Schornstein befindet. An dem Schornstein befestigten sie eine doppelte Leine,
und an dieser ließ sich diesmal Grupen zuerst hinunter. Als die andern unten
ankamen, war Grupen bereits spurlos verschwunden. Die beiden Flüchtlinge gingen
nun allein in die Stadt, kehrten aber am Morgen in das Gefängnis zurück. Grupen
selbst mußte seine Kleider immer abends abgegeben. Er hat sich dafür zur Flucht
die Kleider von Bulleck angezogen.
Die Flucht hat natürlich in der ganzen Gegend
ungeheures Aufsehen erregt. Alle Polizeibeamten befinden sich auf der Suche
nach Grupen, dessen Flucht ihn wieder in den Mittelpunkt des allgemeinen
Interesses gestellt hat. In den letzten Tagen hat Grupen wiederholt seine
Unschuld beteuert. Er wollte nach seinen Angaben das Wiederaufnahmeverfahren
betreiben, nachdem die Untersuchung in Altona wegen des Verschwindens seiner
Frau erledigt sein würde. Die Einreichung eines Gnadengesuches hat er
entschieden abgelehnt.
Sonnabend, 25. Februar 1922, “Vossische
Zeitung” Abend-Ausgabe
Grupens
Rückkehr.
Drahtmeldung unseres Berichterstatters.
Hirschberg, 25. Februar
Grupen, der gestern abend nach dem Gerichtsgefängnis
wieder zurückgekehrt ist, hat den Beamten gegenüber jede Auskunft über die
Beweggründe seiner Flucht und seinen Aufenthalt während des gestrigen Tages
verweigert. Heute vormittag hat er dem Staatsanwalt gegenüber eine Erklärung
abgegeben. Er behauptet, die Flucht nur unternommen zu haben, um den Behörden
zu beweisen, daß er aus eigener Kraft seine Freiheit wiedergewinnen kann. Er
habe, nachdem dieser Beweis ihm geglückt sei, einen weiteren Beweis erbringen
wollen, nämlich den, daß er sich vollkommen unschuldig fühle und sei deshalb im
Gefühl seiner Unschuld wieder in das Gefängnis zurückgekehrt. Auf die
Frage, w i e e r
w i e d e r i n d e n
G e f ä n g n i s h o f g e l a
n g t w ä r e , erklärt er, daß er ü b e r
d i e M a u e r g e k l e t t e r t sei. Das wird aber als absolut unmöglich
angesehen, trotz aller Vorhaltungen aber bleibt Grupen bei dieser Behauptung.
Grupen wurde nach 7 ½ Uhr unvermutet im Hofe des Gerichtsgebäudes angetroffen,
der von einer hohen Mauer umgeben ist.
Man ist durch de Gang der Untersuchung zu der
Ueberzeugung gekommen, daß Grupen nur zurückgekehrt ist, weil in seinem
Fluchtplan etwas nicht geklappt hat. Es ist als sicher aufgrund der Aussagen
der beiden Fluchtkomplizen Grupens zu betrachten, daß der Plan der Flucht schon
länger vorbereitet und daß als Zeitpunkt der Flucht ein früherer Tag bereits
vorgesehen war. An diesem Tage sollten in einem vereinbarten Versteck Helfer
mit Geld und Kleidern warten. Nun ist aus noch nicht bekannten Umständen die
Flucht an dem ursprünglich festgesetzten Termin nicht versucht worden, und als
schließlich Grupen mit seinen Komplizen die Flucht gelang und Grupen in das
verabredete Versteck kam, fand er seine Helfer nicht vor. Er kam gestern abend
völlig verhungert ins Gefängnis zurück. Das Mißlingen seines Planes hatte ihn
riesig aufgeregt.
Auf der
Suche nach Helfershelfern.
Eine unangenehme Ueberraschung erwartete ihn
bei seiner Rückkehr, denn gestern waren die Prozeßakten vom Reichsgericht in
Leipzig zurückgekommen, die die Zurückweisung seiner Revision enthielten. Von
diesem Augenblick an ist nach den Vorschriften des Gesetzes der bisherige
Angeklagte als rechtskräftig verurteilt anzusehen, und damit wurde aus dem
bisherigen Untersuchungsgefangenen der Strafgefangene. Grupen hat also jetzt
alle Vergünstigungen, die ihm als Untersuchungsgefangenen zuteil wurden,
verloren. Er wird nun als der zur Zuchthausstrafe verurteile Verbrecher
behandelt. Diese Umstände lassen eine Anwendung der verschärften Maßregeln zu,
so daß Grupen jetzt wohl kaum mehr Gelegenheit haben wird, sich mit Komplizen
zu einem neuen Fluchtplan zu vereinigen.
Die Untersuchung über die Schuldigen und die
Helfershelfer an der Flucht des Mörders ist gestern mit allen Mitteln
eingesetzt worden. D i e K r i m i n a l p o l i z e i h a t
i m L a u f e d e s
g e s t r i g e n T a g e s u n d
a u c h h e u t e v o r m i t t a g m e h r e r e H a u s s u c h u n g e n v o r g e n o m m e n . Es steht als sicher fest, daß Grupen die
Möglichkeit gefunden hat, sich durch Insassen oder Beamte des Gefängnisses mit
der Außenwelt zu verständigen. Die ihm gewährte Hilfe, die in der Uebermittlung
der Nachrichten und vielleicht auch bei der Beschaffung der für die Flucht notwendigen
Gegenstände zuteil wurde, kann nur durch Personen geschehen sein, die mit dem
Gefängnis in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Die Zustände in der
Gefängnisverwaltung sind schon in dem Schwurgerichtsprozeß in eigenartigem
Licht erschienen. Sie haben wohl auch die Mißbilligung der vorgesetzten Stellen
gefunden. Deshalb ist vor kurzem ein Wechsel in der Leitung des
Gerichtsgefängnisses vorgenommen worden. Aber in der kurzen Zeit war es wohl
noch nicht möglich, durchgreifende Reformen einzuführen. Wenn die Gerüchte sich
bewahrheiten, die in Hirschberg, in engster Beziehung mit dem Gefängnis stehen.
Nach dieser Richtung hin bewegen sich auch die von der Kriminalpolizei
geführten Ermittlungen, von denen man ein baldiges Resultat sich verspricht.
Grupen selbst bestreitet nicht, Helfer gehabt zu haben, was ihm auch niemand
glauben würde. Er erklärt nur, daß er darüber kein Wort sagen wird.
Grupens
Gattenmordprozeß.
Wegen des drohenden Verfahrens, das die
Staatsanwaltschaft in Altona gegen Grupen wegen des Mordes an seiner Frau
eingeleitet hat und das in Kürze zu einer Verhandlung vor den Altonaer
Geschworenen führen wird, hat sich Grupen vor kurzem an den Berliner Anwalt Dr.
Puppe gewandt und ihn gebeten, seine Verteidigung in dem Prozeß zu übernehmen.
Rechtsanwalt Dr. Puppe hat diesem Ersuchen entsprochen und sich bereit erklärt,
das Mandat zu übernehmen. Er hat auch gleichzeitig damals Grupen mitgeteilt,
daß er nach etwaiger Verwerfung der Revision des Hirschberger Urteils einen
Antrag auf Aufschiebung des Strafvollzugs, also der Hinrichtung, stellen wird.
Dieser Prozeß in Altona kann zu einer Aufrollung des Hirschberger Prozesses
führen, weil ein großer Teil der damaligen Feststellungen auch in dem neuen
Prozeß zur Sprache kommen muß. Es könnte dann sein, daß diese Feststellungen
und namentlich die Gutachten des Geheimrats Moll und des
Schreibsachverständigen, die das Zünglein der Wage zuungunsten Grupens
ausschlagen ließen, von anderen Sachverständigen angezweifelt würden. Aus
diesen allerdings vorläufig noch sehr vagen Hoffnungen könnte für Grupen dann
die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens erwachsen.
Dienstag, 28. Februar 1922, “Vossische
Zeitung” Morgen-Ausgabe
Grupens
Fluchtversuch.
Die Angelegenheit Grupen wird, wie uns unser
Hirschberger Korrespondent drahtet, immer verwickelter. Während bisher Grupen
immer behauptet hat, er habe in einer Privatwohnung den Freitag verbracht,
tritt er jetzt mit der Behauptung auf, er habe das Gefängnisgrundstück gar
nicht verlassen, sondern sich vielmehr im Blitzableiterschacht im Holzhof
verborgen. Ob diese Angabe richtig ist, läßt sich natürlich noch nicht sagen;
es ist aber nicht zu verkennen, daß für die Richtigkeit dieser Angabe
verschiedene Momente sprechen. So war Grupen, als er sich abends stellte,
ausgehungert, dann hatte er auch keine Schuhe an und die Beschaffenheit seiner
Strümpfe sprach nicht dafür, daß er den ganzen Tag ohne Fußbekleidung
herumgelaufen war. Die Ermittlungen, inwieweit Gefängnisbeamte Grupen Vorschub
geleistet haben, sind noch nicht abgeschlossen. Seit Anfang Januar aber ist
schon der Strafanstaltsinspektor Schentke beurlaubt und seit Anfang Februar vom
Dienst suspendiert worden. Am Sonnabend hat auch noch ein anderer
Gefängnisbeamter unfreiwillig Urlaub nehmen müssen. Wahrscheinlich hängen beide
Angelegenheiten mit dem Fall Grupen zusammen.
Donnerstag, 3. März 1922, “Vossische Zeitung”
Morgen-Ausgabe
Selbstmord
Grupens.
In der Einzelzelle erhängt aufgefunden.
Hirschberg, 2. März (W. T. B.)
Peter Grupen, der Doppelmörder von
Kleppelsdorf, der nach seiner außerordentlich verwegenen Flucht und seiner in
den Motiven bisher unaufgeklärten Rückkehr ins Hirschberger Gefängnis in
strenger Einzelhaft gehalten wurde, hat sich durch Erhängen mit seinem
Hosenträger das Leben genommen. Ein kontrollierender Beamter fand ihn am
Nachmittag um 5 Uhr in seiner Zelle tot auf.
Grupen hatte bereits einmal einen
Selbstmordversuch nach dem Todesurteil, das über ihn gefällt worden ist, gemacht,
als er noch in Einzelhaft saß. Er wurde damals sofort nach dem Versuch in einer
Zelle mit anderen Gefangenen zusammen untergebracht. Mit einigen von diesen
gelang seine Flucht, die alle Welt verblüffte. Nach seiner Selbstgestellung kam
er wieder in Einzelhaft, die dadurch bedingt war, daß das Reichsgericht schon
vor der Flucht die eingelegte Revision gegen das Urteil verworfen hatte.
Durch den Tod Grupens ist das gegen ihn
eingeleitete Verfahren wegen des unaufgeklärten Verschwindens seiner Frau, das
in Altona stattfinden sollte, hinfällig geworden, und man wird wohl nie
erfahren, was aus Frau Grupen geworden ist, von der aber Unzählige annehmen,
daß sie, ebenso wie die beiden Kinder aus Kleppelsdorf, ein Opfer Grupens
geworden ist.
Wie uns ein
e i g e n e r D r a h t b e r i
c h t aus Hirschberg meldet, war Grupen
nach seiner Rückkehr von seiner in der Nacht zum vorigen Freitag unternommenen
Flucht in Einzelhaft genommen worden. Im Augenblick seiner Selbstgestellung
war G r u p e n damals
s e h r e r r e g t . Schon am nächsten Tage bei den umfangreichen
Verhören trug Grupen das alte, mit Höflichkeit gepaarte Wesen zur Schau. Weder
die vernehmenden Beamten noch die Wärter hatten Grund zur Klage. Grupen
verweigerte einige Aussagen, machte sonst aber keinerlei Schwierigkeiten.
Auch gestern hat Grupen sein Mittagessen noch
mit aller Ruhe eingenommen. Keinerlei Anzeichen von Erregung waren an ihm
bemerkbar. Auch bei einer um 4 Uhr nachmittags vorgenommenen Revision seiner
Zelle war Grupen völlig gelassen. Bei der nächsten, gegen ¾ 5 Uhr vorgenommenen
Revision war Grupen bereits tot. Er hatte sich mit einem Hosenträger an der Zentralheizung
seiner Zelle erhängt. Alle Wiederbelebungsversuche, die sofort angestellt
wurden, waren vergeblich. Grupen hat keinerlei Auslassung, auch nicht eine
Zeile, hinterlassen. Er hat vielmehr in den letzten Tagen über den Mord von
Kleppelsdorf nicht anders als sonst behauptet, daß er unschuldig sei.
Freitag, 3. März 1922, “Vossische Zeitung”
Abend-Ausgabe
Disziplinarverfahren
im Fall Grupen.
Drahtmeldung der „Vossischen Zeitung“.
Hirschberg, 3. März
Die Ermittelungen über die Helfershelfer, die
Grupen bei seiner Flucht aus dem Hirschberger Gerichtsgefängnis Dienste
geleistet haben, sind zu einem gewissen Abschluß gekommen. G e g e n
z w e i B e a m t e d e s
G e r i c h t s g e f ä n g n i s s e s
ist das Disziplinarverfahren eingeleitet worden, weil sie dringend der
Begünstigung des Verbrechers erscheinen. Ein dritter Fall wird noch weiter
untersucht und dürfte auch das gleiche Verfahren zur Folge haben.
Ueber den Selbstmord Grupens wird noch
bekannte, daß hier kaum anzunehmen ist, daß Grupen Hilfe von außerhalb gehabt
hat. Das war auch gar nicht nötig. Er hat seine Hosenträger zu einer Schlinge
zusammengebunden und diese über einem etwa in Kopfhöhe an der Zellenwand
entlanggehenden Rohr der Zentralheizung angebracht. Dann hat er den Kopf durch
die Schlinge gesteckt und ist erstickt. Zuvor hat er das Guckloch seiner
Zellentür mit Papier verklebt. Der Beamte, der auf seinem Kontrollgang um 4 Uhr
Grupen auf seinem Schemel sitzen sah, hat eine halbe Stunde später das
verklebte Guckloch sofort bemerkt und daraufhin die Zellentür geöffnet. Grupens
Körper war noch warm, es wurden Wiederbelebungsversuche unternommen, die aber
der Arzt nach anderthalbstündiger Arbeit als aussichtslos aufgab.
Mittwoch, 8. März 1922, “Vossische Zeitung”
Morgen-Ausgabe
Das
Rätsel „Peter Grupen“.
Die
Tragödie von Kleppelsdorf.
Von
Justizrat
Dr. Mamroth, Breslau.
Peter Grupen ist tot.
Er wird nach der Verhandlung und Verurteilung für alle Zeiten als der Mörder
der beiden jungen Mädchen von Kleppelsdorf gelten. Nichtsdestoweniger geben wir
den folgenden Ausführungen seines Verteidigers Raum, weil sie eine kluge,
geistreiche, kriminalistische Studie bedeuten, die mit ihren psychologischen
Feinheiten auch heute noch den Fall Grupen interessant macht.
Mit dem Selbstmord Peter Grupens ist der
Schlußpunkt unter die furchtbare und merkwürdige Tragödie gesetzt worden, die
unter der Bezeichnung „Der Kleppelsdorfer Doppelmord“ wochenlang weiteste
Kreise in atemloser Spannung gehalten hat. Ein Schlußpunkt, aber keine Lösung,
denn kein Einsichtiger wird glauben können, daß etwa der Selbstmord oder der
vorangegangene Fluchtversuch des rechtskräftig zum Tode Verurteilten ein
Bekenntnis seiner Schuld oder ein
Anerkenntnis der Richtigkeit des über ihn gefällten Urteils bedeutete. Wer die
Verhandlung selbst durchlebt, wer es mitempfunden hat, welch harte, unheimliche
Suggestion von draußen in den Gerichtssaal eindrang, wer den gesamten
Akteninhalt und auch die Aeußerung des als Zeugen vernommenen Untersuchungsrichters,
er sei bald nach den ersten Vernehmungen von der Schuld des Angeklagten
überzeugt gewesen, gehört, wer den Eindruck der Persönlichkeit Peter Grupens,
nicht nur in der Verhandlung selbst, sondern auch aus langen Unterhaltungen mit
ihm in seiner Gefängniszelle auf sich wirken fühlte, wer schließlich aus
langjähriger Erfahrung die oft trügerische Gefährlichkeit eines bloßen
Indizienbeweises kennt, der wird sich bangen Zweifeln nicht entziehen können,
ob trotz der mustergültig objektiven, auf möglichst restlose Aufklärung
hinwirkenden Leitung der Verhandlung, der sie abschließende Spruch der
Geschworenen wirklich ein Wahrspruch war. Ich muß meinerseits ein großes
Fragezeichen hinter ihr „Schuldig“ setzen.
Ich sehe voraus und verüble es niemand, wenn
er geneigt sein sollte, mein Urteil als von einer gewissen
Verteidigersubjektivität beeinflußt anzusehen, ich will aber auch gar kein
Urteil abgeben und noch weniger ein Verteidigungsplädoyer halten, es sei mir
vielmehr nur gestattet, eine Reihe von Tatsachen zu referieren, die durch die
Verhandlungen sichergestellt worden sind, die aber der Oeffentlichkeit bisher
noch nicht zum rechten Bewußtsein gelangt und die doch geeignet sind, die
Mordtat, deren Grupen für schuldig befunden wurde, für höchst unwahrscheinlich,
ja als kaum denkbar erscheinen zu lassen.
Seine Persönlichkeit, sein Vorleben und die
Entwicklung seines Charakters bezeichnet die Anlage als „derartig ungesund, daß
sie zu einem gewaltsamen Abschluß geradezu drängte“. Was hat die Verhandlung
darüber ergeben? Grupen, der Sohn bestbeleumundeter einfacher Eltern, hat das
Maurerhandwerk erlernt und schon mit 19 Jahren selbständig einen Bau geleitet,
hat sich durchgedarbt, um die Baugewerkschule zu besuchen, hat dort nach dem
Zeugnis seiner Lehrer mit eisernem Fleiß bis in die Nächte gearbeitet, ist dann
bei Ausbruch des Krieges ins Feld gezogen, von dort nach zwei Jahren,
ausgezeichnet für Tapferkeit vor dem Feinde durch das Eiserne Kreuz und das
Oldenburgische Verdienstkreuz, zurückgekehrt, nachdem ihm ein Arm amputiert
worden war und er einen schweren Typhus überstanden hatte. Kaum genesen, ging
er wieder an die Arbeit, wurde Zeichner bei den Vulkanwerken und nahm am Abend
Privatstunden, um zu einer höheren Fachbildung zu gelangen. Keine Stimme hat
sich erhoben, die ihm aus jener Zeit bis zur Verheiratung mit seiner späteren
Frau, der verwitweten Frau Schade, im Dezember 1919 das geringste nachsagen
konnte, was einen Makel auf seinen Charakter warf. Nur fünf Liebesverhältnisse
mit Mädchen aus seinen Kreisen sind ihm zum Vorwurf gemacht worden, und der
psychiatrische Sachverständige exemplifizierte auf sie mit Nachdruck zum
Beweise dafür, daß ihm eine unheimliche suggestive Wirkung auf das weibliche
Geschlecht, das ihm dadurch in „sexueller Hörigkeit“ untertan wurde,
innewohnte. Diese fünf Liebesverhältnisse verteilen sich auf drei Jahre, Grupen
stand damals im Alter zwischen 22 und 25 Jahren und war ein schöner,
kraftvoller blonder Bursche. Man muß wirklich zur Konstruktion geheimnisvoller,
übernatürlicher Kräfte greifen, um die Erklärung dafür zu finden, daß diese
fünf Dorfmädchen sich ihm nicht versagten? Aber die Fabel von seiner
angeblichen suggestiven Kraft spielte eine verhängnisvolle Rolle bei der ganzen
Bewertung Grupens als einer unheimlichen, mit dunklen Mächten im Bunde
stehenden Persönlichkeit. Auf sie wurde die - doch wahrhaftig nicht
ungewöhnliche - Tatsache zurückgeführt, daß seine spätere Frau und seine
Schwiegermutter ihm Generalvollmacht zur Erledigung ihrer
Vermögensangelegenheiten erteilten, und im Beginn der Untersuchung verfolgte
man allen Ernstes den Gedanken, daß er der armen kleinen Ursel den Mord an
Dörte und ihren Selbstmord suggeriert habe.
Seine Ehe mit der um etwa zehn Jahre älteren
verwitweten Frau Schade wurde ihm als ein Akt großer Frivolität angerechnet,
diktiert durch das Bestreben, um jeden Preis „reich zu werden“. Aber Frau
Schade war erwiesenermaßen nicht reich, sondern nur leidlich wohlhabend und
überdies eine noch sehr reizvolle, liebenswerte Frau Ende der dreißiger Jahre.
Die Ehe kam auf Grund einer von Grupen und ein paar Kriegskameraden im Uebermut
veröffentlichten Heiratsannonce zustande, auf die Frau Schade eine
Zusammenkunft herbeiführte und sich, wie sie später an eine Freundin schrieb,
sogleich „rasend in ihn verliebte“. Auf wessen Seite lag die Frivolität dieser
Eheschließung? Uebrigens war die Ehe in den ersten Monaten restlos glücklich,
sie trübte sich nach der Angabe Grupens, weil seine Frau Neigungen zeigte,
denen seine gesunde Natur widerstrebte. Nach den Feststellungen, die die Verhandlung
hierüber erbrachte, sehe ich keinen Anlaß, die Wahrheit dieser Behauptung
anzuzweifeln.
Das unaufgeklärte Verschwinden der Frau
Grupen hat einen breiten Raum in der Schwurgerichtsverhandlung eingenommen,
wohl drei Tage lang sind Zeugen darüber vernommen worden, ein ungewöhnliches
Verfahren, denn, wenn auch nur „hinreichender Verdacht“ vorgelegen hätte, daß
Grupen seine Frau verbrecherisch beseitigt, wäre die Staatsanwaltschaft zur
Erhebung der Anklage auch dieserhalb gesetzlich verpflichtet gewesen. War dies
nicht der Fall, so konnte diese Beweisaufnahme nur den Zweck verfolgen, aus der
Unlöslichkeit auch dieses Rätsels eine gewisse Stimmung zuungunsten des
Angeklagten zu erwecken, die zu den Imponderabilien gehört, denen sich gerade
Geschworene nur selten entziehen können. Ich glaube nicht fehl mit der Annahme
zu gehen, daß dieses Intermezzo bei ihrer Beratung schwer in die Wagschale
fiel. Und doch hat in Wirklichkeit die Beweisaufnahme gerade hier lediglich
Tatsachen sichergestellt, die mit der Annahme einer Schuld Grupens am
Verschwinden seiner Frau ganz unvereinbar sind. Am 19. September 1919 wollte
sie mit einem Zuge, der kurz nach 8 Uhr abends von Itzehoe abging, nach
Kleppelsdorf reisen. Nach 6 Uhr bestieg sie mit ihrem Manne in Ottenbüttel den
kleinen offenen Wagen, der sie zur Bahn bringen sollte. Mit ihnen fuhr ein
Dienstmädchen, das einen im Vereinshaus von Itzehoe um ½ 8 Uhr stattfindenden
Vortrag besuchen wollte. Das Mädchen bezeugte eidlich, daß die Herrschaft sie
im Vereinshause abgesetzt habe, daß sie aber erst einige Zeit nach Beginn des
Vortrages eingetroffen sei. Der Weg vom Vereinshaus zum Bahnhof beträgt 8 bis
10 Minuten und führt quer durch die Stadt. Grupen erklärt, daß er seine Frau
zum Bahnhofe gefahren, sie aber nicht auf den Bahnsteig begleitet habe, weil
niemand da war, ihm das Pferd zu halten, und daß er sich deshalb von ihr am
Eingange des Bahnhofes verabschiedet habe. Seitdem fehlt jede Kunde über ihren
Verbleib. Gehört es unter diesen Umständen nicht in das Gebiet abenteuerlicher
Vermutungen zu glauben, daß der einarmige Mann, der überdies sein Pferd
kutschierte, auf dem, mitten durch die belebte Stadt führenden Wege vom
Vereinshause zur Bahn, in offenem Wagen an einem Septemberabend zwischen ½ 8
und 8 Uhr seine Frau ermordet haben soll? Oder daß er sie, die jahrelang in
Itzehoe gewohnt hatte und natürlich den Weg nach dem Bahnhof genau kannte, ohne
Widerstand zu finden, statt dorthin zu fahren, irgendwo außerhalb der Stadt
verschleppt haben soll? Erwiesen durch das eidliche Zeugnis des Dienstmädchens
ist aber überdies folgender bemerkenswerter Vorgang, den ich in keinem Zeitungsbericht
erwähnt fand. Auf der Fahrt nach Itzehoe hat Frau Grupen dem Mädchen einen
offenen Zettel für den Knecht Roske übergeben, der die Weisung erhielt, er
solle am nächsten Morgen, wenn er die Kinder zur Schule nach Itzehoe fahre,
ihren Rohrplattenkoffer, in dem sich schmutzige Wäsche befinde, mitnehmen und
mit Eilfracht nach Hamburg bahnhoflagernd aufgeben. Roske hat den Zettel
erhalten, den Auftrag aber nicht ausgeführt, weil der Koffer für den kleinen
Schulwagen zu groß war, und weil überdies die alte Frau Eckert erklärte, die
Schmutzwäsche sei nicht nach Hamburg, sondern nach Neumünster zu schicken. Erst
später, nachdem aus Kleppelsdorf das Nichteintreffen der Frau Grupen gemeldet
und ihre Abschiedsbriefe aufgefunden worden waren, in denen sie ihre Abreise nach
Amerika anzeigte, wurde der Koffer geöffnet, und man fand darin fünf Kostüme,
ihre gesamte Leibwäsche, Schuhe usw., kurz alles, was eine Dame auf eine lange
Reise mitzunehmen pflegte. Rechnet man hinzu, daß die unmittelbar vor der
Abreise ihr und der Kinder gesamte Sparguthaben abgehoben und mit größter
Dringlichkeit um die Veräußerung eines Anteilscheines an einer G. m. b. H.
bemüht gewesen ist, und berücksichtigt man schließlich auch, daß nach ihrem
Charakter und Vorleben der extravagante Entschluß einer solchen Reise durchaus
nicht im Gebiete des Unwahrscheinlichen lag, so müssen diesen erwiesenen
Tatsachen gegenüber die vagen Indizien für eine Schuld Grupens am Verschwinden
seiner Frau völlig verblassen.
Was aber die Mordtat selbst betrifft, so mag man
sich erinnern, unter welchen Umständen sie erfolgte: Die ganze Familie war
versammelt, in dem einen Zimmer des ersten Stocks Grupen, die Großmutter
Eckert, Ursel, ihre Schwester Irma und die Wirtschafterin Mohr, im Nebenzimmer
Dörte und Frl. Zahn. Etwa eine halbe Stunde vor der auf 12 ½ Uhr angesetzten
Tischzeit erhob sich Ursel, trat an die Tür des Nebenzimmers und rief hinein:
„Dörte, komm doch einmal!“ Dörte folgte dem Ruf und beide gingen in das ein
Stockwerk tiefer gelegenen Fremdenzimmer - für sie ein ungewöhnlicher
Aufenthaltsort, so daß die kleine Irma, als sie etwa eine Viertelstunde später
auf Geheiß des Frl. Zahn nach ihnen suchen ging, mit der Meldung zurückkam, sie
finde sie nicht. Wieder etwa eine Viertelstunde darauf kam das Dienstmädchen,
um zu Tisch in das neben dem Fremdenzimmer gelegene Eßzimmer zu rufen.
entgegenstürzte, das Dörte tot und Ursel röchelnd im Fremdenzimmer vorgefunden
hatte. Welche Fülle von Unwahrscheinlichkeiten drängen sich gegenüber dem
Gedanken auf, daß Grupen in dieser Zeit die Schreckenstat begangen hat! Ich
will davon absehen, daß ursprünglich alle Anwesenden erklärten, er habe während
dieses Zeitraums das Zimmer gar nicht verlassen, die alte Frau Eckert und die
kleine Irma haben später die Möglichkeit zugegeben, daß er sich auf wenige
Minuten entfernt haben könne. In diesen Minuten soll er heruntergeeilt, die
beiden Mädchen, die er doch unmöglich in dem abgelegenen Fremdenzimmer vermuten
konnte, gesucht und gefunden haben, soll die drei Schüsse auf sie abgegeben, den
Revolver neben Ursel gelegt, ihr das Patronenpäckchen in die unter den Kleidern
verborgene Unterziehtasche gesteckt, wieder die Treppe hinaufgestiegen sein und
sich zu den übrigen gesetzt, weiter Mühle gespielt und scherzhafte Reden mit
Frl. Zahn gewechselt haben, als sei inzwischen nichts geschehen?
Um Dörte zu töten, soll er sich gerade eine
Gelegenheit ausgesucht haben, wo er genau wußte, daß er sie nicht allein,
sondern in Gesellschaft Ursels traf, an der er mit zärtlicher Liebe hing? Einen
Zeitpunkt, in dem er sich sagen mußte, daß seine Tat in wenigen Minuten
entdeckt sein würde, weil der Ruf: „Zu Tisch!“ unmittelbar bevorstand? In
welchem deshalb auch mit der starken Möglichkeit zu rechnen war, daß Ursel -
die ja tatsächlich noch drei Stunden gelebt hat -, wenn man sie fand, ihn als
Täter bezeichnete? In einem Zimmer soll er sein blutiges Werk getan haben,
dessen Zugang durch das Eßzimmer führte, in welches das Dienstmädchen, wenn sie
noch irgendeine Verrichtung für den Mittagstisch besorgte, ihn eintreten, oder
aus dem sie ihn herauskommen sehen mußte, ein Zimmer, von dem aus die Schüsse
oder ein Angstschrei der Ermordeten in der nicht fern gelegenen Küche leicht
hätte gehört werden können? Diese ungünstigste aller Gelegenheiten, diesen
denkbar ungeeignetsten Moment, diesen seiner Lage nach gefährlichen Raum soll
sich ein Mann für eine Untat ausgewählt haben, von dem angenommen wird, daß er,
nach raffiniert entworfenem, wohl überlegtem Plan kaltblütig „über Leichen“
seinem Ziel zustrebte? Und welches war dieses Ziel? Der Besitz von
Kleppelsdorf! Ihn soll er durch seinen übermächtigen Einfluß auf die alte Frau
Eckert erjagen zu können gehofft haben. Aber wenn Dörte starb, wurde sie ja nur
zur Hälfte von der Großmutter und zur andern Hälfte von zwei Onkels beerbt, und
das Vermögen Dörtes bestand außer Kleppelsdorf in einem Berliner Grundstück und
einer Summe von Wertpapieren. Wäre es nicht hirnverbrannt gewesen, zu glauben,
daß bei der Teilung der Erbschaft Kleppelsdorf der 77jährigen Großmutter und
nicht vielmehr einem der zwei Miterben, die beide Landwirte waren, zufallen
würde?
Nein, je mehr ich allen diesen Fragen
nachsinne, desto angstvoller bedrängen mich Zweifel über Zweifel, ob der Spruch
der Hirschberger Geschworenen nicht ein furchtbar verhängnisvoller Fehlspruch
war, und ob Grupen als ein Schuldbeladener, der sich dem irdischen Richter
entziehen wollte, und nicht vielmehr als ein Mann in den Tod ging, der daran
verzweifelte, Gerechtigkeit zu finden.
Sonnabend, 18. März 1922, “Vossische Zeitung”
Abend-Ausgabe
Die
Schuld Grupens.
Hatte
er Helfershelfer?
Von
Paul
Schlesinger.
Ein Artikel der „Deutschen
Strafrechtszeitung“ (IX. Jahrgang, Heft 1) aus der Feder des früheren
Hirschberger Landgerichtspräsidenten Dr. Karsten (Anm.: siehe unten) gibt noch einmal Veranlassung, sich mit Peter
Grupen zu beschäftigen, dem sein Verteidiger Justizrat Dr. Mamroth an dieser
Stelle vor einigen Tagen die letzte Wohltat einer versuchten Ehrenrettung
erwies. Dr. Karsten, der der Hirschberger Verhandlung fast ununterbrochen
beiwohnte, kommt zu einem den Ausführungen Mamroths völlig entgegengesetzten
Schluß. Er verkennt nicht, daß die Hirschberger Atmosphäre auf die Geschworenen
einen gewissen Einfluß ausübte, aber er betont, „daß in d i e s e r
Sache allem Ermessen nach ein großes Schöffengericht oder eine
Strafkammer zu genau dem gleichen Ergebnis gelangt sein würde …“, und er
schließt seine eingehenden Darlegungen über den Verlauf des Prozesses mit den
Worten: „Nur wer den Satz vertritt, auf einen
r e i n e n I n d i z i e n b e
w e i s hin dürfe niemals verurteilt werden,
kann den Spruch gegen Grupen bemängeln. Ich finde aber, daß es zu begrüßen ist,
wenn Geschworene sich durch die Erwägung, ein sozusagen „mathematischer“ Beweis
sei nicht geführt, nicht hindern lassen, den Mut zu einer Verurteilung bei
einem so erdrückenden Indizienbeweise aufzubringen.“
So scharf und eindeutig Dr. Karsten seine
Ueberzeugung von der Schuld Grupens formuliert, man sieht auch in dem Gefüge
seiner Sätze jenen deutlichen Riß, der durch das Mißlingen des mathematischen
Beweises verursacht wird und der es möglich macht, daß ein so ausgezeichneter
Kriminalist wie Dr. Mamroth auch heute noch an der Schuld seines Klienten
zweifelt.
Mit Recht nennt Karsten die Erörterung, ob Grupen
zur zeit des Mordes das Zimmer verlassen hat, in dem er sich mit der alten Frau
Eckert, der kleinen Irmgard und dem Kindermädchen, seiner Geliebten, aufhielt,
den Kernpunkt der Verhandlung. Man kommt darüber nicht hinweg, daß diese drei
Personen lange Zeit der Ueberzeugung waren, Grupen habe das Zimmer n i c h t
verlassen, daß die 76jährige Frau Eckert im weiteren Verlauf der
Voruntersuchung die Möglichkeit zugab, daß sie eine kurze Abwesenheit Grupens
nicht bemerkt haben könne und daß die elfjährige Irmgard erst in der
Hauptverhandlung bekundete: Grupen habe, als sie für einen Moment aus dem Zimmer
ging, ebenfalls den Raum für kurze Zeit verlassen. Die Aussage des Kindermädchens,
das heute noch bei ihrer früheren Ansicht beharrt, mag als befangen von
vornherein ausgeschaltet sein. Dagegen muß, was Herr Dr. Karsten verabsäumt,
hinzugefügt werden, daß Frl. Zahn bei offener Tür im Nebenzimmer anwesend war
und ebenfalls von einem Hinausgehen Grupens nicht bemerkt hat. Herr Dr. Karsten
nimmt berechtigten Anlaß, die Unsicherheit der Beobachtung durch Zeugen zu
betonen, indessen ist eigentlich kaum recht verständlich, daß er der
veränderten Aussage, zumal eines Kindes, viel größere Bedeutung beimißt als der
ursprünglichen, die unmittelbar nach der Tat erfolgte. Dazu muß aber noch etwas
gesagt werden: merkwürdigerweise betrat der Staatsanwalt gar nicht die Brücke,
die ihm die Aussage der kleinen Irmgard baute; aus Zeitgründen nahm er vielmehr
an, Grupen habe schon vorher einmal das Zimmer verlassen gehabt, um den Mord zu
begehen - und für dieses erstmalige Verlassen gibt nun wirklich keine einzige
Zeugenaussage auch nur den geringsten Anhaltspunkt. Man k a n n
natürlich annehmen, eine Abwesenheit von zwei bis drei Minuten sei nicht
bemerkt worden, aber hier klafft die große Lücke der Beweisführung, und diese
Lücke wird um so deutlicher, wenn man sie mal von der anderen Seite, von der
Seite Grupens, betrachtet.
Möglich nämlich, daß seine Abwesenheit nicht
bemerkt wurde - aber konnte Grupen mit irgendwelcher Sicherheit auf eine so
mangelhafte Beobachtung rechnen? alle Prozeßbeteiligten sind von seiner hohen
Intelligenz überzeugt. Der ganze Plan war darauf angelegt, daß man die kleine
Ursula für die Täterin halten sollte. W
e i t s c h a u e n d e V o r b e r e i
t u n g zeigte sich in der Anlage und
Durchführung des ganzen Planes, und diese ganze Berechnung fiel in sich
zusammen, wenn nur e i n e der im Zimmer anwesenden drei Personen sich
mit Deutlichkeit einer kurzen Abwesenheit Grupens erinnerte! Wie, wenn etwa
Frl. Zahn aus dem Nebenzimmer - es ging ja im Lauf des ganzen Vormittags das
Gespräch zwischen den beiden Zimmern hin und her - eine Frage an Grupen
gerichtet und keine Antwort bekommen hätte? Aber auch über eine zweite, nicht
minder gefährliche Fehlerquelle mußte sich Grupen vollkommen klar sein. Die
beiden Dienstmädchen des Hauses befanden sich während des Mordes in der zu
ebener Erde gelegenen Küche. Wie, wenn das eine oder andere aus irgendeinem
wirtschaftlichen Grunde (was ja auch geschehen ist) die Küche verlassen und
(was nicht geschehen ist) Grupen auf der Rückkehr aus dem Mordzimmer getroffen
hätte? Das mindeste, was zugegeben werden muß, ist die Möglichkeit, daß Grupen
das obere Zimmer zur Zeit des Mordes nicht verlassen hat, und gerade, wenn man
ihn für den Urheber des Mordplanes hält, gewinnt es an Bedeutung, daß er bei seiner
Verhaftung den zurückbleibenden Zeugen wiederholt einschärfte: sie mögen bei
ihrer Aussage bleiben - er habe das Zimmer doch nicht verlassen.
Es gibt für den Fall, daß man dem Grupenschen
Alibibeweise folgt, nur eine einzige Erklärung: Grupen muß H e l f e r s h e l f e r gehabt haben. Man hat von diesen nichts
bemerkt, das ist richtig. Aber es ist kein Beweis dafür, daß sie nicht
vorhanden gewesen sind. Diese Eventualität gewinnt an Wahrscheinlichkeit, wenn
man an das Verschwinden der Frau Grupen denkt. Auch hier bestehen gewisse
Anhaltspunkte dafür, daß Grupen seine Frau nicht allein und völlig ohne Hilfe
aus der Welt geschafft haben kann. Wohl wäre es ihm möglich gewesen, mit dem
einen ihm verbliebenen Arm einen Mord zu begehen - er hat an sich selbst den
Beweis dafür geliefert. Aber die Situation war für ihn so kompliziert, daß die
Wegschaffung der Leiche ohne befreundete Hilfe kaum möglich gewesen wäre. Es
würde überdies genau in Grupens Charakterbild passen, wenn er die entscheidende
Arbeit in die Hände scheinbar Unbeteiligter legte, und es würde außerdem die
rätselhafte Ruhe und Gelassenheit Peter Grupens erklären, die er vor Gericht
zeigte.
Es ist hier nicht der Ort, über Mittäter
irgendwelche Vermutungen anzustellen. Aber es ist vielleicht nicht ausgeschlossen,
daß der Prozeß Peter Grupen noch einmal ein Nachspiel haben wird. Einen U n s c h u l d i g e n haben die Hirschberger Geschworenen sicherlich
nicht gerichtet. Wohl aber ist es möglich, daß er nicht der e i n z i g e Schuldige war.
Zeitschrift für Sexualwissenschaft
Begründet
von Prof. Dr. A. Eulenburg und Dr. Iwan Bloch
herausgegeben
im Auftrag der Internationalen Gesellschaft für Sexualforschung
Redigiert
von Dr. Max Marcuse, Berlin
Band
VIII
April
1921 bis März 1922
Einige
Betrachtungen zum Kleppelsdorfer Mordprozeß
Von Geh. Sanitätsrat
Dr. A l b e r t M o l l .
Der Kleppelsdorfer Mordprozeß, der kürzlich vor
dem Schwurgericht in Hirschberg verhandelt wurde, hat nach vielen Richtungen
Interesse erweckt, aber auch viele Belehrungen gebracht. Nicht zum wenigsten
wird auch der Sexualforscher manches aus ihm lernen können. Zunächst sei eine
kurze Zusammenfassung des Falles gegeben:
Der 27jährige Peter G r u p e n , ein früherer Maurer, der sich selbst durch
Tüchtigkeit emporgearbeitet und im Krieg seinen linken Arm verloren hatte, war
durch eine Zeitungsannonce mit seiner späteren Gattin, der verwitweten Frau
Schade, bekannt geworden. Diese war 11 Jahre älter als er. Frau Schade brachte
in die Ehe zwei Töchter mit, Ursula und Irmgard; außerdem ein Mädchen Ruth R.,
die Tochter eines früheren Verlobten von ihr, der vor der Verheiratung mit ihr
gestorben war. Die Familie wohnte in Ottenbüttel, einem kleinen Orte in der
Nähe von Itzehoe. Durch seine Verheiratung war Grupen in eine wirtschaftlich
und gesellschaftlich gehobene Familie hineingekommen. Er wurde dadurch auch mit
der 16jährigen Dorothea Rohrbeck verschwägert, da sowohl die beiden Stieftöchter
des Grupen wie Dorothea eine gemeinsame Großmutter, Frau Eckert, hatten. Die
Verheiratung mit Frau Grupen hatte im Dezember 1919 stattgefunden. Im September
1920 war sie spurlos verschwunden. Wie Grupen behauptete, ist sie nach Amerika
ausgewandert. Grupen machte dann dem Fräulein Dorothea Rohrbeck einen
Heiratsantrag, der aber zurückgewiesen wurde. .Am 8. Februar 1921 erschien
Peter Grupen mit seiner Schwiegermutter, der genannten Frau Eckert, seinen
beiden Stieftöchtern und seiner Stütze, Frl. Marie Mohr, die gleichzeitig seine
Geliebte war, in Kleppelsdorf, einem Gute nicht weit von Hirschberg, das durch
Erbschaft der verwaisten Dorothea zugefallen war. Am 14. Februar wurden
Dorothea und Ursula erschossen im sogenannten Fremdenzimmer des Schlosses
aufgefunden. Der Verdacht lenkte sich auf Grupen, und die Geschworenen haben
ihn auch des doppelten Mordes für schuldig erklärt.
Außer dem Doppelmorde war Grupen aber
angeklagt, mit Ursula, einem 13jährigen Mädchen, unzüchtige Handlungen, auch
den Beischlaf ausgeübt zu haben. Der örtliche Befund an den Genitalien ergab
bei der Sektion die Wahrscheinlichkeit, daß das Hymen gewaltsam zerstört war.
Abgesehen davon, bestanden aber gerade gegen Grupen schwere Verdachtsgründe.
Zunächst hat die obengenannte Ruth R. eine
den Grupen sehr schwer belastende Aussage gemacht, die sich auf seinen intimen
Verkehr mit Ursula. bezog. Ferner hatte ein Hamburger Arzt Dr. M. sowohl bei
Grupen als auch bei Ursula einen weichen Schanker festgestellt. Die Zeit des
Auftretens dieser Affektion bei Ursula sprach dafür, daß sie von Grupen
angesteckt war. Daß der weiche Schanker auch einmal ohne intimen Verkehr
entstehen kann, wurde nicht bestritten; aber der Gutachter Dr. K u z n i t z k y aus Breslau selbst erklärte, ihm persönlich
sei trotz dieser entfernten Möglichkeit in seiner Praxis kein Fall vorgekommen,
in dem ohne intimen Verkehr ein weicher Schanker entstanden wäre.
Es trat aber eine Komplikation ein. Der
genannte Arzt Dr. M. hatte bei Ursula unten auch Papeln festgestellt, die er
für syphilitisch hielt. Er hatte deshalb eine doppelte Kur angeordnet, und zwar
Einreibungen mit grauer Salbe gegen die Syphilis und örtliche Behandlung des
weichen Schankers mit Jodoform. Diese örtliche Behandlung wurde im allgemeinen
von Grupen selbst ausgeführt. Die Papeln gingen nach wenigen Einreibungen
auffallend schnell zurück. Da Grupen, wie die Untersuchung feststellte, an
Syphilis nicht litt, durfte man aus der Diagnose von Dr. M. schließen, daß Ursula
mindestens noch mit e i n e m anderen Mann vorher geschlechtlich verkehrt
hatte, da die syphilitische Infektion im allgemeinen durch den
Geschlechtsverkehr stattfindet, wenn auch eine andere Entstehungsursache nicht
ausgeschlossen ist. Tatsächlich hatte Grupen auch behauptet, daß Ursula Männern
nachgelaufen sei. Ich habe darauf ausdrücklich in der Verhandlung geachtet und
durch Befragung von Grupen festzustellen gesucht, welchen Männern Ursula
nachgelaufen sei. Nicht das mindeste Belastende konnte er nach dieser Richtung
positiv angeben. Die Quelle, wo sich Ursula eine Syphilis geholt haben konnte,
blieb damit ganz dunkel.
Beleuchtet aber wurde der Fall dadurch, daß
von anderen Sachverständigen auf dem Gebiete der Geschlechtskrankheiten gegen
Dr. M.s Diagnose erhebliche Einwendungen erhoben wurden. Es stellte sich
heraus, daß bei Ursula keinerlei sonstige syphilitische Erscheinungen
beobachtet worden waren, weder ein Prämaraffekt, noch sekundäre Symptome. Eine
Untersuchung auf Spirochäten war nicht ausgeführt worden, ebensowenig die Wassermannsche
Untersuchung. Die Beschreibung der Papeln ergab nichts Charakteristisches. Das
schnelle Zurückgehen bei etwa 3- bis 4maliger Einreibung sprach gegen den
syphilitischen Charakter, und deshalb nahmen die fachärztlichen
Sachverständigen - unter ihnen K u z n
i t z k y aus Breslau, der als. Obergutachter
geladen war -, an, daß die Diagnose auf Syphilis mehr als zweifelhaft sei.
Anders lag es mit der Diagnose des weichen
Schankers. Die von Dr. M. gegebene Beschreibung, die er gewissermaßen als
Zeuge, nicht als Gutachter, gab, wurde für so charakteristich angenommen, daß
die Diagnose als nahezu gesichert gelten konnte. Beiläufig erwähne ich noch,
daß Grupen ebenso wie Fräulein Mohr und die kleine Ursula zeitweise an Scabies
gelitten haben. Da jedoch die zeitliche Aufeinanderfolge im Prozeß nicht so
genau zur Sprache kam, außerdem aber die Scabies auch auf andere Weise
übertragen werden konnte, würde hierin wohl nur ein unterstützendes, nicht aber
ein an sich erhebliches Beweismoment liegen.
Das ganze Material aber hat den Geschworenen
genügt, das Sittlichkeitsverbrechen anzunehmen und die Frage nach diesem
Verbrechen, dessen er neben dem Doppelmorde angeklagt war, wurde von den
Geschworenen bejaht, und zwar waren es drei verschiedene Fragen, die sich auf
dieselbe Handlung bezogen. Er wurde schuldig erklärt, mit einer Person unter 14
Jahren unzüchtige Handlungen vorgenommen oder sie zur Verübung oder Duldung
unzüchtiger Handlungen verleitet zu haben (§ 176 Ziff. 3 des StrGB.). Er wurde
ferner schuldig erklärt, als Pflegevater mit seinem Pflegekinde unzüchtige
Handlungen vorgenommen zu haben (§ 174 Ziff. 1 des StrGB.), und endlich wurde
er der Blutschande für überführt erachtet; es wurde angenommen, daß er den
Beischlaf mit einer Verschwägerten absteigender Linie vorgenommen habe (§ 173
Abs. 2 des StrGB).
Da, wenn durch dieselbe strafbare Handlung
mehrere Bestimmungen des StrGB. verletzt sind, diejenige zur Strafabmessung in
Anwendung kommt, die die höchste Strafe androht, wurde § 176 Ziff. 3
angewendet, der Zuchthausstrafe bis zu 10 Jahren androht. Infolgedessen wurde
Grupen, der wegen zweier Morde zweimal zum Tode verurteilt wurde, wegen dieses
Sittlichkeitsverbrechens außerdem zu 5 Jahren Zuchthalls verurteilt.
Der Fall lehrt, daß man zur Stellung der
Diagnose, wenn sie irgendwelche Unklarheiten bietet, oder Komplikationen
drohen, alle modernen Hilfsmittel anwenden muß. Wie ein leiser Vorwurf klang es
aus den Verhandlungen heraus, daß Dr. M. die für diesen Fall notwendigen
Untersuchungen nicht angewendet hatte, weder die Untersuchung auf Spirochäten
noch den Wassermann. Die Papeln waren das einzige Symptom, woraufhin er
glaubte, die Syphilis diagnostizieren zu müssen. Im übrigen hielt er seine
Diagnose, meiner Erinnerung nach, später nicht mehr so bedingungslos aufrecht.
Besonders wird man, wenn eine differente Behandlung in Frage kommt, oder der
Fall forensisch zu werden droht, auf die anderen Untersuchungsmethoden nicht
verzichten dürfen. Es ist nicht etwas Gleichgültiges, wenn man einem 13jährigen
Kinde Einreibungen mit Quecksilber verordnet, und daß die venerische Infektion
eines Kindes unter 14 Jahren bei einer gerichtlichen Verhandlung zur Sprache
kommen würde, konnte mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorausgesetzt
werden.
Es ließe sich die Frage aufwerfen, woher es
kommt, daß Ursula niemals jemand etwas von den Beziehungen zu ihrem Stiefvater
erzählt hat. Die gleiche Frage spielt nicht selten bei Sittlichkeitsverbrechen
eine Rolle. Viele Richter neigen einerseits dazu, kleinen Mädchen zuviel
Glauben zu schenken, wenn es sich um ein "Sittlichkeitsverbrechen"
handelt. Wenn aber ein kleines Mädchen ein an ihm begangenes
Sittlichkeitsverbrechen erst später nach Wochen, Monaten oder gar Jahren
erzählt, wird anderseits hieraus oft die Unglaubwürdigkeit hergeleitet; es sei,
wird behauptet, undenkbar, daß ein Kind lange Zeit dieses Geheimnis für sich
bewahrt haben soll. Scheinbar logisch wird daraus geschlossen, daß aus diesem
Grunde des Kindes Beschuldigung keinen Glauben verdient, und doch, wird hierbei
vollständig die Natur des weiblichen Geschlechts, auch des kleinen Mädchens,
verkannt. Es ist in der Tat auffallend, wie beharrlich die Kinder solche Dinge
in sich verschließen, niemand, weder der Mutter noch der Erzieherin oder
Schwester etwas davon mitteilen. Aber die Tatsache dieser Verschlossenheit wird
durch die Erfahrung erwiesen. Es hängt dies wohl mit dem allem Sexuellen
anhaftenden Geheimnisvollen zusammen, das instinktiv hier auch auf das Kind
wirkt. Es handelt sich nur um einen quantitativen Unterschied mit dem, was auch
bei Erwachsenen das Geschlechtsleben angeht. Auch hier sehen wir, wie alles mit
einem dichten Schleier verdeckt ist, wie Mann und Weib, sonst noch so redselig,
oft alles, was mit dem Geschlechtsleben zusammenhängt, vollständig in ihrem
Innersten verschlossen halten. Ja, es wird oft vermutet, daß das
Geschlechtsleben eine Sphäre für sich ist, die mit dem Menschen im allgemeinen
nichts zu tun hat, eine Auffassung;, die an und für sich nicht berechtigt ist,
die aber ein Körnchen Wahrheit enthält. Jedenfalls bemerke ich, um auf den Ausgangspunkt
zurückzukommen, ausdrücklich, daß das Schweigen von Ursula über das an ihr nach
dem Wahrspruch der Geschworenen verübte Sittlichkeitsverbrechen mit vielen
anderen Erfahrungen im Einklang steht.
In diesem Zusammenhang sei ein anderer Punkt
erwähnt, der das Geschlechtsleben der Frau Grupen betrifft. Von der
Verteidigung wurde es so dargestellt, als ob sie eine zügellose, verworfene
Frau gewesen sei, eine Abenteuerin, deren plötzliches Verschwinden im September
1920 aus ihrer Natur erklärbar sei. Grupen behauptete, sie sei nach Amerika
gegangen, und es lagen einige Briefe vor, die von ihrer Hand geschrieben waren
und als Abschiedsbriefe angesehen wurden. Von anderer Seite wurde jedoch
offensichtlich der Verdacht gehegt, daß Grupen seine Frau beiseite geschafft
hätte. Nun wurde aber Frau Grupen als Mutter das glänzendste Zeugnis
ausnahmslos von allen Zeuginnen ausgestellt, und dies sprach dagegen, daß sie
plötzlich Haus und Herd, Mann, Familie und besonders ihre Kinder, lediglich um
einer Abenteuerlust nachzugehen, verlassen haben sollte. Daß alle Auskünfte bei
Schiffsgesellschaften, beim amerikanischen Konsulat, bei der Polizei die
angebliche Auswanderung nicht bestätigten, sei beiläufig erwähnt. Aber auf
einen Punkt sei hier hingewiesen: auf den Versuch der Verteidigung, die Frau
Grupen als eine zügellose, erotische Frau hinzustellen, der alles zuzutrauen
sei. Drei Vorfälle kamen hierauf zur Sprache.
Erstens hatte Frau Grupen, als ihr Ehemann,
Schade gestorben war, eine Zeitlang Beziehungen zu einem verheirateten Herrn S.
unterhalten. Da diese Beziehungen in einem kleinen Städtchen stattfanden,
wurden natürlich die guten Sitten dadurch verletzt. Diese Verfehlung der
damaligen Frau Schade ist zuzugeben. Aber welcher ehrliche Mensch, wird aus
einem solchen einzelnen Vorfall schließen, daß die Frau eine verworfene
Abenteuerin war, die mit Hinterlassung ihrer Kinder, denen sie in aller Liebe
zugetan war, sich in ein wildes, neues, ungewisses Leben gestürzt hätte! Kein
anderer Fall von Verfehlungen mit Männern ist ihr nachgewiesen oder auch nur
wahrscheinlich gemacht, ja auch nur angedeutet worden. Aber freilich, noch ein
zweiter Umstand kam zur Sprache. Eine Zeugin erklärte, Frau Schade habe ihr
gesagt,. daß sie von Zeit zu Zeit masturbieren müsse. Auch hier frage ich die
Sexualforscher: Eine Frau, die an einem starken sinnlichen Trieb leidet, und
die einer Freundin anvertraut, daß sie gelegentlich zur Masturbation gezwungen
sei, ist das eine zügellose oder sittenlose Frau? Nur der Heuchler wird diesen
Schluß ziehen. Millionen von Frauen tun dasselbe, und nur der Umstand, daß hier
eine Gerichtsverhandlung stattfand und die Freundin der Frau Schade unter ihrem
Eid die Wahrheit bekundete, hat diese "unsittliche" Handlung zur
Kenntnis gebracht. Millionen von Frauen tun dasselbe, ohne daß jemand etwas
davon erfährt oder höchstens der Arzt davon Kenntnis erhält, der wohl
schwerlich hierin den Beweis erblickt, daß man es mit einer unethischen Persönlichkeit
zu tun hat. Und noch ein dritter Punkt muß erwähnt werden. Es wurde von dem
Bruder Grupens behauptet, er hätte gesehen, daß Frau Grupen von der kleinen
Uraula einmal bei sich eine unzüchtige Handlung hätte ausführen lassen. Daß man
dieser Bekundung ohne weiteres gerade Glauben schenken müßte, ist nicht ohne weiteres
anzunehmen. Äußere Gründe schon sprachen dagegen, daß diese Behauptung objektiv
richtig war.
Ich bin absichtlich auf die Frage deshalb
eingegangen, weil es sehr leicht ist, wenn man einige Dinge aus dem Sexualleben
einer Person, besonders einer weiblichen, erfährt, hieraus auf sie einen
ungünstigen Schluß zu ziehen, und wenn man mit der üblichen Sittenapostelmoral
begnadet ist, eine solche Frau in den Kot zu ziehen. Frau Grupen hat seit mehr
als einem Jahr kein Lebenszeichen von sich gegeben. Der Angeklagte hat sie, um
sich zu entlasten, herabzusetzen, ja in den Schmutz zu ziehen gesucht, ebenso
wie er dies mit der unglücklichen Ursula getan hat. Was Frau Grupen gefehlt
hat, ist nicht mehr, als was hunderttausend Frauen ebenfalls gefehlt haben, die
gesellschaftlich hochgeachtet, vielleicht sogar als Muster von Sittsamkeit und
Tugend gelten.
Ein weiterer Punkt spielte bei dem Prozeß eine
erhebliche Rolle: die auffallend große Macht, die der Angeklagte auf seine
Umgebung ausübte. Es gibt Menschen, denen eine Suggestionsfähigkeit eignet.
Solche Menschen haben auf ihre Umgebung einen ganz bemerkenswerten Einfluß, der
nicht von logischer Begründung abhängt, sondern o h n e
derartige Begründung außerordentlich weitgehende Folgen herbeiführt. So
sehen wir Grupen seine Frau und Schwiegermutter vollständig beherrschen. Es ist
schließlich keine Kleinigkeit für einen gewöhnlichen Menschen, einem früheren
Maurer, Frau und Schwiegermutter nach wenigen Monaten zu veranlassen, ihm
Generalvollmachten zu geben und ohne nachweisbare Gegenleistungen ganze
Vermögen abzutreten. Seine Schwiegermutter, Frau Eckert, hat ihrem Bruder
seinerzeit mitgeteilt, ihre ganze Korrespondenz würde von Grupen überwacht.
Wir haben auch auf einem andern Gebiete den
großen Einfluß des Angeklagten auf andere, mit denen er zusammenkam, gesehen.
Ich meine das Sexuelle, wie er ein Mädchen nach dem andern verführte, außerdem
neben seiner Frau zu einer bestimmten Zeit zwei weibliche Personen in seiner
Wohnung hatte, denen beiden er die Ehe versprach, da seine Frau nur noch ein
bis zwei Jahre leben könne. Man wird vielleicht die Frage aufwerfen: Was hat
dieses sexuelle Moment mit Suggestion zu tun? Demgegenüber sei erwähnt, daß ein
solcher sexueller Einfluß nicht immer, sobald es sich um das andere Geschlecht
handelt, von der Suggestion getrennt werden kann. Die Übergänge sind hier ganz
allmähliche.
Sicherlich spielte aber der reine
Geschlechtsgegensatz dabei eine erhebliche Rolle, ohne daß die intimen Beziehungen
oder bewußte Genitaltriebe dabei mitzusprechen brauchten. Peter Grupen war fast
stets der einzige Mann in der ganzen Umgebung. In Itzehoe und Ottenbüttel sehen
wir ihn mit seiner Frau, der Schwiegermutter sowie den drei kleinen Mädchen.
Und so hat gewiß auch die Suggestion Einfluß auf seine Frau und seine
Schwiegermutter, sowie der Geschlechtsgegensatz eine erhebliche Rolle gespielt.
Hier seien auch noch einmal die Beziehungen
des Grupen zur kleinen Ursula erwähnt. Ursula war ihm sklavisch ergeben, - so
wurde von einer Zeugin gesagt; ein andermal erwähnt, daß sie ganz in seinem
Banne stand; wieder ein drittes Mal: "Was er wollte, das tat sie."
Ursula suchte dem Angeklagten auf jede Weise gefällig zu sein, und ich habe mir
ernstlich die Frage vorgelegt, ob die Beziehungen des Angeklagten zu Ursula
nicht zur sexuellen Hörigkeit gerechnet werden sollten. Bei dieser handelt es
sich um eine außerordentliche quantitative Steigerung des Liebes- und
Sexualgefühls: der eine Teil ist dem andern hörig. Er tut alles, was er ihm
sagt: Gutes und Schlechtes. Am deutlichsten sehen wir dieses Hörigkeitsgefühl
in dem Verhältnis der Prostituierten zum Zuhälter, der bekanntlich oft eine dämonische
Macht über die ihm ergebene Prostituierte ausübt. Wir kennen in der Literatur
noch andere Fälle, wo die schwersten Verbrechen von sonst guten und
vortrefflichen Menschen ausgeführt wurden, als sie dem andern Teil in sexueller
Hörigkeit verfallen waren.
War Ursulas Geschlechtstrieb künstlich
vorzeitig durch den Angeklagten geweckt worden?
Die Möglichkeit hierzu besteht; denn wir haben sonst nichts gehört, daß
sie mit irgendeinem Manne etwas zu tun gehabt, nicht glaubwürdig vernommen, daß
sie irgendwelchen Männern nachgelaufen sei. Ursula ist von allen Seiten als ein
gutes Kind beschrieben worden. Sie soll - so wurde von dem Angeklagten gesagt -
schon wie eine Erwachsene geküßt haben. Nichts Derartiges hat aber irgend
jemand anders erklärt. Ich halte es für möglich, daß Ursula in der Tat dem Angeklagten
in sexueller Hörigkeit ergeben war, nachdem er ihren Geschlechtstrieb künstlich
geweckt hatte. Und so könnte sich anscheinend manches Rätsel lösen, aber nicht
das Rätsel, das darin liegt, daß Ursula erst ihre Stiefbase und dann sich
selbst ermordet hätte. Denn zu einem solchen Mord und Selbstmord, besonders zu
dem letzteren, würde etwas ganz anderes noch gehören als die bloße Hörigkeit.
Diese müßte dann schon den höchsten, überhaupt nur denkbaren Grad erreicht
haben, und dafür lagen nicht genügend Anhaltspunkte vor. Daß übrigens andere
schwere Indizien dagegen sprachen, daß Ursula die tödlichen Schüsse abgegeben
hatte, sei beiläufig erwähnt.
Auf einen Punkt will ich hier noch aus
psychologischen Gründen die Aufmerksamkeit lenken, auf die Nacht, die der
Mordtat voranging:
In dem Kleppelsdorfer Herrenhause war Grupen
der einzige männliche Bewohner. Er wurde in das zweite Stockwerk einquartiert.
Zu ebener Erde schliefen in einem Zimmer Fräulein Mohr und Ursula. Bei ersterer
trat damals gerade die Monatsblutung auf, und trotzdem hat er mit ihr in der
Nacht, die dem Morde voranging, in demselben Zimmer, wo Ursula war, zweimal den
Beischlaf vollzogen; einmal abends und einmal morgens. Die Blutflecken, die sich
an seinen Unterbeinkleidern befanden, mußten hierauf zurückgeführt werden.
Wenn, wie die Geschworenen angenommen haben, Grupen der Mörder war, ist es
gewiß von Interesse festzustellen, daß er die Nacht vorher dazu benutzte,
seinen Geschlechtstrieb zu befriedigen, und zwar in demselben Zimmer, wo die
kleine Ursula nächtigte. Sie scheint noch wach gewesen zu sein!, doch soll sie
von dem intimen Verkehr der beiden nichts gemerkt haben. Für den häufigen
Zusammenhang von Wollust und Grausamkeit, der sich nicht nur im Sadismus
äußert, ist immerhin dieser Vorfall nicht ganz ohne Interesse, ebenso der
Umstand, daß Grupen am Abend vor der Tat mit den verschiedensten weiblichen
Personen, darunter Ursula, Dorothea und seiner Schwiegermutter, tanzte.
Ich habe im vorhergehenden eine Reihe
sexueller Fragen besprochen, die sich an den Kleppelsdorfer Mordprozeß
anschließen. Es wäre leicht, noch eine Reihe ähnlicher Fragen hier anzufügen,
doch glaube ich, daß die vorhergehenden dem Fachmann ein gewisses Material über
das, was in Beziehung auf sexuelle Fragen dort erörtert wurde, geben. Der Fall
ist durch die Begleitumstände und durch die vielen psychologischen
Gesichtspunkte, die er bot, ein Sensationsfall geworden. Daß einiges, was in
ihm zur Sprache gekommen ist, auch für die Sexualforschung nicht ganz verloren
gehe, war der Zweck der vorstehenden Ausführungen.
Der Mord an der
Rittergutsbesitzerin
Hans Habe - in seinem
Buch „Meine Herren Geschworenen“, 1964
Am 10. Januar 1920 war der Versailler Vertrag
in Kraft getreten. Die Reparationskommission der siegreichen Alliierten setzte
die vom Deutschen Reich monatlich aus dem Ruhrgebiet zu liefernde Kohlenmenge
auf 2 234 000 Tonnen fest. Ab 1. Mai 1921 sollte Deutschland jährlich zwei
Milliarden Goldmark, später auch mehr, zahlen. Für einen Dollar bekam man im
Mai 1921 noch rund 65 Mark - im Dezember 1922 für einen Dollar schon 1 280 000
Mark.
In diesen Tagen, die als die „Inflationszeit“
in die Geschichte eingegangen sind, spielt die Tragödie auf Schloß
Kleppelsdorf. Die Tragödie eines Volkes und die Tragödie zweier halbwüchsiger
Mädchen sind nicht voneinander zu trennen.
Die „Besetzung“ des Dramas ist typisch für
die Zeit - es zeigt sich wieder einmal, daß die Zeit ihre eigenen Akteure
gebärt.
Dorothea
Rohrheck,
von ihren Verwandten „Dörte“ genannt. Sie ist 1905 geboren, zur Zeit des Dramas
also 16 Jahre alt. Ihre Mutter ist bei der Geburt Dörtes gestorben. Ihr Vater
starb im Krieg, als Dorothea vierzehn Jahre alt war. Rohrbeck war seinerseits
ein Kind der Zeit. Er kam ganz von „unten“, ein cleverer Berliner Junge, der
sich auf Grundstücksspekulationen verstand. Er heiratete nach „oben“, die
Bankierstochter Eckardt. Durch Grundstücksspekulationen bei der Ausdehnung der
südlichen Berliner Vororte war er zum Multimillionär geworden. Er hatte mehrere
Güter gekauft, darunter das schlesische Schloß Kleppelsdorf. Das stand auf
einem Rittergut - so ganz nach dem Geschmack des Emporkömmlings. Dieses Schloß
wollte er nicht verkaufen, mit diesem Rittergut wollte er nicht spekulieren, da
sollten die Generationen der „Rittergutsbesitzer Rohrbeck“ wachsen. Als er
starb, war die vierzehnjährige Dorothea seine einzige Erbin - Erbin eines
Millionenvermögens. Wer ist sie, die kleine
Dörte, die am 14. Februar 1921 in einem
Gartenzimmer ihres Schlosses erschossen aufgefunden wird? Zart von Gestalt,
beinahe elfenhaft, sieht sie doch älter aus. Die dunklen Augen sind riesengroß.
Um den Mund, die Lippen meistens nach unten gekehrt, liegt ein bitterer Zug.
Man wird früh reif, wenn man vom vierzehnten Lebensjahr an die eigene Herrin
ist. Man wird früh reif, wenn man in einer Zeit lebt, von der ein deutscher
Dichter schrieb: Das Universum stockt und
starrt / Kein Puls des Lebens geht / Die Welt probiert / Wie die Vernichtung
ihr zu
Gesichte steht.
Ursula
Schade.
Das zweite Opfer - sie ist 12 Jahre alt. Sie ist eine Kusine Dorotheas. Ihre
Mutter war die Schwester der verstorbenen Mutter Dörtes. Die beiden Mädchen
haben die gleiche Großmutter. Die Zeit prägt Gestalten, die Dichter finden
Namen für sie. Heute würde man Ursula leichtfertig eine „Lolita“ nennen. Aber
sie ist in Wirklichkeit eine Lolita der zwanziger Jahre, also ganz anders
geartet als die Romanheldin unserer Tage. Damals wollten die
„Kinder“ nicht, wie heute, ewig Kinder
bleiben. Die Lolitas von heute sind verdorben, aber da ihnen ohnedies alles
gestattet ist, wollen sie nicht älter scheinen als sie sind. Ursula, zur Zeit
des Mordes zwölf, gebärdet sich wie eine Sechzehnjährige. Sie haßt die
sechzehnjährige, reichere und hochmütige Dorothea.
Peter
Grupen.
Er ist Ursulas Stiefvater - er hat die Mutter Ursulas geheiratet, als sie schon
mehrere Kinder hatte. Er war um dreizehn Jahre jünger als seine Frau. Peter
Grupen nennt iich Architekt. In Wirklichkeit war er vor dem Krieg Maurerpolier
und kleiner Angestellter bei der Vulkanwerft in Hamburg gewesen. Im Krieg - in
diesem Ersten Weltkrieg, der vor drei Jahren zu Ende gegangen ist - diente er
bei den Königsulanen in Hannover. Bei Verdun hat ihm ein Granatsplitter den
linken Unterarm weggerissen. Er betätigt sich in einem neuen Beruf, für den man
ein neues Wort geprägt hat. Er ist ein „Schieber“, spekuliert mit Valuten,
Grundstücken, Südfrüchten, Pferden, Motoren. Zur Zeit der Tat ist er erst 27
Jahre alt, ein kleiner, gedrungener Mann mit einem hübschen Gesicht, Typus des
soliden Heiratsschwindlers.
Fräulein
Zahn.
Zur Zeit der Tat ist sie 42 Jahre alt, ein altes Fräulein, von dem man annehmen
darf, daß es nach langer Jungfräulichkeit dem ersten soliden Heiratsschwindler
aufsitzt. Sie kam im Geburtsjahr Dorotheas auf Schloß Kleppelsdorf und wurde,
nach dem Tod der Eltern des Kindes, Dörtes Erzieherin, Freundin, Beraterin, Gesellschafterin.
Die einzige „Stütze“ einer jungen, hübschen Rittergutsbesitzerin zu sein, war
ein Posten so recht nach ihrem Geschmack. Sie hat den fröhlichen Lebenswandel
Dorotheas unterstützt. Vielleicht hat sie sich auch als Mutter des Kindes
gefühlt, eine kinderlose „Mademoiselle“ mit Muttergefühlen.
Frau
Augusta Eckardt.
Witwe eines Bankiers, jetzt 75 Jahre alt. Sie ist die Großmutter der Mädchen
Dorothea und Ursula, die Schwiegermutter des „Architekten“ Grupen. Eine kleine,
hagere Frau, sehr lebendig, voll Lebenslust. Ihre Lebenslust muß so groß
gewesen sein, daß sie vergessen hatte, sich nach dem Verschwinden ihrer
Tochter, der Frau Grupens, zu erkundigen. In gewissen Epochen des
wirtschaftlichen Halali zieht es nicht nur die Angehörigen der „unteren“
Schichten nach oben: Die Angehörigen der „oberen“ Schichten - besonders Frauen
-blicken fasziniert nach den Emporkömmlingen.
Das sind die Hauptdarsteller des Dramas. Zu
ihnen gesellen sich: Fräulein Mohr,
Wirtschafterin und letzte Geliebte Grupens, Oberschwester Emma Kube, die seltsame Dinge aussagen wird - daneben ein
entsetzter Staatsanwalt, ein gewandter Verteidiger und eine große Zahl von
Sachverständigen.
Das Drama, in dem diese Darsteller auftreten,
beginnt an einem bitterkalten Nachmittag, am 14. Februar 1921.
Schloß Kleppelsdorf liegt an der Bober, in
der Nähe des Städtchens Lähn, siebzehn Kilometer nordwestlich von Hirschberg.
Es liegt in der schlesischen Landschaft: Die Sommer sind heiß und staubig, die
Winter kalt und voll Schnee.
Die Menschen in dieser Gegend sind einsam,
aber sie haben alle Tugenden der Einsamkeit entwickelt: Gastfreundschaft,
Zusammengehörigkeitsgefühl, einen guten Selbsterhaltungstrieb, der sich noch
aus versiegenden Quellen zu nähren vermag. Schloß Kleppelsdorf ist ein
zweistöckiges Herrenhaus, eine geräumige Villa; ein „Schloß“ ist es nicht,
obwohl es in einem riesigen Schloßpark liegt - der Vater Dorotheas wollte eben
ein Schloß haben, ein Rittergutsbesitzer sein.
Die Sechzehnjährige lebt - neben dem Gesinde
- im Schloß allein mit Fräulein Zahn, ihrer Erzieherin. An diesem 14. Februar
ist Kleppelsdorf jedoch ungewöhnlich belebt. Vor etwa vierzehn Tagen ist die
Großmutter aus Itzehoe gekommen - mit ihr kamen Dorotheas Stiefonkel Peter
Grupen und dessen Stieftöchter Irma und Ursula.
Die Großmutter, der Schwiegersohn und die
kleine Irma werden aus dem Salon, wo sie sich gerade aufhalten, zum Mittagessen
ins Speisezimmer gerufen. Eine der Mägde wird ausgeschickt, um die
Rittergutsbesitzerin und die zwölfjährige Ursula zu holen. Mit einem entsetzten
Aufschrei kehrt das Mädchen zurück: „Die beiden Mädchen sind tot!“
Frau Eckardt und Grupen eilen in das Zimmer.
Wie die meisten Räume im Schloß hat es einen Namen: Man nennt es das
„Schrankzimmer“. Es ist ein einfacher Raum, in dem sich zwei Betten, ein
Schrank, eine Waschkommode, ein Toilettentisch und zwei Stühle befinden.
Der Teppich, der etwa die Hälfte des Zimmers
einnimmt, ist von Blut überströmt. Auf dem Teppich liegen die beiden Mädchen:
Dorothea und Ursula. Die Großmutter beugt sich über die junge
Rittergutsbesitzerin. Dorothea ist tot.
Grupen kniet sich neben seiner Stieftochter
Ursula nieder. Sie scheint noch zu atmen. Seine ersten Worte sind - so heißt es
wenigstens später, als er vor seinen Richtern steht: „Sprich doch! Wer hat es
getan? Man wird es mir in die Schuhe schieben!“
Ursula antwortet nicht. Wenige Minuten später
haucht auch die Zwölfjährige ihre Seele aus.
Nun entdeckt Grupen den Revolver, mit dem die
beiden jungen Mädchen getötet wurden. Er äußert sich nicht über die Herkunft
der Waffe, obwohl es sich, wie er bald zugeben wird, um seinen Revolver handelt.
Hat der einzige anwesende Mann, „Architekt“
Grupen, keine Erfahrung mit Mordangelegenheiten, oder liegt ihm daran, die Tat
möglichst bald in seinem Sinne aufzuklären? Jedenfalls befolgt er nicht die
fast jedermann bekannte Regel, wonach die Lage der Opfer eines Mordes nicht
verändert werden darf. Er trägt seine Stieftochter Ursula auf das nächste Bett.
In der Blutlache, unter ihrem Körper, wird jetzt eine Tasche sichtbar, die
weitere 19 Patronen enthält. Die Tasche enthält aber auch einen offenbar von
der kleinen Ursula geschriebenen Brief. Die Aufschrift lautet: An Großmutti! Der Brief, dem Sinn nach:
Ich
habe zuerst Dörte und dann mich erschossen. Jetzt wirst Du mit Dörte keine
Sorge mehr haben. Deine traurige Ursel.
Die alte Frau hält den Brief verständnislos
in der Hand. Sie sieht Grupen an. Er scheint einen Verdacht in ihren Augen zu
lesen und sagt unvermittelt: „Ihr wißt doch, daß ich bei euch oben war.“
Eine Stunde später trifft
Landgerichtsdirektor Dubiel mit der Mordkommission aus Hirschberg ein.
Vorerst beschäftigt sich Landgerichtsdirektor
Dubiel, ein alter und erfahrener Kriminalist, ausschließlich mit Tatsachen. Er
versucht, die letzte Stunde vor dem Mord zu rekonstruieren.
In dieser Stunde haben sich die alte Frau
Eckardt, Grupen und die neunjährige Irma im Wohnzimmer befunden. Grupen und
seine Stieftochter haben Mühle gespielt. Der Einsatz waren Äpfel. Als Irma
einen Apfel gewann und ihn essen wollte, stellte sich heraus, daß der Apfel von
Fäulnis angefressen war. Grupen wollte ihn zuerst in den Ofen werfen, hat dann
aber seiner Stieftochter befohlen, ihn hinauszutragen. Irma ist mit dem Apfel
hinausgegangen. Die Frage, welche die Mordkommission beschäftigt - und vorerst
unbeantwortet bleibt -, lautet: Hat sich auch Grupen aus dem Wohnzimmer
entfernt? Er bestreitet es. Frau Eckardt erklärt: „Ich habe gestrickt und bin
dabei vielleicht eingenickt. Ich weiß es nicht.“
Auch die kleine Irma will sich nicht
erinnern, ob ihr Stiefvater ihr gefolgt sei und ob er sich, als sie
zurückkehrte, noch im Wohnzimmer befand. Die Frage des Alibis bleibt im Moment
unbeantwortet.
Konkreter sind die Resultate, welche die
medizinischen Sachverständigen erzielen. Kreismedizinalrat Dr. Peters aus
Löwenberg erklärt dem Landgerichtsdirektor schon eine Stunde nach der
Untersuchung der Leichen:
„Ich halte es für ausgeschlossen, daß Ursula
ihre Kusine getötet hat. Gegen einen Selbstmord des Mädchens sprechen die
folgenden Tatsachen: Erstens hätten bei einem Schuß aus einer Entfernung von
weniger als fünf Zentimetern die Augenbrauen und möglicherweise die Wimpern des
Kindes versengt sein müssen - das ist aber nicht der Fall. Zweitens pflegen
Selbstmörder die Stelle, an der sie sich die tödlichen Verletzungen beibringen
wollen, zu entblößen. Drittens hat Ursula den Kopf erschreckt nach rückwärts
geneigt. Hätte sie sich selbst erschossen, müßte der Verlauf des Schußkanals
ein anderer sein. Viertens: Bei einem Selbstmord hätten wir die Patronenhülsen
in der Nähe der Toten aufgefunden - sie lagen aber zerstreut im Zimmer. Das
Wesentlichste ist jedoch, wenigstens im Augenblick, daß der Revolver gesichert
war. Ursula hätte also nach der Tat die Waffe wieder sichern müssen. Das ist
ausgeschlossen. Der Täter hat den Revolver nach dem dritten Schuß - zwei haben
Dorothea Rohrbeck, der dritte hat ihre Kusine getroffen - mit einer
unwillkürlichen Geste wieder gesichert.“ Mit einem kleinen Lächeln fügt der Medizinalrat
hinzu: „Es sollte mich nicht wundern, wenn es sich hier um den „kleinen“ Fehler
handelte, den jeder Mörder früher oder später begeht. In diesem Fall hat er ihn
wahrscheinlich „früher“ begangen.“
Soll die Mordkommission gleich die Verhaftung
Peter Grupens verfügen?
Die Sache ist nicht so einfach. Da ist vor
allem der Abschiedsbrief Ursulas: Frau Eckardt glaubt, die Schriftzüge ihrer
Enkelin mit Bestimmtheit zu erkennen. Dann ist da noch das Alibi des „Architekten“,
das nicht ohne weiteres über den Haufen geworfen werden kann: Wie soll er sich
so schnell aus dem Wohnzimmer entfernt, die beiden Mädchen umgebracht haben,
wie soll er wieder so schnell - jedenfalls noch bevor zum Mittagessen gerufen
wurde - zum gemütlichen Mühle-Spiel zurückgekehrt sein? Es hat in letzter Zeit
zu viele übereilte Verhaftungen, zu viele Justizirrtümer gegeben. Die Presse,
insbesondere die der Großstädte, ist polizei- und justizfeindlich. Man muß vorsichtig
handeln.
Dr. Dubiel vernimmt alle im Haus anwesenden
Personen - es handelt sich ja hier um den seltenen, meistens nur in
Kriminalromanen üblichen Fall, daß sich alle Personen, die etwas von der Tat
wissen könnten, unter einem einzigen Dach befinden.
Den ganzen Nachmittag, den ganzen Abend
verweilt die Mordkommission in Schloß Kleppelsdorf. Das Mosaik, das sich unter ihren
Augen zusammensetzt, ist das Mosaik eines Sittenbildes aus Deutschlands
zwanziger Jahren.
Da ist einmal das Verhältnis Peter Grupens zu
seiner Stieftochter Ursula. Noch kann Dr. Dubiel nicht mit Bestimmtheit
feststellen, ob der siebenundzwanzigjährige Stiefvater mit seiner zwölfjährigen
Tochter sexuelle Beziehungen unterhalten habe, aber aus Andeutungen der
Wirtschafterin Grupens, aus verstohlenen Bemerkungen des Hausgesindes glaubt
der Beamte, auf eine „Liebesaffäre“ zwischen Vater und Kind schließen zu
dürfen.
„Ursula war ihrem Stiefvater hörig“, sagt die
Erzieherin Dorotheas, Fräulein Zahn.
„Was nennen Sie Hörigkeit?“ fragt der
Landgerichtsdirektor.
„Es war, als stünde sie unter seinem
hypnotischen Einfluß.“
Hypnose: das Wort bleibt im Gedächtnis des
Landgerichtsdirektors haften. Hypnose ist die große Mode in der deutschen
Nachkriegs-Gesellschaft. Überall, vor allem in Berlin, finden hypnotische
Seancen statt. Berufs- und Amateur-Hypnotiseure veranstalten vielbesuchte
Séancen. Ein Mann namens Eric Hanussen, der mit seinem Medium, Martha Farra,
herumreist, macht von sich reden. Geisterbeschwörungen, spiritistische
Sitzungen gehören zu den abendlichen Unterhaltungen. Hypnotische Medien sind
die „Glamourgirls“ der Zeit, wie später die Mannequins und die Call-girls. Dr.
Dubiel denkt an den Brief der kleinen Ursula. Er wird auf die Sache mit dem
hypnotischen Einfluß noch zurückkommen.
Und das Verhältnis zwischen Grupen und der
jungen Rittergutsbesitzerin? Selbstverständlich - Sex hat auch da eine Rolle gespielt,
zumindest im negativen Sinne. Kein Zweifel besteht für das Hausgesinde, daß der
„Herr Architekt“ seiner Stiefnichte nachgestellt habe. Von einem Bootsausflug
sei sie mit allen Anzeichen des Schreckens zurückgekehrt. Nicht als ob die
Sechzehnjährige einem Abenteuer unbedingt abhold gewesen wäre. „Aber sie hat
Grupen gehasst“, sagt einer der Angestellten. „Sie wußte, daß er ihr
nachstellte, um sie zu heiraten; schließlich besaß sie Millionen.“
Der schönen, kalten, hochmütigen
Sechzehnjährigen hat er nachgestellt, aber das bedeutet nicht, daß er bei
seinem Besuch auf Schloß KIeppelsdorf seine Geliebte zu Hause gelassen hätte.
Das ist Fräulein Mohr, die Wirtschafterin, die er aus seinem Haus in
Oldenbüttel bei Itzehoe mitgebracht hat.
„Haben Sie Ihre Beziehungen hier
fortgesetzt?“ fragt der Landgerichtsdirektor, den allmählich nichts mehr überrascht.
„Er hat noch in der letzten Nacht bei mir
geschlafen“, erwidert Fräulein Mohr nicht ohne einen gewissen Stolz.
Hat die Mordkommission genug gehört? Noch
lange nicht. Die Schilderung des letzten Abends vor dem Mord, der
Sonntag-Nacht, wie sie sich aus den Aussagen der Angestellten ergibt, gehört zu
den gespenstischsten Sittenbildern der Epoche.
Man hat Grammofon gespielt. Man saß im
Wohnzimmer. Draußen schneite es schon seit Tagen. Undurchsichtig waren die
Fenster, gezeichnet von Eisblumen. Der große Kachelofen glühte rot. Tanzplatten
wurden aufgelegt. Nur wenn eine ablief, hörte man das Fallen der Schneeklumpen.
Peter Grupen wollte mit Dorothea tanzen. Sie
gab ihm einen Korb.
„Bin ich dir zu gering?“ fragte Grupen.
„Du bist mir widerlich“, sagte das Mädchen.
„Ich habe schon mit feineren Damen getanzt“,
sagte der Mann.
„Deine Berührung ist mir ekelhaft“, sagte das
Mädchen.
„Deine Großmutter ist eine feinere Dame“,
sagte Grupen.
Und dann forderte er die
Fünfundsiebzigjährige zum Tanz auf.
Ursula und Dorothea saßen am Ofen und sahen
den beiden zu. Draußen ging jemand über das Eis. Das Eis krachte. Die Schallplatte
intonierte einen „Schimmi“, den Tanz der Saison, den Tanz der „Schieber“-Welt.
Der „Architekt“ und die Greisin tanzten. Die
kleine Frau verschwand in dem Arm des vierschrötigen Mannes. Mit ihren schmalen
Greisenhänden hielt sie sich an dem leeren Ärmel seines linken, verlorenen
Armes fest. Grupen ließ sie nicht los.
„Schau, wie deine Großmutter tanzt“, rief
Grupen mit gerötetem Gesicht seiner Stiefnichte zu. Die kleine alte Frau
blickte zu dem Mann empor, dem Mann ihrer Tochter. Um ihren Mund, in dem die
Runzeln zusammenliefen wie Flüsse in einem See, spielte ein seliges Lächeln.
„Peter ist ein großartiger Tänzer“, sagte die
Greisin. Sie keuchte. Die Schallplatte hatte eine beschädigte Stelle. Idiotisch
wiederholte sie die Refrain-Zeile: „Du kannst alles von mir haben. ..alles von
mir haben. ..alles von mir haben. ..“ Es war der Song der Saison. Peter Grupen
hörte nicht auf zu tanzen. „Alles von mir haben. ..alles von mir haben. ..“
wiederholte er lachend. So hätte er weitergetanzt, die halbtote Greisin im Arm,
wäre Dorothea nicht mit einem Aufschrei aus dem Zimmer geeilt, hätte sie nicht
die Tür hinter sich zugeschlagen.
Um ein Uhr morgens läßt der
Ermittlungsrichter den „Architekten“ Grupen noch einmal kommen. „Herr Grupen“,
sagt er mit seiner ungewöhnlichen Höflichkeit, „- wir haben hier eine Aussage,
wonach Sie zu Frau Eckardt kurz nach der Entdeckung gesagt haben sollen: „Du
bist jetzt die Herrin des ganzen Vermögens.“
Haben Sie das gesagt?“
„Nichts dergleichen“, erwidert Grupen,
sichtlich schon in der Verteidigung.
„Aber es ist doch richtig, daß Frau Eckardt
das gesamte Vermögen der ermordeten Rittergutsbesitzerin erben würde?“
„Wahrscheinlich.“
„Richtiger“, meint der Landgerichtsdirektor
ruhig, „- zunächst käme Ihre Frau an die Reihe. Sie ist die Schwester der
Mutter Fräulein Rohrbecks. Frau Eckardt wäre nur die Erbin, wenn eindeutig
festgestellt werden könnte, daß Ihre Frau tot ist. Irre ich mich, wenn ich
sage, daß das nicht der Fall ist?“
Grupen beobachtet den Ermittlungsrichter mit
zusammengekniffenen Augen. Dr. Dubiel hat erstaunlich rasch gearbeitet.
„Sie wissen genau, daß meine Frau
durchgegangen ist“, sagt der „Architekt“. Der Landgerichtsdirektor nickt. „Sie
soll vor einigen Jahren spurlos verschwunden sein.“
„Sie ist durchgegangen.“
„Hat sie einen Brief hinterlassen?“
„Nicht an mich. Aber an Freunde.“
Wieder Briefe, denkt der Ermittlungsrichter.
Briefe einer Verschwundenen. Der Brief einer „Selbstmörderin“. Das Wort
„Hypnose“ geht ihm durch den Kopf.
„Haben Sie Nachforschungen nach Ihrer Frau
anstellen lassen ?“ fragt er.
„Nein. Ich war froh, daß sie fort war.“ Der
Mund Grupens verzieht sich zu einem Grinsen.
„Merkwürdig“, meint Dr. Dubiel. „Ihrer
Schwiegermutter sagten Sie, daß Sie einen Privatdetektiv auf ihre Spur gesetzt
haben.“
„Ich mußte die alte Frau beruhigen.“ Grupen
erhebt sich, geht im Zimmer auf und ab. „Ich dachte, Sie wollten den Tod der
beiden unglücklichen Kinder aufklären“, sagt er ungeduldig.
Geduldig nickt der Landgerichtsdirektor.
„Sagen Sie, Herr Grupen“, meint er, „sind Sie eigentlich ein guter Schütze?“
Grupen blickt auf den leeren Ärmel hinab:
„Wollen Sie mir vorwerfen, daß ich im Krieg gewesen bin? Wir haben schießen
gelernt, bei Verdun.“
„Der Revolver, mit dem die Tat ausgeführt
wurde, hat Ihnen gehört?“
„Was bedeutet das? Natürlich hat er nicht der
armen Ursel gehört“
„Hat sich Ihre Stieftochter je als
Scharfschützin betätigt?“
„Davon weiß ich nichts.“
Dr. Dubiel befragt jetzt Grupen nach dem
Verhältnis der beiden Mädchen. Grupen setzt sich nieder; er scheint sich
beruhigt zu haben. Er entwirft ein häßliches Porträt der jungen Rittergutsbesitzerin.
Dem Landgerichtsdirektor ist es klar, daß
hier zwei Gesellschaftsschichten aufeinander gestoßen sind. Die deutsche
Demokratie ist jung, sie steckt noch in den kleinsten Kinderschuhen. „Rittergutsbesitzerin“.
Das ist ein Wort aus einem alten Wörterbuch. Bald werden die Seiten des
Wörterbuches vergilben. Bald wird sich niemand mehr „Rittergutsbesitzer“
nennen. Aber noch ist es nicht soweit. Noch flößt das Wort dem ehemaligen
Maurerpolier einen heiligen Respekt ein - oder auch einen unheiligen.
Wahrscheinlich hat er recht, wahrscheinlich hat die sechzehnjährige
„Rittergutsbesitzerin“ die Nase hoch getragen. Sie hat herabgeblickt auf den
Mann ihrer verschwundenen Tante, diesen falschen Architekten, der allzu
modische Anzüge, allzu laute Krawatten und schlechte Schuhe trug - die Eleganz
der Neureichen reicht nie zu den Schuhen. Sie hat nicht zugeben wollen, die
junge Rittergutsbesitzerin, deren Vater selbst von „unten“ gekommen war, daß
die Grupens die Welt von heute repräsentieren, diese Welt des schnellen Geldes,
der schnellen Autos, der schnellen Abenteuer und der schnellen Bankrotte.
Sie hat meine Stieftochter nie als ebenbürtig
behandelt“, sagt Grupen. „Dabei ließe sich manches über ihren eigenen
Lebenswandel sagen. Aber. ..“ -sein LächeIn verrutscht wie eine schlecht.
gebundene Krawatte - „aber nichts Schlechtes über die Toten!“
„Nein, nichts Schlechtes über die Toten“,
nickt der Landgerichtsdirektor .
Inzwischen haben die Polizeiarzte ihre
Untersuchung beendet. Durch Zufall befindet sich unter den Ärzten ein
Schriftsachverständiger, der wiederholt auch von den Gerichten bei graphologischen
Gutachten zugezogen wurde.
Der Sachverständige läßt sich beim Ermittlungsrichter
melden, der sein Verhör mit Grupen unterbricht.
„Ich habe mir einige Briefe von Ursula
vorlegen lassen“, sagt der Arzt, „und habe sie mit den Schriftzügen des „Abschiedsbriefes“
verglichen. Es besteht für mich kein Zweifel, daß der Brief an die Großmutter
von Ursula Schade stammt.“
Dr .Dubiel antwortet nicht. Schon war er
überzeugt gewesen, daß er nach wenigen Stunden den Mörder der beiden Madchen
gefunden hat. Nun scheint sein Befestigungswerk zusammenzubrechen. Das Wort
„Kindertragödie“ geht ihm durch den Kopf. Auch das ist ein Modewort dieser
zwanziger Jahre: Überall in Deutschland haben sich „Kindertragödien“ ereignet -
Morde, von Kindern begangen, Selbstmorde von Kindern.
Um drei Uhr morgens - es ist noch
stockdunkel- verläßt die Mordkommission Schloß Kleppelsdorf. Zurück bleiben
eine fünfundsiebzigjährige Greisin, die noch am Vorabend das Tanzbein geschwungen
hat, eine Wirtschafterin, die als die Geliebte ihres Herrn aufs Schloß gebracht
wurde, eine Erzieherin, deren Lippen während der Verhöre verschlossen waren,
und - der „Architekt“ Peter Grupen, der vielleicht als einziger das Geheimnis
von Schloß Kleppelsdorf kennt.
Zehn Monate später, am 5. Dezember 1921,
beginnt in Hirschberg in Schlesien der große Prozeß, der Deutschland bis knapp
vor Weihnachten in Atem halten soll.
Wenige Tage nach dem Mord hat sich die
Staatsanwaltschaft entschlossen, den Stiefonkel der Rittergutsbesitzerin
Dorothea Rohrbeck, Peter Grupen, unter dem Verdacht des zweifachen Mordes
verhaften zu lassen.
Peter Grupen hat die Tat nie gestanden, hat
sie im Gegenteil von der ersten bis zur letzten Stunde aufs heftigste
bestritten. Es handelt sich um einen reinen Indizienprozeß, in dem die Anklage
- entgegen den eindeutigen Feststellungen der Schriftsachverständigen - die Schuld
des „Schiebers“ Peter Grupen wird beweisen müssen.
An
einem sonnenhellen, aber bitterkalten Wintertag - so berichtet „Der
Bote aus dem Riesengebirge“ - beginnen
die Verhandlungen gegen Peter Grupen, den Angeklagten im Kleppelsdorfer Mordprozeß.
Langsam füllt sich der Schwurgerichtssaal. Auf einem Tisch vor der Anklagebank
liegen der Revolver, der am Tatort gefunden worden war, Revolvergeschosse, die
Leibwäsche der Dorothea Rohrbeck und der Ursula Schade und einige andere Beweisstücke
.
Den Vorsitz führt Oberlandesgerichtsrat Dr.
Krinke aus Breslau, ein verhältnismäßig junger, ungemein energischer Richter,
dessen Tonfall manchmal an den eines preußischen Offiziers erinnert. Die
Anklage wird von Oberstaatsanwalt Dr. Reifenrath, einem alten Herrn, vertreten,
dessen konziliante Manieren über seine außergewöhnliche Schärfe hinwegtäuschen.
Der Angeklagte hat sich zwei vorzügliche Anwälte verpflichtet: den jungen Dr.
Ablaß aus Hirschberg, wo auch die Verhandlung stattfindet, und den erfahrenen
Strafverteidiger Dr. Mamroth aus Breslau.
Die Geschworenenbank sieht anders aus als die
meisten solcher Volkstribünen. Fast alle zwölf Geschworenen sind mehr oder
weniger wohlhabende Kaufleute, unter den Geschworenen befindet sich auch der
schlesische Großgrundbesitzer Graf Saurma-Jeltsch von Schloß Wilhelmsburg, der
Bankdirektor Beckert aus Hirschberg sowie Oberstleutnant Dulitz aus
Cunnersdorf.
Schon wenige Minuten, nachdem der Angeklagte
zum erstenmal vorgeführt worden war, wird den Gerichtssaalreportern - sie sind
zu Dutzenden erschienen - klar, worauf die Anklage hinaus will.
Der Staatsanwalt stellt den Antrag, einen
oder mehrere Sachverständige für Suggestion und Hypnose einzuvernehmen. Er
erklärt: „Die ermordete zwölfjährige Ursula Schade hat unter dem hypnotischen
Einfluß ihres Stiefvaters gestanden.“
Der Verteidiger legt Protest ein.
Vorsitzender Dr. Krinke und seine beiden Beisitzer ziehen sich zur Beratung
zurück. Soll ein Sachverständiger für Hypnose zugelassen werden? Gleich zu Beginn
des Kleppelsdorfer Mordprozesses wirft sich also diese Frage auf, sogleich
spielt sie eine entscheidende Rolle: Hier schon erweist sich die Einzigartigkeit
der Verhandlung gegen den „Architekten“ Peter Grupen. Vorerst freilich
beschließt das Gericht, keinen Sachverständigen zu vernehmen.
Ein zweites ungewöhnliches Element: Hier
handelt es sich um einen Indizienprozeß, bei dem ein einziges Entlastungsindiz
vollkommen genügen würde, um den Freispruch des Angeklagten - mögen sonst alle
Indizien gegen ihn sprechen - sicherzustellen. Im Laufe der Verhandlung wird
der Abschiedsbrief, den die ermordete zwölfjährige Ursula Schade hinterlassen
hat, vorgelesen - diesmal im Wortlaut. Der Brief:
Liebe
Großmutti!
Sei mir
nicht böse, daß ich Vati den Revolver aus dem Schreibtisch genommen habe. Ich
will Dir helfen. Du sollst Dich nie mehr an Dörte ärgern. Als Vati Onkel
Wilhelm das zeigte, habe ich zugesehen, wie es gemacht wurde, da habe ich ihn
mir nachher heimlich mitgenommen. Es grüßt Dich und Vati, Ursel.
In der Voruntersuchung haben die
Sachverständigen den Brief der „Mörderin“ und „Selbstmörderin“ Ursel eindeutig
identifiziert: Von einer Fälschung kann keine Rede sein. Hat aber Ursel den
Brief geschrieben - wie sollte dann gegen Grupen die Anklage auf Mord aufrechterhalten
werden? Nur auf eine Art. Die Anklage wird beweisen müssen, daß die
Zwölfjährige den Brief unter dem Einfluß - vermutlich unter dem hypnotischen
Einfluß - ihres Stiefvaters geschrieben hat.
Staatsanwalt Dr. Reifenrath weiß, daß mit
diesem Beweis die Anklage steht oder fällt.
Durch tiefen Schnee sind die Zuschauer zum
Gerichtsgebäude von Hirschberg gewatet: Jetzt ist der Saal voll besetzt. Das
gesamte Interesse wendet sich dem einarmigen Angeklagten zu, der von
Justizbeamten hereingeführt wird: ein gutgekleideter, selbstsicherer Mann, der
alle Fragen höflich und ruhig beantwortet. Im Grunde ein grauer Mensch, beinahe
ohne Eigenschaften. Ein Hypnotiseur, ein mehrfacher Mörder, ein
Sittlichkeitsverbrecher, ein Teufel? Dann jedenfalls ein Teufel in höchst
unauffälliger Verkleidung. Während des ganzen ersten Verhandlungstages scheint
es so, als wäre Peter Grupen nicht des Mordes an seiner Stiefnichte, der
Rittergutsbesitzerin Dorothea Rohrbeck, sowie seiner Stieftochter Ursula Schade
angeklagt, sondern als ginge es ausschließlich um das Verschwinden seiner Frau,
von der seit dem vergangenen September nichts gehört wurde.
Vorsitzender: Was ist am 19.
September geschehen.
Angeklagter: Meine Frau fuhr
nach Itzehoe. Ich habe sie zum Bahnhof gebracht.
Vorsitzender: War noch jemand
dabei?
Angeklagter: Ja, zwei
Dienstmädchen.
Vorsitzender: Aber diese sind
vorher ausgestiegen.
Angeklagter: Das ist richtig.
Vorsitzender: Wie war Ihre Frau
gekleidet?
Angeklagter: Sie hatte einen grünen
Hut auf. Ob sie einen Mantel hatte, kann ich nicht genau sagen. Ich habe angenommen,
sie wolle nach Kleppelsdorf fahren.
Vorsitzender: Sie haben sich aber
nicht weiter darum gekümmert, daß Ihre Frau nie in Kleppelsdorf angekommen ist;
Sie haben auch keine Anzeige erstattet. Was haben Sie gedacht?
Angeklagter: Daß sie mit ihrem
Geliebten davongegangen ist. (Bewegung im Saal. )
Vorsitzender: Wer war der
Geliebte Ihrer Frau?
Angeklagter: Ein Seifenfabrikant
namens Schultz, mit dem sie schon während ihrer ersten Ehe ein ehebrecherisches
Verhältnis unterhalten hat.
Vorsitzender: Ihre Ehe mit der um
dreizehn Jahre älteren Frau war also von Anfang an unglücklich?
Angeklagter: Nein, ich habe sie
anfangs geliebt.
Vorsitzender: Hatten Sie
materielle Interessen, sie zu heiraten?
Angeklagter: Nein.
Der Vorsitzende versucht jetzt, die
finanziellen Verhältnisse des Ehepaares vor dem Verschwinden Frau Grupens zu
klären - noch immer ist keine Rede von dem Mord auf Schloß Kleppelsdorf. Das
Verhör ergibt, daß Frau Grupen zwei Tage vor ihrem Verschwinden Hypotheken im
Werte von 52 000 Mark auf ihren Mann hat umschreiben lassen, daß sie ihrem Mann
unbeschränkte finanzielle Vollmacht erteilt hat, daß eine Gütertrennung
vorgenommen wurde. Auf die Frage, warum Frau Grupen das alles getan hat, wenn
sie ihren Mann verlassen und, wie Grupen behauptet, mit ihrem Geliebten nach
Amerika gehen wollte, weiß der Angeklagte keine plausible Antwort - vielleicht
wollte die Flüchtige ihre Kinder versorgt wissen. Dem widerspricht allerdings
die Tatsache, daß sich Frau Grupen, wäre sie noch am Leben, nach dem Tod ihrer
Tochter Ursula gemeldet hätte. In Wirklichkeit wurde von Frau Grupen nie wieder
etwas gehört; Es steht nicht einmal fest, ob sie den Zug in Itzehoe jemals
bestiegen hat.
Auch als sich das stundenlange Verhör endlich
den Ereignissen im Schloß zuwendet, ist vorerst nicht vom Mord die Rede. Grupen
wird über sein Verhältnis zu Dorothea Rohrbeck vernommen.
Die Beziehungen des noch nicht
dreißigjährigen „Architekten“ zu der sechzehnjährigen Rittergutsbesitzerin
scheinen unter dem „Erlkönig“-Motto „Und bist du nicht willig, so brauch' ich
Gewalt“ gestanden zu haben. Mit einer um dreizehn Jahre älteren Frau
verheiratet, hat Grupen um die Erbin geworben, die um ungefähr ebenso viele Jahre
jünger war als er selbst.
Dem Angeklagten, der diese Werbung
bestreitet, werden Briefe Dörtes vorgehalten, in denen sie von den Heiratsabsichten
ihres Stiefonkels spricht. Auf der anderen Seite stehen die Aussagen der
Erzieherin, Fräulein Zahn, die behauptet, Grupen habe Dorothea gelegentlich
einer Kahnfahrt auf der Alster - sie waren zu dritt nach Harnburg gereist -
umzubringen versucht. Der Vorsitzende erklärt, nach dieser Aussage habe Grupen
versucht, das Boot absichtlich in die hohen Wogen eines Schiffes zu lenken,
habe auch ein Ruder weggeworfen; es sei ihm beinahe gelungen, beim
„Herausfischen“ des Ruders den Kahn umzukippen.
„Fräulein Rohrbeck“, sagt der Vorsitzende,
„hat sich zu einer ganzen Anzahl von Personen ausgelassen, daß der Vorgang keineswegs
harmlos gewesen sei. Sie will das sichere Gefühl gehabt haben, daß Sie ihr nach
dem Leben trachteten.“
„Ich kann nicht glauben, daß Fräulein
Rohrbeck so etwas gesagt hat“, erwidert der Angeklagte.
Und noch immer vermeidet der Vorsitzende, vom
Mordtag zu sprechen. Er gelangt nun zum Verhältnis zwischen Grupen und seiner
zwölfjährigen Stieftochter Ursula. Die Öffentlichkeit wird ausgeschlossen.
In der Voruntersuchung hat die Oberschwester
Emma Kube, die in der unmittelbaren Nähe des Schlosses lebt, Dorothea Rohrbeck
von deren Geburt an gekannt und sich bis zu deren Tod um sie gekümmert hat,
erklärt, man habe kurz vor dem Mord die kleine Ursula Schade zu ihr gebracht.
Sie habe festgestellt, daß die Zwölfjährige an einer Geschlechtskrankheit
leide. Nach dieser Aussage wurde die Leiche des erschossenen Mädchens
gerichtsmedizinisch untersucht - man fand die Aussage Oberschwester Kubes
bestätigt. Eine Untersuchung Grupens ergab, daß er, der Stiefvater des Kindes,
an der gleichen Geschlechtskrankheit leidet - aller Wahrscheinlichkeit nach
hatte er also die Krankheit auf das Kind übertragen.
Grupen gibt das Sittlichkeitsverbrechen an
Ursula so wenig zu wie den Mord an den beiden Mädchen. Daß ihm die Geschworenen
keinen Glauben schenken, ist indes nicht verwunderlich, denn im Laufe des
Prozesses bestätigt sich, was schon die Voruntersuchung an den Tag gefördert
hat:
Daß Grupen während seiner Ehe mindestens ein
Dutzend Liebesverhältnisse unterhalten hat; daß er einmal gleichzeitig drei Geliebte
im Hause hatte, mit denen er Orgien feierte;
daß er mehreren Hausgehilfinnen, darunter
auch seiner letzten, am Mordtag anwesenden Wirtschafterin, die Ehe versprochen
hatte;
daß er versucht hat, sich nicht nur Dorothea
Rohrbeck, sondern auch deren Erzieherin, dem alternden Fräulein Zahn, zu
nähern, und daß er auch dieser Eheversprechungen gemacht hat;
daß er seinen männlichen „Charme“ sogar bei
der über siebzigjährigen „Großmutti“, der Bankierswitwe Eckardt, hat spielen
lassen;
daß sein „sexueller Appetit“, wie sich
Oberstaatsanwalt Dr. Reifenrath später ausdrücken soll, „unersättlich“ gewesen
sei - was übrigens seiner eigenen Aussage, er habe „die erotischen Bedürfnisse“
seiner Frau „nicht erfüllen können“, widerspricht.
Ein Zeit- und Sittenbild. Der Erste Weltkrieg ist vor nicht ganz drei
Jahren zu Ende gegangen. Es war die Zeit gewesen, von der Erich Kästner
schrieb: Wir haben die Frauen zu Bett gebracht, / Als die Männer in Frankreich
standen. / Wir hatten uns das viel schöner gedacht. / Wir waren nur
Konfirmanden. Und weiter: Dann gab es
ein bißchen Revolution / Und schneite Kartoffelflocken; / Dann kamen die
Frauen, wie früher schon, / Und dann kamen die
Gonokokken.
Es ist in der Tat eine männerlose Zeit: Der
Kleppelsdorfer Mordprozeß, in dem fast nur Frauen auftreten, ist ihr Symbol,
und der einarmige Peter Grupen, der mit kleinen Mädchen und alternden Frauen,
mit Damen der Gesellschaft und Hausgehilfinnen schläft, ist ihr Held.
Es ist eine Zeit, in der die Frauen schon
allein, aber noch nicht selbständig sind: Wenn Entscheidungen getroffen werden
müssen, klammern sie sich an den „übriggebliebenen“ Mann, und sei es auch, daß
es sich um einen Mann wie den ehemaligen Maurerpolier Peter Grupen handelt.
Es ist eine Zeit, in der selbst das bißchen
äußerliche Sicherheit, das Geld zu bieten vermag, ins Wanken geraten ist: Nicht
nur die Spekulanten spekulieren, sondern jeder „Besitzende“ versucht, das
unsichere Geld ins trockene zu bringen - die alte Bankierswitwe, ihre Tochter,
die sechzehnjährige Rittergutsbesitzerin: Und sie alle wenden sich um Rat an
den Emporkömmling, der nie etwas besessen hat und sich vielleicht gerade
deshalb im unsicheren Besitz zurechtfindet.
Nun - endlich - hören die Besucher des
Gerichtssaales zu Hirschberg die ersten Sätze, die unmittelbar mit der Tat am
14. Februar 1921 zusammenhängen.
Die Anklage muß zwei Punkte beweisen. Erstens
- ich habe es schon gesagt -: daß der „Abschiedsbrief“ Ursula Schades unter der
Suggestion des Angeklagten geschrieben wurde. Zweitens: daß sich Peter Grupen,
als die Tat geschah, wenigstens für einige Minuten aus dem Wohnzimmer entfernt
hat. Wenn Ursula Schade den „Abschiedsbrief“ aus eigenem Antrieb geschrieben
hat, hat sie sich und ihre Kusine umgebracht - Grupen kann also der Täter nicht
sein. Wenn sich Grupen während der Tat im Wohnzimmer - man nennt es auf Schloß
Kleppelsdorf das „Winterzimmer“ -befunden hat, kann er die Tat nicht begangen
haben. Alles andere - der Staatsanwalt weiß es am besten - sind Indizien von
größerer oder kleinerer Bedeutung: In Wirklichkeit geht es allein um diese
beiden Beweise.
Es scheint, als brächte die langwierige
Zeugenaussage der Erzieherin, Fräulein Zahn, die als erste vernommen wird, den
Prozeß nicht vorwärts. Die zweiundvierzigjährige „Mademoiselle“ betritt in
tiefer Trauerkleidung den Saal. Schon diese Kleidung soll zeigen, daß sie sich
als Mutter der ermordeten Rittergutsbesitzerin fühlt.
Fräulein Zahn hat sich während des Mordes in
einem anderen Teil des Hauses befunden und kann über Peter Grupens Aufenthalt
in den fraglichen Minuten nichts aus eigener Wahrnehmung aussagen. Ihre Worte
sind von der Liebe zu der ermordeten Rittergutsbesitzerin beherrscht: Madame
Rohrbeck zu sein, war der Traum der alternden Mademoiselle gewesen. Sie hatte
gehofft, daß Dorotheas Vater sie heiraten werde; ihr Leben war voll von Enttäuschungen
gewesen.
Während der ganzen Aussage vermeidet es die
Zeugin, Grupen anzusehen. Wenn von ihren Beziehungen zu dem einarmigen
„Architekten“ gesprochen wird, senkt sie die Augen. Sie ist sichtlich
erleichtert, als man sie nach den finanziellen Verhältnissen der Ermordeten
befragt, und sie ergeht sich in heftigen Angriffen gegen den Vormund, einen
gewissen Herrn Vielhack, der die Millionenerbin und deren Erzieherin ungemein
knapp hielt. Erst als der Vorsitzende Fräulein Zahn nach dem Verhältnis Grupens
zu anderen Frauen befragt, zeigt sich ein häßliches Feuer in den winzigen Augen
des knochigen alten Mädchens. Fräulein Zahn, von dem es heißt, es habe den
leichtsinnigen Vergnügungen ihrer Schutzbefohlenen zugestimmt, spricht gerne
vom Sex - der anderen.
Der Staatsanwalt, der annimmt, daß die
Großmutter der Ermordeten, Frau Eckardt, den Angeklagten entlasten wird, nimmt
Fräulein Zahn ins Kreuzverhör.
Staatsanwalt: Würden Sie das Verhältnis
zwischen dem Angeklagten und der alten Frau Eckardt als herzlich bezeichnen?
Zeugin (lebhaft): Das
Verhältnis war besonders herzlich. Ich habe ein solch inniges Verhältnis
zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn noch nie kennengelernt.
Staatsanwalt: Haben Sie gesehen,
daß der Angeklagte seine Schwiegermutter auffällig zärtlich gestreichelt hat?
Zeugin: Das Verhältnis war
jedenfalls ganz ungewöhnlich.
Staatsanwalt: Was wollen Sie
damit sagen?
Zeugin: Dörte hat mir
einmal gesagt, daß Grupen sie gefragt habe: „Was würdet ihr sagen, wenn ich
Großmutter heiratete?“
Angeklagter (aufspringend):
Einen solchen Unsinn kann Dörte nie gesagt haben.
Fräulein Zahn wendet sich von ihm ab. Man
sollte meinen, sie sei dem Angeklagten feindlich gesinnt. Doch ehe die
Erzieherin den Gerichtssaal verläßt, wartet sie mit einer Überraschung auf.
Sie habe, sagt sie, einen Brief gefunden, den
die verschwundene Frau Grupen am Tage vor ihrer mysteriösen Abreise an ihre
Nichte Dorothea geschrieben hat. Die Zeugin sucht in ihrer zerschlissenen
schwarzen Handtasche und händigt dem Vorsitzenden einen Brief aus, den dieser
verliest. Er lautet:
Liebe
Dörte!
Ich
sende Dir vor meiner Abreise nach Amerika noch einen Abschiedsgruß, und ich
wünsche Dir, daß sich Dein Leben in Zukunft sonnig gestalten möge. Es wäre wohl
das Beste ein lieber, guter Mann, der Dir mit Rat und Tat zur Seite steht. Nimm
Dir Onkel Peter als gutes Beispiel, der sehr viel verloren hat und jetzt viel
verlieren wird und dennoch alle Lebensstürme überwindet.
Die
herzlichsten Grüße von Deiner
Tante
Gertrud.
Der Angeklagte beginnt zu gestikulieren, der
Staatsanwalt protestiert, die Verteidiger verlassen ihre Bänke, die Geschworenen
beugen sich interessiert vor. Alle Zuschauer haben das Gefühl, daß Peter Grupen
in diesem Augenblick dem Freispruch ganz nahegekommen ist. Obwohl bisher keine
Anklage wegen Gattenmordes erhoben wurde, hat kaum jemand daran gezweifelt, daß
Peter Grupen seine Frau umgebracht und ihre Leiche verscharrt hat. Wenn das
unwahr ist und es muß doch wohl, da Gertrude Grupen tatsächlich insgeheim nach
Amerika gefahren ist, unwahr sein -, dann erscheint auch die Anklage wegen
Doppelmordes in neuem Licht, dann ist Grupen vermutlich auch an dem Tod der
beiden Mädchen im Schrankzimmer des Schlosses Kleppelsdorf unschuldig.
„Ich beantrage die Einvernahme eines
Schriftsachverständigen!“ ruft der Staatsanwalt.
„Wahrscheinlich hat auch Frau Grupen unter
„hypnotischem Einfluß“ gestanden!“ höhnt Verteidiger Dr. Mamroth.
„Ich bin unschuldig!“ schreit der Angeklagte.
In diesem Augenblick gehen die Lichter aus:
Der nachmittägliche Saal liegt in vollkommener Dunkelheit.
Es
herrscht die Stimmung eines Gottesgerichtes, schreibt mit provinzieller
Übertreibung die Lokalzeitung, der „Bote aus dem Riesengebirge“. Der Vorsitzende und die Justizbeamten
verständigen sich durch Zurufe. Endlich werden Petroleumlampen gebracht. In dem
spärlichen Licht, das sie verbreiten, wirkt alles gespenstisch. Die dunkle
Gestalt der Zeugin Zahn, welche die ganze Aufregung verursacht hat, ist wie ein
Schatten, kaum noch erkenntlich. In unheimlicher Stille wird die Verhandlung
fortgesetzt.
Sieht es im Augenblick so aus, als hätte sich
das Schicksal des Angeklagten wider alles Erwarten zum Guten gewendet, so führt
die Anklage schon wenige Minuten später einen harten Schlag.
Als Kronzeugin der Anklage erscheint ein noch
kaum elfjähriges Kind: Irma Schade.
Irma ist die zweite Tochter der
verschwundenen Frau Grupen aus deren erster Ehe. Sie ist die jüngere Schwester der
toten Ursula Schade und somit eine Kusine der toten Dorothea Rohrbeck.
Das Mädchen, schlicht gekleidet, züchtig und
wohlgesittet von Benehmen, erweckt den Eindruck eines ungemein aufgeweckten
Kindes. Wie beiden meisten frühreifen Kindern wechselt ihr Verhalten zwischen
erstaunlich „erwachsenen“ Redewendungen und gelegentlichen Rückfällen in
vollkommene Kindlichkeit.
Der Einvernahme Irmas geht ein Duell zwischen
Anklage und Verteidigung voraus. Der Staatsanwalt beantragt, Irma in
Abwesenheit Grupens zu vernehmen: Der Einfluß des Stiefvaters und sein
„stechender Blick“ könnten zu einer falschen Aussage führen. Der junge
Verteidiger Dr. Ablaß belehrt den Staatsanwalt über die „heutige Jugend“: Die
kleine Irma sei viel zu unabhängig, als daß die vom Staatsanwalt geschilderte
Gefahr bestünde. Oberlandesgerichtsrat Doktor Krinke entscheidet sich für den
Staatsanwalt: Grupen wird abgeführt, die Einvernahme Irmas findet in seiner
Abwesenheit statt.
Irmas Aussage kann von entscheidender
Bedeutung sein, weil das Kind wenige Minuten vor dem Mord mit seinem Stiefvater
im „Winterzimmer“ Mühle gespielt hat. Hat sich Grupen aus diesem Zimmer
entfernt? - keine Frage ist wichtiger, niemand kann sie besser beantworten als
die kleine Irma.
Irma, die kurz vor dem Mordtag mit ihrem
Stiefvater, ihrer Schwester und ihrer Großmutter nach Kleppelsdorf gekommen
war, schildert vorerst die Reise. Sie hatte den größten Teil der Reise
schlafend verbracht; ihr Kopf hatte im Schoß ihrer Schwester Ursula geruht.
„Hast du dabei etwas bemerkt“, fragt der
Vorsitzende, „daß Ursula etwas Hartes in der Tasche hatte?“ Und als Irma
verneint: „Hast du bei Ursula jemals einen Revolver und Patronen gesehen?“ Auch
das verneint das Mädchen.
Vorsitzender: Wer hat euren
Reisekoffer gepackt?
Irma: Die Großmutter.
Vorsitzender: Und wer hatte den
Schlüssel?
Irma: Der Vater. (So
bezeichnet sie ihren Stiefvater, den Angeklagten. )
Vorsitzender: Versuch jetzt, dich
ganz genau an den … an den Mordtag zu erinnern.
Irma: Ich erinnere mich
ganz genau. Ich bin mit Dörte zur Post gegangen. Auf dem Rückweg haben wir uns
Apfelsinen gekauft. Im Schloß ist Dörte sofort zu Fräulein Zahn ins Zimmer gegangen,
ich in das Zimmer, wo Vater mit der Großmutter und der Mohr saß. (Die Mohr ist
die Wirtschafterin und Geliebte Grupens, die er auf das Schloß mitgebracht
hatte.) Wir haben Mühle gespielt. Nach einer Weile hatte ich einen Apfel
gewonnen, der aber faul war. Er (Grupen) sagte mir, ich sollte ihn zum Abort
hinaustragen. Das habe ich getan und ihn dort weggeworfen.
Vorsitzender: Ist dir Herr Grupen
gefolgt, oder ist er im Zimmer geblieben?
Irma: Er kam hinter mir
her. Er ist dann draußen geblieben, und ich kam allein zur Stube zurück.
Ungeheure Bewegung bemächtigt sich des
Saales. Wenn die Aussage des Kindes zutrifft, wenn ihm das Gericht Glauben
schenkt, ist das Alibi des Angeklagten zusammengebrochen. Bezeichnend für die
Erregung ist die Tatsache, daß sich zum erstenmal ein Geschworener zu Wort
meldet. Er will wissen, ob Grupen das Kind mit dem Apfel tatsächlich „weggeschickt“
hat. Mit fester Stimme bejaht Irma diese Frage.
Nun nehmen die Verteidiger das Kind ins
Kreuzverhör. Wie kommt es, wollen die Advokaten Dr. Ablaß und Dr. Mamroth
wissen, daß Irma in der gesamten Voruntersuchung - sie war dreimal ausführlich
einvernommen worden - nie von der Abwesenheit Grupens gesprochen hat.
„Ich hatte es vergessen“, antwortet die
zehnjährige Zeugin. Schnell fügt sie hinzu: „Niemand hat es mir eingeredet.“
„Ich habe gar nicht behauptet, daß es dir jemand
eingeredet hat“, sagt der alte Strafverteidiger Dr. Mamroth. „Es ist aber sehr
merkwürdig, daß du überhaupt auf den Gedanken kommst.“
Der Vorsitzende, offenbar selbst verwirrt,
läßt den Angeklagten wieder in den Saal führen - während die eben erfolgte
Aussage des Mädchens vor Grupen verlesen wird, suchen die Augen des Angeklagten
die Augen seiner Stieftochter. Die Zehnjährige hält seinem Blick unverwandt
stand.
Verteidiger Dr. Ablaß verlangt, daß Irma
aufgefordert werde, vor ihren Stiefvater hinzutreten und ihre Aussagen zu
wiederholen. Der Staatsanwalt protestiert: „Nach der Strafprozeßordnung besteht
keine Verpflichtung für einen Zeugen, eine Aussage zu wiederholen.“ Mitten im
Streit der Erwachsenen, der über sie in heißen Wellen zusammenschlägt, beginnt
Irma bitterlich zu weinen. Der Vorsitzende wendet sich beinahe hilfesuchend an
den Gerichtspsychiater, um ihn zu befragen, ob er eine Gegenüberstellung
zwischen dem Angeklagten und dessen Stieftochter für angebracht hält. Der
Sachverständige verneint.
Die Kronzeugin wird entlassen. Das kleine
Gesicht verzerrt, die Mundwinkel zuckend, die Augen voll Tränen, verläßt Irma
den Gerichtssaal.
Im gleichen Moment flammen die elektrischen
Lichter wieder auf.
Nach § 121 des deutschen
Jugendgerichtsgesetzes muß das Gericht die Aussagen von Kindern einer besonders
kritischen Prüfung unterziehen. Indes stammt das Gesetz aus dem Jahre 1953 und
stellt, wie Dr. Max Hirschberg in seinem vorzüglichen Buch „Das Fehlurteil im
Strafprozeß“ auseinandersetzt, einen der wichtigsten Fortschritte in der
Gerichtsbarkeit dar. Als im Jahre 1921 in Schlesien über den „Mord auf Schloß
Kleppelsdorf“ verhandelt wurde, gab es noch keine solchen Gesetze. Die Aussage
der kleinen Irma Schade wog so schwer wie die Zeugenschaft jedes Erwachsenen.
Wie jeder erwachsene Zeuge, dessen Aussage
von ausschlaggebender Bedeutung ist, muß jetzt auch die Zehnjährige Spießruten
laufen. Stundenlang marschieren Zeugen auf, die über den Charakter des Kindes
Auskunft erteilen: Auf der einen Seite bescheinigen sie Irma Schade einen
tadellosen Charakter, auf der anderen Seite wird aus den alltäglichen
kindlichen Unartigkeiten ein schwerer Charakterfehler konstruiert, wird die
Lügenhaftigkeit der „Zeugin“ um jeden Preis bewiesen. Die Berliner „Vossische Zeitung“
spricht nicht mit Unrecht von dem dritten
Mord an einem Kind.
Durch zwei Zeugenaussagen hofft die
Verteidigung, das Gebäude der Anklage zu erschüttern: In beiden Fällen handelt
es sich um Frauen - die eine ist Marie Mohr, Wirtschafterin und Geliebte des
Angeklagten, die andere Frau Augusta Eckardt, seine greise Schwiegermutter.
Marie Mohr ist ein junges schlesisches
Bauernmädchen: blond, hübsch, pausbäckig, in einem eng anliegenden Kleid über
prallen Brüsten.
Grupen und die Mohr, man fühlt es sogleich,
gehören zusammen. Der ehemalige Maurerpolier, der es im Leben so weit gebracht,
der die Bankierstochter geheiratet und um die Rittergutsbesitzerin geworben
hat: er und die Magd sprechen trotzdem die gleiche Sprache. Wenn etwas die
Position des Angeklagten noch weiter verschlechtern kann, dann ist es die
übereifrige Loyalität, mit der das Dienstmädchen für ihren ehemaligen Herrn und
Geliebten eintritt.
Gleich zu Beginn ihrer Einvernahme teilt
Marie Mohr zwei neue Einzelheiten mit.
Zum ersten: Sie sagt, die kleine Ursel habe
sie eines Nachts im Schloß geweckt und aufgeregt gefragt, wo sich der
Bücherkarton befinde, den die Reisenden nach Kleppelsdorf mitgebracht hatten.
Das läßt den Schluß zu, daß Ursula den Mordrevolver im Bücherkarton verborgen
hatte.
Wichtiger ist die zweite Mitteilung.
„Am 9. oder 10. Februar“, sagt die Mohr, „hat
mir Ursel einen Brief an ihre Großmutter übergeben. Sie sagte, der Brief
enthalte „eine große Überraschung für Großmutti“. Am nächsten Tag forderte sie
den Brief zurück: Die Großmutter sollte ihn erst später erhalten.“
Die Aussage der Wirtschafterin vermittelt den
Eindruck, daß der Abschiedsbrief nicht nur tatsächlich von Ursula geschrieben
worden war, sondern daß sie sich des Inhaltes auch vollkommen bewußt gewesen sei.
Das ist ein Eindruck, den der Staatsanwalt
zerstören muß. „In welcher Stimmung befand sich Ursel, als sie Ihnen den Brief
übergab?“ fragt er die Zeugin.
„Sie war guter Stimmung“, gibt die Mohr zu.
„Sie hat also in bester Stimmung einen Mord
und Selbstmord ankündigen wollen“, spottet der Staatsanwalt.
Schon springt der Verteidiger Dr. Ablaß auf.
„Ist es nicht richtig, daß Ursel eines Nachts weinend an das Bett ihrer
Großmutter eilte?“
„Ja, das ist richtig“, erklärt die Zeugin.
Nun übernimmt Oberlandesgerichtsrat Dr.
Krinke wieder die Einvernahme. Er hält der Zeugin vor, daß sie ihre Aussage
eventuell beeiden müsse, daß es sich hier um „lebenswichtige Fragen“ handle.
Vorsitzender (mit erhobener
Stimme): Antworten Sie mit ja oder nein. Ist der Angeklagte der kleinen Irma,
als sie den Apfel nach dem Abort trug, nachgegangen?
Zeugin: Nein!
Vorsitzender: Hat der Angeklagte
das Mühlespiel mit Ihnen unterbrochen?
Zeugin: Ja, aber er hat das
Zimmer nicht verlassen.
Vorsitzender: Niemals?
Zeugin: Niemals!
Angeklagter (sich erhebend): Ich
bitte die Zeugin, keinerlei Rücksicht auf mich zu nehmen.
Zeugin: Ich nehme keine
Rücksicht. Ich sage die Wahrheit.
Vorsitzender: Was hat der
Angeklagte zu Ihnen gesagt, als er abgeführt wurde?
Zeugin: Ich solle die Wahrheit
sagen, dann werde sich seine Unschuld herausstellen.
Auch im Kreuzverhör des Staatsanwaltes bleibt
Marie Mohr bei ihrer Aussage, die einem perfekten Alibi des Angeklagten
gleichkommt. Damit widerspricht sie vollkommen der Aussage Irma Schades. Entweder
das Kind oder die Geliebte haben gelogen. Wird die Aussage der Großmutter, Frau
Augusta Eckardt, die Entscheidung bringen?
Die alte Frau betritt den Gerichtssaal. Wie
die meisten kleinen Menschen bewegt sie sich aufrecht; wie die meisten
Menschen, die das Alter gebeugt hat, versucht sie, das Alter zu beugen. Sie
geht an dem Angeklagten vorbei, zögert einen Augenblick, wirft ihm einen Blick
zu. Es könnte ein Lächeln gewesen sein,
schreibt der Gerichtssaalberichterstatter der „Vossischen Zeitung“.
Mit klarer Stimme schildert die über
fünfundsiebzig Jahre alte Frau die Bekanntschaft zwischen dem Angeklagten und
ihrer Tochter. „Sie haben sich mittels einer Heiratsannonce kennengelernt. Herr
Grupen hat sie wohl zum Scherz aufgegeben, meine Tochter hat sie wohl des
Scherzes halber beantwortet.“
„Ihr Schwiegersohn Schade war damals
natürlich schon tot?“ fragt der Vorsitzende.
Und als ob in diesem Mordprozeß selten eine
Antwort gegeben würde, die nicht ein neues, geheimnisvolles Problem aufwirft, antwortet
die Zeugin:
„Der Tod meines Schwiegersohnes Schade wurde
auf einen Unglücksfall auf der Jagd zurückgeführt, es hat aber auch eine
Untersuchung gegen den Seifenfabrikanten Schultz aus Perleberg stattgefunden,
der meiner Tochter Unterricht in der Buchführung erteilt hatte.“ Das Gesicht
der alten Frau verzerrt sich zu einem bösen Lächeln. „Herr Schultz war jener
Geliebte meiner Tochter, von dem Herr Grupen hier gesprochen hat.“
Der Vorsitzende läßt die Zügel der
Verhandlungsführung schießen. Er tut nichts, um zu verhindern, daß sich einer
der Verteidiger nach anderen Geliebten der verschwundenen Frau Grupen
erkundigt.
„Ja“, beantwortet Frau Eckardt eine seiner
Fragen, „sie hat auch mit dem Stabsveterinär Reske ein Verhältnis gehabt.“
Nachdem die Bankierswitwe solcherart die
verschwundene Tochter bloßgestellt, dem Ehemann und Stiefvater Grupen jedoch
ein vorzügliches Zeugnis erteilt hat, kommt sie auf das Verschwinden ihrer
Tochter zu sprechen. Daß sie sich mit dem Verschwinden Gertrudes „abgefunden“
hat, bezeichnet sie als „nicht weiter merkwürdig“, denn ihre Tochter habe
geradezu „die fixe Idee gehabt, eines Tages nach Amerika auszuwandern“. Das
alles bringt die Greisin mit ruhiger, fester Stimme vor.
Erst als sie den Mordtag schildern soll, wird
ihre Stirn schwach: Jetzt macht sie von dem Angebot des Vorsitz den, sie möge
auf einem Stuhl Platz nehmen, Gebrauch. „Ich muß Sie, Frau Eckardt, neuerlich
fragen, was man schon wiederholt gefragt hat“, sagt der Vorsitzende, „- können
Sie oder können Sie nicht beschwören, daß der Anklagte in den fragwürdigen
Minuten im Wohnzimmer gewesen ist?“
„Ich habe den Angeklagten«, antwortet die
Greisin - zum erstenmal gebraucht sie die Wendung „der Angeklagte“ - „nicht
ununterbrochen beobachtet. Es ist möglich, daß ich etwas eingenickt bin.“
Für den Staatsanwalt erscheint diese
Erklärung ausreichend. Auf seine in triumphierendem Ton vorgebrachte Frage, ob
sie lange genug geschlafen habe, so daß Grupen die Tat in der Zwischenzeit
hätte vollbringen können, antwortete sie ausweichend:
„Ich weiß nicht, ob und wie lange ich
geschlafen habe.“ Zögernd fügt sie hinzu: »Ursula traue ich die Tat auf keinen
Fall zu.“
Um den Eindruck dieser Worte zu verwischen,
ersucht der junge, energische Verteidiger Dr. Ablaß das Gericht, einen Brief zu
verlesen, den die alte Frau am 15. Februar an Wilhelm Grupen, den Bruder des
Angeklagten, gerichtet hat. In diesem Brief heißt es:
Ein
furchtbares Unglück kam über uns. Ursel hat aus Peters Schreibtisch den
Revolver mitgenommen und gestern nachmittag die Dörte und sich selbst
erschossen. Ist das nicht entsetzlich? Damit nicht genug, hat man Peter verhaftet,
da man der Ursel das nicht zutraut. In der Zeit des Unglücks waren wir mit Irma
oben im Wohnzimmer, was wir beide beschwören können. Also muß sich ja seine
Unschuld herausstellen.
Die Frage des Verteidigers, warum sie damals
beschwören zu können glaubte, daß sich Grupen aus dem Wohnzimmer nie entfernt
hat, jetzt aber von ihrem „Nickerchen“ spricht, kann Frau Eckardt nicht
beantworten. Gesenkten Hauptes verläßt sie den Gerichtssaal. Sie hat dem Alter
getrotzt - in einer einzigen Stunde hat das Alter sie unterworfen. Sie hat den
geliebten Schwiegersohn, diesen kraftstrotzenden jungen Menschen aus einer
anderen Welt, retten wollen; sie wollte zugleich das Andenken ihres Enkelkindes
retten. Man hat ihr vorgehalten, daß sie den Schwiegersohn gestreichelt, daß
sie mit ihm getanzt hat. Sie schleicht aus dem Saal, eine gebrochene kleine
Frau, eine Greisin.
Die Tatsache, daß sich nicht nur die Zeugenaussagen
der Stieftochter Irma und der Wirtschafterin Mohr widersprechen, daß auch die
Greisin, die Grupens Unschuld „beschwören“ wollte, nun, sich selbst
widersprechend, das Alibi des Angeklagten zerstört hat - das beweist, wie recht
der schon erwähnte Jurist Dr. Max Hirschberg hat, wenn er unter den „sechs
Hauptursachen der Fehlurteile“ die „unkritische Bewertung von Zeugenaussagen“
anführt.
Die fünf anderen sind: Unkritische Bewertung
des Geständnisses, unkritische Bewertung der Belastung durch den Mitangeklagten,
falsches Wiedererkennen, die Lüge als Schuldbeweis, unkritische Bewertung von
Sachverständigengutachten.
„Unkritische Bewertung von
Sachverständigengutachten“ - diese andere mögliche Fehlerquelle soll im
Kleppelsdorfer Mordprozeß eine entscheidende Rolle spielen.
Die ungeheure Verantwortung, die den
Sachverständigen jetzt in diesem Prozeß zukommt, ist nicht überraschend. Ich
habe gezeigt, wie schwierig es geworden war, das Alibi des Angeklagten Grupen einerseits
aufrechtzuerhalten, anderseits zu vernichten - von den damals im Wohnzimmer
Anwesenden „weiß“ die kleine Irma, daß sich Grupen entfernt hat; „ weiß“ die
Geliebte Mohr, daß er sich nicht entfernt hat - und die Großmutter Eckardt
„weiß“ zu verschiedenen Zeiten entweder das eine oder das andere. Und dabei
handelt es sich um einen einzigen Raum, in einem einzigen Haus, zu einer ganz
bestimmten Stunde!
Die Frage, die jetzt die Sachverständigen zu
entscheiden haben, sind auf eine einzige zusammengeschrumpft: Besitzt der
ehemalige Maurerpolier und falsche Architekt Peter Grupen hypnotische Kräfte?
Besitzt er sie nicht, dann hat seine Frau
tatsächlich einen echten Abschiedsbrief hinterlassen und ist vermutlich mit
ihrem Geliebten nach Amerika entflohen, möglicherweise mit einem Geliebten, der
zuvor ihren ersten Mann erschossen hat.
Besitzt Grupen hypnotische Kräfte, dann ist
es denkbar, daß der Brief der Verschwundenen unter seinem Einfluß geschrieben
wurde, dann ist es möglich, daß es sich bei einer kurz darauf aus der Alster
gefischten Wasserleiche tatsächlich um die ermordete Gertrude Schade gehandelt
hat.
Besitzt Grupen keine überwältigende
Suggestivkraft, dann hat Ursula Schade den Abschiedsbrief an die Großmutter aus
freien Stücken geschrieben, dann ist sie die „HeIdin“ einer der vielen
Kindertragödien dieser Zeit.
Besitzt Grupen aber hypnotische Macht, dann
kann er wogen, dann kann er die entsetzliche Tat selber ausgeführt haben.
Ein großer Teil der nächsten Zeugenaussagen
dreht sich - bevor noch die Sachverständigen selbst zu Wort kommen - um das
Wort „Hypnose“, das in dieser nach dem Übernatürlichen lechzenden kargen
Nachkriegszeit tatsächlich eine „hypnotische“ Wirkung ausübt. Wenn ein halbes
Dutzend Zeugen immer wieder vom „stechenden Blick“, von den „undurchdringlichen
Augen“ des Angeklagten sprechen; wenn eine Zeugin um die Entfernung des Angeklagten
bittet, weil sie „in seiner Anwesenheit willenlos“ sei; wenn das größte Gewicht
auf eine Aussage gelegt wird, wonach Grupen an spiritistischen Seancen
teilgenommen habe - dann glaubt man sich in diesen vorweihnachtlichen Tagen des
Jahres 1921, mitten im demokratisch-fortschrittlichen Deutschland von Weimar,
in das Mittelalter der Hexenverbrennungen zurückversetzt.
Besonders eifrig belastet den Angeklagten die
Lyzeallehrerin Fräulein Kiefert aus Itzehoe, deren Schülerin Ursula Schade
gewesen ist.
„Als einmal in der Stunde“, sagt die
Lehrerin, „von Hypnose die Rede war, erklärte Ursula, ihre Mutter kenne einen
solchen Hypnotiseur. Wenn der jemanden fest ansehe, dann müsse dieser machen,
was der Hypnotiseur von ihm verlangt.“
„Haben Sie Anhaltspunkte, wonach der erwähnte
Mann der Angeklagte gewesen sei?“ fragt der Vorsitzende.
„Ursula sagte nur auf mein Befragen, daß sie
wisse, wo der Mann „zu finden“ sei. Ich fragte sie, ob sie vor dem Mann Angst
habe. Sie antwortete: „Nein, wenn er die Augen abwendet, ist es vorbei.““
Belastend für den Angeklagten - belastend in
jenem indirekten Sinne, der in Indizienprozessen dennoch eine große Rolle
spielt - ist auch die Aussage eines Bekannten der verschwundenen Ehefrau, der
erklärt:
„Frau Grupen hat leidenschaftlich an
spiritistischen Sitzungen teilgenommen. Sie hat sich mir gegenüber „gebrüstet“,
ein ausgezeichnetes Medium zu sein, während es ihr Mann mit Herrn Müller-Czerny
in Hornburg aufnehmen könne.“
Auf die Frage des Vorsitzenden, wer denn
dieser Müller-Czerny sei, gibt der Zeuge eine sozusagen „für Schwächere“
bestimmte Antwort:
„Herr Müller-Czerny ist in ganz Deutschland
bekannt. Er kann Gelähmte heilen und Scheintote auferwecken. Hunderte
unglücklicher Menschen stehen auch in diesem Moment vor seinem Haus Schlange.“
Endlich, am 20. Dezember - der Prozeß hat
schon über zwei Wochen gedauert - kommen die Sachverständigen zum Wort, unter denen
der führende Experte für Hypnose, Geheimrat Professor Dr. Moll aus Berlin, die
Hauptrolle zu spielen berufen ist.
Die schweren Schneefälle haben die
elektrischen Leitungen in Mitleidenschaft gezogen: Immer wieder verdunkelt sich
der Gerichtssaal, immer wieder müssen die rauchenden Petroleumlampen
herbeigeschafft werden. Draußen ist die Luft eiskalt, aber klar. Vom
Riesengebirge weht ein scharfer Wind. Dennoch herrscht in Hirschberg vorweihnachtliches
Treiben. Auf dem Hauptplatz wird ein Christbaum für die Armen aufgestellt.
Kinder eilen, Schlitten hinter sich ziehend, von Schaufenster zu Schaufenster.
Der Heilige Abend naht: Auf dem Weihnachtsbaum-Markt werden die Bäume seltener
und schütterer.
In allen Restaurants, Cafes und Kneipen der
Stadt gibt es nur eine Frage: Ist der „Architekt“ Peter Grupen ein mit dem
„stechenden Blick“, mit „durchdringenden Augen“, mit „übernatürlichen Kräften“
ausgestatteter Mann, der seine Frau zu einem „Abschiedsbrief“ überredet und
ermordet, der einer Zwölfjährigen unter Hypnose einen anderen „Abschiedsbrief“
diktiert, der sich ein Dutzend Frauen durch Suggestion gefügig gemacht und
vielleicht sogar eine Fünfundsiebzigjährige seinem dunklen Willen unterworfen
hat? Ist er der Mörder seiner Stieftochter Ursula Schade und der
Rittergutsbesitzerin Dorothea Rohrbeck?
Die Kleinstadt lebt unter einer hypnotischen
Suggestion. Sie erwartet das Urteil nicht von Berufsrichtern und Geschworenen.
Der Sachverständige für Hypnose, der Geheimrat aus Berlin, wird das letzte Wort
sprechen.
Das Einzigartige im Prozeß gegen den
„Architekten“ Peter Grupen besteht eben darin, daß die wichtigsten Akteure
dieses Prozesses weder die Zeugen noch die Verteidiger und Staatsanwälte sind:
Die wichtigste Rolle im Kleppelsdorfer Mordprozeß spielen die Sachverständigen.
Man darf nicht vergessen: Wir befinden uns im
Jahre 1921. Just um diese Zeit begann jene geradezu abergläubische Verehrung
des „Fachmanns“, die uns auch heute noch beherrscht. Damals aber, mehr noch als
heute, erschien es geradezu unmöglich, daß sich der „Fachmann“, der
„Sachverständige< irren könne.
Gerade aus diesem Grunde sieht es am 6.
Dezember 1921 so aus, als müßten die Geschworenen den Angeklagten Grupen, trotz
aller belastenden Indizien, freisprechen. An diesem Tag nämlich tritt - noch
vor dem Fachmann für Hypnose - der bekannte Schriftsachverständige Dr.
Jeserich, eigens aus Berlin herbeigerufen, als Zeuge auf.
Vorsitzender: Halten Sie, Herr
Doktor, den sogenannten Abschiedsbrief Ursula Schades, den sie an ihre Großmutter
gerichtet hat, für echt?
Dr.
Jeserich:
An der Echtheit dieses Briefes ist vom graphologischen Standpunkt nicht zu
zweifeln. (Starke Bewegung im Saal. ) Zwischen anderen, zweifellos von der
kleinen Ursula geschriebenen Briefen und diesem Brief besteht eine Ähnlichkeit
bis ins kleinste.
Vorsitzender: Dieser Brief war
mit Bleistift geschrieben?
Dr.
Jeserich:
Ja.
Vorsitzender: Ein anderer Brief
Ursulas, den sie am gleichen Tag an eine Frau Barthel geschrieben und mit
„Deine traurige Ursula“ gezeichnet hat, war mit Tinte geschrieben?
Dr.
Jeserich
(gereizt): Das bedeutet nichts.
Vorsitzender (beharrlich): Ist
das Wort „traurige“ möglicherweise später hinzugefügt worden?
Dr.
Jeserich:
Nichts deutet darauf hin.
Vorsitzender: Herr
Sachverständiger, auf Grund Ihrer Erklärung in der Voruntersuchung muß ich Sie
fragen, ob der Brief gewisse Ähnlichkeiten mit der Grupenschen Schrift
aufweist? (Ärgerliches Gemurmel im Saal: viele Besucher empfinden die Frage als
Beeinflussung des Zeugen.)
Dr.
Jeserich:
Wenn der Brief gefälscht sein sollte, so hätte es sich bei dem Fälscher um
einen Künstler gehandelt, wie er mir in meiner dreiundvierzigjährigen Praxis
noch nicht Vorgekommen ist. Ich wiederhole: Der Brief stammt zweifellos von
Ursula Schade.
Vorsitzender: Sie haben auch den
Abschiedsbrief, den Frau Grupen angeblich vor ihrem Verschwinden geschrieben
hat, geprüft. Halten Sie ihn für echt?
Dr.
Jeserich:
Die Schrift Frau Grupens in diesem Brief stimmt mit ihrer Schrift in älteren
Briefen vollkommen überein.
Als nächster Sachverständiger wird Professor
Dr. Schneidemühl aus Berlin vernommen. Er bestätigt das Gutachten seines
Kollegen, ja fügt hinzu:
„Nur ein Fälscher von unglaublichem Genie
hätte beide Schriften mit solch täuschender Präzision nachahmen können.“
Immer größere Unruhe bemächtigt sich eines im
großen und ganzen gegen Grupen eingestellten Auditoriums, als sich der
Vorsitzende mit den Aussagen der beiden Entlastungszeugen nicht zufrieden geben
will. An beide Sachverständige richtet er die Frage, ob sie es für denkbar
halten, daß die Abschiedsbriefe Ursulas und Frau Grupens „unter suggestiver
Einwirkung“ geschrieben worden seien. Beide verneinen, und Professor
Schneidemühl spricht auch für seinen Kollegen, als er sagt:
„Selbst bei einem Brief harmlosesten Inhaltes
wäre der Schrift, wenn unter suggestiver Einwirkung zu Papier gebracht, eine
seelische Erregung anzumerken. Weder der Brief Frau Grupens noch der Brief der
kleinen Ursula zeigen aber die geringsten Merkmale seelischer Erregung.“
Der Staatsanwalt, der fühlt, daß ihm die
Felle wegschwimmen, versucht, aus dieser Bemerkung des Professors Kapital zu
schlagen. Zumindest der Brief Ursulas, so sagt er, hätte auch dann in einem
Zustand seelischer Erregung geschrieben werden müssen, wenn keine Beeinflussung
von außen stattfand: Schließlich wird in diesem Brief ein Mord und Selbstmord
angekündigt.
„Ich frage Sie nun ganz eindeutig“, greift
der Vorsitzende Dr. Krinke ein, „- halten Sie es für möglich, daß einer der
beiden Briefe unter Hypnose geschrieben wurde?“
Er halte es für unwahrscheinlich, erwidert
Professor Dr. Schneidemühl, daß beide Briefe unter hypnotischem Einfluß
geschrieben worden seien, obwohl anderseits solche Fälle nicht unbekannt sind.
„Ein in Hypnose versetzter dänischer
Student“, erklärte er, „hat, als man ihm suggerierte, Napoleon zu sein, dessen
Namenszug mit täuschender Ähnlichkeit zu Papier gebracht. Eine Identität der
Fälle besteht hier jedoch nicht, da ja der Angeklagte nicht die hypnotisierte
Person, sondern der Hypnotiseur gewesen sein soll.“
So entlastend die Aussage der beiden
Schriftsachverständigen gewirkt hat, so belastend äußert sich der Schießsachverständige,
Büchsenmachermeister Walter aus Löwenberg. Anhand von Zeichnungen, die im
Gerichtssaal auf einer schwarzen Tafel angebracht werden, will der
Schieß-Fachmann beweisen, daß sich Ursula Schade unmöglich selbst erschießen
konnte.
„Es steht für mich fest“, erklärt der
beleibte, rotwangige Mann mit Überzeugung, „daß der Täter, etwa in der Mitte
des Zimmers stehend, den ersten Schuß auf Dorothea Rohrbeck abgegeben, daß er
den zweiten auf die zur Zimmertür fliehende Ursula Schade abgefeuert und dann
nochmals auf die noch atmende junge Rittergutsbesitzerin geschossen hat. Daß
auf Ursula aus weiterer Entfernung geschossen worden ist als auf Dörte - das
unterliegt keinem Zweifel. Bei Ursula ist die Schädeldecke nicht durchschlagen
worden, sondern das Geschoß ist darunter steckengeblieben. Der Kopfschuß auf
Dorothea Rohrbeck ist aus geringer Entfernung abgegeben worden.“
„Wäre nach Ihrer Annahme“, unterbricht ihn
der Vorsitzende, „die kleine Ursula überhaupt fähig gewesen, den Revolver so zu
handhaben, daß sie sich selbst erschießen konnte?“
Mit dem Eifer eines Vorzugsschülers erwidert
Walter:
„Nach meinen Erfahrungen kann ein Mädchen
durch bloßes Zusehen beim Erklären einer Waffe - wie ja hier behauptet wurde -
die Waffe nicht gleich mit Sicherheit handhaben. Auch die Treffsicherheit kann
einem solchen Kind nicht zugetraut werden.“
Nun haben also zwei Gruppen von
Sachverständigen gesprochen. Nach den Erklärungen der einen ist der Angeklagte
unschuldig, da es unwahrscheinlich ist, daß er beide Abschiedsbriefe gefälscht
hat, oder daß sie unter seinem hypnotischen Einfluß geschrieben wurden. Nach
Erklärungen der anderen Gruppe von Experten aber ist Grupen schuldig, da Ursula
Schade den im „Großmutti-Brief“ angekündigten Mord und Selbstmord nicht
begangen haben konnte.
Werden die Geschworenen den Schrift- oder dem
Waffenkundigen mehr Glauben schenken?
Damit ist indes die Einvernahme der Fachleute
noch lange nicht abgeschlossen.
Zunächst werden die medizinischen
Sachverständigen gehört. Die beiden Kreis-Medizinalräte Dr. Peters und Dr.
Scholtz werden in ihren Gutachten von dem Breslauer Pro-
fessor Dr. Lesser unterstützt. Zwischen ihren
Ansichten besteht nicht der geringste Widerspruch. Alle drei Ärzte sind sich
darüber einig, daß - wie es der Professor zusammenfaßt - „die Mitwirkung einer
fremden Hand für erwiesen angesehen werden muß“.
„Gegen einen Selbstmord der Ursel“, resümiert
Medizinalrat Dr. Peters, „sprechen die Begleitumstände. Ursula hat, als auf sie
gezielt wurde, den Kopf erschreckt nach rückwärts geneigt. Der Schußkanal
zeigt, daß der Täter auf sie geschossen hat, als er in der Nähe der
zusammengesunkenen Dörte stand.“
Grupen, der sich während der Gutachten ruhig
verhalten hat, springt auf.
„Aber ich bin nicht der Täter!“ ruft er. „Ich
weiß nicht, wer der Täter ist!“
Seine Anwälte versuchen, ihn zu beruhigen,
versuchen auch, ihn am Weiterreden zu hindern. Schließlich ist die Verteidigung
auf die Voraussetzung aufgebaut, daß es einen „Täter“ gar nicht gäbe - Ursula
hat, wie sie es in ihrem Brief an die Großmutter ankündigte, zuerst ihre
Kusine, die hübsche Rittergutsbesitzerin, dann sich selbst getötet.
Die Heizung hat versagt: Im Gerichtssaal von
Hirschberg herrscht eisige Kälte. Der sportlich wirkende, forsche Vorsitzende
fröstelt, der alte Staatsanwalt fröstelt, der junge und der alte Verteidiger
frösteln. Das Publikum aber, das durch den tiefen Schnee des kalten Dezembertages
hierher gestapft war, hält beharrlich aus. Wer das „Glück“ hat, eine
Eintrittskarte bekommen zu haben, will die Einvernahme des Geheimrates
Professor Dr. Moll, des größten deutschen Sachverständigen auf dem Gebiet der
Hypnose, nicht versäumen.
Selbst dem um Unbefangenheit bemühten
Beobachter fällt es schwer, von der Persönlichkeit Professor Molls unbeeinflußt
zu bleiben. Schon sein Auftritt gleicht der ersten Szene jener großen
Darsteller, von denen man auf der Bühne viel gesprochen hat, noch ehe sie diese
betraten. Dem Geheimrat geht der Ruf der Unfehlbarkeit voraus. Er ist aus
Berlin in die Kleinstadt gekommen, ein Star unter Chargenspielern, überdies ist
Geheimrat Dr. Moll ein alter Herr, der jener Vater-Vorstellung entspricht, mit
der sich die Psychoanalyse immer wieder beschäftigt. Hoch gewachsen, hager, mit
einem Kranz weißer Haare um den kahlen Kopf, ein asketisches Gelehrtengesicht
mit einer Adlernase und schmalen Lippen - hier ist ein Mann, von dem man „das
letzte Wort“ erwarten darf. Wenn der Geheimrat im Laufe seiner Ausführungen -
er spricht beinahe während eines ganzen Verhandlungstages - immer wieder den
Ausdruck von der „suggestiven Persönlichkeit“ gebraucht, so bedarf es keines
besseren Beispieles: In ihm selbst hat sich die suggestive Persönlichkeit
verkörpert.
Während des Vortrages von Professor Dr. Moll
hat man zuweilen den Eindruck, daß sich der alte Herr keinen Deut um die
Gerichtsprozedur schert, deren wichtigstes Rad er jetzt ist. Er läßt sich vom
Vorsitzenden nur selten unterbrechen und fährt in seinen Erklärungen zuweilen
fort, ohne die an ihn gerichteten Fragen überhaupt zu beantworten. Er hat nicht
nur eine Meinung. Er hat ein Urteil gefällt.
Das Urteil lautet: Der Angeklagte Peter
Grupen ist schuldig.
„Über Hypnose bestehen vielfach ganz konfuse
Anschauungen“, beginnt der Geheimrat dozierend, als spräche er zu seinen
Hochschulhörern. Die Frage, ob Frau Grupen, ob die kleine Ursula von Grupen
„hypnotisiert“ worden seien, ist ohne Bedeutung. „Es gibt Menschen, deren
Suggestivkraft viel größer ist als die jedes Hypnotiseurs.“
Ist Grupen ein solcher Mensch? Professor Dr.
Moll bejaht es mit dem ganzen Gewicht seiner Autorität. „Ist es schon
ungewöhnlich“, meint er, „daß es einem Mann gelingt, seine Frau und zugleich
seine Schwiegermutter in gleicher Weise sich zu „unterwerfen“, so ist die
Fähigkeit Grupens, sich gleichzeitig einen ganzen Harem von Frauen gefügig zu
machen, noch weit ungewöhnlicher.“
„Sprechen Sie von der sexuellen Hörigkeit
dieser Frauen?“ wirft der Vorsitzende ein.
Ausnahmsweise scheint der Geheimrat die Frage
vernommen zu haben.
„Sexuelle Hörigkeit“, erklärt er, „kann sich
stärker auswirken als die vollendetste Hypnose. Sowohl Frau Grupen als auch
seine kleine Stieftochter Ursula waren dem Angeklagten zweifellos hörig.“ Zum
erstenmal schaltet der Professor eine Pause ein. „Der Abschiedsbrief, den
Ursula geschrieben hat, ist kein Abschiedsbrief, wie ihn ein Kind, das wir aus
den Aussagen kennen, aus freien Stücken schreibt. Dieser Brief wurde dem
Mädchen ebenso von Grupen diktiert, wie er seiner Frau vor deren angeblichen
„Flucht“ ihren Brief diktiert hat.“
Niemand, nicht einmal die Verteidiger
Grupens, wagen es, den Professor zu unterbrechen. Niemand erhebt sich, um zu
sagen, daß es nicht die Aufgabe des Sachverständigen für Hypnose sei, die
Indizien zu wägen, daß er aufgerufen wurde, um über hypnotische Einflüsse,
nicht über andere Zeugenaussagen zu urteilen. Geheimrat, Professor,
Sachverständiger - der typische deutsche Respekt vor Titeln, Fachleuten und
Gutachten lähmt das Gericht, lähmt auch die Gerechtigkeit.
Der Staatsanwalt wird nicht viel gegen den
Angeklagten vorbringen müssen - der Geheimrat sagt alles. Er betont, daß
„Selbstmord durch Erschießen beim weiblichen Geschlecht äußerst selten“ sei;
daß „der Angeklagte sich auf seine Suggestivkraft verließ, als er nach seiner
Verhaftung der Wirtschafterin Mohr zurief, „bei der Wahrheit zu bleiben“; daß
die „Mischung von Sexualität, Drohung und Suggestion vollkommen ausreicht, um
Kinder oder auch Erwachsene um ihren eigenen Willen zu bringen und sie zu
Handlungen, wie es die Abfassung dieser Abschiedsbriefe ist, zu bewegen“.
Nach dieser Aussage will sich der Geheimrat
mit einem kurzen Kopfnicken verabschieden -er scheint es kaum für möglich zu
halten, daß ihn jemand durch Fragen aus seinem festgefügten Konzept zu bringen
versuchen wollte:
In der Tat: Nur ein einziger Geschworener
richtet eine Frage an den Professor.
„Halten Sie es für möglich, Herr Geheimrat, daß
der stechende Blick des Angeklagten ein beachtlicher Faktor bei der
Beeinflussung schwacher Charaktere oder Kinder sein könne?“
Eine Frage aus den Hexenprozessen des
Mittelalters - sollte man annehmen. Aber der Universitätsprofessor aus Berlin
nickt bejahend:
„Dieser Ansicht bin ich.“
Die Aussagen der graphologischen
Sachverständigen sind vergessen. Der Rettungsanker pendelt im Leeren, trifft
keinen Boden. Hat es noch einen Sinn, Plädoyers zu halten? Tut man nicht besser
daran, hinauszueilen in die weihnachtliche Stadt, Einkäufe zu besorgen, einen
Christbaum zu kaufen, an den fetten Karpfen für den Festtagstisch zu denken?
Ja, man täte besser daran.
Nach der Aussage des Geheimrates wirken die
Plädoyers des Staatsanwaltes und der Verteidiger blaß und bedeutungslos. Nur
Justizrat Dr. Mamroth rafft sich zu einiger Beredsamkeit auf:
„Es ist die „vox populi“, die die
Verurteilung des Angeklagten fordert. Es ist menschlich begreiflich, daß man
einen Schuldigen haben möchte. Diese „vox populi“ ist aber das Gefährlichste,
das es gibt. Es ist ein Gespenst, das zerfließt, wenn man es mit der Hand
greifen will. ... Es sind hier Sachverständige aufgetreten, die nicht, wie sie
sein sollten, Gehilfen des Richters, sondern Gehilfen des Staatsanwaltes
geworden sind.“ Dr. Mamroth schließt: „Mit großen ZweifeIn kam ich hierher,
fand aber in meinem Kollegen einen Mann, der unbedingt von der Schuldlosigkeit
des Angeklagten überzeugt war. Diese Überzeugung hat sich auch bei mir im Laufe
der Verhandlung immer mehr gefestigt.“ Und es klingt beinahe wie verzweifelt,
als der Justizrat ausruft: „Werfen Sie auch die Überzeugung zweier ehrlicher
Anwälte in die Waagschale, und wägen Sie nicht zu leicht. Dann werden Sie zu
einer Verneinung der Schuldfrage kommen.“
Schließlich erhebt sich noch der Angeklagte
Peter Grupen. In primitiver Sprache, am ganzen Leibe zitternd, sagt er:
„Ich schließe mich den Ausführungen meiner
beiden Herren Verteidiger an. Ich will nur noch bemerken: Der Staatsanwalt
glaubt, daß ich das Eiserne Kreuz aIs Zugabe für meinen verlorenen Arm erhalten
habe. Er hätte während der zehnmonatigen Untersuchung genügend Zeit gehabt,
meine Militärpapiere einzusehen. Ich bin als Kriegsfreiwilliger für eine gute
Sache in den Krieg gezogen, und nun wird von der Anklage behauptet, ich soll
ein unschuldiges Kind getötet haben, ein Kind, das ich lieb hatte! Ich bin voll
und ganz unschuldig!“
Der Gerichtssaal ist beinahe vollkommen
dunkel, als sich die Geschworenen zur Beratung zurückziehen - das elektrische
Licht hat, vielleicht zum zehntenmal in diesem Prozeß, versagt.
Nur zwei Stunden beraten die Männer aus dem
Volke. „Der Bote aus dem Riesengebirge“ berichtet darüber am 21. Dezember 1921:
Das
Publikum richtete sich auf langes Warten ein. Man verkürzte sich die Zeit durch
lebhafteste Unterhaltung. Der Ernst des Ortes, des Augenblicks wurde vergessen.
Zeugen und Sachverständige rüsteten sich zur Abreise, die Justizbeamten
schafften die Beweisstücke aus dem Saale; nur der Totenschädel, an dem die
tödlichen Schüsse demonstriert worden waren, blieb auf dem Gerichtstisch zurück
wie ein in der Zeit der Feme selbstverständliches Menetekel.
Kurz
nach 3 Uhr hallte der schrille Klang der Glocke durch die Hallen: die Beratung
und Abstimmung der Geschworenen über ihr Votum war beendet. Die Volksrichter
wünschten es der Öffentlichkeit zu verkünden.
Der
Gerichtshof nimmt seinen Platz ein. Feierliche Stille. Die Geschworenen treten
ein, alles hält den Atem zurück - da beginnt der Obmann, Oberstleutnant Dulitz
aus Cunnersdorf: „Auf Ehre und Gewissen verkünde ich den Wahrspruch der
Geschworenen: Ist der Angeklagte, Architekt Peter Grupen aus Oldenbüttel,
schuldig, am 14. Februar 1921 in Kleppelsdorf bei Lähn einen Menschen, Dorothea
Rohrbeck, vorsätzlich getötet und die Tötung mit Überlegung, ausgeführt zu
haben? -Ja, mit mehr als sieben Stimmen.
Zugleich haben die Geschworenen den
Angeklagten Grupen des Mordes an Ursula Schade sowie der an ihr begangenen
Sittlichkeitsverbrechen für schuldig befunden. Niemand beachtet den Obmann, der
die Urteile verliest: Die gesamte Neugierde greift jetzt nach dem Angeklagten -
wie reagiert die Kreatur, deren Stunde geschlagen hat?
Grupen richtet sich auf:
„Ich verzichte von vornherein auf jede
Revision und auf ein Gnadengesuch. Der Wahrspruch der Geschworenen ist ein
Fehlspruch. Ich kann aber verstehen, wie die Geschworenen zu ihrer Auffassung
gekommen sind. Vielleicht wird doch der Tag kommen, wo das eine oder andere
sich aufklären wird.“
Dieser Tag ist bis heute nicht gekommen.
Im Deutschland von Weimar kannte die
Verfassung die Todesstrafe - sie hat übrigens die erste deutsche Demokratie
nicht vor dem Untergang gerettet.
Peter Grupen wurde im Januar des Jahres 1922,
kurz nach Weihnachten, hingerichtet.
(Anmerkung:
das ist absolut falsch! Peter Grupen hat letztendlich am 02. März 1922
Selbstmord begangen!)
Heute, da ich sämtliche Akten des
Kleppelsdorfer Mordprozesses mit Genauigkeit und Unbefangenheit geprüft habe -
auch heute vermag ich nicht zu sagen, ob es sich um ein gerechtes, ob es sich
um ein Fehlurteil gehandelt hat. In einem Prozeß, in dem sich der Schuldbeweis
vom ersten Tag an auf dem dünnen Eis der „Suggestion“ bewegt, läßt sich das
schwer beurteilen.
Ich halte es für wahrscheinlich, daß Peter
Grupen der Mörder der Rittergutsbesitzerin Dorothea Rohrbeck und seiner
Stieftochter Ursula Schade gewesen ist. Aber ich hätte ihn freigesprochen.
Nicht die Wahrscheinlichkeit zu prüfen,
sondern auf Grund der ermittelten Wahrheit zu urteilen, ist und bleibt die
Aufgabe der Richter aus dem Volke. Oder, wie es Alfred Kerr ausgedrückt hat: Du sollst nicht töten I So spricht der
Denker I Nicht nur zum Mörder I Auch zum Henker .
Herausgeber:
Stefan Großmann
Berlin
1921, 2. Jahrgang
LEHREN
VON KLEPPELSDORF
Angenommen, im Schlosse Kleppelsdorf wäre die
ländliche Ruhe niemals durch jene Schüsse gestört worden, die zwei jungen
Menschenkindern das Leben gekostet haben. Angenommen, der Besuch Peter Grupens
und seiner umfangreichen Familie bei Fräulein Rohrbeck hätte, wie sonst ein
solcher unerbetener Besuch, nach einem kühlen Abschiede mit der Abreise der
Grupens geendet. Fräulein Zahn und Dörte Rohrbeck wären in heiterster Laune vom
Bahnhof nach Hause gegangen, die Großmutter hätte noch im Zuge zu schimpfen begonnen
und Peter Grupen hätte sich eine Zigarre angezündet und darüber nachgedacht, ob
er mit dem ihm noch übriggebliebenen Gelde der Frau und der Großmutter in
Dollars und Devisen spekulieren oder sich ein neues Gut kaufen oder am Ende gar
das werden sollte, was er gelernt hatte, nämlich ein Maurermeister. Eine kleine
Spannung zwischen Verwandten, die einander nicht sehr mögen, wäre geblieben.
Kein Mensch sonst in der Welt hätte anders als durch Zufall etwas von der
Existenz des Schlosses Kleppelsdorf oder des Gütchens Ottenbüttel, am
allerwenigsten aber von den darin und außerhalb bestehenden Verhältnissen der
Familien Rohrbeck und Grupen erfahren. Es wären beide gutsituierte, angesehene,
ja vielfach beneidete Familien geblieben. Nicht das, was man mit einer
Nebenbedeutung „eine feine Familie“ nennt.
Dazu hat sie erst die bohrende, vor der
Erschließung geheimster Seelenkammern und verschlossener Schlafzimmer nicht
haltmachende Morduntersuchung gemacht. Ja, es ist ein wahres Unglück für eine
angesehene Familie, wenn sich plötzlich der ungeheure Apparat einer solchen
Untersuchung auf sie stürzt, mit tausend Augen und Mikroskopen ihr Dasein und
ihre Vergangenheit ableuchtet, jedes Wort und jede Seelenregung von Zeugen und
Sachverständigen abhorchen und auslegen läßt. Ohne diese Unternehmung wäre
Peter Grupen der strebsame, sympathische Invalide geblieben, der das Unglück
hatte, im Krieg den Arm und im tiefen Frieden die Frau zu verlieren, ein
trefflicher Stiefvater und achtungsvoller Schwiegersohn. Hier und da hätte man
vielleicht an seinen Liebeleien mit den verschiedenen Stützen und
Haushälterinnen Anstoß genommen, aber sich doch schließlich gesagt, daß einem
jungen Mann, den die Frau böswillig verlassen, Manches zu verzeihen sei. Die
alte Großmutter und Bankdirektorswitwe wäre weiterhin ein Gegenstand
allgemeiner Achtung und Verehrung geblieben. In Kleppelsdorf aber hätten
Fräulein Zahn und Fräulein Rohrbeck schlecht und recht, mit verschiedenen
Anleihen bei freigiebigeren Menschen, als es die Vormünder waren,
gewirtschaftet, bis Dörte über ihr Vermögen verfügt hätte. Wahrscheinlich hätte
sie dann irgendein Gutsbesitzer, Leutnant oder Referendar geheiratet und auf
Kleppelsdorf wäre eine neue Generation der alten, gutsituierten, angesehenen,
ja beneideten Familie herangewachsen.
Es ist, um nachdenklich zu werden. Wie viele
gute, angesehene Familien könnten es wohl vertragen, daß die erbarmungslosen
Scheinwerfer einer solchen Morduntersuchung in ihr Gefüge hineinleuchten? Man glaube
ja nicht, daß da sehr viel und schlimmes geschehen sein muß, um aus der guten
eine „feine“ Familie zu machen. Es ist wie ein böser Zauber: Alles erhält
verzerrte Linien, vergrößert und vergröbert sie, kleine Schuld, mit
Leichtigkeit übergangen und vergessen, wächst in das Riesenmaß des Verbrechens,
kleines Gefühl zur großen Leidenschaft, winzige Unterlassung zur schrecklichen
Sünde.
Wir sahen es ja: Grupen heiratete eine
wohlhabende, aber ältere Frau. Das ist normalerweise für einen armen Teufel von
Invaliden ein Glück, ein Haupttreffer, zumal die Frau sehr hübsch und elegant
ist. Es wird ihm und ihr äußerst übelgenommen. Bei ihm beweist es
rücksichtsloses Streben nach Reichtum, - das ist bei Anderen immer verächtlich
- bei ihr rücksichtslose Befriedigung hemmungsloser Sinnlichkeit. Und
Sinnlichkeit, bei Frauen festgestellt, verdrießt den klatschenden Bürger. Die
Frau hat schon früher nicht nur einen Mann, sondern auch einen Liebhaber gehabt.
In Perleberg einen Liebhaber! Es ist zwar nicht erwiesen, ob das bei Lebzeiten
ihres ersten Mannes war oder erst später, jedenfalls ist der Liebhaber aber
nicht wegzuleugnen. Doch es kommt noch viel schlimmer: ihre Mutter, die greise
Frau Eckert, hat um dieses Liebesverhältnis gewußt (als ob vierzigjährige Frauen
ihre Mütter um zu fragen pflegten, daß sie sich einen Freund halten dürfen).
Diese Mutter hat, als sie erfuhr, daß ihre Tochter mit einem Anderen nach
Amerika durchgegangen war, nicht sehr lange um sie getrauert und keine
übermäßigen Anstrengungen gemacht, ihren Aufenthaltsort zu erfahren. Wenn sie,
was doch anzunehmen ist, an dieses Durchgehen nach Amerika glaubte, war es nur
das Natürliche, daß sie sich keine Mühe gab, eine solche Tochter zurückzuholen
und daß sie ihren so gestraften, armen Schwiegersohn dafür desto mehr
bedauerte. Jeder hätte ihr Recht gegeben, wenn nicht … Ja, ihr Ansehen hätte
ebenso wenig gelitten, wie das der Familie, denn solche kleine Zwischenfälle
sind eben in jeder Familie unvermeidlich. Wir sind eben alle nur Menschen. Der
Eine geht nach Amerika, wie Frau Grupen, um sich dieses komische Land einmal
anzusehen, der Andere aus anderen, weniger unverfänglichen Gründen. Wenn zudem
niemand dabei geschädigt wird, ist dies eine durchaus erlaubte Reise. Auf die
Art der Familie zu schließen, weil eine Frau nicht mit ihrem Mann, sondern mit
einem Anderen durchgegangen ist und die arme, zurückgelassene Familie sich aus
Verzweiflung nicht umbringt, ist durchaus unangebracht. Aber glaubt einer, daß
die öffentliche Meinung jetzt, da so ziemlich bewiesen ist, daß Frau Grupen
garnicht nach Amerika ging, an ihrem Urteil über die Familie und die alte
Großmutter etwas ändern wird?
Man mache einmal den Versuch, sich irgendeine
gute, anständige bürgerliche Familie unter der akademischen Voraussetzung, daß
irgendeines ihrer Mitglieder auf schwer erklärbare Art ermordet wurde, zur
genauen Untersuchung vorzunehmen.
Oder nein, man versuche es nicht, man denke
nur durch, was man im Laufe der Jahre über den Mann, die Frau, die Söhne oder
Töchter gehört, geglaubt oder nicht geglaubt hat. Man stelle sich vor, was
hundert Nachbarn, Bekannte, Dienstboten gehört und gesehen haben wollen. Man
rechne sich aus, was die erregte Äußerung eines Vaters: „Den Jungen sollte man
erschlagen!“ für ein Gesicht bekommt, wenn fünf Jahre später der Junge wirklich
erschlagen wird. Oder was für einen Stoß die Familienehre erleidet, wenn man
erfährt, daß die erwachsene Tochter mit einem Mann, der zufällig nicht sie,
sondern eine andere geheiratet hat, einmal um zehn Uhr abends im Osten Berlins
gesehen wurde, obwohl sie in W. W. wohnte.
In einer Viertelstunde ließen sich hundert
Fälle erfinden, die mit einem Schlage aus einer feinen eine „feine“ Familie
machen. Wenn die Menschen das bedächten, würden sie vielleicht nicht so schnell
aber erheblich verständnisvoller miterleben. Und sie würden vor Allem dankbar
sein, daß das Schicksal es ihnen erspart hat, wider Willen und ohne ihre Schuld
einer so furchtbaren Untersuchung ausgesetzt zu werden.
M. Müller.
Deutsche
Strafrechts-Zeitung, 1922, Heft 1/2
Der
Mordprozeß Grupen.
Vom Landgerichtspräsidenten a. D., Geh.
Oberjustizrat Dr. K a r s t e n , Hirschberg.
Ein Strafprozeß, der weit über das
gewöhnliche Maß hinaus das lebhafteste Interesse erregt hat, spielte sich kürzlich
vor dem Schwurgericht in Hirschberg ab und endete nach einer vom 5. bis 20.
Dez. währenden Verhandlung mit der Verurteilung des Angeklagten Peter Grupen
wegen zweifachen Mordes und wegen Sittlichkeitsverbrechens, gegen welches
Urteil Grupen inzwischen Revision eingelegt hat. In der hiesigen Gegend
herrschte nach der Tat und während der Verhandlung eine ungeheure Erregung.
Der T
a t b e s t a n d ist folgender:
Auf dem dicht vor den Toren der kleinen Stadt
Lähn belegenen Gut Kleppelsdorf lebte als Besitzerin die jugendliche Dorothea
Rohrheck (gen. Dörte), seit 1914 Vollwaise, in der Hut und Pflege ihrer
Erzieherin, Frl. Zahn, die dieses Amt schon 9 Jahre lang zu Lebzeiten des
Vaters bekleidet hatte. Am 8. Febr. 1921 waren bei ihnen die mütterliche Großmutter
der Dörte, Frau Eckert, nebst ihren beiden Enkelinnen Ursula und Irmgard Schade
und einem Kinderfräulein Marie M., sowie der Stiefvater dieser Kinder,
„Architekt" Peter Grupen, Schwiegersohn der Frau Eckert (als Gatte ihrer
in erster Ehe mit dem Apothekenbesitzer Schade vermählt gewesenen Tochter
Gertrud, einer Halbschwester der verstorbenen Frau Rohrbeck) besuchsweise
eingetroffen. Am 14. Febr. mittags fand ein Dienstmädchen des Hauses Dörte
Rohrbeck und Ursula Schade, die sie zum Mittagessen rufen sollte, in einem
Zimmer des Erdgeschosses in ihrem Blute liegend vor. Dörte R., die zwei
Schußwunden aufwies, war bereits tot, die 13jährige Ursula lebte, mit einer
Schußwunde im Kopf, noch einige Stunden in bewußtlosem Zustande. Beide Kinder
waren noch kurze Zeit - höchstens 1/2 Stunde - vor dieser Entdeckung mit den
übrigen Hausbewohnern im oberen Zimmer zusammengewesen, und zwar Dörte bei Frl.
Zahn, Ursula im nebenliegenden Zimmer mit der Großmutter, Grupen, Irmgard und
FrI. M. Ursula hatte die Dörte aus dem Zimmer bei Frl. Zahn ohne Angabe eines
Grundes hinausgerufen, und beide mußten also zusammen von dort in das sog.
„Fremdenzimmer" hinuntergegangen sein. Grupen kam auf Grund der ersten
Ermittlungen der Polizei und des Amtsgerichts, welche am Spätnachmittage und in
der Nacht stattfanden, in den Verdacht der Täterschaft und wurde noch in der
Nacht vom Richter verhaftet. Dafür, daß irgendeine fremde Person als Täter in
Betracht kommen könne, hat sich im ganzen Laufe der 10monatigen Voruntersuchung
und in der Hauptverhandlung nicht der allerleiseste Anhaltspunkt, ja eigentlich
nicht einmal die Möglichkeit ergeben, so daß sogar Grupen selbst und seine
Verteidiger sich auf den Versuch beschränken mußten, die Vermutung zu
begründen, daß die Tat von der 13jährigen Ursula Schade begangen sei, die
zuerst die Dörte und dann sich selbst erschossen haben müsse. Ursula hat, was
wegen des anderen Verbrechens, wegen dessen Grupen verurteilt ist, gleich hier
Erwähnung finden möge, an einer Geschlechtskrankheit derselben Art gelitten, an
welcher auch Grupen früher erkrankt war und die sie nach Ansicht der ärztlichen
Sachverständigen nur auf dem Wege des Geschlechtsverkehrs erworben haben kann.
Grupen hat bis zum letzten Augenblick der Verhandlung seine volle Unschuld
behauptet, und seine beiden Verteidiger haben sie und nicht bloß das Fehlen
ausreichender Beweise verfochten.
Es ist von vornherein klar, daß ein solcher
Sachverhalt in psychologischer und kriminalpolitischer Hinsicht die Geschworenen
vor eine schwere Aufgabe stellt. Wenn sie den Angekl. in vollem Umfange
schuldig gefunden haben, so haben sie zwar, wie ich auf Grund fast
ununterbrochener Anhörung der Hauptverhandlung überzeugt bin, durchaus das
Richtige getroffen; selbst wenn sie aber dabei völlig frei gewesen sind von dem
Druck der "öffentlichen Meinung", die in der ganzen Gegend Grupen
sehr ungünstig war, so daß ein Verteidiger beweglich über "Massensuggestion
" klagte, so kann doch auch dieser Prozeß als ein die schweren Mängel des
Schwurgerichts beleuchtender gelten. Sensationelle Artikel der Tagespresse
schon von Beginn der Ermittelungen an sind verwerflich und ein im Wege der
Gesetzgebung kaum abstellbarer Krebsschaden des Schwurgerichts, ebenso der
Umstand, daß bei so langer Dauer einer Sache die Geschworenen zwischendurch mit
zahlreichen Unberufenen in Berührung kommen, wogegen allerdings die
englische a b s o l u t e A b s p e r r u n g der Geschworenen von der Außenwelt mir als
ein vorzügliches Mittel erscheint. Ich betone aber, daß in d i e s e r Sache allem Ermessen nach ein großes
Schöffengericht oder eine Strafkammer zu genau dem gleichen Ergebnis gelangt
sein würde, was aus den nachfolgenden Erörterungen vielleicht deutlich werden
wird.
Grupen, der im Felde den linken Arm verloren
hat, ist eine stattliche Erscheinung, bei der seine helle, etwas
"quäkige" Stimme überraschend wirkt. Er hat "keine Nerven"
und eine ganz ungewöhnliche Willensstärke, die ihn seine Mienen, die nie eine
Gemütsbewegung erkennen lassen, völlig in der Gewalt haben läßt und ihn
befähigt, jede Wendung der Verhandlung zu beherrschen, kurz ein Mann, dem man
die Taten recht wohl zutrauen kann. Der jetzt erst 27jährige setzte es, obwohl
einfacher, aus kleinen Verhältnissen stammender Maurer, mit eisernem Fleiß und
mit seinen guten geistigen Gaben nach dem Armverlust durch, eine
Baugewerksschule durchzumachen, nannte sich nach Abschlußprüfung vor derselben
"Architekt" und hatte den Erfolg, seinen Ehrgeiz und seinen heftigen
Drang, "reich" zu werden, durch die im Wege der Zeitungsanzeige
erreichte Verheiratung mit der um 12 oder 13 Jahre älteren verwitweten Frau
Gertrud Schade geb. Eckert, einer recht wohlhabenden Frau, einigermaßen zu befriedigen.
Diese Ehe schloß er unbeschadet der ununterbrochenen weiteren Befriedigung
seiner starken sexuellen Anlage, die ihn vor- und nachher zur Eingehung
zahlloser geschlechtlicher Verhältnisse trieb, die in einer Reihe von Fällen
zum Heiratsversprechen und sogar zu förmlicher "Verlobung" führten.
Auf seine Frau und deren Mutter, die alte Frau Eckert, gewann er so gewaltigen
Einfluß, daß beide bald nach der Hochzeit ihm nicht nur Generalvollmacht
erteilten, sondern erhebliche Vermögenswerte auf seinen Namen übertrugen.
Zahlreichste Zeugenaussagen bewiesen, daß Grupen besonders auf weibliche Personen
einen geradezu erstaunlichen Einfluß mit der Wirkung nahezu völliger
Willensausschaltung hatte. Von "hypnotischen" Experimenten, die er
dabei mit irgendjemandem gemacht hätte, ist dabei keine Rede, wohl aber von
einer von ihm ausgehenden starken suggestiven Kraft. In klarer und
überzeugender Weise hat dies der Sachverständige Geheimrat Dr. M o l l
dargelegt, dessen Feststellungen dem Hörer, in Verbindung mit vielen
Zeugenaussagen,
sich als durchaus bedenkenfrei aufdrängten.
Die M i t t e l , die Grupen erfolgreich besonders gegen
Frauen anwendet, um sich ihren Willen dienstbar zu machen, waren seine eigene
gewaltige Willensstärke, ein geschlechtlicher Anreiz, der viele Frauenspersonen
in ein von Moll als "sexuelle Hörigkeit" bezeichnetes Verhältnis
hineinzwang, und letztenfalls Bedrohungen, die in einzelnen Fällen bezeugt
wurden.
Durch seine Heirat war Grupen zu Dörte
Rohrbeck, als zweiter Ehemann der Halbschwester ihrer Mutter, in verwandtschaftliche
Beziehung gekommen. Der erste Eindruck, den er Dörte und Frl. Zahn machte, war
offenbar ein günstiger, zumal er sich ihnen hilfsbereit in Geldangelegenheiten
zeigte, in denen sie sich an ihn gewendet hatten. Das hatte folgenden
Zusammenhang: Dörtes Vater hatte außer dem Gute Kleppelsdorf einige Grundstücke
in Berlin-Tempelhof und ein Barvermögen von etwa 1 1/4 Mill. M. hinterlassen.
Er hatte zu Lebzeiten den Grundsatz befolgt, von den reichlich 40 000 M.
betragenden Zinsen des Barvermögens 1/3 zu verbrauchen, 1/3 in das stets Zuschüsse
erfordernde L u x u s g u t Kleppelsdorf zu stecken und 1/3 "auf
die hohe Kante zu legen". Der von ihm zu Dörtes Vormund bestellte
Hauptmann a. D. Vielhaack in Charlottenburg glaubte hieran festhalten zu
sollen. Bei der dauernd steigenden Teuerung der letzten Jahre begannen, zumal
nachdem die Zinsen nach Zahlung des über 600000 M. betragenden Reichsnotopfers
auf 28 000 M. herunter gegangen waren, die Barmittel, die er Frl. Zahn zur
Verfügung stellte, obwohl das Gros der Lebensmittel vom Gut in natura geliefert
wurde, nicht auszureichen. Auf die dadurch und durch den Umstand, daß Rohrbeck
in einem Nachtrag zu seinem Testament die Bestimmung über Erziehung und
Aufenthalt Dörtes Frl. Zahn "im Einverständnis mit dem Vormund" übertragen
hatte, entstandenen Streitigkeiten zwischen Frl. Zahn und dem Vormund kann hier
nicht näher eingegangen werden. Kurz: Frl. Zahn kam nicht aus (wobei
anscheinend die Schuld auf beiden Seiten lag) und begann, sich an Dörtes
Verwandte mit Darlehnsgesuchen zu wenden, u. a. auch an Grupen. Dieser weckte
in Frl. Zahn die Meinung, daß er ganz auf ihrer Seite stehe, begann aber, dem
Vormund eine schlechte Meinung über Frl. Zahns Erziehungsmethode beizubringen.
Dieses Doppelspiel gelangte durch Schriftsätze des Vormundes in den zwischen
beiden schwebenden Prozessen zu Frl. Zahns Kenntnis und erfüllte sie und Dörte
mit Mißtrauen gegen Grupen. Diese ganze Angelegenheit steht natürlich mit dem
Strafprozeß nur in ganz losem Zusammenhang, bei ihrer Erörterung aber mußte die
Stellungnahme des Vormundschaftsrichters in Lähn berührt werden. Die in der
Oeffentlichkeit sich entwickelnde Entrüstung über diesen Richter ist in diesem
Umfange unberechtigt. Keinesfalls sind Umstände hervorgetreten, welche Mängel
oder Lücken des Vormundschaftsrechts aufgerollt hätten. Es handelt sich einfach
darum, daß der Vormund engherzig und eigensinnig war und der Richter ihm, der
doch der Verantwortliche war, nicht hineingeredet hat, weil er Grund zu der
Ansicht hatte, Frl. Zahn wirtschafte nicht in der richtigen Weise. Die
Einzelheiten sind in der Verhandlung, die ja auch d a z u
nicht da war, n i c h t k l a r g e s t e l l t worden. Die Ausdrücke "Schloß",
"Schloßherrin", "Millionenerbin" sind irreführend.
„Schloß" heißt in Schlesien jedes Gutshaus auf Rittergütern, und das
Kleppelsdorfer hat nach keiner Richtung etwas Schloßartiges im anderwärts
üblichen Sinn; der Ausdruck "Millionenerbin" aber erweckt die
Vorstellung eines erheblichen Reichtums, wovon bei einigen 40000 und später
28000 M. Einkommen, wovon erhebliche Summen in das mit Unterbilanz arbeitende
Gut hineingesteckt werden müssen, zumal in den jetzigen Zeiten, nicht die Rede
sein kann.
Frl. Zahn und Dörte waren mehrfach bei
Großmutter Eckert und Grupen in Ottenbüttel, er wiederholt in Kleppelsdorf,
auch trafen sie sich in Berlin. F r a
u Grupen ist seit 19. Sept. 1920 auf
unerklärte Weise verschwunden; jede Nachricht von ihr fehlt seitdem und nur
sehr merkwürdige, weil jeder Gefühlsäußerung einer Mutter und Tochter, die in
der Absicht, nicht wiederzukommen, sich von ihren nächsten Angehörigen trennt,
entbehrende Briefe liegen vor, in denen sie sich verabschiedet und erklärt,
nach Amerika zu gehen. Diese Briefe sind nach Gutachten der
Schreibsachverständigen echt, aber nach dem des Prof. Schneidemühl, der dieses
be- sondere Gebiet seit Jahrzehnten bearbeitet, unter einer fremden
Willenseinwirkung geschrieben. Das mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls bat
Grupen den Aufenthalt der Frau zu ermitteln niemals wirklich versucht. Diese
Tatsache ist bezeichnend für ihn. Die Vermutung, daß er die Frau beseitigt hat,
liegt sehr nahe. Anklage in dieser Richtung war mangels objektiven Tatbestandes
- es ist bisher nicht feststellbar, ob sie am Leben ist - untunlich. Grupen hat
bei den Zusammentreffen mit Frl. Zahn und der noch nicht 16jährigen Dörte auch
diesen beiden Heiratsanträge gemacht. Beider Abneigung gegen ihn nahm zu, und
bei Dörte ging das so weit, daß sie zu Zeugen, zuletzt noch einige Stunden vor
ihrem Tode gegenüber ihrer mütterlichen Freundin, der Oberschwester des Lähner
Krankenhauses, der Befürchtung Ausdruck gab, er trachte ihr nach dem Leben.
Am 14. Febr. 1920 (Anmerkung: muss heißen „1921“) trat nun das furchtbare Ereignis
ein. Bei der Leiche der Ursula fand man in einer unter dem Kleide getragenen
Unterbindetasche ein Päckchen Patronen und einen Brief, links von ihrer Leiche
lag ein kleiner Revolver, unbestritten Grupens Eigentum. Der Brief war an
"Großmutti“, adressiert und von Ursula an mehreren Vorabenden ungeöffnet
dem Frl. M. mit der Bitte gegeben, ihn andern Morgens "Großmutti" zur
"Ueberraschung" zu geben, aber immer zurückgefordert worden. Auch
dieser Brief ist echt und besagt, "Großmutti" solle nicht böse sein,
daß Ursula Vatis Revolver aus seinem Schreibtisch genommen habe, Vati habe ihn
"Onkel Wilhelm" (Grupens Bruder) erklärt, als sie zufällig dabei gewesen
sei, und dann heißt es "Du sollst Dich nicht mehr über Dörte ärgern".
Da die Großmutter nicht immer zum besten mit Dörte gestanden habe, will Grupen
glauben machen, Ursula habe Revolver und Patronen in der Unterbindetasche auf
die Reise zu dem Zwecke der Tötung Dörtes mitgenommen. Dies soll gänzlich
verborgen geblieben sein, auch die 5 Kleppelsdorfer Tage hindurch, obwohl ein
Kind mit einer so beschwerten Unterbindetasche kaum laufen kann. Im Reisegepäck
hat niemand die Sachen entdeckt. In Grupens Handköfferchen, mit dem niemand
sonst sich befaßt hat, konnten sie natürlich sehr gut befördert werden. Ursula
war zwar ein leicht zum Weinen geneigtes und etwas schwermütiges Kind, aber
gerade in den Kleppelsdorfer Tagen sehr heiter, vergnügt und mit Dörte im
freundlichsten Verkehr.
Den Kernpunkt der Verhandlung bildete die
Erörterung, ob Grupen z. Zt. des Mordes das Zimmer verlassen hat, in dem er
sich mit Frau Eckert, Irmgard und Frl. M. noch aufhielt, als Ursula
hinausgegangen war, und auch verweilte, als die Bluttat entdeckt wurde. Alle 3
genannten Personen haben anfangs bekundet, dies sei nicht der Fall gewesen,
aber nur Frl. M. hat an dieser Aussage festgehalten. Frau Eckert dagegen hat
schon in der Voruntersuchung und dann in der HV. ausgesagt, sie habe allerdings
zuerst fest geglaubt, Grupen sei nie hinausgegangen, dabei aber angenommen, daß
es sich doch um eine Entfernung für mindestens 1/4 Std. gehandelt haben müßte,
nachdem sie aber erfahren habe, daß man zum Mordzimmer hin und zurück nur 59
Sekunden brauche und die Tat selbst in ganz wenigen Minuten hätte ausgeführt
werden können, müsse sie sagen, dann sei es doch wohl möglich, weil sie Grupen
nicht unausgesetzt beobachtet habe, vielleicht auch mal beim Stricken kurz
eingenickt sei. Die 11jährige Irmgard aber machte in der HV. die ganz spontane
Bekundung, sie habe, weil nicht danach gefragt, vergessen zu sagen, daß ihr
Grupen, als sie auf seinen Rat aus dem Zimmer gegangen sei, um Apfelschalen
oder einen schlechten Apfel ins Klosett zu werfen, in das anstoßende
Schrankzimmer gefolgt sei - wie weit und wohin er sich von dort gewendet habe,
wisse sie nicht. Die Unsicherheit der "Beobachtung" durch Zeugen wird
durch diese Angaben in helles Licht gerückt, zumal bei einer ganz alten Frau
und einem Kinde, und die Bekundung des Frl. M. kann hinsichtlich ihrer
unausgesetzten "Beobachtung" G.s auch nicht höher gewertet werden als
die der anderen Zeuginnen. Der "Alibi-Beweis" war jedenfalls gewiß
nicht gelungen, und zwar um so weniger, als bald nach der Entdeckung G. geäußert
bat: "Es ist nur gut, daß ihr alle wißt, daß ich das Zimmer nicht
verlassen habe", eine Bemerkung, deren suggestive Kraft für die in seinem
Bann stehenden Zeuginnen um so wahrscheinlicher ist, als er ihnen noch bei
seiner Festnahme und Abführung zurief: "Bleibt nur bei euren
Aussagen!" Daß er aber Frau Eckert, Irmgard und Frl. M. in seinem
„Banne" hatte, ist wohl keinem Hörer der HV. zweifelhaft geblieben: Irmgard war ein Kind, das in ihm bis
dahin den guten "Vati" verehrte, der sogar allabendlich mit ihr,
Ursula und der Pflegeschwester Ruth zu beten pflegte; Frau Eckert, eine
altersschwache 76jährige Frau, die nach eigener Aussage ihm blind vertraute und
durch Erteilung der Generalvollmacht und Vermögensabtretungen sattsam gezeigt
hat, wie ungeheuer sein Einfluß auf sie war; Frl. M. aber stand zu ihm in dem
von Prof. Moll als "sexuelle Hörigkeit" bezeichneten Verhältnis:
obwohl erst seit dem 1. Dez. 1920 in seinem Hause, hatte sie, der er die Ehe
versprochen, mehrfach mit ihm geschlechtlich verkehrt, u n d
z w a r z u l e t z t -
möglicherweise zweimal in d e
r N a c h t vom 13. zum 14. Febr. und das im selben
Zimmer, wo Ursula schlief und in das er sich ausnahmsweise für diese Nacht
einquartiert hatte!
Und nun die Sachverständigenvernehmungen über
den Leichenbefund und die Aussagen des Schießsachverständigen: Die Auslassungen
des letzteren über den vermutlichen Standort des Täters bekämpfte G. in
sichtlichem Aerger und ließ sich dabei zu der von Presse und Publikum kaum
beachteten Bemerkung hinreißen: "wenn ich der Täter wäre, müßte ich doch
am besten wissen, wo ich gestanden habe" - ich muß es jedem überlassen,
diese Aeußerung zu werten! Von da ab verweigerte er für den ganzen Rest der
Beweisaufnahme jede sachliche Erklärung. Der Kreismedizinalrat Dr. Peters aus
Löwenberg legte sodann unter Vorführung von die Schußverletzungen zeigenden
Lichtbildern dar, daß die Schüsse aus mindestens 15 cm Entfernung abgegeben
sein müssen, daß, wenn Ursula die Tat begangen, sie zuerst beide Schüsse auf
Dörte abgegeben und nach dieser furchtbaren Tat noch die moralische und
physische Kraft besessen haben müsse, sich selbst auf 15 cm Entfernung mit
Sicherheit in den Kopf zu schießen (ihre Schußverletzung ging in die Stirn, die
tödlichen Dörtes in den Hinterkopf), und daß der Revolver dicht links, sondern
nur rechts von ihrer Leiche hätte liegen müssen. Der Schuß in Dörtes Hinterkopf
war überdies ein solcher, daß er nur von einem geübten Schützen mit derartiger
Präzision hat abgegeben werden können, nicht von einem ungeübten Kinde, dem
auch sachgemäße Handhabung des Revolvers nicht zuzutrauen ist.
War nach alledem
Ursulas Täterschaft auszuschließen, so wurde diejenige Grupens, die nach den
anderen Indizien höchst wahrscheinlich war, zur Gewißheit, weil eine fremde
Person weder Grupens Revolver gehabt haben kann, noch wissen konnte, daß die
Kinder sich ganz ungewöhnlicherweise in dem Fremdenzimmer aufhielten. Wenn die
Geschworenen also sich völlig ablehnend gegen die Ausführung der Verteidigung
verhielten, dies sei ein "Trugschluß", und eine so schlecht
begründete Anklage sei kaum je vorgekommen, so haben sie ein gesundes Urteil bewiesen.
Hinsichtlich des
schon angedeuteten Sittlichkeitverbrechens haben die Geschworenen, wie man
annehmen muß, die Schuldfrage wegen der Gleichartigkeit der nur durch
Geschlechtsverkehr erwerbbaren Geschlechtskrankheiten Grupens und der Ursula
bejaht, und werden wohl in ihrer Ueberzeugung bestärkt worden sein durch den
Versuch Grupens, Ursulas Krankheit auf
p e r v e r s e n Verkehr
derselben mit - ihrer v e r s c h w u n
d e n e n M u t t e r zurückzuführen, in welcher Hinsicht Grupen
haarsträubende Behauptungen aufstellte, die sein Bruder Wilhelm bezeugte, der
einen solchen Vorgang gesehen haben will! Es machte einen furchtbaren Eindruck,
daß Grupen in dieser Weise auf seine Frau, die sich in keiner Weise wehren
kann, weil sie "verschwunden" ist, einen so scheußlichen Verdacht
wälzte.
Schließlich ist auch die Frage nach dem
Beweggrund zum Morde ganz ungezwungen zu beantworten. Grupen erscheint als ein
gefühlsroher, wohl durch den Krieg innerlich noch mehr verrohter Mensch, der
unbedenklich "über Leichen schreitet", wenn er dadurch Ehrgeiz und
Habgier befriedigen zu können glaubt. Nachdem es dem vom Drange,
"reich" zu werden, ganz erfüllten Manne gelungen war, durch seine
Einwirkung auf Frau und Schwiegermutter erhebliche Mitte! in die Hand
zubekommen, lag für ihn der Gedankengang keineswegs fern, zumal eine Heirat mit
der „Millionenerbin" offenbar nicht zu erreichen war, Dörtes Beseitigung
herbeizuführen, wodurch F r a u E c k e r t
zur Hälfte - er mochte sogar g l
a u b e n vollständig - deren Erbin werden
mußte; wenige Stunden nach dem Morde s
a g t e e r z u
i h r : W e i ß t d u ,
d a ß d u j e t z t
E r b i n v o n K l e p p e l s d o r f b i s t ? " Mit der ihm willenlos folgenden alten Frau,
die ihm schon früher ihre Vermögensangelegenheiten überlassen hatte, hätte er
dann völlig freies Spiel gehabt. Diese Frau ist, wenn man erst klar darüber
ist, daß sie gänzlich unter seinem Bann stand, solange er auf freiem Fuße war
und seine suggestive Kraft auf sie wirkt, gar nicht einmal ein psychologisches
Rätsel: mit am stärksten von allen Zeugen hat sie ihn belastet, und man sah
förmlich, wie sie sich von einem Alp befreit fühlte. Einen ähnlichen Eindruck
hatte man, wenn auch vielleicht in geringerem Maße, von einer Reihe anderer
weiblicher Zeugen, worauf näher einzugehen der Raummangel verbietet.
Einfach mustergültig
war die Verhandlungsleitung durch den Vorsitzenden, OLGR. K r i n k e , Breslau. Von der Festnahme Grupens bis zum
Urteilsspruch sind 10 Monate vergangen - gewiß eine bedauerlich lange Zeit,
aber schneller konnte die Sache nicht durchgeführt werden (es ist sogar eine
eigene ao. Schwurgerichtstagung für sie angesetzt worden), es sei denn, daß
alle damit befaßten Amtspersonen nur mit ihr und mit nichts anderem sich hätten
beschäftigen können. Größte Gründlichkeit der Untersuchung war ja geboten, und
ohne sie hätte nimmermehr die Sühne der Tat erreicht werden können. M. E. haben
sich aus der Verhandlung trotz ihrer Eigenart und Ungewöhnlichkeit Fingerzeige
für Fragen der Strafrechts- und Strafprozeßreform, von den wenigen berührten
Momenten abgesehen, gar nicht ergeben, zumal auch die verhängten Strafen
(zweifaches Todesurteil und 5 .Jahre Zuchthaus) zu keinerlei berechtigter
Kritik herausfordern.
Nur wer den Satz
vertritt, auf einen r e i n e n I n d i z i e n b e w e i s hin dürfe niemals verurteilt werden, kann
den Spruch gegen Grupen bemängeln. Ich finde aber, daß es zu begrüßen ist, wenn
Geschworene sich durch die Erwägung, ein sozusagen "mathematischer"
Beweis sei nicht geführt, nicht hindern lassen, den Mut zu einer Verurteilung
bei einem so e r d r ü c k e n d e
n Indizienbeweise aufzubringen.
Archiv
für Kriminologie
(Kriminalanthropologie
und Kriminalistik)
begründet
von Dr. Hans Gross
Herausgegeben
von Dr. Robert Heindl
87.
Band, 1930
Der
Mordprozeß Grupen.
In dem
K l e p p e l s d o r f e r M o
r d p r o z e ß g e g e n G r u p e n , der im Jahre 1921 vor dem Landgericht in
Hirschberg verhandelt wurde (über den gleichfalls M o l
l berichtet), spielte die Hypnose
ebenso wenig eine Rolle, obwohl anfangs alles darauf hinzuweisen schien. Zwei
junge Mädchen von 13 und 16 Jahren waren ermordet worden. Entweder war Grupen,
ein Verwandter, der erbrechtlich stark interessiert war, der Mörder oder das
eine Mädchen hatte das andere Mädchen und dann sich selbst getötet. Grupen
hatte bei seiner Verhaftung den anwesenden Familienmitgliedern zugerufen, sie
hätten doch gesehen, daß er mit ihnen, während der Mord geschah, zusammen in
einem Zimmer gesessen hätte. Dementsprechend sagten dann die Angehörigen im
vorbereitenden Verfahren auch aus, und die Schwiegermutter Grupens erklärte
ausdrücklich, ihre Aussage auch in dem abgegebenen Sinne beeiden zu können. Ein
Sachverständiger, der zur Klärung der Frage, ob eventuell eine Hypnotisierung
der Zeugen durch Grupen vorliege, hinzugezogen wurde, bejahte diese Frage. Als
der gleichfalls als Sachverständiger für die Frage der Hypnose geladene
Dr. M o l l einige Fragen an die Zeugen richtete, sie
insbesondere darauf hinwies, daß ein Mord in einem Bruchteil einer Minute
geschehen könne und sie alsdann fragte, ob nicht vielleicht die Möglichkeit
bestände, daß Grupen nur einen Augenblick das Zimmer verlassen hätte, fielen
die Zeugen um. Sie hatten ihre früheren Aussagen nur deshalb in dem angegebenen
Sinne gemacht, weil sie der Annahme waren, ein Mord müßte etwa eine Stunde
dauern. Als ihnen dann vorgerechnet wurde, daß der Mord in 58 Sekunden
vollendet sein konnte, wobei schon die Zeit für das Verlassen und das
Wiederkommen in das Zimmer mit eingerechnet war, gaben sie die Möglichkeit, daß
Grupen kurze Zeit das Zimmer verlassen hatte, unumwunden zu. Ein Zeuge konnte
dies sogar positiv bestätigen. Es lag also keine Hypnose vor, sondern man hatte
einfach auf den Weggang Grupens nicht geachtet und war deshalb zu den falschen
Aussagen gekommen.
Da einerseits aus den vielfach gelungenen
Versuchen die Möglichkeit eines hypnotischen Verbrechens hervorzugehen scheint,
andererseits b i s h e r k e i n
F a l l i n d e r
P r a x i s e r w i e s e n wurde, in dem ein Hypnotiseur ein Medium zur
Begehung eines Verbrechens mißbrauchte, herrscht über die Möglichkeit dieser
besonderen Verbrechensart und über ihre eventuelle Bedeutung Streit. Die Tatsache,
daß die vorgenommenen Versuche unter allem äußeren Anschein des Ernstes
ausgeführt wurden, weist darauf hin, daß möglicherweise die Medien auch vor
einem wirklichen Verbrechen nicht zurückschrecken würden. Andererseits geht
daraus, daß bisher niemals die Begehung eines hypnotischen Verbrechens
nachgewiesen wurde, nichts weiter hervor, als daß ein solches bisher nicht
entdeckt wurde, aber nicht, daß es noch niemals vorgekommen ist. Trotzdem wäre
es verfehlt, hieraus zuweitgehende Schlüsse zu ziehen, denn es ist anzunehmen,
daß im praktischen Falle die Hemmungsvorstellungen der Medien gewöhnlich andere
sind, als wie bei Vornahme der Versuche. Da ein Rest des Bewußtseins bei der
Hypnose stets noch vorhanden ist, dürfen die Versuche nur relative Beweiskraft
beanspruchen.
Wie die Begehung strafbarer Handlungen durch
die Benutzung von Hypnotisierten als Werkzeug
j u r i s t i s c h zu beurteile
wäre, wird von L u c a s in seinem Werk „Hypnotismus“ gründlich
erörtert. Wir verzichten, auf diese Frage hier näher einzugehen, da ja, wie
gesagt, noch kein solcher Fall durch Gerichtsurteil festgestellt worden ist,
wir empfehlen aber jedem Strafrichter und Polizeibeamten, der sich für die
Rolle des Hypnotismus im Strafrecht interessiert, die Lektüre des L u c a s schen Werkes aufs wärmste. Jeder
Leser wird vielseitige berufliche Anregung aus dem Buche schöpfen, zumal es
auch eine sehr klar und gemeinverständlich geschriebene Darstellung der
Grundbegriffe „Suggestion“, „Hypnose“, „Posthypnose“, „Hypnotisierbarkeit“ bietet.
De lege ferenda sei nur kurz bemerkt und auch hierbei auf die Ausführungen
von L u c a s verwiesen:
Das Reichsstrafgesetzbuch des Deutschen
Reiches von 1871 enthält keine spezielle Strafbestimmung gegen das
Hypnotisieren. Eine solche wäre auch etwa in der allgemeinen Form, daß das
Hypnotisieren mit Ausnahme seiner therapeutischen Verwendung durch einen
approbierten Arzt verboten und strafbar sei, nicht angebracht. Denn der Staat
hat keine Pflicht und auch kein Recht, bereits dann einzugreifen, wenn seine
Bürger sich selbst einer Gefahr aussetzen und sich mit ihrer Einwilligung
hypnotisieren lassen. Der Staat kann erst dann eingreifen, wenn öffentliche
Interessen auf dem Spiele stehen. Unter dieser Voraussetzung aber bietet das
Reichsstrafgesetzbuch in seiner gegenwärtigen Form auch ohne eine besondere
Strafvorschrift gegen die Hypnose einen hinreichenden Schutz, gegen die
verbrecherischen Elemente, die die Hypnose ihren Zwecken dienstbar machen. Auch
in den Entwürfen eines Strafgesetzbuches von 1925 und 1927 ist dies nicht
verkannt und gleichfalls keine besondere Strafbestimmung gegen die Hypnose
vorgesehen. Nur an einer Stelle wird der Hypnose überhaupt Erwähnung getan. In
§ 9 Ziff. 6 des Entwurfs von 1927 heißt es: „Im Sinne dieses Gesetzes ist
Gewalt, auch die Anwendung der Hypnose oder eines betäubenden oder
berauschenden Mittels, um jemanden gegen seinen Willen bewusstlos oder widerstandsunfähig
zu machen“ (ähnlich auch § 11 Ziff. 6 des Entwurfs von 1925).
Gerhart Hauptmann
Herausgegeben
von Martin Machatzke
Seite 244-245:
57,25 Der Architekt
Peter Grupen (geb. 1894 in Holstein) wurde am 20. Dezember 1921 vom
Schwurgericht Hirschberg (Verhandlungsbeginn 5. Dezember 1921) für schuldig
befunden, am 14. Februar 1921 die sechzehnjährige Dorothea Rohrbeck,
Alleinerbin von Rittergut Kleppelsdorf, und seine zwölfjährige Stieftochter
Ursula Schade ermordet sowie ein Sittlichkeitsverbrechen begangen zu haben.
Grupen wurde zum Tode verurteilt. Der Prozeß fand starke Beachtung auch
außerhalb Schlesiens. Verteidiger: Justizrat Dr. Bruno Ablaß, der als
Rechtsanwalt auch für Hauptmann tätig war.
Abschrift der
Geburtsurkunde von Dorothea Rohrbeck aus den Standesamtsunterlagen
Geburtsregister Kleppelsdorf
Nr.
10
Kleppelsdorf
am 26ten November 1904
Vor
dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute, der
Persönlichkeit
nach bekannt,
der
Rittergutsbesitzer Wilhelm
Rohrbeck
wohnhaft
in Kleppelsdorf
evangelischer
Religion, und zeigte an, daß von der
Hedwig
Rohrbeck, geborenen
Krappe,
seiner Ehefrau
evangelischer
Religion,
wohnhaft
bei ihm
zu
Kleppelsdorf in seiner Wohnung
am einundzwanzigsten November des Jahres
tausend
neunhundert und vier Nachmittags
um
sechseinviertel Uhr ein Mädchen
Geschlechts
geboren worden sei, welches die Vornamen
Jenny
Agnes Hedwig Dorothea
erhalten
habe.
Vorgelesen,
genehmigt und unterschrieben
Wilhelm
Rohrbeck
Der
Standesbeamte
Heinrich
Aus der
Durchsicht der vorhandenen Standesamtsunterlagen ergibt sich außerdem, dass
- Wilhelm
Rohrbeck und Hedwig Krappe im Zeitraum ab 01.10.1874 nicht in Kleppelsdorf
geheiratet haben
- keine
weiteren Kinder des Ehepaares Rohrbeck vom 01.01.1876 bis 31.12.1906 in
Kleppelsdorf geboren wurden
- kein
mögliches weiteres Kind des Ehepaares Rohrbeck vom 01.01.1876 bis 31.12.1906 in
Kleppelsdorf gestorben
-
Hedwig Rohrbeck, geb. Krappe, nicht in Kleppelsdorf gestorben ist (bis
31.12.1906); eine Suche in den Standesamtsunterlagen Lähn, weil sie
möglicherweise dort im Krankenhaus verstorben sein konnte, war ebenfalls
erfolglos
Sonntag,
25. Oktober 1914, „Der Bote aus dem Riesengebirge“
Traueranzeige:
Zu
früh entriß uns der Tod am 23. Oktober unseren hochverehrten Herrn, den
Amtsvorsteher und
Rittergutsbesitzer
Herrn W. Rohrbeck
auf Kleppelsdorf.
Wir
verlieren an ihm einen wohlwollenden, edelgesinnten und liebevollen Herrn und
werden
das
Andenken an den so früh Verstorbenen bis an unser Grab in hohen Ehren halten.
Kleppelsdorf
bei Lähn, den 23. Oktober 1914
Scholz, Friedrich, Häkel,
Kutscher Stellmacher Gärtner
und
das gesamte Schlosspersonal.
Montag,
den 26. Oktober 1914, Mittagblatt, „Schlesische Zeitung“
Die
Beerdigung des verstorbenen
Herrn
Rittergutsbesitzer
Wilhelm
Rohrbeck
aus
Kleppelsdorf, Kr. Löwenberg (Schles.)
findet
nicht um 4 Uhr,
sondern
bereits 3 ¼ Uhr
Dienstag,
den 27. dieses Monats, in Berlin, Dom-
kirchhof
Müllerstraße, statt.
Am 2. Dezember 2007
habe ich den ganzen Domkirchhof abgesucht, konnte aber keine Grabstätte der
Familie Rohrbeck finden!
Sonntag, den 5. März 1922, „Der Bote aus dem
Riesengebirge“
Lähn, 3. März (Verschiedenes)
Die kirchlichen Körperschaften der
evangelischen Gemeinde haben beschlossen, für die im Kriege abgegebenen drei
Bronzeglocken Klangstahlglocken aus Apolda als Ersatz zu beschaffen. Die
Gesamtkosten werden etwa 35 000 Mark betragen. Die Beschaffung wird der
Gemeinde dadurch sehr erleichtert, daß Rittergutsbesitzer Pingel in
Kleppelsdorf zum Andenken an seine Nichte, Dörte
Rohrbeck, eine Glocke für Lähn stiftet, und daß die Glocke für Mauer Major
Grimm daselbst zum Andenken an seine beiden im Kriege gefallenen Söhne schenkt.
Der noch übrige Betrag soll hauptsächlich durch freiwillige Gaben gedeckt
werden.
Mittwoch, den 2. August 1922, „Der Bote aus
dem Riesengebirge“
Lähn, 31. Juli (Glockenweihe)
Für die im Kriege abgelieferten Glocken der
evangelischen Kirchgemeinde wurden durch freiwillige Beiträge zwei neue
Klangstahlglocken angeschafft. Sie stammen aus der Glockengießerei Schilling
und Lattermann in Apolda. Am 10. Juli wurden die Glocken vom Bahnhofe feierlich
abgeholt und aufgehängt. Sonntag erfolgte die kirchliche Weihe durch einen
Festgottesdienst. Superintendent Buschbeck hielt die Predigt, welche die
Inschriften der Glocken zum Gegenstande hatte. Unter einem Weiheliede erklangen
die neuen Glocken, und zuletzt im Verein mit der alten E-Bronzeglocke. Der
Zusammenklang war vollkommen stimmungsrein und harmonisch. Stifter der einen
Glocke ist Rittergutsbesitzer Pingel - Kleppelsdorf. Die Inschrift der
Eis-Glocke lautet: „Himmelan, nur himmelan soll der Wandel gehen“, die der
H-Glocke: „Jesus lebt in Ewigkeit. Zum
Andenken an Dörte Rohrbeck auf Kleppelsdorf. * 21.11.1904. V 14.2.1921“ Die Glocken sind
nach einem neuen Läutesystem Schilling aufgehängt, durch welches ermöglicht
wird, daß eine Person zugleich alle drei Glocken läuten kann.
„Löwenberger Heimatgrüße“, 20. Oktober 1969,
Nr. 20
Freunde,
was wißt ihr von Kleppelsdorf
Erinnerungen und eine Berichtigung
…
Kleppelsdorf wurde in ganz Deutschland
bekannt, als im Frühjahr 1921 die junge Besitzerin des Rittergutes - Dorothea Rohrbeck
- ermordet wurde und erlangte so eine traurige Berühmtheit. Wer das Opfer des
Mordes, die „Dörthe“, gekannt hatte, war von Trauer und Empörung über ihren Tod
erfüllt. Auch jetzt ist das Geschehen noch nicht vergessen, denn über den Mord
wurde unlängst wieder (leider in sensationeller Art) geschrieben.
Margarethe Engler, geb. Reimann
Am 6. März 2007 fand
Slawomir Osiecki die letzte Ruhestätte von Dorothea Rohrbeck,
die inzwischen
wiederbelegt wurde, und stellte mir dieses Foto zur Verfügung.
Zusammenstellung der
Familienverhältnisse:
Dorothea Rohrbeck bei ihrer Ermordung am 14.02.1921 16
Jahre alt, geboren am 21.11.1904; einziges Kind von W. Rohrbeck
Wilhelm Rohrbeck Vater der ermordeten Dorothea,
„Millionenbauer“ aus Tempelhof bei Berlin, hat um 1890 das Schloß Kleppelsdorf
gekauft, gefallen am 23.10.1914
Hedwig
Rohrbeck Mutter der ermordeten
Dorothea, geb. Krappe, Tochter der Frau Eckert aus erster Ehe / Stiefschwester
der Frau Grupen; starb kurz nach Dorotheas Geburt
Frl. Bertha Zahn Erzieherin von Dorothea Rohrbeck,
42 Jahre alt
Erich
Vielhaak Vormund von
Dorothea Rohrbeck, Hauptmann a. D., Charlottenburg
Direktor Bauer Gegenvormund von Dorothea Rohrbeck,
auch Verwalter des Gutes Kleppelsdorf
Peter Grupen Architekt/Maurerpolier,
Stiefvater der ermordeten Ursula Schade, zweite Ehe mit ? Eckert, verw. Schade,
26 Jahre alt, Hamburg, Oldenbüttel bei Itzehoe, Berlin
Ursula Schade bei ihrem Tod am 14.02.1921 12
Jahre alt, Tochter der Gertrud Grupen, verw. Schade, geb. Eckert, Stieftochter
des verhafteten Peter Grupen
Irma/Irmgard Schade 9jährige Schwester von Ursula Schade
Gertrud/Trude Grupen Mutter von Ursula und Irma, verwitwete
Schade, geb. Eckert (aus zweiter Ehe, Stiefschwester der Frau Rohrbeck),
verschwunden seit 19.09.1920
? Schade Vater von Ursula und
Irma, Apothekersohn aus Berlin, Besitzer der Löwenapotheke in Perleberg, starb
1913 (oder 1911) durch einen Jagdunfall
Augusta Eckhardt Großmutter sowohl von Dorothea
Rohrbeck als auch der Schade-Geschwister, Mutter der verschwundenen Frau Grupen
(verw. Schade) und
(Agnes Eckert) der verstorbenen Frau Rohrbeck;
75 Jahre alt, geb. Boos
Direktor/Bankier
Eckert Tempelhof bei Berlin, verst. Vater
der verschwundenen Frau Grupen und der verstorbenen Frau Rohrbeck
Otto
Schade Schwiegervater
von Gertrud Grupen, verw. Schade; Großvater von Ursula und Irma, Apotheker in
Berlin
Margarete
Schade Schwiegermutter von
Gertrud Grupen, verw. Schade; Großmutter von Ursula und Irma, Frau des
Apothekenbesitzers in Berlin
Alfred
Rohrbeck Bruder des W.
Rohrbeck, Jagdschloß Hubertus in Zielenzig/Mark
Jenny
Pingel Geb. Rohrbeck;
Schwester des W. Rohrbeck
Herr Pingel Schwager des verstorbenen
W. Rohrbeck (sein 29jähr. Sohn beging Selbstmord)
Wilhelm Grupen Bruder des Angeklagten
Heinrich Grupen Bruder des Angeklagten
Herr
Boos Bruder von
Frau Eckert, wohnhaft in Tempelhof
Das untere Foto ist das Gruppenbild von Van
Bosch in Hirschberg, das auch in „Berliner Illustrirte Zeitung“ abgebildet war;
die Erklärungen sind nicht ganz korrekt: „Frau Apotheker Schade“ ist die verw.
Frau Schade, also die verschwundene Frau Grupen; nicht Schwester des
Rittergutsbesitzers, sondern Schwester dessen Ehefrau; nach der Berliner Angabe
ist sie die sitzende Frau; außerdem ist nach Angabe der Berliner Zeitung unten
links die ermordete Ursula Schade abgebildet.
Der Bote aus dem
Riesengebirge Staatsarchiv
Hirschberg / Archiwum Państwowe we Jeleniej Górze
Buchform der Berichterstattung SBB Berlin
Neuer Görlitzer
Anzeiger SBB
Berlin, Zeitschriftenabteilung im Westhafenspeicher
Berliner Morgenpost SBB Berlin,
Zeitschriftenabteilung im Westhafenspeicher
Schlesische Zeitung Staats- und
Universitätsbibliothek Göttingen
Berliner Illustrirte
Zeitung Kopie
erhalten von Slawomir Osiecki, heutiger Besitzer von Schloß Kleppelsdorf
Hamburger Anzeiger Staats- und
Universitätsbibliothek Hamburg
Hamburger Nachrichten Staats- und
Universitätsbibliothek Hamburg
Hannoverscher Kurier Niedersächsische
Landesbibliothek Hannover
Vossische Zeitung Niedersächsische
Landesbibliothek Hannover
Zeitschrift für
Sexualwissenschaft SBB Berlin
Das Tage-Buch SBB Berlin
Diarium 1917 bis 1933 SBB Berlin
Standesamtsunterlagen
Kleppelsdorf Staatsarchiv Hirschberg
Fotos
Portrait Dorothea Rohrbeck,
Schloss Kleppelsdorf, Grabstätte,
Gruppenfoto (= Fotos aus Berliner
Illustrierte Zeitung);
Grabstätte aktuell erhalten von Slawomir Osiecki
Fotos Dorothea
Rohrbeck mit
Freundin und Gruppenfotos erhalten von Jürgen Lienig,
Hoyerswerda
Doris Baumert
Heiligenstieg 8
37627 Stadtoldendorf
2006-2008